Heart Story - Helen Hoang - E-Book
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Helen Hoang

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Beschreibung

DER SCHWIERIGSTE WEG … Anna Suns Karriere als Violinistin steht nach einigen Monaten unverhoffter Social-Media-Berühmtheit vor dem Stillstand. Sie ist blockiert, schafft es nicht einmal mehr, ein Stück ganz durchzuspielen. Und dann eröffnet ihr Freund ihr auch noch, dass er eine offene Beziehung will. Verletzt und wütend entschließt Anna sich, einen One-Night-Stand mit dem unpassendsten Mann zu haben, den sie finden kann.   … IST DER WEG ZU SICH SELBST! Und das ist Quan Diep. Auf den ersten Blick könnte der tätowierte sündhaft attraktive Mann kaum schlechter zu Anna passen. Doch bei ihm kann Anna mehr sie selbst sein als bei irgendjemand anderem. Er akzeptiert sie auf eine Weise, die sie bisher nicht kannte. Selbst als eine Tragödie ihre Familie erschüttert und jeder Tag sie ein Stück näher an ihre Grenzen bringt. Und darüber hinaus …   Der New-York-Times-Bestseller, endlich in deutscher Sprache. Der finale Band der «Kiss, Love & Heart»-Trilogie «Wie kann man ein Buch rezensieren, das einen zum Lachen und Weinen gebracht hat, das einem Schmerzen bereitet hat, weil die Emotionen, die aus jeder Seite strömen, so echt und ehrlich sind? ‹Heart Story› ist ein Meisterwerk.»Marie Claire «Eine Wortkünstlerin, die tiefgründige Liebesromane erschafft.» National Public Radio «Sensibel und liebevoll präsentiert ‹Heart Story› eine Liebesgeschichte, die auf der unübersehbaren Chemie zwischen den Figuren aufbaut.» TIME «Wunderschön melancholisch und nachdenklich … Die Leserinnen und Leser dieses Buchs sollten keine typische romantische Komödie erwarten, aber die sensible Liebesgeschichte wird viele Dahinschmelzen lassen.»Publishers Weekly

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Seitenzahl: 477

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Helen Hoang

Heart Story

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

DER SCHWIERIGSTE WEG …

Anna Suns Karriere als Violinistin steht nach einigen Monaten unverhoffter Social-Media-Berühmtheit vor dem Stillstand. Sie ist blockiert, schafft es nicht einmal mehr, ein Stück ganz durchzuspielen. Und dann eröffnet ihr Freund ihr auch noch, dass er eine offene Beziehung will. Verletzt und wütend entschließt Anna sich, einen One-Night-Stand mit dem unpassendsten Mann zu haben, den sie finden kann.

 

… IST DER WEG ZU SICH SELBST!

Und das ist Quan Diep. Auf den ersten Blick könnte der tätowierte, sündhaft attraktive Mann kaum schlechter zu Anna passen. Doch bei ihm kann Anna mehr sie selbst sein als bei irgendjemand anderem. Er akzeptiert sie auf eine Weise, die sie bisher nicht kannte. Selbst als eine Tragödie ihre Familie erschüttert und jeder Tag sie ein Stück näher an ihre Grenzen bringt. Und darüber hinaus …

 

Der New York Times-Bestseller, endlich in deutscher Sprache.

Vita

2016, als Helen Hoang für ihr Debüt recherchierte, erkannte sie erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen dem, was sie las, und ihren eigenen Erfahrungen. Kurz darauf wurde bei ihr eine Störung auf dem Autismus-Spektrum diagnostiziert, auch als Asperger-Syndrom bekannt. Das Buch, für das sie recherchierte, war «Kissing Lessons», der Auftakt zur «Kiss, Love & Heart»-Trilogie. Genauso außergewöhnlich wie die Entstehungsgeschichte wurde auch die Erfolgsgeschichte. Kein anderer Liebesroman wurde 2018 öfter besprochen als dieser, sowohl in der Presse als auch von Leser:innen. Allein auf Goodreads hat er inzwischen über 26 000 Rezensionen. Etliche Zeitschriften – unter anderem Cosmopolitan, Entertainment Weekly und Washington Post – wählten das Buch in ihre Jahresbestenlisten. Für das Oprah Magazine gehört «Kissing Lessons» bereits jetzt zu den 20 besten Liebesromanen aller Zeiten. Die Übersetzungsrechte wurden in mehr als 30 Sprachen verkauft, und eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Mit «Heart Story» legt die Autorin nach «Kissing Lessons» und «Love Challenge» nun den abschließenden Band ihrer Trilogie vor. Helen Hoang lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in San Diego, Kalifornien.

Gewidmet all den Pflegenden da draußen:

denjenigen, die pflegen, weil sie es wollen, denjenigen, die pflegen, weil sie keine andere Wahl haben, und besonders den medizinischen Fachkräften während der COVID-19-Pandemie, jeder einzelnen von ihnen.

Teil eins

vorher

KAPITEL 1

Anna

Das ist das letzte Mal, dass ich von vorne anfange.

Zumindest rede ich mir das ein. Ich meine es jedes Mal ernst. Aber dann, jedes Mal, passiert irgendetwas – ich mache einen Fehler, ich weiß, dass ich es besser kann, oder ich höre in meinem Kopf, was die Leute sagen werden.

Also stoppe ich und fange wieder von vorne an, um es diesmal richtig hinzubekommen. Und diesmal ist es wirklich das letzte Mal.

Nur ist es das nicht.

Ich habe die letzten sechs Monate damit verbracht, immer wieder dieselben Takte durchzuspielen, wie ein Nashorn im Tierpark, das endlos hin und her läuft. Diese Noten ergeben nicht einmal mehr einen Sinn für mich. Aber ich versuche es weiter. Bis mir die Finger wehtun und mein Rücken schmerzt und mein Handgelenk bei jedem Streichen des Bogens über die Saiten pocht. Ich ignoriere es und gebe der Musik alles, was ich habe. Erst als der Alarm sich meldet, nehme ich meine Violine vom Kinn.

Mir schwirrt der Kopf, und ich bin vor Durst völlig ausgetrocknet. Ich muss meine Erinnerung fürs Mittagessen ausgeschaltet und deshalb das Essen vergessen haben. Das kommt viel öfter vor, als ich zugeben will. Wenn die zigtausend Alarme auf meinem Handy nicht wären, hätte ich mich womöglich aus Versehen schon umgebracht. Respekt vor dem Leben ist der Grund, warum ich keine Topfpflanzen habe. Allerdings habe ich ein Haustier. Es ist ein Stein. Sein Name ist – sehr kreativ – Stein.

Die Benachrichtigung auf meinem Handy lautet THERAPIE, und ich verziehe das Gesicht, als ich den Alarm abstelle. Manche Leute gehen gern zur Therapie. Sie gibt ihnen Bestätigung und ein Ventil. Für mich ist sie anstrengende Arbeit. Es macht die Sache auch nicht besser, dass ich glaube, meine Therapeutin kann mich insgeheim nicht leiden.

Trotzdem schleppe ich mich ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Mich allein durchzuwursteln hat nicht funktioniert, also bin ich fest entschlossen, es mit dieser Therapie zu versuchen. Wenn meine Eltern davon wüssten, wären sie empört über die Geldverschwendung, aber ich bin verzweifelt, und sie können nicht um ausgegebene Dollars trauern, von denen sie nichts wissen. Ich ziehe den Pyjama aus, den ich immer noch trage, und schlüpfe in Sportklamotten, in denen ich nicht vorhabe, Sport zu machen. Aus irgendeinem Grund sind die in der Öffentlichkeit akzeptabler als mein Pyjama, obwohl sie freizügiger sind. Ich hinterfrage nicht, warum die Leute etwas tun. Ich beobachte nur und kopiere. So kommt man in dieser Welt zurecht.

Draußen riecht die Luft nach Autoabgasen und Essen aus Restaurants, und überall sind Leute unterwegs, fahren Rad, gehen shoppen, genehmigen sich in den Cafés ein spätes Mittagessen. Ich gehe durch die steilen Straßen und schlängle mich zwischen den Fußgängern hindurch, dabei frage ich mich, ob irgendjemand von diesen Leuten heute Abend ins Konzert geht. Sie spielen Vivaldi, meinen Lieblingskomponisten. Ohne mich.

Ich habe mich freistellen lassen, weil ich nicht auftreten kann, wenn ich beim Spielen ständig in Dauerschleifen feststecke. Das habe ich meiner Familie nicht erzählt, weil ich weiß, dass sie es nicht verstehen würden. Sie würden mir sagen, ich solle mich nicht so anstellen und mich zusammenreißen. Bei uns löst man Probleme mit liebevoller Härte.

Aber hart zu mir zu sein funktioniert nicht. Ich kann mich nicht noch mehr anstrengen, als ich es schon tue.

Als ich das bescheidene kleine Gebäude erreiche, in dem neben meiner Therapeutin auch noch andere Ärzte ihre Praxen haben, tippe ich den Code 222 ein, öffne die Tür und gehe durch das muffige Treppenhaus hoch in den ersten Stock. Es gibt keine Rezeption oder ein Wartezimmer, deshalb gehe ich direkt zu Zimmer 2A. Ich hebe die Faust zur Tür, zögere jedoch, bevor ich klopfe. Ein rascher Blick auf mein Handy zeigt, es ist 13:58 Uhr. Ja, ich bin zwei Minuten zu früh dran.

Unsicher, was ich tun soll, trete ich von einem Fuß auf den andern. Jeder weiß, dass Zuspätkommen nicht gut ist, aber zu früh ist auch nicht toll. Einmal, als ich zu früh zu einer Party gekommen bin, habe ich den Gastgeber buchstäblich mit heruntergelassener Hose erwischt. Und dem Gesicht seiner Freundin in seinem Schritt. Das war für keinen von uns lustig.

Natürlich ist die beste Zeit, irgendwo anzukommen, genau pünktlich.

Also stehe ich hier, von Unentschlossenheit geplagt. Soll ich klopfen, oder soll ich warten? Was, wenn ich zu früh klopfe und ihr irgendwie Unannehmlichkeiten mache und sie sich über mich ärgert? Andererseits, wenn ich warte und sie aufsteht, um zum Beispiel zum Klo zu gehen, erwischt sie mich, wie ich hier draußen gruselig grinsend vor ihrer Tür stehe. Ich habe nicht genug Informationen, aber ich versuche, mir vorzustellen, was sie denken wird, und mein Handeln entsprechend abzustimmen. Ich möchte die «korrekte» Entscheidung treffen.

Immer wieder sehe ich auf mein Handy, und als das Display 14:00 Uhr anzeigt, atme ich erleichtert aus und klopfe. Dreimal kräftig, als wäre ich entschlossen.

Meine Therapeutin öffnet die Tür und begrüßt mich mit einem Lächeln und ohne Händeschütteln. Es gibt nie ein Händeschütteln. Das hat mich anfangs verwirrt, aber jetzt, wo ich weiß, was ich zu erwarten habe, gefällt es mir.

«Es ist so schön, Sie zu sehen, Anna. Kommen Sie herein. Machen Sie es sich bequem.» Sie bedeutet mir einzutreten und zeigt dann auf die Tassen und den Wasserkocher auf dem Tresen. «Tee? Wasser?»

Ich hole mir einen Tee, weil es das zu sein scheint, was sie möchte, und stelle ihn zum Ziehen auf den Beistelltisch, bevor ich mich in die Mitte des Sofas setze, das ihrem Armsessel gegenübersteht. Ihr Name ist übrigens Jennifer Aniston. Nein, sie ist nicht die Jennifer Aniston. Ich glaube nicht, dass sie je im Fernsehen oder mit Brad Pitt zusammen war, aber sie ist groß und, wie ich finde, attraktiv. Sie ist meiner Schätzung nach Mitte fünfzig, eher dünn und trägt immer Mokassins und handgemachten Schmuck. Ihr langes Haar ist sandbraun, von Grau durchzogen, und ihre Augen … Ich kann mich nicht erinnern, welche Farbe sie haben, obwohl ich sie gerade angesehen habe. Das kommt daher, dass ich den Blick zwischen die Augen der Leute richte. Blickkontakt bringt mein Hirn so durcheinander, dass ich nicht mehr denken kann, und das ist ein praktischer Trick, um es so aussehen zu lassen, als würde ich das tun, was ich tun sollte. Wie ihre Mokassins aussehen, weiß ich genau.

«Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen», sage ich, weil ich mich dankbar verhalten soll. Die Tatsache, dass ich tatsächlich dankbar bin, tut nichts zur Sache, trotzdem ist es die Wahrheit. Um es noch zusätzlich zu betonen, lächle ich mein wärmstes Lächeln, wobei ich darauf achte, dass sich Fältchen um meine Augenwinkel bilden. Das habe ich im Spiegel oft genug geübt, um sicher zu sein, dass es richtig aussieht. Ihr Lächeln als Antwort bestätigt das.

«Natürlich», sagt sie, dabei legt sie eine Hand auf ihr Herz, um zu zeigen, wie gerührt sie ist.

Ich frage mich, ob sie genauso schauspielert wie ich. Wie viel von dem, was die Leute sagen, ist ehrlich, und wie viel ist Höflichkeit? Lebt irgendjemand wirklich sein Leben, oder lesen wir alle nur Text aus einem gewaltigen Drehbuch ab, das andere Leute geschrieben haben?

Dann geht es los mit der Zusammenfassung meiner Woche, wie es mir ging, ob ich irgendeinen Durchbruch bei meiner Arbeit hatte. Ich erkläre in neutralen Begriffen, dass sich nichts geändert hat. In dieser Woche war alles wie in der Woche zuvor, genau wie in der Woche zuvor alles wie in der Woche davor war. Meine Tage sind im Wesentlichen identisch. Ich wache auf, frühstücke Kaffee und einen halben Bagel und übe Violine, bis die verschiedenen Alarme auf meinem Handy mir sagen, dass ich aufhören soll. Eine Stunde für Tonleitern und vier für Musik. Jeden Tag. Aber ich mache keine Fortschritte. Ich komme bis zur vierten Seite dieses Stücks von Max Richter – wenn ich Glück habe – und fange wieder von vorne an. Und wieder. Und wieder. Immer und immer wieder.

Es ist eine Herausforderung für mich, mit Jennifer über diese Dinge zu sprechen, besonders ohne meine Frustration durchsickern zu lassen. Sie ist meine Therapeutin, was meiner Meinung nach bedeutet, dass sie mir helfen soll. Und das konnte sie bisher nicht, soweit ich das sagen kann. Aber ich möchte nicht, dass sie sich schlecht fühlt. Die Leute mögen mich mehr, wenn ich dafür sorge, dass sie sich gut fühlen. Also schätze ich ständig Jennifers Reaktion ein und wähle meine Worte so, dass sie ihr gefallen.

Als der glanzlose Bericht meiner vergangenen Woche ein tiefes Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht entstehen lässt, gerate ich in Panik und sage: «Ich glaube, ich bin kurz davor, mich besser zu fühlen.» Das ist glatt gelogen, aber für einen guten Zweck, denn ihre Miene hellt sich augenblicklich auf.

«Freut mich, das zu hören», sagt Jennifer.

Ich lächle sie an, fühle mich aber ein wenig mulmig dabei. Ich lüge nicht gern. Aber ich tue es andauernd. Die harmlosen kleinen Notlügen, die dafür sorgen, dass Leute sich gut fühlen. Sie sind essenziell, um in der Gesellschaft zurechtzukommen.

«Können Sie versuchen, zur Mitte des Stücks zu springen, mit dem Sie Probleme haben?», fragt sie.

Der Vorschlag lässt mich körperlich zurückschrecken. «Ich muss am Anfang anfangen. So gehört sich das einfach. Wenn das Lied dafür gedacht wäre, von der Mitte weg gespielt zu werden, dann würde es mit diesem Teil anfangen.»

«Ich verstehe, aber das würde Ihnen helfen, Ihre geistige Blockade zu überwinden», betont sie.

Alles, was ich tun kann, ist, den Kopf zu schütteln, obwohl ich dabei innerlich zusammenzucke. Ich weiß, dass ich mich nicht so verhalte, wie sie will, und das fühlt sich falsch an.

Sie seufzt. «Immer wieder dasselbe zu tun, konnte das Problem nicht lösen, also ist es vielleicht an der Zeit, etwas anderes zu probieren.»

«Aber ich kann den Anfang nicht überspringen. Wenn ich den nicht richtig hinbekomme, dann verdiene ich es nicht, den nächsten Teil zu spielen, und ich verdiene es nicht, das Ende zu spielen», sage ich mit Überzeugung in jedem Wort.

«Was hat das mit verdienen zu tun? Es ist ein Lied. Es kann in jeder Reihenfolge gespielt werden, in der Sie wollen. Es verurteilt Sie nicht.»

«Aber die Leute werden es tun», flüstere ich.

Und da wären wir. Wir kommen immer zu diesem einen Knackpunkt. Ich sehe hinunter auf meine geballten Hände und stelle fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten, als würde ich mich gleichzeitig runterdrücken und hochstemmen.

«Sie sind eine Künstlerin, und Kunst ist subjektiv», sagt Jennifer. «Sie müssen lernen, nicht mehr auf das zu hören, was die Leute sagen.»

«Ich weiß.»

«Wie konnten Sie vorher spielen? Wie haben Sie sich da gefühlt?», fragt sie, und mit «vorher» meint sie, bevor ich durch Zufall eine Internet-Berühmtheit wurde und meine Karriere durchstartete und ich auf Welttournee ging und einen Albumvertrag bekam und der moderne Komponist Max Richter ein Stück nur für mich schrieb, eine Ehre, die auf der ganzen Welt ihresgleichen sucht.

Jedes Mal, wenn ich versuche, diese Komposition so gut zu spielen, wie sie es verdient – so gut, wie alle es von mir erwarten, weil ich jetzt eine Art musikalisches Wunder bin, obwohl man mich früher gerade mal für gut genug gehalten hat –, versage ich. Jedes Mal.

«Vorher habe ich einfach nur gespielt, weil ich es geliebt habe», antworte ich schließlich. «Niemand hat sich für mich interessiert. Niemand wusste überhaupt, dass es mich gibt. Abgesehen von meiner Familie und meinem Freund und meinen Kollegen und so. Und das war okay für mich. Das gefiel mir. Jetzt … haben die Leute Erwartungen, und ich ertrage den Gedanken nicht, dass ich sie womöglich enttäuschen könnte.»

«Sie werden unweigerlich manche Leute enttäuschen», sagt Jennifer mit fester, doch nicht unfreundlicher Stimme. «Aber Sie werden andere auch völlig begeistern. So funktioniert das einfach.»

«Ich weiß», antworte ich. Und ich verstehe es wirklich, logisch betrachtet. Aber emotional ist es eine andere Sache. Ich habe schreckliche Angst, dass, falls ich einen Fehler mache, falls ich versage, alle aufhören werden, mich zu mögen, und was wird dann aus mir?

«Ich denke, Sie haben vergessen, warum Sie spielen», sagt sie sanft. «Oder genauer gesagt, für wen Sie spielen.»

Ich atme tief ein und aus und öffne die verkrampften Hände, um meinen steifen Fingern eine Pause zu gönnen. «Sie haben recht. Zum Spaß habe ich schon lange nicht mehr gespielt. Ich werde versuchen, das zu tun», sage ich, während ich ihr ein optimistisches Lächeln schenke. In meinem Herzen weiß ich allerdings, was passieren wird, wenn ich es versuche. Ich werde mich in Endlosschleifen verlieren. Denn jetzt ist nichts mehr gut genug. Nein, «gut genug» ist nicht richtig. Ich muss mehr sein als «gut genug». Ich muss überwältigend sein. Ich wünschte, ich wüsste, wie man absichtlich überwältigend ist.

Eine Sekunde lang sieht es so aus, als wollte sie etwas sagen, aber dann legt sie stattdessen einen Finger an ihr Kinn und sieht mich mit zur Seite geneigtem Kopf an. «Warum tun Sie das?» Sie zeigt auf ihre eigenen Augen. «Diese Sache mit Ihren Augen?»

Mein Gesicht wird blass. Ich kann spüren, wie meine Haut erst heiß und dann kalt und steif wird, während jegliche Mimik sich verflüchtigt. «Welche Sache?»

«Dieses Kräuseln der Augenwinkel», sagt sie.

Ich wurde ertappt.

Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Das ist mir noch nie passiert. Ich wünschte, ich könnte im Boden versinken oder mich in eine ihrer Kommoden quetschen und die Tür zuhalten. «Ein Lächeln ist echt, wenn es die Augen erreicht. So steht es in Büchern», gestehe ich.

«Gibt es viele Dinge, die Sie deshalb machen? Dinge, die Sie in Büchern gelesen oder bei anderen gesehen haben und darum kopieren?», fragt sie.

Ich schlucke unbehaglich. «Kann sein.»

Ihre Miene wird nachdenklich, und sie kritzelt etwas auf ihren Notizblock. Verstohlen versuche ich, einen Blick darauf zu erhaschen, aber ich kann nichts entziffern.

«Warum ist das wichtig?», frage ich.

Sie betrachtet mich einen Moment lang, bevor sie antwortet. «Das ist eine Form von Masking.»

«Was ist Masking?»

Langsam, als wählte sie ihre Worte sorgfältig, sagt sie: «Das ist, wenn jemand Verhaltensweisen annimmt, die ihm nicht selbstverständlich sind, um sich besser in die Gesellschaft einfügen zu können. Kommt Ihnen das bekannt vor?»

«Wäre es schlecht, wenn es so wäre?», frage ich, ohne das Unbehagen aus meiner Stimme heraushalten zu können. Mir gefällt nicht, in welche Richtung das geht.

«Das ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach, wie es ist. Ich werde Ihnen besser helfen können, wenn ich ein klareres Verständnis davon habe, wie Ihr Verstand funktioniert.» Dann verstummt sie kurz und legt ihren Stift weg, bevor sie weiter vorstößt. «Oft habe ich den Eindruck, dass Sie mir Dinge erzählen, von denen Sie glauben, dass es das ist, was ich hören will. Ich hoffe, Sie können verstehen, wie kontraproduktiv das für die Therapie wäre.»

Mein Verlangen, in ihre Kommode zu kriechen, verstärkt sich. Als ich noch klein war, habe ich mich oft an solchen beengten Orten versteckt. Ich habe nur damit aufgehört, weil meine Eltern mich immer gefunden und hinaus zu ihren chaotischen Veranstaltungen gezerrt haben: Partys, Abendessen mit unserem riesigen Familienkreis, Schulkonzerte, Dinge, bei denen ich kratzige Strumpfhosen und ein kratziges Kleid tragen und stumm leidend still sitzen musste.

Jennifer legt ihren Notizblock weg und faltet die Hände im Schoß. «Unsere Zeit ist um, aber für diese Woche hätte ich gern, dass Sie etwas Neues ausprobieren.»

«Zur Mitte springen und etwas zum Spaß spielen», erwidere ich. Ich merke mir immer ihre To-do-Punkte, selbst wenn ich weiß, dass ich sie nicht wirklich machen werde.

«Es wäre toll, wenn Sie diese Dinge tun könnten», sagt sie mit einem aufrichtigen Lächeln. «Aber da ist noch etwas.» Sie lehnt sich nach vorne und mustert mich aufmerksam, ehe sie hinzufügt: «Ich hätte gern, dass Sie darauf achten, was Sie sagen und tun, und wenn es etwas ist, das sich nicht richtig und Ihrem wahren Wesen entsprechend anfühlt, wenn es etwas ist, das Sie erschöpft oder unglücklich macht, dann möchte ich, dass Sie sich überlegen, warum Sie es tun. Und wenn es keinen guten Grund dafür gibt … versuchen Sie, es nicht zu tun.»

«Wozu soll das gut sein?» Das fühlt sich wie ein Rückschritt an, und es hat nichts mit meiner Musik zu tun, die alles ist, was mich interessiert.

«Denken Sie, es besteht die Möglichkeit, dass sich Ihr Masking eventuell auf Ihr Violinspiel ausgeweitet hat?», fragt sie.

Ich öffne den Mund, doch es dauert eine Weile, bis ich antworte. «Das verstehe ich nicht.» Etwas sagt mir, dass mir das hier nicht gefallen wird, und ich fange an zu schwitzen.

«Ich denke, dass Sie herausgefunden haben, wie Sie sich verändern müssen, um andere zufriedenzustellen. Ich habe gesehen, wie Sie Ihre Mimik, Ihr Handeln, sogar was Sie sagen, genau auf das zuschneiden, wovon Sie glauben, dass es mir am liebsten ist. Und jetzt versuchen Sie meiner Vermutung nach, vielleicht unbewusst, Ihre Musik zu dem zu verändern, was den Leuten gefällt. Aber das ist unmöglich, Anna. Weil es Kunst ist. Sie können es nicht jedem recht machen. In der Sekunde, in der Sie Ihre Musik verändern, damit sie einer Person gefällt, werden Sie jemanden verlieren, dem sie so gefiel, wie sie vorher war. Ist es nicht das, was Sie tun, wenn Sie immer wieder von vorn anfangen? Sie müssen lernen, wieder auf sich selbst zu hören, Sie selbst zu sein.»

Ihre Worte überwältigen mich. Ein Teil von mir will sie anschreien, keinen solchen Unsinn zu erzählen, will wütend werden. Ein anderer Teil von mir will weinen, denn wie erbärmlich höre ich mich an? Ich habe Angst, dass sie mich völlig durchschaut hat. Am Ende schreie ich weder, noch weine ich. Ich sitze da wie ein Reh im Scheinwerferlicht, was meine Standardreaktion auf die meisten Dinge ist – Untätigkeit. Ich habe keinen Kampf-oder-Flucht-Instinkt. Ich habe einen Erstarr-Instinkt. Wenn es wirklich schlimm wird, kann ich nicht mal mehr sprechen. Ich werde stumm.

«Was, wenn ich nicht weiß, wie ich damit aufhören soll?», frage ich schließlich.

«Fangen Sie mit kleinen Dingen an, und versuchen Sie es in einer sicheren Umgebung. Wie wäre es zum Beispiel mit Ihrer Familie?», schlägt sie hilfsbereit vor.

Ich nicke, aber das bedeutet nicht wirklich Zustimmung. Ich bin immer noch dabei, ihre Worte zu verarbeiten. Mein Kopf ist wie benebelt, als wir die Sitzung beenden, und ich nehme meine Umgebung gar nicht richtig wahr, bis ich mich draußen auf dem Gehweg wiederfinde.

Mein Handy vibriert hartnäckig in meiner Handtasche, und als ich es herauskrame, sehe ich drei verpasste Anrufe von meinem Freund Julian – keine Sprachnachrichten, er hasst es, Sprachnachrichten zu hinterlassen. Ich seufze. So ruft er nur an, wenn er ausnahmsweise mal nicht auf Geschäftsreise ist und mit mir ausgehen will. Ich bin erschöpft von der Therapie. Im Moment will ich mich einfach nur in meinem hässlichen flauschigen Bademantel auf der Couch zusammenrollen und mir von David Attenborough gesprochene BBC-Dokumentationen ansehen.

Ich will ihn nicht zurückrufen.

Aber ich tue es.

«Hey, Babe», antwortet Julian.

Ich bin allein auf dem Gehweg, trotzdem zwinge ich ein Lächeln auf mein Gesicht und Begeisterung in meine Stimme. «Hi, Jules.»

«Ich hab gehört, dieser neue Burgerladen am Market Square soll gut sein, also hab ich für sieben dort für uns reserviert. Ich will vorher noch ins Fitnessstudio, also muss ich los. Du fehlst mir. Bis später», sagt er schnell.

«Welcher neue Burgerla–», fange ich an zu fragen, doch dann wird mir bewusst, dass er bereits aufgelegt hat. Ich rede mit mir selbst.

Schätze, ich gehe heute Abend aus.

KAPITEL 2

Anna

Geständnis: Ich gebe nicht gern Blowjobs.

Das ist wahrscheinlich kein Gedanke, den ich haben sollte, während ich gerade den Schwanz meines Freundes im Mund habe, aber so ist es nun mal.

Manche Frauen genießen diesen Akt, und ich kann mir vorstellen, dass sie das dazu antreibt, in dieser Disziplin zu brillieren. Für mich allerdings ist es ermüdende, monotone Arbeit, und ich bezweifle, dass ich gut darin bin. Meine Gedanken gehen oft auf Wanderschaft, während ich da unten zugange bin.

Jetzt gerade zum Beispiel gehe ich noch einmal durch, was Jennifer heute bei der Therapie zu mir gesagt hat. Ich hätte gern, dass Sie darauf achten, was Sie sagen und tun, und wenn es etwas ist, das sich nicht richtig und Ihrem wahren Wesen entsprechend anfühlt, wenn es etwas ist, das Sie erschöpft oder unglücklich macht, dann möchte ich, dass Sie sich überlegen, warum Sie es tun. Und wenn es keinen guten Grund dafür gibt … versuchen Sie, es nicht zu tun.

Während Julian meinen Kopf auf und ab führt, denke ich darüber nach, dass mir der Kiefer schmerzt und ich es leid bin – ist er überhaupt bei der Sache? Es war ein langer Tag, und nachdem ich während des ganzen Abendessens für ihn gelächelt und mich munter gegeben habe, ist mein Durchhaltevermögen erschöpft. Aber ich mache weiter. Sein Vergnügen soll schließlich mein Vergnügen sein. Es sollte keine Rolle spielen, ob es ewig dauert.

Bitte lass es nicht ewig dauern.

Natürlich führt dieser Gedankengang dazu, dass ich mich an diesen Spruch erinnere, den jeder irgendwann in seiner Kindheit von seiner Mutter zu hören bekommt: Mach kein solches Gesicht, sonst bleibt es ewig so. Wenn ich für den Rest meines Lebens mit diesem Blowjob-Gesicht geschlagen bin, kann ich mir genauso gut gleich die Kugel geben.

Endlich kommt er, und ich setze mich zurück auf die Fersen, dabei reibe ich über die Falten um meinen Mund. Sie haben sich tief in meine Haut eingegraben, und ich weiß aus Erfahrung, dass es mehrere Minuten dauern wird, bis sie wieder weggehen. Mein Mund ist voll, und ich zwinge mich zu schlucken, obwohl es mich dabei schüttelt. Am Anfang unserer Beziehung hat Julian mir gesagt, dass es seine Gefühle verletzt, wenn Frauen nicht schlucken, dass er sich dadurch zurückgewiesen fühlt. Folglich habe ich zum Schutz seines emotionalen Wohlbefindens wahrscheinlich schon zig Liter seines Spermas geschluckt.

Er küsst meine Schläfe – nicht meinen Mund. Er weigert sich, mich auf den Mund zu küssen, nachdem ich ihm einen geblasen habe, und heute Abend macht mir das nichts aus. Als er mich vorhin geküsst hat, hat er nach Hamburger geschmeckt. Während er seinen Penis wieder in die Hose stopft und den Reißverschluss hochzieht, wirft er mir ein Lächeln zu, dann schnappt er sich die Fernbedienung und lehnt sich zurück ans Kopfteil des Bettes. Er ist der Inbegriff von Entspannung und Zufriedenheit.

Ich gehe ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, wobei ich darauf achte, gründlich Zahnseide und Mundwasser zu benutzen. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass mir Spermien zwischen den Zähnen stecken oder auf meiner Zunge herumzappeln.

Als ich zurück aufs Bett krieche, um meinen üblichen Platz neben ihm einzunehmen, wo ich für gewöhnlich auf meinem Handy in den sozialen Medien surfe, während er Sitcoms schaut, pausiert er den Fernseher und sieht mich nachdenklich an.

«Ich finde, wir sollten über die Zukunft reden», sagt er. «Darüber, wie unsere nächsten Schritte aussehen.»

Mein Herz macht einen Satz, und die feinen Härchen auf meiner Haut sträuben sich. Ist das … ein Antrag? Welche Begeisterung ich bei dieser Aussicht auch empfinden mag, sie wird von blankem Entsetzen überwogen. Ich bin nicht bereit für eine Heirat. Ich bin nicht bereit für die Veränderungen, die das mit sich bringen würde. Ich komme kaum mit dem Status quo zurecht.

«Was meinst du damit?», frage ich, wobei ich darauf achte, neutral zu klingen, damit er mir meine Zwiegespaltenheit nicht anmerkt.

Er nimmt meine Hand und drückt sie zärtlich. «Du weißt, was ich für dich empfinde, Babe. Wir passen großartig zusammen.»

Ich setze mein bestes Lächeln auf. «Das finde ich auch.» Meine Eltern lieben ihn. Seine Eltern lieben mich. Wir passen zusammen.

Er streichelt meinen Handrücken, dann entdeckt er einen Fussel auf meinem T-Shirt, zupft ihn fort und wirft ihn auf den Teppich. «Ich glaube, du bist die Richtige für mich, die, die ich heiraten und mit der ich Kinder und ein Haus haben will, all das. Aber bevor wir diesen letzten Schritt gehen und uns für immer binden, möchte ich sicher sein.»

Ich weiß nicht, worauf er damit hinauswill, aber trotzdem lächle ich und sage: «Natürlich.»

«Ich finde, wir sollten uns für eine Weile mit anderen treffen. Nur um sicherzugehen, dass wir andere Möglichkeiten ausgeschlossen haben», sagt er.

Ich blinzle mehrmals verständnislos, während mein Gehirn sich bemüht, den Schock abzuschütteln. «Machst du … Schluss mit mir?» Schon allein diese Worte auszusprechen, lässt mein Herz hämmern. Ich mag zwar noch nicht bereit für die Ehe sein, aber ich will definitiv nicht, dass unsere Beziehung endet. Ich habe viel Zeit und Energie investiert, damit sie funktioniert.

«Nein, wir legen nur eine Pause ein, während wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir sind zusammengekommen, als ich noch an der Uni war. Sollte man gleich das erste Auto kaufen, das man Probe fährt? Oder sollte man nicht lieber noch ein paar andere ausprobieren, um sicherzugehen, dass das erste Auto wirklich so toll ist, wie man denkt?»

Ziemlich entsetzt darüber, dass er mich zu heiraten mit einem Autokauf vergleicht, schüttle ich den Kopf. Ich bin ein Mensch.

Seufzend drückt Julian mein Bein. «Ich finde, wir sollten uns wirklich für eine Weile trennen, Anna. Nicht Schluss machen, nur … auch noch andere Leute treffen.»

«Für wie lange? Und wie sind die Regeln?», frage ich – in der Hoffnung, dass es mit zusätzlichen Informationen mehr Sinn ergibt.

Er konzentriert sich auf das angehaltene Fernsehbild, während er antwortet. «Ein paar Monate sollten reichen, findest du nicht? Was Regeln betrifft …» Er zuckt mit den Schultern und wirft mir kurz einen Blick zu. «Lassen wir es einfach mal laufen und sehen, wie es sich entwickelt.»

«Du wirst mit anderen Sex haben?» Bei dem Gedanken braut sich ein unangenehmes Gefühl in meinem Bauch zusammen.

«Abgesehen von dir war ich nur mit einer anderen zusammen. Wenn wir heiraten, möchte ich das ohne Bedauern tun. Ich möchte nicht das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben. Ergibt das einen Sinn?», fragt er.

«Es würde dir nichts ausmachen, wenn ich mit jemand anderem schlafe?», frage ich verletzt und bin mir nicht mal sicher, warum. Er lässt es so vernünftig klingen.

Er schmunzelt leicht. «Ich glaube nicht, dass du mit jemand anderem schlafen wirst. Ich kenne dich, Anna.»

Er klingt so überzeugt, dass ich eine finstere Miene ziehe.

«Was denn? Du magst Sex doch gar nicht», sagt er mit einem Lachen.

«Das ist nicht wahr.» Nicht ganz. Ich hatte zweimal einen Orgasmus mit ihm. (Zweimal in fünf Jahren.) Und selbst wenn ich den Sex an sich nicht mag, gefällt es mir, ihm nahe zu sein, mich mit ihm verbunden zu fühlen.

Es gibt mir das Gefühl, weniger allein zu sein. Manchmal.

Lächelnd nimmt er meine Hand und drückt sie. «Ich muss nur wissen, was es sonst noch da draußen gibt», kehrt er wieder zum Hauptthema dieser Unterhaltung zurück. «Denn wenn wir heiraten, möchte ich, dass es für immer ist. Ich will mich nicht zwei Jahre später wieder scheiden lassen, weißt du? Verstehst du, was ich meine?»

Ich blicke hinunter auf unsere verschränkten Hände. Ich weiß, dass ich Ja sagen oder nicken sollte, aber ich kann mich nicht ganz dazu durchringen. Sein Vorschlag macht mich unerklärlich traurig.

«Ich werde jetzt gehen», sage ich, während ich seine Hand wegschiebe und aus dem Bett steige.

«Ach, komm schon, Anna. Bleib hier», protestiert er. «Sei nicht so.»

Ich reibe an den Falten um meinen Mund, die immer noch nicht ganz verschwunden sind. «Ich brauche ein bisschen Zeit, bevor –» Ich verstumme, als mir bewusst wird, dass er nicht warten wird, bis ich bereit bin, diesen Plan von ihm durchzuziehen. Er hat mich nicht um Erlaubnis gefragt. Er hat es bereits beschlossen. Ich kann mitmachen, oder ich kann ihn verlieren. «Ich muss darüber nachdenken.»

Obwohl er weiter protestiert, gehe ich. Im Aufzug sacke ich überwältigt und den Tränen nahe gegen die Wand. Ich hole mein Handy raus und tippe eine Nachricht an meine engsten Freundinnen, Rose und Suzie. Julian hat mir gerade gesagt, er möchte, dass wir uns für eine Weile mit anderen treffen. Er denkt, dass ich die bin, die er heiraten will, aber bevor er sich festlegt, will er sicher sein. Er will nichts bereuen müssen.

Es ist schon spät, deshalb rechne ich nicht damit, dass sie sofort antworten, besonders nicht Rose, die in einer anderen Zeitzone lebt. Ich brauche einfach nur das Gefühl, jemanden zu haben, an den ich mich wenden kann, wenn rings um mich herum alles zusammenbricht. Zu meiner Überraschung leuchten sofort Nachrichten auf meinem Display auf.

OMG WTF?! ICH WERD IHM DEN ARSCH AUFREISSEN, schreibt Rose.

WAS FÜR EIN ARSCHLOCH!!!!!, schreibt Suzie.

Dass sie in meinem Namen sofort so empört sind, lässt mich verblüfft auflachen, und innig drücke ich mein Handy an die Brust. Die beiden sind die besten Freundinnen, die ich habe. Das ist ein bisschen seltsam, weil wir uns noch nie persönlich begegnet sind. Wir haben uns über Social-Media-Gruppen für klassische Musiker kennengelernt. Rose spielt Violine für das Toronto Symphony Orchestra. Suzie Cello für das Los Angeles Philharmonic.

Ich bin froh, dass ihr beide euch darüber aufregt, sage ich ihnen. Er hat so getan, als wäre er unglaublich vernünftig, und dadurch habe ich schon an mir selbst gezweifelt.

DAS IST NICHT VERNÜNFTIG, schreibt Rose.

Das ist es nicht!, pflichtet Suzie bei. Ich kann nicht glauben, dass er das gesagt hat!!!

Die Aufzugstür öffnet sich, und ich haste durch die noble Eingangshalle von Julians Apartmentgebäude (seine Eltern haben ihm die Eigentumswohnung zu seinem MBA-Abschluss an der Stanford geschenkt). Während ich zu Fuß nach Hause gehe, schreibe ich weiter. Ich habe ihn gefragt, ob er mit anderen schlafen will, und er ist der Frage ausgewichen. Ziemlich sicher bedeutet das, dass Sex zur Option steht. Ist es engstirnig von mir, dass ich das gar nicht gut finde?

Also ich würde das absolut nicht gut finden, schreibt Rose.

Suzie antwortet: Ich auch nicht!!!!

Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Außer, ihr wisst schon, auszugehen und Rachesex mit einem Haufen beliebiger Typen zu haben, schreibe ich.

Ich erwarte, dass sie mit Lachen darauf reagieren, aber stattdessen wird es im Gruppenchat einige Momente lang unheimlich still. Autos fahren vorbei, und ihre Motoren klingen in der Stille der Nacht besonders laut. Stirnrunzelnd sehe ich nach, ob ich vielleicht keinen Empfang mehr habe – da ist nur ein einziger winziger Strich. Ich halte mein Handy höher, nur für den Fall, dass ich dadurch einen zusätzlichen Mini-Netzbalken bekomme.

Suzie schreibt als Erste. Vielleicht solltest du diese Gelegenheit nutzen, dich mit anderen zu treffen.

Ich bin derselben Meinung wie Suz. Würde ihm recht geschehen, fügt Rose hinzu.

Ich sage nicht, du musst mit irgendjemandem schlafen, aber du könntest den Spieß umdrehen. Sehen, ob ER der Richtige für DICH ist. Jemand anderes könnte vielleicht besser zu dir passen, schreibt Suzie.

Das macht so viel Sinn, Suz. Denk drüber nach, Anna, schreibt Rose.

Ich kann mir eine Grimasse nicht verkneifen, als ich mit den Daumen meine Antwort tippe. Neue Leute kennenzulernen ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Ich hatte seit fünf Jahren keine Dates mehr. Ich glaube, ich hab vergessen, wie das geht. Um ehrlich zu sein, hab ich Angst.

Hab keine Angst!, befiehlt mir Rose.

Dating kann Spaß machen und irgendwie entspannend sein, sagt Suzie. Das ist kein Vorspielen für ein Orchester oder so was. Du schaust einfach nur, ob du und diese andere Person zusammenpasst. Wenn du denjenigen nicht magst oder etwas Peinliches passiert, brauchst du ihn nie wieder zu sehen. Da ist kein Druck. Bei jeder Verabredung habe ich ein bisschen mehr über mich selbst herausgefunden. Man muss nicht ständig versuchen, jemand anderes zu sein, weißt du, was ich meine?

Außerdem, als guter Rat von einer, die das schon oft gemacht hat: One-Night-Stands können das Selbstbewusstsein stärken. So habe ich gelernt, einzufordern, was ich im Bett will, und mich nicht dafür zu schämen. 100%ige Empfehlung, schreibt Rose und fügt noch einen zwinkernden Smiley hinzu.

Du bringst mich fast dazu, es zu bereuen, verheiratet zu sein, schreibt Suzie.

Rose’ Ratschlag schlägt eine Saite in mir an, obwohl ich nicht ganz sicher bin, was genau da bei mir Anklang findet. Ich weiß, das hier ist eine dieser Unterhaltungen, die ich im Geiste tagelang immer wieder abspielen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln analysieren werde.

Mein altmodisches Apartmentgebäude kommt in Sicht, viktorianische Dächer und winzige schmiedeeiserne Balkone mit gepflegten Blumenkästen. Zu Hause. Plötzlich wird mir bewusst, wie ausgelaugt ich in jeder Hinsicht bin. Sogar meine Daumen sind müde, als ich eine letzte Reihe von Nachrichten tippe. Ich muss darüber nachdenken. Bin gerade nach Hause gekommen. Werde gleich ins Bett gehen. Danke, dass ihr mit mir darüber geredet habt. Ich fühle mich schon besser. Tut mir leid, dass ich euch so spät gestört habe. Hab euch lieb, Leute.

Du störst nicht. Wir lieben dich!, schreibt Suzie.

Jederzeit! HAB DICH LIEB! Gute Nacht!, schreibt Rose.

KAPITEL 3

Quan

Ich bin möglicherweise süchtig.

Süchtig nach Laufen. Wenn meine Mom mich beim Drogennehmen ertappen würde, wäre sie mit dem Kochlöffel hinter mir her – aber sie würde mich nicht erwischen. Gestern bin ich drei Stunden gelaufen, und heute tu ich es schon wieder, obwohl mein linkes Knie Zicken macht. Ich kann anscheinend einfach nicht aufhören. In letzter Zeit ist es das Einzige, was mich ablenkt.

Als ich in meine Straße einbiege, herrscht Ruhe in meinem Kopf, und ich will nur noch ein kaltes Glas Wasser und Eis für mein Knie, doch vor meinem Apartmentgebäude wartet Michael. Er trägt eine Sonnenbrille, seine Haare sind perfekt, und er sieht aus, als wäre er bereit für ein Mode-Shooting. Es ist irgendwie ekelhaft.

«Hey», sage ich, während ich mir mit der Vorderseite meines Shirts den Schweiß vom Gesicht wische. «Was ist los?» Es ist Samstag, und da hat er immer irgendwas mit seiner Frau Stella vor. Es ist ungewöhnlich, dass er hier ist.

Michael schiebt sich die Sonnenbrille auf die Stirn und sieht mir direkt in die Augen. «Du bist nicht rangegangen, also hab ich angefangen, mir Sorgen zu machen.»

«Ich hab wohl wieder vergessen, den Nicht-stören-Modus auszuschalten.» Ich nehme mein Handy aus dem Handyhalter an meinen Arm, und tatsächlich, da ist eine Reihe verpasster Anrufe. «Tut mir leid.»

«Das sieht dir nicht ähnlich», sagt Michael.

«Ich hab’s vergessen», erwidere ich mit einem Schulterzucken und gehe dabei absichtlich dem eigentlichen Thema aus dem Weg. Ich weiß, worauf er hinauswill. Ich will nur nicht darüber reden.

Aber er lässt mich damit nicht durchkommen. «Also, hast du vom Arzt schon was gehört? Was hat er gesagt?» Falten haben sich in sein Gesicht gegraben, und jetzt erst bemerke ich, dass er dunkle Ringe unter den Augen hat.

Ich schätze, das ist meinetwegen, und das tut mir leid. Er hat in den letzten zwei Jahren wirklich versucht, für mich da zu sein. Aber manche Dinge muss ich einfach allein tun. Ich drücke seinen Arm und lächle beruhigend. «Es ist offiziell, mir geht es gut. Vollständig genesen.»

Seine Augen werden schmal. «Lügst du, weil du glaubst, dass ich mit der Wahrheit nicht umgehen kann?»

«Nein, es geht mir wirklich wieder gut», erwidere ich mit einem Lachen. «Ich würde es dir sagen, wenn es nicht so wäre.» Von meinem beeinträchtigten Knie mal abgesehen war ich noch nie gesünder. Es hätte viel schlimmer kommen können, und ich weiß, wie viel Glück ich habe. Ich bin dankbarer, als es mit Worten zu beschreiben ist.

Aber große Ereignisse im Leben verändern einen, und ich bin nicht mehr der, der ich einmal war. Ich muss mich erst wieder zurechtfinden.

Michael überrascht mich mit einer erdrückenden Umarmung. «Du Wichser! Ich hatte solche Angst wegen dir!» Er lässt mich wieder los, lacht zwischen tiefen Atemzügen und wischt sich die Augen, die verdächtig rot sind. Bei dem Anblick fangen meine eigenen Augen an zu brennen, und wir sind kurz vor einem emotionalen Männermoment, doch dann verzieht er das Gesicht und wischt sich die Hände an der Hose ab. «Du bist voll nass und eklig.»

Erleichtert darüber, dass der intensive Augenblick vorbei ist, schmunzle ich und kann kaum dem Impuls widerstehen, ihn mit meiner schweißnassen Achsel in den Schwitzkasten zu nehmen. Vor zwei Jahren hätte ich es ohne zu zögern getan. Na bitte! Ich bin verändert.

Er will wahrscheinlich reden, also setze ich mich auf die Stufen vor dem Gebäude und bedeute ihm, neben mir Platz zu nehmen, was er auch tut. Eine Weile sitzen wir Seite an Seite und genießen den Nachmittag, die kühle Luft, das Rascheln der Blätter an den Bäumen entlang der Straße, die gelegentlich vorbeifahrenden Autos. Es ist irgendwie so wie damals, als wir noch Kinder waren und bei mir zu Hause auf der Veranda gesessen und dem Obdachlosen zugesehen haben, der in nichts als einem T-Shirt vorbeilief. Ernsthaft, warum zieht man ein Shirt an, wenn man seinen Schwanz raushängen lässt?

«Ich würde dich ja reinbitten, aber bei mir stinkt’s. Ich glaube, es ist das Geschirr.» Ich habe nicht mehr abgespült, seit … Keine Ahnung, wie lang. Ziemlich sicher wächst da schon Schimmel drauf. In letzter Zeit habe ich oft auswärts gegessen, aus purer Faulheit und um Geschirr zu vermeiden.

Michael lacht und schüttelt den Kopf. «Vielleicht solltest du eine Reinigungskraft einstellen.»

«Pff.» Ich weiß nicht, wie ich erklären soll, dass mir nicht danach ist, mich mit einer fremden Person in meiner Wohnung auseinanderzusetzen. Ich bin ein geselliger Mensch. Fremde stören mich normalerweise nicht.

«Was sagt dein Arzt in Bezug aufs Daten … und andere Sachen? Hast du dafür schon wieder grünes Licht?», fragt Michael, wobei er einen sorgfältig neutralen Blick in meine Richtung wirft.

Ich reibe mir den Nacken, während ich antworte. «Dafür hab ich schon lange grünes Licht. Manche tun es schon wenige Wochen nach der Operation wieder, aber das ist irgendwie extrem. Das würde wehtun, weißt du?»

«Aber jetzt bist du wieder okay, richtig?»

«Ja.» Mehr oder weniger.

«Also triffst du dich schon wieder mit Frauen?», lässt Michael nicht locker.

«Nicht wirklich.» Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, versteht er, dass ich eigentlich «überhaupt nicht» meine. Mein Körper fühlt sich auf eine Weise persönlich an, wie es vorher nie der Fall war. Sich vor jemandem auszuziehen war in der Vergangenheit nie eine große Sache. Sex war nie eine große Sache. Außerdem war ich gut darin, und das war immer ein Push fürs Selbstvertrauen. Aber jetzt bin ich von Narben gezeichnet und ein bisschen kaputt. Ich bin nicht mehr, wer ich war.

Michael sieht mich lange an, bevor er nach ein paar Steinen auf dem Asphalt tritt. «Ich habe darüber nachgedacht, wie du dich vielleicht fühlst. Ich kann nicht behaupten, dass ich es wirklich weiß, weil ich nicht betroffen bin. Aber hast du mal daran gedacht, das Pflaster einfach mit einem Ruck abzureißen?»

«Du meinst, mich auszuziehen und am Naked Bike Day nackt durch San Francisco zu radeln?», frage ich.

Michael verzieht das Gesicht, als hätte er Schmerzen. «Kannst du überhaupt noch Rad fahren nach allem?»

Ich werfe ihm einen entnervten Blick zu. «Wenn du dabei auf deinen Eiern sitzt, dann machst du was falsch.»

Er lacht und reibt sich müde mit einer Hand übers Gesicht. «Tut mir leid, du hast ja recht. Und nein, der Naked Bike Day war nicht, was ich gemeint habe. Ich dachte, wenn du dich unwohl dabei fühlst, wieder mit jemandem zusammen zu sein, dann würde es vielleicht helfen, einfach etwas Unverbindliches zu machen, bei dem es keine Rolle spielt. Wie einen One-Night-Stand, weißt du? Einfach das erste Mal hinter dich bringen. Und du weißt, was ich mit ‹erstem Mal› meine.»

«Ja, das weiß ich. Ich habe auch schon darüber nachgedacht.» Es ist nur so, dass die Vorstellung ein leeres Gefühl bei mir hinterlässt, was mir nicht ähnlichsieht. Unverbindlicher Sex war immer mein Ding. Keine Verpflichtungen. Keine Erwartungen. Keine Versprechungen. Nur einvernehmlicher Spaß zwischen zwei Erwachsenen.

«Ich habe eine gute Bekannte, die –»

Mein ganzer Körper erschaudert, und ich warte nicht, bis er zu Ende gesprochen hat, bevor ich erwidere: «Danke, aber nein danke. Ich will nicht mit irgendjemandem verkuppelt werden.» Am allerwenigsten mit einer von Michaels weiblichen Bekannten. Sie versuchen es zu verbergen, weil er vergeben ist, aber sie sind alle verliebt in ihn. Ich will nicht irgendeine komische Art Trostpreis sein. Und was für ein Preis wäre ich überhaupt, so, wie ich bin? «Ich weiß, wie man Leute trifft.»

«Aber wirst du auch tatsächlich rausgehen und es tun?», fragt Michael. «Soweit ich sehen kann, ist alles, was du momentan machst, arbeiten und laufen.»

Ich zucke mit den Schultern. «Ich werde meine Dating-Apps wieder installieren. Das ist einfach.» Und irgendwie langweilig. Es ist immer das Gleiche – heiße Frauen anschreiben, dieselben witzigen Sprüche recyceln, Zeit und Ort vereinbaren, sich treffen und flirten und alles, der Sex, und dann hinterher allein nach Hause gehen.

Michael wirft mir einen skeptischen Blick zu, und ich gebe ein Schnauben von mir und entsperre mein Handy.

«Hier, ich mach es jetzt gleich. Du kannst zusehen.» Ich lade eine Reihe von Apps herunter, einige, die ich schon mal benutzt habe, einige, die ich noch nicht benutzt habe.

Michael zeigt auf eine der Apps und zieht die Augenbrauen hoch. «Ziemlich sicher, dass die inzwischen nur noch Prostituierte und Drogendealer verwenden.»

«Du verarschst mich.» Es ist eine bekannte App, die vor zwei Jahren jeder genutzt hat.

Nachdrücklich schüttelt er den Kopf. «Es gibt einen regelrechten Code, in dem sie sprechen, um Cops und Kriminalbeamte und so zu umgehen. Ich würde dir diese App wirklich nicht empfehlen. Sonst wird es schnell peinlich. Brauchst du Tipps in Sachen Anmachsprüche oder so? Du machst mir irgendwie Angst.»

Ich lösche die App und werfe ihm einen beleidigten Blick zu. «Ich hatte Krebs, keinen Gedächtnisverlust. Ich weiß noch, wie man Frauen klarmacht. Woher weißt du das mit dieser App überhaupt? Du hast mit dem Daten noch vor mir aufgehört.»

Michael zuckt gelassen mit den Schultern. «Die Leute erzählen mir alles Mögliche. Du kannst mir alles Mögliche erzählen. Jederzeit. Egal, was. Das weißt du doch, oder?»

«Ja, das weiß ich.» Ich stoße einen angespannten Seufzer aus. «Und ich bin froh, dass du vorbeigeschaut hast. Ich muss vorwärtskommen. Das wird mir guttun. Also … Danke.»

Er lächelt leicht. «Dann werde ich mal wieder gehen. Stellas Eltern kommen zum Abendessen, und ich hab noch nichts eingekauft. Es sei denn, du willst auch kommen?»

«Nein, danke», antworte ich schnell. Stellas Eltern sind nett und alles, aber sie sind so anständig und korrekt, dass ich mich in ihrer Gegenwart immer so fühle, als wäre ich ins Büro des Schulleiters zitiert worden. Ich habe schon zu viel Zeit in den Büros von Schulleitern verbracht.

«Sag mir Bescheid, wie es läuft, okay?», bittet Michael.

Ich komme mir dumm dabei vor, aber ich zeige ihm einen Daumen nach oben.

Mit einem Winken zum Abschied macht er sich auf den Weg. Erst als er um die Ecke verschwindet, bemerke ich den hohlen Schmerz in meiner Brust. Er fehlt mir. Es ist Wochenende, der Abend rollt heran, und ich bin mir überdeutlich bewusst, dass ich ganz allein bin.

Ich rufe eine meiner alten Apps auf und fange an, mein Profil zu bearbeiten.

KAPITEL 4

Anna

Am nächsten Morgen wache ich auf meinem Sofa in genau derselben Position auf, in der ich am Abend zuvor darauf zusammengebrochen bin, zu müde, um mich das zusätzliche Stück zu meinem Schlafzimmer zu schleppen. Ich habe geschlafen wie tot, und im Wesentlichen fühle ich mich heute auch so. Mein Kopf hämmert, und meine Muskeln schmerzen. Es ist, als wäre ich verkatert, ohne den Spaß gehabt zu haben, mich tatsächlich zu betrinken. Gestern war einfach zu viel. Die sich endlos wiederholende Hölle des Violineübens. Die Therapie. Das Abendessen mit Julian. Der Blowjob. Unsere Diskussion.

Argh, ich bin jetzt in einer offenen Beziehung. Ich muss mich entscheiden, ob ich wieder zu daten anfangen möchte. Stöhnend drücke ich mir ein Sofakissen aufs Gesicht. Ich sollte aufstehen und in meinen Tag starten, aber ich habe null Lust, irgendetwas zu tun.

Meine Handtasche vibriert an meinem Oberschenkel, und ich stecke schlapp die Hand hinein, um halbherzig nach meinem Handy zu kramen. Falls meine Mom mich wegen irgendetwas anbrüllen will, werde ich sie bis Mittag ignorieren. Ich kann mich mit ihr im Moment einfach noch nicht auseinandersetzen.

Wie sich herausstellt, ist es keine Textnachricht von meiner Mom. Es ist ein Foto von Rose’ flauschiger weißer Perserkatze in einem pinkfarbenen Tutu. Sie hat das Foto nur an mich geschickt, weil Suz eine Spätaufsteherin ist.

Wie findest du’s?, fragt sie.

Ich lache leise in mich hinein, während ich zurückschreibe. Du setzt jedes Mal dein Leben aufs Spiel, wenn du so was mit ihr machst.

Ich weiß. Ich kann froh sein, dass ich noch alle Finger habe. Aber sie sieht so hübsch aus!, antwortet sie.

Sie sieht aus, als würde sie deine Ermordung planen, sage ich ihr.

Aber dann ermordet sie mich MIT STIL, antwortet sie, dann macht sie eine kurze Pause, bevor sie mir erneut schreibt. Wie geht’s dir heute?

Ich habe keine Energie, genauer darauf einzugehen, also halte ich es schlicht. Ganz okay. Bin noch am Verarbeiten. Danke, dass du fragst.

Ich glaube wirklich, dass du es mit Daten versuchen solltest. Das hab ich ernst gemeint, dass es mir dabei geholfen hat, mein Selbstbewusstsein zu stärken, sagt sie.

Ich werd drüber nachdenken, antworte ich, und weil ich nicht will, dass sich alles nur um mich dreht, frage ich: Bist du müde heute? Als du mir geschrieben hast, war es bei dir schon nach Mitternacht.

Ja, so müde. Konnte letzte Nacht nicht schlafen. Ich sollte diese Woche eine Rückmeldung von den Produzenten dieser Sondersendung im Fernsehen bekommen.

Ich bin sicher, du kriegst eine Zusage. Du bist genau das, was sie brauchen, sage ich.

Das hoffe ich! Ich liebe, liebe, liebe dieses Stück einfach.

Bei ihrer Bemerkung flackert Neid in meiner Brust auf, und ich verabscheue mich selbst dafür. Ich wünschte, ich würde Musik immer noch so lieben wie sie und dass die Musik mir Freude machen würde statt dieses erstickenden Drucks. Aber ich werde mich für sie freuen, falls sich diese Gelegenheit für sie ergibt. Ich bin kein komplettes Monster.

Wie geht es dir mit dem Richter-Stück? Irgendwelche Fortschritte?, fragt sie.

Ich hasse es, über meine Fortschritte bei dem Richter-Stück zu sprechen – weil es nie welche gibt –, also halte ich meine Antwort kurz. Nein. Aber ich werde es trotzdem weiter versuchen. Ich sollte mich an die Arbeit machen.

Viel Glück!, sagt sie. Eines Tages wird alles nur so aus dir herausströmen. Du bist im Moment einfach nur kreativ blockiert.

Ich glaube ihr nicht, aber ich antworte leichthin, damit sie das hier nicht zu einem langen Motivationsgespräch ausweitet. Hoffentlich. Wünsch dir einen schönen Tag!

Ich will nicht, aber meine Blase zwingt mich dazu, aufzustehen und ins Bad zu tappen. Schlechten Instantkaffee und einen halben Bagel später schleppe ich mich zu meinem Sekretär in der Ecke des Wohnzimmers, wo mein schwarzer Geigenkasten residiert. Stein liegt neben dem Kasten, das aufgemalte Lächeln zu mir hochgerichtet, und ich streichle ihn zur Begrüßung.

«Du bist so ein braver Junge», sage ich. «Der süßeste Stein, den ich je gesehen habe.»

Sein Lächeln bewegt sich nicht, natürlich tut es das nicht, aber ich sehe ihm an, dass er sich über die Aufmerksamkeit freut. Wenn er einen Schwanz hätte, würde er unkontrolliert damit wedeln. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich ein schlechtes Zeichen ist, einen Stein zu behandeln wie ein lebendiges Wesen, aber seine schief aufgemalten Züge haben etwas an sich, das ihm zusätzlichen Charakter verleiht. Ich kann sehen, dass er will, dass ich mich an die Arbeit mache, und seufzend richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Geigenkasten.

Mein Leben ist in diesem Kasten. Der beste Teil davon. Und auch der schlechteste. Die höchsten Höhepunkte und die tiefsten Tiefpunkte. Überwältigende Freude, Sehnsucht, Ehrgeiz, Hingabe, Verzweiflung, Seelenqual. Alles genau hier.

Das ist das Ritual: Ich streiche mit den Fingerspitzen über den Deckel des Kastens, öffne die Schnappverschlüsse und klappe ihn auf. Ich nehme meinen Bogen heraus und spanne die Rosshaare, trage Kolophonium auf. Ich schließe die Augen, während ich den Kiefernduft einatme. So riecht Musik für mich, nach Kiefern und Staub und Holz. Ich nehme meine Violine heraus und stimme die Saiten, angefangen beim A. Die Misstöne entspannen mich. Die Spannung der Saiten zu justieren entspannt mich. Die Töne richtig klingen zu lassen entspannt mich, die Vertrautheit, die Alltäglichkeit, die Illusion von Kontrolle.

Ich fange mit Tonleitern an. Künstlerisch können die Kritiker über mich sagen, was sie wollen, aber was meine technischen Fähigkeiten betrifft, war ich schon immer eine starke Violinistin. Das kommt von diesen Tonleitern, von der Tatsache, dass ich sie jeden Tag eine Stunde lang übe, bei Regen oder Sonnenschein, ob ich krank oder gesund bin. Ich stelle mir meinen Alarm und gehe meine Lieblingstonarten durch, Kreuz- und b-Tonleitern, Dur und Moll, Arpeggios, Naturtonreihen. Die Noten erklingen mühelos aus meiner Violine, fließend, so langsam oder schnell, wie ich sie haben will.

Letzten Endes sind Tonleitern allerdings nur Muster. Sie sind keine Kunst. Sie haben keine Seele. Ein Roboter kann Tonleitern spielen. Aber Musik …

Als der Alarm meines Handys klingelt, stelle ich ihn aus und gehe hinüber zum Notenständer neben den Türen meines kleinen Balkons, der auf die Straße darunter blickt. Dort liegen die Notenblätter für mich bereit, aber ich brauche sie nicht wirklich. Ich habe die Noten schon lange auswendig gelernt. Meistens sehe ich sie im Schlaf vor mir.

Oben auf Seite eins steht: «Ohne Titel für Anna Sun, von Max Richter», und schon allein diese Überschrift lässt mich beinahe hyperventilieren. Es gibt wahrscheinlich Violinisten, die einen Mord begehen würden, wenn das Max dazu inspirieren würde, etwas für sie zu schreiben, und dennoch lasse ich diese Seiten hier in meinem Wohnzimmer Staub ansetzen.

Ich werfe einen Blick hinüber zu Stein, und sein Lächeln sieht jetzt ein bisschen angespannt, ein bisschen ungeduldig aus. Er will, dass ich in die Gänge komme.

«Okay, okay», sage ich. Ich hole tief Luft, straffe den Rücken, lege meine Violine unters Kinn und setze den Bogen auf den Saiten an.

Das ist das letzte Mal, dass ich von vorne anfange.

Nur klingt nichts richtig, und als ich zum sechzehnten Takt komme, weiß ich, dass alles Mist war. Ich spiele es nicht mit der richtigen Menge Gefühl. Das kann ich hören, und wenn ich es kann, dann können andere es auch. Ich breche ab und gehe zurück zum Anfang.

Das ist jetzt das letzte Mal, dass ich von vorne anfange.

Aber nun klinge ich, als würde ich mir zu viel Mühe geben. So eine Kritik zu bekommen ist schrecklich. Zurück zum Anfang.

Das ist jetzt wirklich das letzte Mal, dass ich von vorne anfange.

Aber das ist es nicht. Ich bin eine Lügnerin. Ich fange so oft von vorne an, dass ich, als mein Alarm klingelt, um mir zu sagen, dass es Zeit zum Mittagessen ist, völlig den Überblick verloren habe, wie viele Neuanfänge ich hatte. Ich weiß nur, dass ich erschöpft und hungrig und den Tränen nahe bin.

Ich lege meine Violine weg, aber anstatt in die Küche zu gehen, um die Reste der Reste von gestern aufzuwärmen, sacke ich auf dem Boden zusammen und vergrabe das Gesicht in den Händen.

Ich kann so nicht weitermachen.

Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Verstand. Ich kann es sehen, wenn ich einen Schritt zurücktrete und mein Handeln analysiere, aber wenn ich übe, merke ich es nie. Mein verzweifelter Wunsch, andere zufriedenzustellen, macht mich taub, sodass ich die Musik nicht mehr so hören kann wie früher. Ich höre nur, was falsch ist. Und der Zwang, von vorne anzufangen, ist unwiderstehlich.

Denn das ist der einzige Ort, wo wahre Perfektion existiert – die leere Seite. Nichts von dem, was ich tatsächlich tue, kann mit dem grenzenlosen Potenzial dessen konkurrieren, was ich tun könnte. Aber wenn ich mich durch die Angst vor Imperfektion in unaufhörlichen Anfängen gefangen halten lasse, werde ich nie wieder irgendetwas erschaffen. Bin ich dann überhaupt eine Künstlerin? Welchen Sinn habe ich dann?

Ich muss etwas ändern. Ich muss etwas tun und die Kontrolle über diese Situation übernehmen, sonst bleibe ich für immer in dieser Hölle gefangen.

Jennifer sagte, dass ich aufhören muss, eine Maske zu tragen und es allen recht machen zu wollen, und dass ich mit kleinen Dingen anfangen soll, in einer sicheren Umgebung. Ihr Vorschlag, es in der Familie zu versuchen, ist allerdings lächerlich. Die Familie ist nicht sicher. Nicht für mich. Liebevolle Strenge ist brutal ehrlich und tut dir weh, um dir zu helfen. Liebevolle Strenge schlitzt dich auf, wenn du bereits blaue Flecken hast, und schimpft dich aus, wenn du nicht schnell genug wieder heilst.

Wenn ich damit aufhören will, es den Leuten recht zu machen, dann muss ich es beim genauen Gegenteil von Familie versuchen, nämlich … völlig Fremden.

Eines nach dem anderen fügen sich die Teile in meinem Kopf an ihren Platz, wie Stifte in einem Schließzylinder, wenn der passende Schlüssel eingesteckt wird. Aufhören mit diesem Masking. Aufhören, es den Leuten recht zu machen. Rache an Julian. Erfahren, wer ich bin. Selbstbewusstsein stärken.

Entschlossenheit erfasst mich, und ich raffe mich vom Fußboden auf und marschiere in mein Schlafzimmer, um die Schranktür aufzureißen. Ich habe fünfzehn verschiedene schwarze Kleider da drin, ohne tiefe Ausschnitte, ohne kurze Säume, vollkommen sittsame Kleider für die Konzertbühne. Ich schiebe sie beiseite und suche nach etwas, das mein Dekolleté und meine Beine zeigt.

Als ich das rote Kleid sehe, erstarre ich. Ich habe es mir für einen Valentinstag gekauft, an dem Julian nicht hier war, um ihn mit mir zu feiern. Wie es aussieht, werde ich wahrscheinlich nie die Gelegenheit bekommen, es für ihn zu tragen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das überhaupt noch will.

Aber ich kann es für mich tragen.

Ich ziehe meine Sportklamotten von gestern aus, in denen ich nie wirklich Sport gemacht habe, und schlüpfe in das Kleid. Es ist enger als beim letzten Mal, als ich es anprobiert habe, aber es passt noch. Als ich mich umdrehe, reiße ich staunend die Augen darüber auf, wie mein Hintern aussieht. Ein Jammer. Julian wäre begeistert, obwohl er meine Methoden nicht gutheißen würde. Ich habe keine Protein-Shakes getrunken und Stunden im Fitnessstudio mit Squats und Donkey Kicks verbracht. Diese Kurven wurden durch Cheetos geformt.

Ich greife unter meinen Arm und zerre am Preisschild, bis das Plastik reißt. Ich werde in diesem Kleid ausgehen. Vielleicht nicht heute. Aber bald.

Nachdem ich mir mein Handy geschnappt habe, suche ich im App-Store nach «Dating-Apps» und installiere die Top drei.

KAPITEL 5

Quan

Es ist Freitagabend, und ich komme nach einer langen Woche langsam runter, mit einer ganzen Pizza für mich allein, einem kalten Bier und dieser Dokumentation über einen Tintenfisch. Ich hatte seit zwei Jahren kein Sozialleben mehr, also habe ich Netflix inzwischen praktisch leer geschaut, sogar diese Serie über einen Samurai, der angeheuert wird, eine Katze zu töten. Zu meinem Glück bin ich fasziniert vom Ozean und finde Tintenfische cool.

Aber als sich der ausgebrannte Filmemacher mit dem Kraken anfreundet und sie sich Hand und Tentakel schütteln, bin ich, keine Ahnung … traurig. Ich ertappe mich dabei, dass ich die Dating-Apps durchscrolle, die ich die ganze Woche vernachlässigt habe. Ich wurde mit einem Haufen Leuten gematcht.

Tammy. Helles Haar, dunkle Augen, tolles Lächeln, toller Körper. Sie möchte eine große Familie haben, liebt Craftbier und macht eine Ausbildung zur Sonderpädagogin. Ich seufze. Sie ist perfekt – wenn ich nach einer festen Freundin suchen würde. Was ich nicht tue. Passe.