Love Challenge - Helen Hoang - E-Book

Love Challenge E-Book

Helen Hoang

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Erfolgsserie aus den USA. Ein einzigartiger Liebesroman über einen autistischen Mann und die Frau, die ihm die Liebe zeigt … LIEBE IST EINFACH … Seine Mutter will, dass er heiratet. Khai will, dass sie ihn in Ruhe lässt. Also schließen die beiden einen Pakt: Khai wird drei Monate mit der Frau zusammenleben, die seine Mutter für ihn ausgesucht hat. Danach hören die Kuppelversuche auf und sie akzeptiert ein für alle Mal, dass Khai als Autist einfach nicht für die Liebe gemacht ist. … ALLES ANDERE ALS EINFACH! Esme will ein besseres Leben. Für sich und ihre Tochter. Dafür ist sie bereit alles zu tun, selbst in die USA zu fliegen und einen vollkommen Fremden kennenzulernen. Einen extrem attraktiven und etwas sonderbaren Fremden. Sie hat drei Monate Zeit, Khais Herz zu gewinnen. Nur leider ist es viel einfacher, ihr eigenes an ihn zu verlieren! Emotional, sexy und unglaublich anrührend – Der zweite Band der «Kiss, Love & Heart»-Trilogie

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 450

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helen Hoang

Love Challenge

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

LIEBE IST EINFACH …

Seine Mutter will, dass er heiratet. Khai will, dass sie ihn in Ruhe lässt. Also schließen die beiden einen Pakt: Khai wird drei Monate mit der Frau zusammenleben, die seine Mutter für ihn ausgesucht hat. Danach hören die Kuppelversuche auf, und sie akzeptiert ein für alle Mal, dass Khai als Autist einfach nicht für die Liebe gemacht ist.

 

… ALLES ANDERE ALS EINFACH!

Esme will ein besseres Leben. Für sich und ihre Tochter. Dafür ist sie bereit, alles zu tun, selbst in die USA zu fliegen und einen vollkommen Fremden kennenzulernen. Einen extrem attraktiven und etwas sonderbaren Fremden. Sie hat drei Monate Zeit, Khais Herz zu gewinnen. Nur leider ist es viel einfacher, ihr eigenes an ihn zu verlieren!

 

«Ein großartiger, überwältigender Liebesroman.»

Kirkus Reviews

 

«Ernste Momente werden durch perfekt eingesetzten Humor ergänzt. Ein Liebesroman ebenso für Fans des Genres wie auch für Skeptiker.»

Publishers Weekly

Vita

Helen Hoang lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in San Diego, Kalifornien. Sie hat in der achten Klasse ihren ersten Liebesroman gelesen und ist dem Genre seitdem verfallen. 2016, als sie für ihr Debüt recherchierte, erkannte sie erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen dem, was sie las, und ihren eigenen Erfahrungen. Kurz darauf wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine Störung auf dem Autismus-Spektrum. Das Buch, für das sie recherchierte, war «Kissing Lessons», der Auftakt zur «Kiss, Love & Heart»-Reihe. Genauso außergewöhnlich wie die Entstehungsgeschichte wurde auch die Erfolgsgeschichte. Kein anderer Liebesroman wurde 2018 öfter besprochen als dieser, sowohl in der Presse als auch von Lesern. Allein auf Goodreads hat er über 13000 Rezensionen. Etliche Zeitschriften, darunter der Cosmopolitan, Entertainment Weekly und die Washington Post, wählten das Buch in ihre Jahresbestenlisten. Für das Oprah Magazine gehört «Kissing Lessons» bereits jetzt zu den 20 besten Liebesromanen aller Zeiten. Die Übersetzungsrechte wurden in 21 Sprachen verkauft, und eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Nun legt die Autorin mit «Love Challenge» ihren zweiten Roman vor.

Für

Mẹ

Danke, dass du mich geliebt und mich gelehrt hast, meinen Träumen zu folgen. Ich bin stolz, deine Tochter zu sein.

Und

Johnny

Du fehlst mir immer noch, aber besonders bei Hochzeiten.

In Liebe, für immer.

PROLOG

~ Vor zehn Jahren ~ San Jose, Kalifornien

Khai sollte eigentlich weinen. Er wusste, dass er weinen sollte. Alle anderen weinten.

Aber seine Augen waren trocken.

Wenn sie brannten, dann kam das vom schweren Rauch der Räucherstäbchen, der den Saal des Beerdigungsinstituts vernebelte. War er traurig? Er glaubte, dass er traurig war. Aber er sollte trauriger sein. Wenn der beste Freund so starb, sollte man am Boden zerstört sein. Wäre das hier eine vietnamesische Oper, dann würden seine Tränen Flüsse bilden und alle ertränken.

Warum war sein Verstand klar? Warum dachte er an die Hausaufgaben, die morgen fällig waren? Warum funktionierte er noch?

Seine Cousine Sara hatte so heftig geschluchzt, dass sie zur Toilette laufen musste, um sich zu übergeben. Sie war immer noch dadrin, vermutete er, und erbrach sich immer wieder. Ihre Mom, Dì Mai, saß steif in der ersten Reihe, die Handflächen aneinandergelegt und den Kopf gesenkt. Khais Mom streichelte ihr gelegentlich den Rücken, aber sie blieb reglos. Wie Khai vergoss sie keine Tränen, aber das lag daran, dass sie all ihre Tränen schon vor Tagen geweint hatte. Die Familie machte sich Sorgen um sie. Sie war bis auf die Knochen abgemagert, seit sie den Anruf bekommen hatten.

Reihen von buddhistischen Mönchen in gelben Gewändern blockierten ihm die Sicht auf den offenen Sarg, aber das war gut so. Obwohl die Bestatter ihr Bestes getan hatten, sah der Körper deformiert und falsch aus. Das war nicht der sechzehnjährige Junge, der Khais Freund und Lieblingscousin gewesen war. Das war nicht Andy.

Andy war fort.

Das Einzige, was von ihm überlebt hatte, waren die Erinnerungen in Khais Kopf. Kämpfe mit Stöcken und Schwertern, Ringkämpfe, die Khai nie gewann. Aber die Niederlage gestand er auch nie ein. Khai hätte sich lieber beide Arme von Andy brechen lassen, als ihn den großartigsten Kämpfer aller Zeiten oder etwas ähnlich Unsinniges zu nennen. Andy sagte immer, Khai sei krankhaft stur. Khai bestand darauf, dass er einfach nur seine Prinzipien hatte. Er erinnerte sich noch an ihre langen Heimwege zu Fuß, als das Gewicht der Sonne schwerer wog als ihre mit Büchern gefüllten Rucksäcke, und an die Unterhaltungen, die auf diesen Heimwegen stattgefunden hatten.

Selbst jetzt konnte er noch hören, wie sein Cousin ihn verspottete. An die genauen Umstände erinnerte er sich nicht mehr, aber die Worte waren geblieben.

Nichts kommt an dich ran. Es ist, als wäre dein Herz aus Stein.

Damals hatte er Andy nicht verstanden. Jetzt fing er allmählich damit an.

Das Brummen buddhistischer Gesänge erfüllte den Raum, tiefe, seltsame Silben in einer Sprache, die niemand verstand. Es strömte über ihn hinweg und um ihn herum und vibrierte in seinem Kopf, und er konnte nicht aufhören, angespannt mit dem Fuß zu wippen, obwohl ihn die Leute schon schief ansahen. Ein flüchtiger Blick auf seine Uhr bestätigte, ja, das hier dauerte schon Stunden. Er wollte, dass der Lärm aufhörte. Beinahe konnte er sich vorstellen, in den Sarg zu kriechen und den Deckel zu schließen, um das Geräusch auszusperren. Aber dann würde er auf engem Raum mit einer Leiche feststecken, und er war nicht sicher, ob das eine Verbesserung seiner gegenwärtigen Lage darstellen würde.

Wenn Andy hier wäre – am Leben und hier –, dann würden sie zusammen abhauen und etwas zu tun finden, selbst wenn es nur nach draußen gehen wäre, um auf dem Parkplatz Steine herumzukicken. Andy war gut bei so was. Er war immer da, wenn man ihn brauchte. Außer jetzt.

Khais großer Bruder saß neben ihm, aber er wusste, dass Quan nicht früher gehen wollen würde. Beerdigungen waren für Menschen wie Quan erfunden worden. Er brauchte diesen Abschluss oder was auch immer es war, das die Menschen aus Veranstaltungen wie dieser zogen. Mit seiner beeindruckenden Statur und den frischen Tattoos an Hals und Armen sah Quan wie ein knallharter Typ aus, aber seine Augen waren rot gerändert. Von Zeit zu Zeit wischte er sich diskret die Nässe von den Wangen. Wie immer wünschte Khai sich, er könnte mehr wie sein Bruder sein.

Eine Metallschale erklang, und der Gesang hörte auf. Die Erleichterung kam jäh und schwindelerregend, als hätte sich ein gewaltiger Druck plötzlich aufgelöst. Die Mönche schlossen zusammen mit den Leichenträgern den Sarg, und bald darauf schritt eine ernste Prozession durch den Mittelgang. Weil er es nicht mochte, in einer Schlange zu stehen und die klaustrophobische Nähe von Körpern zu spüren, blieb er sitzen, als Quan aufstand, ihm einmal die Schulter drückte und sich dem Auszug anschloss.

Er sah zu, wie Verwandte vorbeischlurften. Manche weinten offen. Andere waren stoischer, aber ihre Traurigkeit war sogar für ihn offensichtlich. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, entfernte Verwandte und Freunde der Familie, sie alle unterstützten einander, vereint durch diese Sache namens Trauer. Wie üblich war Khai nicht Teil davon.

Eine Gruppe älterer Frauen, die aus seiner Mom, Dì Mai und zwei seiner anderen Tanten bestand, bildete wegen eines Beinahe-Ohnmachtsanfalls das Ende der Schlange; sie klebten im Erwachsenenalter ebenso eng aneinander, wie sie es schon als junge Mädchen getan hatten. Zumindest sagten das alle. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass die vier Schwarz trugen, hätten sie Gäste einer Hochzeit sein können. Diamanten und Jade zierten ihre Ohren, Hälse und Finger, und er konnte ihr Parfüm durch den Nebel der Räucherstäbchen hindurch riechen.

Als sie an seiner Reihe vorbeikamen, stand er auf und strich sich Quans abgelegtes Jackett glatt. Er musste noch ordentlich wachsen, wenn er das Ding je ausfüllen wollte. Und Klimmzüge machen. Tausende Klimmzüge. Damit würde er heute Abend anfangen.

Als er hochsah, stellte er fest, dass die Tanten alle neben ihm stehen geblieben waren. Dì Mai streckte eine Hand nach seiner Wange aus, hielt aber inne, bevor sie ihn berührte.

Mit ernsten Augen musterte sie sein Gesicht. «Ich dachte, ihr zwei hättet euch nahegestanden. Ist es dir egal, dass er fort ist?»

Sein Herz machte einen Satz und begann, so schnell zu schlagen, dass es weh tat. Als er zu sprechen versuchte, kam nichts heraus. Seine Kehle war zugeschnürt.

«Natürlich haben sie sich nahegestanden», schalt seine Mom ihre Schwester, bevor sie an ihrem Arm zog. «Komm, Mai, lass uns gehen. Sie warten auf uns.»

Wie am Boden festgewachsen sah er ihnen nach, als sie durch die Tür verschwanden. Logisch gesehen wusste er, dass er stehen blieb, aber er fühlte sich, als würde er fallen. Tiefer, tiefer, immer tiefer fallen.

Ich dachte, ihr zwei hättet euch nahegestanden.

Seit seine Grundschullehrerin darauf bestanden hatte, dass seine Eltern mit ihm zu einem Psychologen gingen, wusste er, dass er anders war. Die Mehrheit seiner Familie allerdings ignorierte die Diagnose und meinte, er wäre nur ‹ein bisschen seltsam›. So etwas wie Autismus oder das Asperger-Syndrom gab es im ländlichen Vietnam nicht. Außerdem brachte er sich nicht in Schwierigkeiten und war gut in der Schule. Was machte es da für einen Unterschied?

Ich dachte, ihr zwei hättet euch nahegestanden.

Die Worte wollten nicht aufhören, in seinem Kopf widerzuhallen, und brachten ihn zu einer unwillkommenen Selbsterkenntnis: Er war anders, ja, aber auf schlechte Weise.

Ich dachte, ihr zwei hättet euch nahegestanden.

Andy war nicht nur sein bester Freund gewesen. Er war sein einziger Freund gewesen. Andy hatte Khai so nahegestanden, wie es nur ging. Wenn er nicht um Andy trauern konnte, dann bedeutete das, dass er überhaupt nicht trauern konnte. Und wenn er nicht trauern konnte, dann musste etwas anderes auch stimmen.

Er konnte nicht lieben.

Andy hatte recht gehabt. Khais Herz war wirklich aus sprichwörtlichem Stein.

Diese Erkenntnis breitete sich in ihm aus wie ein Waldbrand. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte nichts anderes tun, als es zu akzeptieren. Das war etwas, das man nicht ändern konnte. Er war, was er war.

Ich dachte, ihr zwei hättet euch nahegestanden.

Er war … schlecht.

Khai öffnete die geballten Hände und wackelte mit den Fingern. Seine Beine bewegten sich, als er es ihnen befahl. Seine Lunge holte Atem. Er sah, er hörte, er spürte seine Umgebung. Und ihm kam in den Sinn, wie unglaublich unfair das alles war. Das hier war nichts, was er gewählt hatte. Hätte er wählen können, würde nicht Andy in diesem Sarg liegen.

Der Gesang setzte erneut ein und signalisierte, dass sich die Beerdigung dem Ende zuneigte. Zeit, sich den anderen anzuschließen, während sie zum letzten Mal Abschied nahmen. Niemand schien zu begreifen, dass es kein Abschied war, solange Andy nicht ebenfalls Lebwohl sagte. Khai für seinen Teil würde nichts sagen.

KAPITEL 1

~ Vor zwei Monaten ~ Thành phố Hồ Chí Minh, Việt Nam

Toiletten zu schrubben war normalerweise nicht so interessant. Mỹ hatte das schon so oft gemacht, dass sie inzwischen eine straffe Routine entwickelt hatte. Alles mit Gift einsprühen. Gift hineingießen. Schrubben, schrubben, schrubben, schrubben, schrubben. Wischen, wischen, wischen. Spülen. Fertig in unter zwei Minuten. Wenn es einen Wettbewerb im Toilettenschrubben gäbe, wäre Mỹ eine Titelfavoritin. Aber nicht heute. Die Geräusche aus der Kabine nebenan lenkten sie immer wieder ab.

Sie war sich ziemlich sicher, dass die junge Frau dort drin weinte. Entweder das, oder sie machte Sport. Jedenfalls wurde ziemlich schwer geatmet. Was für eine Art von Sport konnte man in einer Toilettenkabine machen? Kniebeugen vielleicht.

Ein erstickter Laut erklang, gefolgt von einem hohen Wimmern, und Mỹ ließ ihre Klobürste los. Das war definitiv Weinen. Die Schläfe an die Seite der Kabine gelehnt räusperte sie sich und fragte: «Ist etwas nicht in Ordnung, Miss?»

«Nein, alles okay», erwiderte das Mädchen, aber ihr Weinen wurde lauter, bevor es abrupt aufhörte und weiteren gedämpften schweren Atemzügen wich.

«Ich arbeite in diesem Hotel.» Als Hausmeisterin und Zimmermädchen. «Falls jemand Sie schlecht behandelt hat, kann ich helfen.» Zumindest würde sie es versuchen. Nichts ärgerte sie mehr als gemeine Menschen. Aber sie konnte es sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren.

«Nein, es geht mir gut.» Der Türriegel quietschte, und Schuhe klapperten auf dem Marmorfußboden.

Mỹ streckte den Kopf gerade rechtzeitig aus der Kabine, die sie grad putzte, um eine hübsche junge Frau zu den Waschbecken gehen zu sehen. Sie trug die höchsten, furchteinflößendsten Absätze, die Mỹ je gesehen hatte, und ein rotes, hautenges Kleid, das gleich unter ihrem Po endete. Wenn man alles glaubte, was Mỹs Grandma sagte, würde dieses Mädchen schwanger werden, sobald es auch nur einen Fuß auf die Straße setzte. Wahrscheinlich war es bereits schwanger – allein vom Blick eines Mannes.

Mỹ für ihren Teil war schwanger geworden, weil sie mit einem Playboy aus der Schule geschlafen hatte, ohne dass ein knappes Kleid und furchterregende Absätze nötig gewesen wären. Anfangs hatte sie ihm widerstanden. Ihre Mom und Grandma hatten deutlich gemacht, dass die Schule an erster Stelle kam, aber er hatte ihr nachgestellt, bis sie nachgegeben hatte, weil sie geglaubt hatte, es wäre Liebe. Anstatt sie jedoch zu heiraten, als sie ihm von dem Baby erzählte, hatte er ihr widerwillig angeboten, sie als seine heimliche Geliebte zu halten. Sie war nicht die Art Mädchen, die er seiner Familie aus der Oberschicht vorstellen konnte, und Überraschung, er war verlobt und hatte vor, die Hochzeit durchzuziehen. Natürlich hatte sie sein Angebot abgelehnt, was sowohl Erleichterung als auch Unverständnis bei ihm hervorgerufen hatte, diesem Mistkerl. Ihre Familie andererseits war untröstlich vor Enttäuschung gewesen – sie hatten so viele Hoffnungen in sie gesetzt. Aber wie Mỹ geahnt hatte, unterstützten sie sie und ihr Baby.

Die junge Frau im roten Kleid wusch sich die Hände und betupfte ihre mit Wimperntusche verschmierten Wangen, bevor sie ihr Handtuch auf die Granitplatte warf und die Toilette verließ. Mỹs gelbe Gummihandschuhe quietschten, als sie die Fäuste ballte. Der Korb für die Handtücher war doch genau da. Vor sich hin grummelnd, marschierte sie zu den Waschbecken, wischte die Platte mit dem Handtuch des Mädchens ab und warf es in den Handtuchkorb. Eine rasche Inspektion von Waschbecken, Granitzeile, Spiegel und dem Stapel säuberlich aufgerollter Handtücher bestätigte, dass alles ordentlich war, und sie machte sich gerade daran, zur letzten Toilette zurückzukehren, als die Tür des Waschraums aufschwang und ein weiteres Mädchen hereineilte. Mit ihrem taillenlangen schwarzen Haar, schlanken Körper, langen Beinen und gefährlichen High Heels sah sie dem Mädchen von eben ziemlich ähnlich. Nur war ihr Kleid weiß. Hielt das Hotel irgendeine Art von Misswahl ab? Und warum weinte dieses Mädchen ebenfalls?

«Miss, ist alles okay?», fragte Mỹ, während sie einen zögerlichen Schritt auf sie zu machte.

Die junge Frau spritzte sich Wasser ins Gesicht. «Es geht mir gut.» Sie stützte die nassen Hände auf die Granitoberfläche, wodurch sie für Flecken sorgte, die Mỹ sauber machen musste, und starrte ihr Spiegelbild an, während sie tief durchatmete. «Ich dachte, sie würde mich nehmen. Ich war mir so sicher. Warum stellt sie so eine Frage, wenn sie nicht diese Antwort will? Sie ist eine hinterhältige Frau.»

Mỹ riss den Blick von den frischen Wassertropfen auf der Waschtischplatte los und konzentrierte sich auf das Gesicht des Mädchens. «Welche Frau? Sie wofür nehmen?»

Das Mädchen musterte Mỹs Hoteluniform mit einem geringschätzigen Blick und verdrehte die Augen. «Das würden Sie nicht verstehen.»

Mỹs Rücken versteifte sich, und Schamesröte überzog heiß ihre Haut. Sie kannte diesen Blick und diesen Tonfall. Sie wusste, was sie bedeuteten. Bevor sie sich eine passende Erwiderung einfallen lassen konnte, war das Mädchen verschwunden. Und, mögen der Grandpa des Mädchens und all ihre anderen Vorfahren noch dazu in Vergessenheit geraten, schon wieder lag ein Handtuch zusammengeknüllt auf der Granitplatte.

Mỹ stampfte zum Waschbecken, wischte die Wasserschlacht des Mädchens auf und warf das Handtuch in den Korb. Nun, zumindest wollte sie das. Sie zielte daneben, und es landete auf dem Fußboden. Frustriert schnaubend ging sie hin, um es aufzuheben.

Gerade als sich ihre behandschuhten Finger um das Handtuch schlossen, schwang die Tür schon wieder auf. Sie verdrehte die Augen zum Himmel. Wenn das noch ein heulendes, verwöhntes Mädchen war, würde sie zu einem Waschraum auf der anderen Seite des Hotels gehen.

Aber das war es nicht. Eine müde aussehende ältere Frau tappte zum Sitzbereich am anderen Ende des Waschraums und setzte sich auf eines der samtbezogenen Sofas. Mỹ wusste auf den ersten Blick, dass die Dame eine Việt kiều war. Es war eine Kombination von Dingen, die das verrieten: ihre riesige echte Louis-Vuitton-Handtasche, ihre teure Kleidung und ihre Füße. Perfekt manikürt und ohne Hornhaut mussten diese in Sandalen steckenden Füße einer Vietnamesin aus Übersee gehören. Diese Leute gaben richtig gutes Trinkgeld, für alles. Geld strömte praktisch aus ihnen heraus. Vielleicht war heute Mỹs Glückstag.

Sie warf das Handtuch in den Korb und ging zu der Frau. «Miss, kann ich Ihnen irgendetwas bringen?»

Wegwerfend winkte die Dame ab.

«Sagen Sie einfach Bescheid, Miss. Genießen Sie Ihre Zeit hier drin. Es ist ein sehr schöner Waschraum.» Mit einem Zusammenzucken wünschte sie sich, sie könnte ihre letzten Worte zurücknehmen, und wandte sich wieder ihren Toiletten zu. Warum es hier drin einen Sitzbereich gab, war ihr schleierhaft. Sicher, es war ein schöner Raum, aber warum sollte man sich irgendwo entspannen, wo man andere Leute Toilettendinge tun hören konnte?

Sie brachte ihre Arbeit zu Ende, stellte den Eimer mit Putzutensilien auf den Boden neben den Waschbecken und machte eine letzte Bestandsaufnahme des Waschraums. Eines der Handtücher hatte sich halb aufgerollt, deshalb schüttelte sie es aus, rollte es neu und legte es auf den Stapel zu den anderen. Dann rückte sie die Taschentücherbox zurecht. Da. Alles war, wie es sein sollte.

Sie bückte sich, um ihren Eimer zu nehmen, doch bevor ihre Finger sich um den Griff schließen konnten, sagte die Dame: «Warum haben Sie die Taschentücherbox so zurechtgerückt?»

Mỹ richtete sich auf, betrachtete die Taschentücherbox und sah die Dame dann mit schräg gelegtem Kopf an. «Weil das Hotel es so haben will, Miss.»

Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über das Gesicht der Dame, und nach einer Sekunde winkte sie Mỹ zu sich und klopfte auf den Platz neben ihr auf dem Sofa. «Kommen Sie und unterhalten Sie sich kurz mit mir. Nennen Sie mich Cô Nga.»

Mỹ lächelte verwirrt, tat aber wie gebeten und setzte sich neben die Dame, den Rücken gerade, die Hände gefaltet und die Knie zusammengepresst wie die jungfräulichste Jungfrau. Ihre Grandma wäre stolz auf sie.

Scharfe Augen in einem blass gepuderten Gesicht musterten sie ungefähr genauso, wie Mỹ gerade die Waschzeile gemustert hatte, und Mỹ presste verlegen die Füße zusammen und strahlte die Dame mit ihrem besten Lächeln an.

Nachdem die Frau ihr Namensschild gelesen hatte, sagte sie: «Ihr Name ist also Trần Ngọc Mỹ.»

«Ja, Miss.»

«Sie putzen hier die Waschräume? Was machen Sie sonst noch?»

Mỹs Lächeln drohte zu verblassen, und mit Mühe hielt sie es aufrecht. «Ich putze auch noch die Zimmer der Gäste, Laken wechseln, Betten machen, Staub saugen. Solche Sachen.» Es war nicht das, wovon sie geträumt hatte, als sie jünger war, aber es brachte Geld, und sie achtete darauf, dass sie gute Arbeit leistete.

«Ah, das ist – Sie haben gemischtes Blut.» Die Dame beugte sich vor, um Mỹs Kinn zu nehmen und ihr Gesicht anzuheben. «Ihre Augen sind grün.»

Mỹ hielt den Atem an und versuchte herauszufinden, was die Dame darüber dachte. Manchmal war es etwas Gutes. Meistens war es das nicht. Es war viel besser, gemischter Herkunft zu sein, wenn man Geld hatte.

Die Dame runzelte die Stirn. «Das ist inzwischen sehr selten. Seit dem Krieg waren keine amerikanischen Soldaten mehr hier.»

Mỹ zuckte mit den Schultern. «Meine Mom sagt, er war ein Geschäftsmann. Ich habe ihn nie kennengelernt.» Wie das Leben so spielt, war ihre Mom seine Haushälterin gewesen – und noch mehr nebenbei –, und ihre Affäre hatte geendet, als auch das Projekt, an dem er arbeitete, endete und er das Land verließ. Erst danach hatte ihre Mom herausgefunden, dass sie schwanger war, und da war es schon zu spät gewesen. Sie hatte nicht gewusst, wie sie ihn ausfindig machen konnte. Ihr war keine andere Wahl geblieben, als wieder zurück nach Hause zu ihrer Familie zu ziehen. Mỹ hatte immer geglaubt, sie würde es besser machen als ihre Mom, aber sie hatte es geschafft, beinahe exakt in ihre Fußstapfen zu treten.

Die Dame nickte und drückte ihren Arm. «Sind Sie gerade erst in die Stadt gezogen? Sie wirken nicht, als wären Sie von hier.»

Mỹ wandte den Blick ab, und ihr Lächeln verblasste. Sie war mit nur sehr wenig Geld aufgewachsen, aber erst als sie in die große Stadt gekommen war, hatte sie erfahren, wie arm sie tatsächlich war. «Wir sind vor ein paar Monaten hergezogen, weil ich diesen Job hier bekommen habe. Ist das so offensichtlich?»

Die Dame tätschelte Mỹs Wange auf eigenartig liebevolle Weise. «Sie sind immer noch naiv wie ein Mädchen vom Lande. Woher kommen Sie?»

«Aus einem Dorf in der Nähe von Mỹ Tho, am Wasser.»

Ein breites Lächeln legte sich über das Gesicht der Dame. «Wusste ich’s doch, dass Sie mir gefallen. Orte machen Leute. Ich bin dort aufgewachsen. Ich habe mein Restaurant Mỹ Tho Noodles genannt. Es ist ein sehr gutes Restaurant in Kalifornien. Im Fernsehen und in Zeitschriften wird darüber gesprochen. Aber ich schätze, hier werden Sie nicht davon gehört haben.» Sie seufzte vor sich hin, dann wurde ihr Blick schärfer, und sie fragte: «Wie alt sind Sie?»

«Dreiundzwanzig.»

«Sie sehen jünger aus», sagte Cô Nga mit einem Lachen. «Aber das ist ein gutes Alter.»

Ein gutes Alter wofür? Aber Mỹ fragte nicht. Trinkgeld hin oder her, wenn es nach ihr ginge, könnte diese Unterhaltung aufhören. Ein echtes Stadtmädchen wäre vielleicht schon gegangen. Toiletten schrubbten sich schließlich nicht von allein.

«Haben Sie je daran gedacht, nach Amerika zu gehen?», fragte Cô Nga.

Mỹ schüttelte den Kopf, aber das war gelogen. Als Kind hatte sie davon geträumt, an einem Ort zu leben, wo sie nicht auffiel, und vielleicht ihren grünäugigen Dad kennenzulernen. Aber Việt Nam und Amerika trennte mehr als nur ein Ozean, und je älter sie geworden war, desto größer war die Entfernung geworden.

«Sind Sie verheiratet?», fragte die Dame. «Haben Sie einen Freund?»

«Nein, keinen Mann, keinen Freund.» Sie rieb mit den Händen über ihre Oberschenkel und umfasste ihre Knie. Was wollte diese Frau? Sie hatte die Horrorgeschichten über Fremde gehört. Versuchte diese liebenswürdig aussehende Frau, sie zu täuschen und nach Kambodscha in die Prostitution zu verkaufen?

«Schauen Sie nicht so besorgt drein. Ich habe gute Absichten. Hier, lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen.» Die Dame kramte in ihrer riesigen Louis-Vuitton-Tasche, bis sie eine beige Aktenmappe fand. Dann nahm sie ein Foto heraus und reichte es Mỹ. «Das ist mein Diệp Khải, mein jüngster Sohn. Er sieht gut aus, ja?»

Mỹ wollte nicht hinsehen – sie interessierte sich ehrlich nicht für diesen unbekannten Mann, der im Paradies Kalifornien lebte –, aber sie beschloss, der Frau den Gefallen zu tun. Sie würde das Foto ansehen und angemessene Laute von sich geben. Sie würde Cô Nga sagen, dass ihr Sohn wie ein Filmstar aussah, und dann würde sie einen Vorwand finden zu gehen.

Aber als sie einen Blick auf das Foto warf, wurde sie völlig reglos, genau wie der Himmel unmittelbar vor einem Regenguss.

Er sah wirklich wie ein Filmstar aus, ein männlich schöner Filmstar mit sexy vom Wind zerzaustem Haar und starken, klaren Zügen. Am fesselndsten allerdings war die ruhige Intensität, die er ausstrahlte. Der Schatten eines Lächelns berührte seine Lippen, während er auf etwas jenseits des Bildes blickte, und sie ertappte sich dabei, sich dem Foto entgegenzulehnen. Wenn er Schauspieler wäre, würde er jede Rolle als unnahbarer, gefährlicher Held bekommen, wie zum Beispiel Bodyguard oder Kung-Fu-Meister. Er brachte einen dazu, sich zu fragen: Worüber denkt er so eindringlich nach? Was ist seine Geschichte? Warum lächelt er nicht richtig?

«Ah, Mỹ ist also derselben Meinung. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er gutaussehend ist», meinte Cô Nga mit einem wissenden Lächeln.

Mỹ blinzelte, als erwachte sie aus einer Trance, und reichte der Dame das Foto zurück. «Ja, das ist er.» Er würde eines Tages ein glückliches Mädchen noch glücklicher machen, und sie würden ein langes, glückliches Leben miteinander haben. Hoffentlich zogen sie sich mindestens ein Mal eine Lebensmittelvergiftung zu. Nichts Lebensbedrohliches natürlich. Nur unangenehm – besser noch sehr unangenehm. Und leicht schmerzhaft. Und peinlich.

«Er ist auch noch klug und talentiert. Er hat einen Universitätsabschluss.»

Mỹ rang sich ein Lächeln ab. «Das ist beeindruckend. Ich wäre sehr stolz, wenn ich einen Sohn wie ihn hätte.» Ihre Mom dagegen hatte eine Toilettenschrubberin zur Tochter. Sie verdrängte ihre Verbitterung und ermahnte sich, den Kopf unten zu lassen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Neid würde ihr nichts als Kummer einbringen. Aber sie wünschte ihm trotzdem zusätzliche Fälle von Lebensmittelvergiftung. Irgendeine Gerechtigkeit musste es auf der Welt geben.

«Ich bin sehr stolz auf ihn», sagte Cô Nga. «Genau genommen ist er der Grund, warum ich hier bin. Um eine Frau für ihn zu finden.»

«Oh.» Mỹ runzelte die Stirn. «Ich wusste nicht, dass Amerikaner so etwas tun.» Das kam ihr schrecklich altmodisch vor.

«Das tun sie auch nicht, und Khải wäre verärgert, wenn er es wüsste. Aber ich muss etwas unternehmen. Sein älterer Buder ist fast zu gut im Umgang mit Frauen – um ihn brauche ich mir keine Sorgen zu machen –, aber Khải ist sechsundzwanzig und hat immer noch keine Freundin. Wenn ich Dates für ihn arrangiere, geht er nicht hin. Wenn ihn Mädchen anrufen, legt er auf. Diesen Sommer finden drei Hochzeiten in unserer Familie statt, drei, aber ist eine davon seine? Nein. Da er nicht weiß, wie er eine Frau für sich finden soll, habe ich beschlossen, das für ihn zu erledigen. Ich habe den ganzen Tag lang Kandidatinnen interviewt. Keine davon entsprach meinen Vorstellungen.»

Mỹ blieb der Mund offen stehen. «All die weinenden Mädchen …»

Bei ihrer Bemerkung winkte Cô Nga ab. «Die weinten, weil sie sich geschämt haben. Die erholen sich wieder. Ich musste wissen, ob sie es ernst damit meinen, meinen Sohn zu heiraten. Keine davon tat das.»

«Sie schienen es sehr ernst zu meinen.» Sie hatten im Waschraum nicht nur so getan, als würden sie weinen – so viel war sicher.

«Was ist mit Ihnen?» Wieder richtete Cô Nga diesen abschätzenden Blick auf sie.

«Was soll mit mir sein?»

«Sind Sie daran interessiert, meinen Khải zu heiraten?»

Mỹ schaute kurz hinter sich, bevor sie auf ihre Brust zeigte. «Ich?»

Cô Nga nickte. «Ja, Sie. Sie haben meine Aufmerksamkeit geweckt.»

Ihre Augen weiteten sich. Wie?

Als könnte sie Mỹs Gedanken lesen, sagte Cô Nga: «Sie sind ein gutes, fleißiges Mädchen, und hübsch auf eine ungewöhnliche Weise. Ich denke, ich könnte Ihnen meinen Khải anvertrauen.»

Mỹ konnte die Dame nur anstarren. Hatten die chemischen Putzmitteldämpfe am Ende ihr Gehirn geschädigt? «Sie wollen, dass ich Ihren Sohn heirate? Aber wir sind uns doch nie begegnet. Sie mögen mich vielleicht …» Immer noch unfähig, das zu begreifen, schüttelte sie den Kopf. Ihr Beruf war es, Toiletten zu putzen. «Aber Ihr Sohn wahrscheinlich nicht. Er klingt wählerisch, und ich bin nicht –»

«Oh, nein, nein», unterbrach Cô Nga. «Er ist nicht wählerisch. Er ist schüchtern. Und stur. Er denkt, dass er keine Familie will. Er braucht ein Mädchen, das noch sturer ist. Sie würden ihn dazu bringen müssen, seine Meinung zu ändern.»

«Wie würde ich –»

«Ỏi, Sie wissen schon. Sie ziehen sich hübsch an, kümmern sich um ihn, kochen die Dinge, die er mag, machen die Dinge, die er mag …»

Unwillkürlich verzog Mỹ das Gesicht, und Cô Nga überraschte sie damit, dass sie lachte.

«Deswegen mag ich Sie. Sie können gar nicht anders, als Sie selbst zu sein. Was denken Sie? Ich könnte Ihnen einen Sommer in Amerika ermöglichen, um zu sehen, ob Sie beide zusammenpassen. Falls nicht, kein Problem, dann fliegen Sie wieder nach Hause. Im schlechtesten Fall besuchen Sie all die Hochzeiten unserer Familie, haben Spaß und genießen gutes Essen. Wie wär’s damit?»

«I-i-ich …» Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war zu viel, um es zu begreifen.

«Eine Sache noch.» Cô Ngas Blick wurde prüfend, und es folgte eine gewichtige Pause, bevor sie sagte: «Er will keine Kinder. Aber ich bin fest entschlossen, Enkelkinder zu bekommen. Wenn es Ihnen gelingt, schwanger zu werden, dann weiß ich, wird er das Richtige tun und Sie heiraten, ganz egal, wie gut Sie sich verstehen. Ich werde Ihnen sogar Geld geben. Zwanzigtausend US-Dollar. Werden Sie das für mich tun?»

Mỹ blieb die Luft weg, und ihre Haut wurde kalt. Cô Nga wollte, dass sie ihrem Sohn ein Kind anhängte und ihn zur Ehe zwang. Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit erdrückten sie. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, diese Dame würde etwas Besonderes in ihr sehen, aber Cô Nga hatte sie aufgrund von Dingen beurteilt, auf die sie keinen Einfluss hatte, genau wie die Mädchen in den knappen Kleidern.

«Die anderen Mädchen haben alle nein gesagt, nicht wahr? Sie dachten, ich würde ja sagen, weil …» Mit der flachen Hand wies sie auf ihre Uniform.

Cô Nga sagte nichts, ihr Blick blieb fest.

Mỹ stand vom Sofa auf, ging ihren Putzeimer holen, öffnete die Tür und blieb im Türrahmen noch einmal stehen. Die Augen streng geradeaus gerichtet, sagte sie: «Meine Antwort ist nein.»

Sie hatte kein Geld, keine Beziehungen und keine Fähigkeiten, aber sie hatte die Freiheit, so sturköpfig und dumm zu sein, wie sie wollte. Hoffentlich schmerzte ihre Zurückweisung. Sie ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

An diesem Abend, nach dem einstündigen Fußmarsch nach Hause – den sie jeden Tag zweimal ging –, schlich Mỹ auf Zehenspitzen in das Ein-Zimmer-Haus ihrer Familie und ließ sich auf den Teil der Fußbodenmatte fallen, auf dem sie nachts schlief. Sie musste sich bettfertig machen, aber zuerst wollte sie ein paar Augenblicke lang nichts tun. Einfach nichts. Nichts war ein solcher Luxus.

Ihre Tasche vibrierte und ruinierte ihr Nichts. Mit einem frustrierten Seufzen kramte sie ihr Handy aus der Tasche.

Unbekannte Handynummer.

Sie überlegte, nicht ranzugehen, aber etwas ließ sie den Knopf drücken und das Handy ans Ohr legen. «Hallo?»

«Mỹ, sind Sie das?»

Mỹ rätselte über die Stimme. Sie kam ihr vage bekannt vor, aber sie konnte sie nicht einordnen. «Ja. Wer ist da?»

«Ich bin es, Cô Nga. Nein, hängen Sie nicht auf», fügte die Dame rasch hinzu. «Ich habe Ihre Nummer vom Hotelmanager. Ich wollte mit Ihnen reden.»

Mỹs Finger verstärkten ihren Griff um das Handy, und sie setzte sich auf. «Ich habe nichts weiter zu sagen.»

«Sie werden Ihre Meinung nicht ändern?»

Sie widerstand dem Drang, das Handy an die Wand zu werfen. «Nein.»

«Gut», sagte Cô Nga.

Stirnrunzelnd nahm Mỹ das Handy vom Ohr und starrte es an. Was meinte sie mit gut?

Sie nahm das Handy gerade rechtzeitig wieder ans Ohr, um Cô Nga sagen zu hören: «Das war ein Test. Ich will nicht, dass Sie meinem Sohn ein Baby anhängen, aber ich musste wissen, was für eine Art Mensch Sie sind.»

«Was bedeutet das?»

«Das bedeutet, dass Sie die sind, die ich will, Mỹ. Kommen Sie nach Amerika und lernen Sie meinen Sohn kennen. Ich gebe Ihnen den ganzen Sommer, um ihn für sich zu gewinnen und auf die Hochzeiten seiner Cousins und seiner Cousine zu gehen. Sie werden die Zeit brauchen. Es wird Arbeit machen, herauszufinden, wie er tickt, aber das ist es wert. Er ist aus gutem Holz geschnitzt. Wenn es irgendjemand schafft, dann denke ich, sind Sie das. Wenn Sie es wollen. Wollen Sie?»

Ihr begann der Kopf zu schwirren. «Ich weiß nicht. Ich muss darüber nachdenken.»

«Dann denken Sie nach und rufen Sie mich zurück. Aber nehmen Sie sich nicht zu lange Zeit. Ich muss Ihr Visum und das Flugticket organisieren», sagte Cô Nga. «Ich warte darauf, von Ihnen zu hören.» Damit wurde der Anruf beendet.

Mit einem Klicken ging eine Lampe auf der anderen Seite des Zimmers an und erhellte den beengten, überfüllten Raum mit sanftem, goldenem Licht. Kleidung und Küchengerätschaften hingen an den Wänden und bedeckten jeden Quadratzentimeter bröckelnder Ziegel, der nicht von dem alten Elektroherd, dem winzigen Kühlschrank und dem Mini-Fernseher, auf dem sie Kung-Fu-Sagas und raubkopierte amerikanische Filme schauten, eingenommen wurde. In der Mitte der Matte lagen die schlafenden Körper ihrer Tochter Ngọc Anh und ihrer Grandma.

Ihre Mom lag zwischen Grandma und dem Herd, die Hand am Schalter der Lampe. Ein Ventilator auf höchster Stufe blies feuchte Luft über sie.

«Wer war das?», flüsterte ihre Mom.

«Eine Việt kiều», antwortete Mỹ, die ihre eigenen Worte kaum glauben konnte. «Sie will, dass ich mit nach Amerika komme und ihren Sohn heirate.»

Ihre Mom stützte sich auf einen Ellbogen auf, und das Haar fiel ihr als seidiger Vorhang über die Schulter. Schlafenszeit war die einzige Zeit, zu der sie ihr Haar offen trug, und es ließ sie zehn Jahre jünger aussehen. «Ist er älter als dein Grandpa? Sieht er aus wie ein Stinktier? Was stimmt nicht mit ihm?»

In diesem Moment vibrierte eine Nachricht von Cô Nga auf Mỹs Handy.

Um Ihnen beim Nachdenken zu helfen.

Ein weiteres Vibrieren, und das Foto von Khải füllte das Display aus – das Foto von vorhin. Wortlos reichte sie ihrer Mom das Handy.

«Das ist er?», fragte ihre Mom mit großen Augen.

«Sein Name ist Diệp Khải.»

Ihre Mom starrte das Foto sehr lange an, stumm bis auf das leise Seufzen ihres Atems. Schließlich gab sie ihr das Handy zurück. «Du hast keine Wahl. Du musst es tun.»

«Aber er will gar nicht heiraten. Ich soll mich an ihn ranmachen und seine Meinung ändern. Ich weiß nicht, wie –»

«Tu es einfach. Tu, was immer du tun musst. Das ist Amerika, Mỹ. Du musst es für die Kleine hier tun.» Ihre Mom langte über Grandmas dünne schlafende Gestalt hinweg und zog Ngọc Anh die dünne Decke bis zum Hals hoch. «Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich dasselbe für dich getan. Für ihre Zukunft. Sie passt nicht hierher. Und sie braucht einen Dad.»

Mỹ biss die Zähne zusammen, als Kindheitserinnerungen versuchten, aus dem Winkel ihres Verstands zu entkommen, in den sie sie gesperrt hatte. Sie konnte immer noch die Kinder Mischlingsmädchen mit zwölf Popolöchern singen hören, wenn sie von der Schule nach Hause gegangen war. Ihre Kindheit war schwierig gewesen, aber sie hatte sie aufs Leben vorbereitet. Sie war jetzt stärker, tougher. «Ich hatte keinen Dad.»

Die Augen ihrer Mom wurden härter. «Und schau nur, wohin dich das gebracht hat.»

Mỹ sah hinunter auf ihr kleines Mädchen. «Es hat mir auch sie gebracht.» Sie bereute, mit dem herzlosen Vater ihres Babys zusammen gewesen zu sein, aber sie würde nie ihr Baby bereuen. Nicht einmal für eine Sekunde.

Zärtlich strich sie ihrem kleinen Mädchen das feuchte Kinderhaar von der Schläfe, und diese gewaltige Liebe ließ ihr das Herz übergehen. In das Gesicht ihrer Tochter zu sehen war, wie in einen Spiegel zu blicken, der eine Zeit vor zwanzig Jahren widerspiegelte. Ihr Mädchen sah genauso aus wie Mỹ früher. Sie hatten dieselben Augenbrauen, Wangenknochen, dieselbe Nase und denselben Hautton. Sogar die Form der Lippen war dieselbe. Aber Ngọc Anh war viel, viel süßer, als Mỹ je gewesen war. Sie würde alles für diese Kleine tun. Außer sie aufzugeben.

Nachdem Ngọc Anhs Vater geheiratet hatte, hatte seine Frau herausgefunden, dass sie keine Kinder bekommen konnte, und sie hatten ihr angeboten, Ngọc Anh als ihr eigenes Kind aufzuziehen. Wieder hatte Mỹ ein Angebot abgelehnt, bei dem jeder von ihr erwartete, es anzunehmen. Man hatte sie egoistisch genannt. Seine Familie konnte Ngọc Anh all die Dinge geben, die sie brauchte.

Aber was war mit Liebe? Liebe zählte, und niemand konnte ihr Baby so lieben wie Mỹ. Niemand. Das spürte sie tief in ihrem Herzen.

Trotzdem, von Zeit zu Zeit fragte sie sich, ob sie das Falsche getan hatte.

«Wenn du ihn nicht magst», sagte ihre Mom, «dann kannst du dich wieder von ihm scheiden lassen, sobald du deine Green Card hast, und einen anderen heiraten.»

«Ich kann ihn nicht einfach nur wegen einer Green Card heiraten.» Er war ein Mensch, kein Stapel Papier, und falls er sich entschied, sie zu heiraten, dannn weil es ihr gelungen war, ihn zu verführen, weil er sie gernhatte. Sie konnte niemanden so benutzen. Dann wäre sie genauso schlimm wie Ngọc Anhs Dad.

Ihre Mom nickte, als könnte sie die Gedanken in Mỹs Kopf hören. «Was passiert, wenn du gehst und seine Meinung nicht ändern kannst?»

«Dann komme ich am Ende des Sommers zurück.»

Ein missbilligender Laut kam aus der Kehle ihrer Mom. «Ich kann nicht glauben, dass du darüber überhaupt nachdenken musst. Du hast nichts zu verlieren.»

Als Mỹ auf das schwarze Display ihres Handys starrte, kam ihr ein Gedanke. «Cô Nga sagte, dass er keine Familie will. Ich habe Ngọc Anh.»

Ihre Mom verdrehte die Augen. «Welcher junge Mann will schon eine Familie? Wenn er dich liebt, wird er auch Ngọc Anh lieben.»

«So funktioniert das nicht, und das weißt du. Wenn ein Mann erfährt, dass ich ein Baby habe, ist er meistens nicht mehr interessiert.» Und wenn er interessiert war, war alles, was er wollte, Sex.

«Dann sag es ihm nicht sofort. Gib ihm Zeit, sich in dich zu verlieben, und sag es ihm später», meinte ihre Mom.

Mỹ schüttelte den Kopf. «Das fühlt sich falsch an.»

«Wenn er dir sagt, dass er dich liebt, aber einen Rückzieher macht, weil du eine Tochter hast, dann willst du ihn ohnehin nicht. Aber diese Frau kennt ihren Sohn, und sie hat dich ausgesucht. Du musst es versuchen. Im schlimmsten Fall bekommst du einen ganzen Sommer in Amerika. Willst du Amerika denn nicht sehen? Wo in Amerika ist es?»

«Sie sagte Kalifornien, aber ich glaube nicht, dass ich es aushalten kann, so lange fort zu sein.» Mỹ streichelte über die babyweiche Wange ihrer Tochter. Sie war noch nie länger als einen Tag von zu Hause fort gewesen. Was, wenn Ngọc Anh dachte, sie hätte sie im Stich gelassen?

Die Stirn ihrer Mom legte sich nachdenklich in Falten, und sie stand auf, um in einem Stapel Kartons in der Ecke zu kramen. Sie enthielten die persönlichen Dinge ihrer Mom, und niemand durfte sie öffnen. Als Mỹ noch klein war, hatte sie in ihnen geschnüffelt, wenn niemand hinsah, besonders in der untersten Schachtel. Als ihre Mom genau diese Schachtel öffnete und ihren Inhalt durchwühlte, fing Mỹs Herz an zu rasen.

«Das ist, wo dein Dad herkommt. Hier, schau.» Ihre Mom reichte ihr ein vergilbtes Foto eines Mannes, der den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Mỹ hatte unzählige Stunden damit verbracht, dieses Foto zu betrachten, es dicht vor ihre Nase zu halten, es mit zusammengekniffenen Augen zu mustern, alles, um zu bestätigen, dass die Augen des Mannes grün waren und er tatsächlich ihr Vater war. Aber nichts hatte funktioniert. Das Bild war von zu weit weg aufgenommen worden. Seine Augen konnten jede mögliche Farbe haben. Wenn sie ehrlich war, dann wirkten sie eher braun.

Der Schriftzug auf seinem T-Shirt allerdings war leicht zu entziffern. Dort stand deutlich Cal Berkeley.

«Steht dafür das Cal?», fragte sie. «Kalifornien?»

Ihre Mom nickte. «Ich habe es nachgeschlagen. Das ist eine berühmte Universität. Vielleicht kannst du sie dir ansehen, wenn du dort bist. Vielleicht … kannst du versuchen, ihn zu finden.»

Mỹs Herz tat einen so heftigen Satz, dass ihre Finger kribbelten. «Wirst du mir endlich seinen Namen sagen?», fragte sie mit flüsterdünner Stimme. Alles, was sie wusste, war ‹Phil›. Das war der Name, den ihre Grandma voller Hass flüsterte, wenn Mỹ und sie allein waren. Dieser Phil. Mister Phil. Der Phil deiner Mutter.

Ein bitteres Lächeln umspielte die Lippen ihrer Mom. «Er sagte, sein voller Name sei hässlich. Alle nannten ihn immer nur Phil. Ich glaube, sein Nachname fing mit einem L an.»

Mỹs Hoffnungen zerplatzten, noch bevor sie sich ganz entfalten konnten. «Dann ist es unmöglich.»

Die Miene ihrer Mom wurde entschlossen. «Das weißt du erst, wenn du es versucht hast. Vielleicht können sie mit ihren teuren Computern eine Liste für dich machen. Wenn du dich anstrengst, besteht eine Chance.»

Mỹ betrachtete das Foto ihres Dads, dabei spürte sie die Sehnsucht in ihrer Brust mit jeder Sekunde größer werden. Lebte er in Kalifornien? Wie würde er reagieren, wenn er die Tür öffnete … und sie sah? Würde er sie beschuldigen, nur gekommen zu sein, weil sie Geld wollte?

Oder würde er glücklich sein, zu erfahren, dass er eine Tochter hatte, von der er nichts wusste?

Sie öffnete das Foto von Khải auf ihrem Handy und hielt die beiden Bilder nebeneinander in ihrem Schoß. Was hatte Cô Nga in ihr gesehen, das sie glauben ließ, Mỹ wäre eine gute Partie für ihren Sohn? Würde ihr Sohn das auch sehen? Und würde er ihre Tochter akzeptieren? Würde ihr eigener Vater seine Tochter akzeptieren?

So oder so hatte ihre Mom recht. Sie würde es erst wissen, wenn sie es versucht hatte. In beiden Fällen.

Mỹ tippte eine Nachricht an Cô Nga und schickte sie ab.

Ja, ich will es versuchen.

«Ich werde es tun», sagte sie zu ihrer Mom. Sie bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, aber innerlich bebte sie. Worauf hatte sie sich da gerade eingelassen?

«Ich wusste, dass du es tun würdest, und das freut mich. Wir werden gut auf Ngọc Anh aufpassen, während du fort bist. Und jetzt geh schlafen. Du musst morgen trotzdem arbeiten.» Das Licht ging aus. Aber nachdem der Raum dunkel geworden war, sagte ihre Mom: «Du solltest wissen, dass du bei nur einem Sommer keine Zeit hast, es auf die traditionelle Weise zu machen. Du musst auf Sieg spielen, selbst wenn du dir nicht sicher bist, ob du ihn willst. Solange er kein schlechter Mensch ist, kann Liebe wachsen. Und vergiss nicht, es sind nicht die guten Mädchen, die den Mann kriegen. Du musst ein böses Mädchen sein, Mỹ.»

Mỹ schluckte. Sie hatte eine gute Vorstellung davon, was ‹böse› bedeutete, und es überraschte sie, dass ihre Mom das vorzuschlagen wagte, wenn ihre Grandma im Zimmer war.

KAPITEL 2

~ Gegenwart ~

Genau in dem Moment, als Khais Laufschuhe den rissigen Beton der Einfahrt zu seinem renovierungsbedürftigen Haus in Sunnyvale berührten, zu dessen Renovierung er nie kam, piepste der Timer seiner Uhr. Exakt fünfzehn Minuten.

Ja.

Nichts war so befriedigend wie perfekte Zeitabschnitte. Außer beim Tanken ganze Dollarbeträge zu erwischen. Oder wenn die Restaurantrechnung eine Primzahl oder ein Segment der Fibonacci-Folge war oder nur aus Achten bestand. Acht war so eine elegante Zahl. Wenn er zu seiner Laufstrecke noch eine Minute hinzufügte, dann könnte er einen Kontrollpunkt in der Mitte einbauen. Das wäre unterhaltsam.

Während er im Geiste eine neue Route für seinen täglichen Arbeitsweg plante, bemerkte er die schwarze Ducati, die neben seinem mit Vogelkot übersäten Porsche an der Bordsteinkante parkte. Quan war da, und er war damit gefahren, obwohl ihre Mom es hasste und Khai ihm schon mehrfach sämtliche Statistiken über Todesfälle und Gehirnschäden erläutert hatte. Er machte einen großen Bogen um das Motorrad, trabte zu seiner Vordertür, wobei er dem dornigen Unkrautbusch auswich, der im Schatten des Vordachs gedieh, und betrat sein Haus.

Drinnen zog er die Schuhe und sofort auch seine Socken aus. Es war himmlisch, mit nackten Füßen in dem flauschigen Hochflorteppich seines Hauses aus den Siebzigern zu versinken. Anfangs hatte er ihn gehasst – die erbsengrüne Farbe war widerlich –, aber darauf zu laufen fühlte sich an, als würde man wie Mary Poppins über Wolken wandeln. Er hatte komisch gerochen, aber das hatte sich mit der Zeit gegeben. Entweder das, oder Khai hatte den Geruch nach Mottenkugeln und alten Damen so verinnerlicht, dass er ihn nicht mehr bemerkte. Er würde den Teppich behalten, bis das Haus vom Santa Clara County offiziell für abbruchreif erklärt wurde.

Da war Quan, er saß auf Khais Sofa mit den Füßen auf Khais Couchtisch und schaute irgendeine Finanzsendung auf CNBC, während er Khais einzige kalte Dose Coca-Cola trank. Er konnte die Kondenswassertropfen über den geschwungenen Schriftzug laufen sehen wie in einem Werbespot. Der Rest seiner Getränke hatte Zimmertemperatur, weil in seinen Kühlschrank immer nur eine einzige Dose passte. Den übrigen kostbaren Raum nahmen Frischhaltedosen mit Essen seiner Mom in Beschlag. Sie dachte, dass er verhungern würde, wenn sie ihn nicht persönlich fütterte, und in wahrer Mom-Manier machte sie keine halben Sachen.

«Yo, du bist daheim. Wie läuft’s?» Quan trank einen tiefen Schluck Cola und stieß dann zischend den Atem aus, als die Flüssigkeit seine Kehle hinunterprickelte.

«Gut.» Mit schmalen Augen sah Khai seinen Bruder an. Das Prickeln einer kalten Cola gehörte zu Khais Lieblingsdingen, und jetzt musste er vier Stunden warten, bis eine neue Dose so weit war. «Warum bist du hier?»

«Keine Ahnung. Mom hat gesagt, ich soll herkommen. Anscheinend ist sie unterwegs hierher.»

Ah, Scheiße, er sah unsinnige Aufgaben in seiner nahen Zukunft auf sich zukommen. Was würde es diesmal sein? Bis nach San Jose in den Supermarkt fahren, um reduzierte Orangen zu kaufen? Oder Seetang-Extrakt in gewerblichen Mengen aus Japan importieren, um den Krebs seiner Tante zu heilen? Nein, es musste etwas Schlimmeres sein, weil sie ihre beiden Söhne dafür brauchte. Er konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, was es sein könnte.

«Ich muss duschen.» Seine Kleider waren nass und klebrig, und er wollte raus aus ihnen.

«Mach lieber schnell. Gerade hab ich jemanden in der Einfahrt parken hören.» Dann sah Quan sich Khai genauer an und zog die Augenbrauen hoch. «Bist du gerade in einem Anzug nach Hause gejoggt?»

«Ja, das mache ich jeden Tag. Der hier ist extra für sportliche Betätigungen ausgelegt.» Er zeigte auf die elastischen Bündchen an seinen Knöcheln. «Und der Stoff ist wirklich atmungsaktiv. Außerdem kann man ihn in der Maschine waschen.»

Quan grinste und trank einen weiteren Schluck seiner gemopsten Cola. «Also rennt mein Bruder durch die Straßen von Silicon Valley wie ein böser asiatischer Terminator. Gefällt mir.»

Die seltsame Vorstellung ließ Khai zögern, und gerade als er den Mund aufmachte, um etwas zu erwidern, verkündete eine vertraute Stimme vor dem Haus auf Vietnamesisch: «Hier, hier, hier, hier, ich habe jede Menge Essen. Helft mir, es reinzutragen.» Seine Mom sprach nie Englisch, außer wenn es absolut notwendig war. Im Grunde sprach sie nur mit dem Hygienekontrolleur in ihrem Restaurant Englisch.

«Was?», fragte Khai auf Englisch. Er konnte tatsächlich kein Vietnamesisch sprechen, auch wenn er es einigermaßen verstand. «Ich habe doch noch jede Menge Essen. Ich werde anfangen, Obdachlose damit zu verköstigen, wenn du –»

Seine Mom erschien mit einem stolzen Lächeln und drei Kisten Mangos in der Tür. «Hi, con!»

Weil er nicht wollte, dass sie sich das Kreuz brach, stopfte er seine Socken in die Tasche und nahm ihr die Kisten ab. «Ich esse kein Obst, schon vergessen? Das wird schlecht werden.»

Er war schon fast wieder aus der Tür und auf dem Weg zu ihrem Wagen damit, als sie sagte: «Nein, nein, die sind nicht für dich. Die sind für Mỹ. Damit sie ihr Zuhause nicht zu sehr vermisst.»

Er hielt inne. Wer zum Teufel war Mỹ?

Quan kam auf die Füße. «Was ist los?»

«Hilf mir zuerst, das restliche Obst reinzutragen.» An Khai gewandt sagte sie: «Stell die in die Küche.»

In einem Zustand völliger Verwirrung trug Khai die Kisten in seine Küche. Warum war dieses Obst in seinem Haus, wenn es doch verhindern sollte, dass Mỹ, wer auch immer sie war, Heimweh bekam? Er stellte die Kisten auf seine Arbeitsplatte, dabei bemerkte er, dass es drei verschiedene Sorten Mangos waren. Da waren große rot-grüne, mittlere gelbe und kleine grüne in den Kisten mit thailändischer Beschriftung. Hatte seine Mom ihm irgendein obstfressendes Dschungeläffchen gekauft? Warum sollte sie so was tun? Sie mochte doch nicht mal Hunde oder Katzen.

Und warum brauchte Quan so lange, um weitere Kisten reinzutragen? Khai machte sich daran, nachzuforschen, und fand seinen Bruder und seine Mom in eine Diskussion vertieft draußen neben ihrem verbeulten Camry. Khai und seine Geschwister hatten letztes Jahr zum Muttertag zusammengelegt, um ihr einen Lexus-SUV zu kaufen, aber sie bestand darauf, diesen zwei Jahrzehnte alten Toyota zu fahren, außer es war ein besonderer Anlass. Ihm fiel auf, dass niemand drinsaß. Keine Mỹ.

«Mom, das ist falsch. Das hier sind die Vereinigten Staaten. Hier macht man so was nicht.» Quan klang noch frustrierter über ihre Mom als gewöhnlich.

«Ich musste etwas unternehmen, und du musst mich unterstützen. Auf dich hört er.»

Quan verdrehte die Augen zum Himmel. «Auf mich hört er, weil ich vernünftig bin. Das hier ist es nicht.»

«Du bist genau wie dein stinkender Vater. Ihr lasst mich beide im Stich, wenn ich euch brauche», sagte ihre Mom. «Auf deinen Bruder kann man sich immer verlassen.»

Quan gab einen schnaubenden Laut von sich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und die kurzgeschorenen Haare, bevor er drei weitere Kisten Obst aus dem Kofferraum hob. Als er Khải sah, hielt er mitten in der Bewegung inne. «Mach dich auf was gefasst.» Dann trug er die Kisten hinein.

Na, das ließ nichts Gutes ahnen. In Khảis Kopf verwandelte sich das theoretische Dschungeläffchen in ein riesiges Gorillaweibchen. Das ganze Obst würde so einem Vieh vermutlich einen Tag lang reichen. Von der positiven Seite betrachtet, würde er kein Geld dafür ausgeben müssen, sein Haus dem Erdboden gleichmachen zu lassen, und er könnte den Schaden vielleicht sogar noch gegenüber seiner Gebäudeversicherung geltend machen. Schadensursache: wildgewordener Gorilla im Mangorausch.

«Schnapp dir die Jackfrucht und komm rein. Ich muss mit dir reden», sagte seine Mom.

Er hievte die stachlige Jackfrucht hoch – heilige Scheiße, die wog locker an die fünfzehn Kilo – und folgte ihr in seine Küche, wo Quan die neuen Kisten neben die Mangos gestellt und sich mit seiner Cola an den Küchentisch gesetzt hatte. Um die Stabilität seiner Arbeitsplatte besorgt, legte Khai die Jackfrucht vorsichtig neben den anderen Früchten ab. Als die Küchenzeile nicht sofort zusammenbrach, seufzte er erleichtert auf.

Stirnrunzelnd musterte seine Mom seine Siebziger-Jahre-Küche. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war Missfallen, wie er im Buche stand. Wenn er seine alten Übungskarten mit Gesichtsausdrücken jetzt neben ihr Gesicht halten würde, dann würden sie einander perfekt entsprechen.

«Du brauchst ein neues Haus», sagte sie. «Das hier ist zu alt. Und du musst diese ganzen Sportgeräte aus dem Wohnzimmer schaffen. Nur Junggesellen leben so.»

Zufällig war Khai Junggeselle, also verstand er nicht, wo das Problem lag. «Ich komme von hier aus schnell zur Arbeit, und ich trainiere gern, wo ich fernsehen kann.»

Mit einem gemurmelten «Dieser Junge» wischte sie seine Bemerkungen fort.

Es folgte langes Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichem Cola-Schlürfen – Khais Cola, verdammt. Als er es nicht länger aushielt, schaute er von seinem Bruder zu seiner Mom und sagte: «Also … wer ist Mỹ?» Soweit er wusste, bedeutete mỹ so viel wie schön, aber so sagte man auf Vietnamesisch auch Amerika. Wie auch immer er es betrachtete, es schien ein komischer Name für einen Gorilla zu sein, aber was wusste er schon?

Seine Mom straffte ihre Schultern. «Sie ist das Mädchen, das du Samstagabend vom Flughafen abholen musst.»

«Oh, okay.» Das war nicht furchtbar. Ihm gefiel zwar die Vorstellung nicht, jemanden, den er nicht kannte, herumzukutschieren und seinen Zeitplan zu ändern, aber er war froh, dass er keine Tollwutimpfung brauchte. «Schick mir einfach ihren Flugplan. Wo soll ich sie absetzen?»

«Sie wird hier bei dir wohnen», erwiderte sie.

«Was? Warum?» Khais ganzer Körper versteifte sich bei dem Gedanken. Das war eine Invasion, schlicht und einfach eine Invasion.

«Kein Grund zur Sorge», beschwichtigte sie ihn. «Sie ist jung und sehr hübsch.»

Er schaute zu Quan. «Warum kann sie nicht bei dir wohnen? Du magst Frauen.»

Quan verschluckte sich an der Cola und schlug sich hustend mit der Faust vor die Brust.

Ihre Mom richtete einen missbilligenden Blick auf Quan, bevor sie sich wieder auf Khai konzentrierte und zu ihrer vollen Größe von einem Meter siebenundvierzig aufrichtete. «Sie kann nicht bei Quan wohnen, weil sie deine zukünftige Frau ist.»

«Was?» Er lachte. Das musste ein Witz sein, aber er verstand die Pointe nicht.

«Ich habe sie für dich ausgesucht, als ich in Việt Nam war. Du wirst sie mögen. Sie ist perfekt für dich», sagte sie.

«Ich … Du kannst nicht … Ich …» Er schüttelte den Kopf. «Was?»

«Ja», sagte Quan. «So hab ich auch reagiert. Sie hat dir eine Katalogbraut aus Vietnam besorgt, Khai.»

Ihre Mom funkelte Quan streng an. «Warum sagst du das so, dass es sich schlimm anhört? Sie ist keine ‹Katalogbraut›. Ich habe sie persönlich kennengelernt. So hat man das in alten Zeiten gemacht. Wenn ich nach der Tradition ginge, hätte ich dir schon längst auf dieselbe Weise eine Frau gesucht, aber du brauchst meine Hilfe nicht. Dein Bruder schon.»

Inzwischen versuchte Khai gar nicht mehr, etwas zu sagen. Sein Gehirn hatte einen Kurzschluss und verweigerte ihm den Dienst.

«Ich habe ihr alles Mögliche an Obst gekauft.» Sie schob die Kisten auf der Küchenzeile umher. «Litschis, Rambutans …»

Während sie damit fortfuhr, tropische Früchte aufzuzählen, holte ihn sein Verstand endlich wieder ein. «Mom, nein.» Die Worte kamen mit unbeabsichtigter Heftigkeit und Lautstärke heraus, aber das war gerechtfertigt. Er ignorierte den Impuls, der ihm sagte, dass es ein Sakrileg war, seiner Mutter zu widersprechen. «Ich werde nicht heiraten, und sie wird nicht hier wohnen, und du kannst solche Sachen nicht machen.» Das hier war das einundzwanzigste Jahrhundert, um Himmels willen. Die Leute liefen nicht mehr rum und kauften Frauen für ihre Söhne ein.

Sie spitzte die Lippen und stemmte die Hände in die Hüften, was sie mit ihrem pinkfarbenen Jogginganzug und dem kurzen dauergewellten Haar wie eine Aerobictrainerin aus den Achtzigern aussehen ließ. «Ich habe schon den Bankettsaal für die Hochzeit gebucht. Die Anzahlung waren tausend Dollar.»

«Mom.»

«Als Datum habe ich den achten August ausgesucht. Ich weiß, wie gern du die Zahl Acht magst.»

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und unterdrückte ein Knurren. «Ich werde dir die tausend Dollar zurückzahlen. Bitte gib mir die Nummer des Bankettsaals, damit ich absagen kann.»

«Sei nicht so, Khải. Bleib aufgeschlossen», sagte sie. «Ich will nicht, dass du einsam bist.»

Er stieß einen ungläubigen Seufzer aus. «Ich bin nicht einsam. Ich bin gern allein.»

Einsamkeit war etwas für Menschen, die Gefühle hatten, was bei ihm nicht der Fall war.

Es war keine Einsamkeit, wenn man es mit Arbeit oder einem Netflix-Marathon oder einem guten Buch ausmerzen konnte. Echte Einsamkeit würde die ganze Zeit über bei einem bleiben. Echte Einsamkeit würde einen ununterbrochen leiden lassen.

Khai litt nicht. Meistens fühlte er gar nichts.