Heartbroken Kiss. Seit du gegangen bist - Anna Savas - E-Book
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Anna Savas

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Beschreibung

NIEDRIGER AKTIONSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Manchmal ist die Liebe näher, als du ahnst …** Seit Emma weiß, dass ihr bester Freund Henry ein Auslandsjahr in Frankreich absolvieren wird, scheint die bevorstehende Trennung wie ein dunkler Schatten über ihr zu schweben. Als dann auch noch die Abschiedsfeier so ganz anders als erwartet verläuft und Henry ohne Abschiedsworte nach Frankreich verschwindet, ist Emma am Boden zerstört. Ein Jahr später steht ihr bester Freund wieder vor ihr – und nichts ist mehr wie zuvor. Die ursprüngliche Vertrautheit hat sich aufgelöst. Dafür scheinen Henrys stürmische Augen eine ganz neue Anziehungskraft auf sie auszuüben … //»Heartbroken Kiss. Seit du gegangen bist« ist ein in sich abgeschlossener Roman. Weitere bewegende Liebesgeschichten der Erfolgsautorin Anna Savas:  -- Forbidden Love Story. Weil ich dir begegnet bin -- Loving or Losing. Als du in mein Leben kamst -- Falling for Love. Vertraue auf dein Herz//

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Anna Savas

Heartbroken Kiss. Seit du gegangen bist

**Manchmal ist die Liebe näher, als du ahnst …** Seit Emma weiß, dass ihr bester Freund Henry ein Auslandsjahr in Frankreich absolvieren wird, scheint die bevorstehende Trennung wie ein dunkler Schatten über ihr zu schweben. Als dann auch noch die Abschiedsfeier so ganz anders als erwartet verläuft und Henry ohne Abschiedsworte nach Frankreich verschwindet, ist Emma am Boden zerstört. Ein Jahr später steht ihr bester Freund wieder vor ihr – und nichts ist mehr wie zuvor. Die ursprüngliche Vertrautheit hat sich aufgelöst. Dafür scheinen Henrys stürmische Augen eine ganz neue Anziehungskraft auf sie auszuüben …

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Vita

Danksagung

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© privat

Anna Savas wurde 1993 in Herne geboren und studierte Komparatistik und Geschichte in Bochum. Schon als junges Mädchen entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern und dem Verfassen eigener Geschichten, die immer länger wurden, bis schließlich ihr erster Roman entstand. Mit dem Schreiben bringt sie Ordnung in ihr Gedankenchaos, daher würde sie das Haus nie ohne ihr kleines Notizbuch verlassen.

Für Elena Ohne dich würde ich manchmal wohl wirklich durchdrehen.

Kapitel 1

August – JETZT

Warm schien mir die Sonne ins Gesicht. Ich seufzte wohlig und streckte mich. Wenn ich noch lange so liegen blieb, würde ich auf jeden Fall einschlafen. Ich liebte dieses Wetter und im Sommer nur mit einem Bikini bekleidet im Garten zu liegen und nichts zu tun außer braun zu werden, gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

Ich war tatsächlich kurz davor einzunicken, als eiskaltes Wasser auf meine Haut klatschte. Erschrocken schnappte ich nach Luft und riss blinzelnd die Augen auf. Die Sonne blendete mich jedoch so sehr, dass ich einen Moment lang gar nichts sehen konnte. Ich öffnete schon den Mund, um mich lautstark zu beschweren, als sich eine Hand über meine Lippen legte, um mich am Sprechen zu hindern.

Henrys grinsendes Gesicht erschien vor mir und ich funkelte ihn zornig an. Ich schnappte nach ihm, nicht ernsthaft, aber doch in der Hoffnung, dass er mich dann losließ. Allerdings war Henry durch die vielen Jahren unserer Freundschaft abgehärtet und ließ sich so leicht nicht abschrecken.

Henry war seit meiner Geburt mein bester Freund. Er war nur wenige Minuten vor mir zur Welt gekommen und dennoch einen Tag älter als ich. Unsere Mütter hatten sich im Krankenhaus kennengelernt. Sie hatten in demselben Krankenhauszimmer gelegen und sich während ihrer Wehen gegenseitig in den Wahnsinn getrieben. Andere in den Wahnsinn treiben konnten die beiden heute noch gut. Inzwischen taten sie es allerdings gemeinsam und vorzugsweise waren Henry und ich ihre Opfer.

Henry war schließlich kurz vor Mitternacht, ich kurz danach auf die Welt gekommen. Unsere Mütter hatten das für ein Zeichen gehalten und als wir ein paar Tage später alle nach Hause gekommen waren, hatten mein Dad und Henrys Vater Pete sich darum gekümmert, dass Pete, Moira und Henry in das Haus direkt neben unserem einzogen. Es hatte zum Verkauf gestanden, seit die arme Mrs Winter einige Wochen zuvor an Altersschwäche gestorben war.

Seitdem waren Henry und ich unzertrennlich. Wir hatten unser ganzes Leben miteinander verbracht. Wir gingen zusammen zur Schule, verbrachten fast jede Minute unserer Freizeit miteinander und wenn wir nicht zusammen waren, schickten wir uns Zeichen aus unseren Zimmern, die sich praktischerweise direkt gegenüberlagen, nur knapp fünf Meter voneinander entfernt. Man hätte meinen können, dass wir uns irgendwann auseinandergelebt hätten, spätestens mit dem Beginn der Pubertät, wenn eine Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen, beide vollgepumpt mit Hormonen, ziemlich schwierig werden könnte. Aber das war nicht der Fall.

Wir blieben einfach Freunde, so wie wir es immer gewesen waren. Auch als Henry irgendwann seine erste Freundin gehabt und ich das erste Mal auf einer Party mit einem Jungen herumgeknutscht hatte. Wir redeten darüber, so wie ich auch mit meinen Freundinnen darüber sprach, vor allem, wenn ich mal wieder Liebeskummer hatte und Henry von einer seiner Freundinnen genervt war.

Henry riss mich aus meinen Gedanken, indem er sich einen Finger auf die Lippen legte und mich so dazu aufforderte, leise zu sein. Ich verdrehte genervt die Augen, blieb aber still. Sichtlich zufrieden nahm Henry seine Hand von meinem Mund und ließ sich neben mich auf die Decke fallen, die ich auf dem Gras ausgebreitet hatte.

Finster starrte ich ihn an, aber er lachte nur und sagte: »Ach komm schon, Emma, nicht schmollen. Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, hättest du das auch gemacht.« Er deutete auf den leeren Eimer, der ein Stück von uns entfernt im Gras lag. Da musste ich ihm leider heimlich Recht geben. Außerdem war das Wasser sogar ziemlich erfrischend gewesen, denn es war ziemlich heiß und so würde es auch nicht lange dauern, bis mein Bikini wieder trocken wäre. Doch ich würde den Teufel tun und das vor Henry zugeben.

»Jaja, schon gut«, brummte ich und schloss wieder die Augen, um mich zu entspannen. Aber Henry gab keine Ruhe.

»Eeeeemma«, sagte er gedehnt und in einem Tonfall, bei dem ich unwillkürlich grinsen musste. Henry heckte etwas aus.

Ich stützte mich auf meine Unterarme und sah ihn unschuldig an. Schalk blitzte in seinen Augen. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir damals unsere Dads mit Filzstiften angemalt haben, als sie im Garten eingeschlafen sind?«

»Ja.« Jetzt erschien auch auf meinen Lippen ein schelmisches Grinsen.

»Wenn ich dir jetzt sage, dass ich das nochmal machen will, weil die beiden in ihren Stühlen sitzen und eingepennt sind, machst du dann mit?«

»Also zuerst würde ich dir sagen, dass wir keine acht mehr sind und definitiv erwachsener sein sollten, aber dann …«, ich griff nach den beiden knallpinken Filzstiften, die ich unter meiner Decke versteckt hatte, und hielt sie Henry triumphierend unter die Nase, »dann würde ich dir sagen, dass ich schon seit Stunden darauf warte, dass es so weit ist. Wo hast du überhaupt gesteckt?«

Henrys Gesicht verdüsterte sich. »Nicht so wichtig. Lass uns ein andermal darüber reden.« Dann war sein strahlendes Lächeln wieder da, er sprang auf und zog mich auf die Füße. »Na los, wir müssen uns beeilen. Noch eine Gelegenheit bekommen wir wahrscheinlich nicht. Und wenn ich nächstes Jahr wiederkomme, sind wir fast mit der Schule fertig und dann sollten wir wirklich erwachsen genug sein, um so etwas nicht mehr zu tun. Aber weißt du was«, fuhr er mit einem schelmischen Grinsen fort, »ich glaube, das wird nichts.«

Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mich, als Henry auf das nächste Jahr zu sprechen kam. Ein Jahr. Das würde die Hölle werden. Bisher hatte ich es – zumindest für heute – ganz gut geschafft nicht daran zu denken, dass er in ein paar Tagen nicht mehr hier sein würde, sondern tausende Meilen weit weg, und dass diese die letzte Woche war, die ich vorerst mit Henry verbringen würde.

Er würde für ein Jahr nach Paris gehen. Ich hatte mich quergestellt, denn das würden grauenhafte zwölf Monate werden. Aber seine Eltern bestanden darauf. Er sollte diese Erfahrung machen, schließlich machte sich das ziemlich gut auf Collegebewerbungen. Henry selbst wollte zwar auch gehen, aber er hatte vorgeschlagen, dass ich mitkommen sollte. Doch meine Eltern hatten das Geld nicht und leider gab es auch für die größten Streber keine Stipendien, die einem ein ganzes Jahr in einem fremden Land finanzierten.

»Ems!«, Henry schnippte mit seinen Fingern vor meinem Gesicht. Ich riss mich zusammen und setzte ein Lächeln auf, das hoffentlich nicht allzu gequält war.

»Alles gut?«, fragte er.

»Ja, schon gut. Alles in Ordnung.« Ich stapfte voller Elan los, damit Henry nicht merkte, dass ich mit den Tränen kämpfte. Das alles war ganz und gar nicht einfach für mich. Aber jetzt musste ich mich wirklich beherrschen. Später konnte ich darüber nachdenken und heulen. Jetzt mussten Henry und ich unseren vorerst letzten Streich spielen.

Wir schlichen uns an unsere Väter ran, die tief und fest schlafend in ihren Liegestühlen saßen und fröhlich vor sich hin schnarchten. Sie waren so laut, dass sie uns vermutlich nicht einmal gehört hätten, wenn wir auf einer Horde Elefanten angeritten gekommen wären.

Allerdings war unsere Lautstärke nicht das Problem. Henry und ich wechselten einen verschwörerischen Blick, als wir uns ins Gras knieten, die Kappen von den Stiften zogen und tief durchatmeten, bevor wir die Spitzen auf die Gesichter unserer Väter setzten. Denn das war das Problem. Berührungen, vor allem längere Berührungen, konnten jemanden ziemlich gut aus dem Schlaf reißen.

Ich schrieb vorsichtig den ersten Buchstaben auf Dads Stirn, aber er regte sich nicht einmal. Ermutigt machte ich weiter, voll konzentriert, bis ich aus dem Augenwinkel Henry am ganzen Körper beben sah. Irritiert sah ich zu ihm auf und musste grinsen, als ich begriff, dass er vor unterdrücktem Lachen zitterte. Ich warf ihm einen strengen Blick zu, musste mich jetzt aber selbst ziemlich beherrschen, um nicht laut loszulachen.

Hastig vollendete ich mein Werk und wich dann von meinem Dad zurück. Er regte sich, schnaufte und ich hielt reflexartig den Atem an, auch wenn das absolut gar nichts nutzte. Heftig gestikulierend trieb ich Henry zur Eile an und gemeinsam machten wir uns schließlich kichernd und nach Luft schnappend aus dem Staub.

***

»Das ist absolut nicht witzig!«

Dad und Pete hatten sich vor Wut kochend vor uns aufgebaut. Henry und ich saßen auf unseren Stühlen, genau wie vor acht Jahren, und ließen uns ausschimpfen. Aber ich sah, wie Henry neben mir schon wieder anfing zu beben, und musste mir ziemlich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen.

Hinter unseren Vätern standen unsere Mütter und mussten sich selbst ziemlich zusammenreißen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die beiden das genauso witzig finden würden wie wir. Taten sie aber und das sah auch ziemlich lustig aus! Henry hatte Pete ein Katzengesicht aufgemalt, während ich auf Dads Stirn und Kinn Selbst Schuld geschrieben und zwei Herzen auf seine Wangen gemalt hatte.

»Ihr solltet euch wirklich schämen! Ich hätte gedacht, dass ihr inzwischen aus dem Alter raus seid!«, schimpfte Pete, stemmte die Hände in die Seiten und schaute uns beide böse an. Das niedliche Katzengesicht bildete zu seiner offensichtlichen Wut aber einen so witzigen Kontrast, dass Henry neben mir nicht anders konnte, als laut loszuprusten. Er lachte so heftig, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Dad, ehrlich, du müsstest dich jetzt mal sehen. Du bist ein echt süßes Kätzchen!«

»Henry!«, sagte Pete warnend, aber Moira trat einen Schritt nach vorn und schob ihren Mann zurück. »Jetzt lass gut sein, Pete. Die beiden wollten euch doch nur noch einmal ärgern, bevor Henry nach Frankreich fliegt«, verteidigte sie uns und grinste Pete dann verschmitzt an. »Außerdem bist du wirklich ein süßes Kätzchen.«

Sie machte hinter ihrem Rücken eine wedelnde Handbewegung, die uns wohl entlassen sollte. Ich schaute Dad entschuldigend an, aber er hatte sich wieder beruhigt, grinste inzwischen sogar und ich hatte den Verdacht, dass er sich insgeheim darüber freute, dass wir die letzten Tage, die wir noch zusammen verbringen konnten, genossen.

***

Zwei Tage später lag ich am frühen Abend grübelnd in meinem Bett und kaute auf meinem Stift herum. Henry regte sich jedes Mal darüber auf, weil er das eklig fand und ich war mir auch bewusst, dass das nicht die allerbeste Angewohnheit war, aber ich schaffte es auch nicht damit aufzuhören. Ich hatte das Bedürfnis etwas in mein Notizbuch zu schreiben, aber es würde auf jeden Fall etwas sehr Deprimierendes werden und das wollte ich jetzt eigentlich nicht. Seufzend klappte ich mein Notizbuch zu und ließ mich in meine Kissen sinken, um meinen Gedanken nachzuhängen.

Notizbücher wie das, das ich jetzt an meine Brust drückte, hatte ich schon immer von Henry geschenkt bekommen. Das erste hatte er mir geschenkt, als ich zwölf gewesen war. Zu dieser Zeit hatte ich all meine Gedanken auf lose Zettel geschrieben, die überall herumflogen. Henry hatte mir ein quietschgrünes Notizbuch geschenkt, damit mein Chaos endlich ein bisschen Struktur bekam. Ich hatte alle losen Zettel eingeklebt, genauso wie Kinokarten, Nachrichten, die Henry und ich uns im Unterricht zugesteckt hatten, und alles, was ich sonst noch so mit mir herumgeschleppte. Mit der Zeit fing ich an meine Gedanken aufzuschreiben, bis ganze Seiten mit verschiedenen Einträgen gefüllt waren. Jeden Eintrag versah ich mit einer Nummer, zum einen, um die einzelnen Einträge voneinander abzugrenzen, weil ich nicht für jeden Eintrag eine neue Seite anfing, zum anderen aus Neugier, wie viel ich eigentlich so schrieb. In der Regel schrieb ich täglich etwas in mein Notizbuch, manchmal aber auch mehrere Tage gar nicht oder auch mehrmals an einem Tag. Bei jedem Notizbuch fing ich von neuem an zu zählen. Bei den ersten drei Notizbüchern hatte ich die Einträge fortlaufend durchnummeriert, doch die hohen Zahlen hatten mich am Ende des dritten Buches förmlich erschlagen. Ich hatte kaum glauben können, wie viele hundert Einträge ich da geschrieben hatte. Also hatte ich beschlossen bei jedem Notizbuch wieder bei 1 zu beginnen.

Auch jetzt hätte ich gerne einfach aufgeschrieben, was mir so durch den Kopf wirbelte, und alle Gedanken und Gefühle einfach rausgelassen. Aber ich konnte nicht.

Henrys bevorstehende Abreise machte mir wirklich ziemlich zu schaffen. Ich war mir nicht sicher, ob er das wusste. Andererseits wusste er alles von mir, also wohl auch das, ohne dass ich es ihm sagen musste. Er wusste immer, wie es mir ging und er war immer für mich da. Henry war tatsächlich der Einzige, der wirklich alles über mich wusste. Nicht einmal meine beste Freundin Mia wusste jedes kleine Geheimnis. Das lag unter anderem daran, dass Henry nun einmal bei beinahe jeder Peinlichkeit und jedem schönen Augenblick in meinem Leben dabei gewesen war. So wie ich bei allem dabei gewesen war, was er erlebt hatte.

Ich war die Einzige, die ihn wirklich kannte. Ich kannte jede seiner Stärken und Schwächen. Ich war die Einzige, die wusste, dass er Angst vor Gewittern hatte – auch wenn er vor anderen immer so tat, als hätte er diese Angst längst überwunden. Es war total seltsam, dass er vor Blitz und Donner eine derartige Angst hatte, ihm war schließlich noch nie etwas passiert. Aber so war das nun mal mit dieser Art von Angst – man wurde sie einfach nicht los. Jedes Mal, wenn es gewitterte und wir mit Freunden unterwegs waren, war ich diejenige, die so tat, als würde sie sich fürchten, damit niemand merkte, dass ich in Wahrheit nur von Henry ablenkte. Ihm war das peinlich, obwohl ich ja der Meinung war, dass es eigentlich ganz niedlich war und eine Verletzlichkeit zeigte, die so nur ich bei ihm sah, weil ich einfach jede Seite von ihm kannte. Vielleicht war deshalb auch ich diejenige, die bei jedem Schwimmwettkampf am Beckenrand stand und ihn anfeuerte und nicht eine seiner Freundinnen. Ich wusste, wie wichtig es ihm war, dass ich dabei war. Genauso wie ich wusste, dass er den Winter liebte, weshalb wir jedes Mal, wenn es schneite, so viel Zeit wie möglich draußen verbrachten und im Schnee herumtobten, als wären wir sechs und nicht sechzehn.

Andersherum war Henry derjenige, der mich aufheiterte, wenn ich traurig war und der mir meine Lieblingsschokolade brachte, wenn ich mal wieder kurz davor war wegen irgendetwas vollkommen Unnötigem durchzudrehen. Er war derjenige, der mich vor Prüfungen und Klausuren dann allerdings durchdrehen ließ, weil er wusste, wie wichtig mir meine Noten waren und dass ich mich nur noch schlimmer benehmen würde, wenn mir jemand reinredete. Wir lernten zusammen und Henry half mir bei allen Problemen und stand immer zu mir, vollkommen egal, ob ich im Recht war oder nicht. Er wies mich dann im Nachhinein oft darauf hin, dass ich totalen Quatsch geredet hatte, aber vor anderen war er immer auf meiner Seite. Und er war auch derjenige, der immer ganz genau wusste, wann ich ihn brauchte. Dann kletterte er immer vollkommen unerwartet – oder vielleicht auch erwartet – an dem Baum vor meinem Fenster hoch und klopfte an meine Fensterscheibe. O Gott, er würde mir so sehr fehlen! Ich schluckte krampfhaft die Tränen hinunter und fuhr erschrocken zusammen, als es an meiner Fensterscheibe klopfte. Dann musste ich lachen. Es war, als hätte Henry meine Gedanken in seinem Zimmer gehört und wäre sofort losgelaufen, um mich zu trösten.

Ich atmete tief durch, stand auf und wollte ihn reinlassen. Doch Henry blieb draußen, balancierte auf dem dicken Ast und lächelte mich an. »Kommst du mit?«, fragte er, obwohl er ganz genau wusste, dass er mich nicht einmal hätte fragen müssen.

Ich schlüpfte in meine Sandalen und kletterte wortlos hinter ihm her, den Baum hinunter. Wir schnappten uns unsere Fahrräder und machten uns auf den Weg. Ohne zu fragen, wusste ich, dass Henry zum Strand wollte. Es gab eine Stelle, zu der wir immer mit den anderen aus der Schule hingingen, wo man ein Lagerfeuer machen und gemütlich sitzen konnte. Aber Henry und ich hatten einen anderen Platz, wo wir immer nur zu zweit waren. Unser Platz war weiter weg, der Weg dorthin ziemlich steinig und ungemütlich und irgendwann mussten wir unsere Fahrräder stehen lassen, aber dafür waren wir dort in der Regel auch immer unter uns und das war es, worum es uns jetzt ging.

Zwar hatten wir auch einige andere wirklich gute Freunde, aber wir beide waren miteinander aufgewachsen, wir wussten, dass wir uns immer aufeinander verlassen konnten. Wir waren uns genug. Nur wir zwei.

»Weißt du, ich finde, wir sollten uns schon mal überlegen, was wir nächstes Jahr im Sommer machen, wenn ich wiederkomme«, sagte Henry nachdenklich, als wir unsere Fahrräder abstellten und zu Fuß weitergingen.

Ich stupste ihn an. »Das hat doch noch Zeit. Komm du erstmal wieder.«

Freundschaftlich legte Henry mir einen Arm um die Schulter und drückte mich an sich. »Willst du nicht doch mitkommen?«

Ich machte mich von ihm los und hatte plötzlich wieder einen Kloß im Hals. »Du weißt genau, dass das nicht geht!«, gab ich zurück.

Er seufzte. »Ja, ich weiß. Aber das würde so viel besser werden, wenn du mitkommen würdest. Stell dir mal vor, was wir in Paris alles anstellen könnten.« Da war sein Lächeln wieder, aber ich schaffte es nicht es zu erwidern.

Der Geruch nach Salz und Algen stieg mir in die Nase und nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, ging es mir etwas besser. Ich zog meine Sandalen aus. Das Rauschen des Meeres klang vertraut und Henry und ich setzten uns nahe dem Wasser in den Sand.

Ich verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich eine ganze Menge, aber das wird nichts. Du fährst nach Paris und ich bleibe in diesem Kaff hier hocken! Aber wir werden telefonieren und skypen und schreiben und du musst mir mindestens eine Million Fotos schicken. Und ich werde dir alles erzählen, was hier nicht passiert.«

»Das will ich auch hoffen!« Henry griff nach meiner Hand und drückte sie kurz, bevor er mich wieder losließ. »Aber jetzt mal ein anderes Thema. Hilfst du mir bei der Vorbereitung für meine Abschiedsparty am Samstag?«

Breit grinste ich ihn an. »Im Gegensatz zu dir habe ich schon vor Wochen damit angefangen!«

Kapitel 2

August – JETZT

Als ich am Sonntagmorgen aufwachte, hatte ich das Gefühl, ich würde sterben. Meine Augen fühlten sich verquollen an und waren so verklebt, dass ich sie kaum öffnen konnte. Und als ich es schließlich doch schaffte, begann sich um mich herum alles zu drehen.

Ich schaffte es gerade noch bis zum Bad, bevor ich mich übergab. Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib und fragte mich verzweifelt, warum zum Teufel mir so schlecht war. Mein Kopf dröhnte allerdings so sehr, dass ich zu keinem Ergebnis kam. Noch nie im Leben hatte ich mich so elend gefühlt. Ich drückte die Spülung und lehnte mich erschöpft zurück. Mein Magen protestierte und mein Hals war überreizt. Es dauerte nicht lange, bis ich zur Seite kippte und stöhnend liegen blieb. Mir war schwindelig und schlecht und mein ganzer Körper tat weh.

Die Fliesen unter meiner Wange fühlten sich angenehm kühl an. Ich versuchte mir einzureden, dass ich über Nacht eine grauenhafte Grippe bekommen hatte, aber ich wusste es besser. Ich schloss die Augen, unterdrückte den Drang mich erneut zu übergeben und versuchte mich an den letzten Abend zu erinnern.

Es war der Abend von Henrys Abschiedsfeier gewesen. So viel wusste ich zumindest noch. Ich erinnerte mich vage an diese Party. Sehr vage. Besonders deutlich erinnerte ich mich an die ersten drei, vier Stunden. Bilder stürmten auf mich ein und ich musste die Augen schließen, weil mir wieder schwindelig wurde. Doch dadurch wurden die Erinnerungen nur deutlicher, die Bilder schärfer.

***

August – Ein Tag zuvor

»Also sind wir soweit fertig?«, fragte ich Henry, der sich zufrieden umsah. Wir hatten die Stühle aus dem Esszimmer geräumt und in die Waschküche gestellt, damit wir mehr Platz hatten. Alles, was zerbrechlich war, war ebenfalls in der Waschküche gelandet, sodass Ess- und Wohnzimmer nun ziemlich leergeräumt waren. Aber das war ja Sinn und Zweck des Ganzen gewesen.

»Ja, das sieht gut aus. Das Essen haben wir ja so weit fertig und die Getränke stehen im Kühlschrank. Und um die Snacks kümmere ich mich später. Ich glaube, wir sind tatsächlich fertig.« Er strahlte mich an und ich musste unwillkürlich mitlächeln. Er war total aufgekratzt und so voller Vorfreude, dass ich gar nicht anders konnte, als mich mit ihm zu freuen. »Danke, dass du mir geholfen hast, Ems!«

»Ist doch klar. Ach ja, ich habe dir eine Playlist bei Spotify erstellt, also brauchst du dir darum keine Gedanken mehr machen. Ich werde dann jetzt rübergehen. Mia kommt gleich, weil wir uns zusammen fertig machen wollten.«

»Alles klar!« Henry nahm mich zum Abschied kurz in den Arm. »Dann sehen wir uns später!«

»Bis gleich.«

Meine beste Freundin Mia kam nur ein paar Minuten nach mir bei mir zuhause an. Sie war während der letzten Wochen bei ihrer Tante zu Besuch gewesen und ich war froh, dass sie heute da war. Ich brauchte sie, denn ohne Mia würde ich den Abend nicht überstehen. Schon jetzt, bevor er abgereist war, vermisste ich Henry so schrecklich, dass ich mich fürchterlich zusammenreißen musste, um nicht ständig loszuheulen. Und es wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Mia war die fröhlichste Person der Welt und es gelang ihr tatsächlich mich ein bisschen abzulenken. Sie erzählte mir von Luke, ihrem Vielleicht-Hoffentlich-Bald-Freund, von ihren Plänen für den Rest des Sommers und wir überlegten, was wir zusammen mit unseren Freundinnen Jen und Allison machen könnten.

Ich ließ mich bereitwillig ablenken, bis wir dann zu Henrys Party kamen und ich meinen besten Freund sah. Wir hatten uns zwar erst vor zwei Stunden voneinander verabschiedet und da war alles gut gewesen, aber jetzt hatte ich urplötzlich wieder diesen dicken, fetten Kloß im Hals und Tränen brannten in meinen Augen.

Am liebsten wäre ich ihm direkt um den Hals gefallen. Doch dann sah ich, wie Henrys aktuelle Freundin Callie von hinten beide Arme um ihn schlang und ihn an sich drückte. Meine Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Stattdessen hatte ich plötzlich das dringende Bedürfnis mich zu übergeben.

Es war nicht so, dass ich Callie hasste … aber wirklich leiden konnte ich sie auch nicht. Callie war hübsch, schlau und ziemlich nett. Zumindest hatte ich das von anderen gehört. Denn seit Henry und Callie vor drei Monaten zusammengekommen waren, hatten wir eine heftige Abneigung gegeneinander entwickelt. Ich hatte eigentlich nichts gegen sie, aber ich wusste, dass sie mich nicht mochte, und das machte es mir nicht unbedingt leicht ihr gegenüber positive Gefühle zu entwickeln. Man merkte ihr einfach an, dass sie nicht viel von mir hielt und so oft, wie sie schon mit Henry darüber gestritten hatte, dass wir zu viel Zeit miteinander verbrachten, war es nicht allzu schwierig auf diesen Gedanken zu kommen.

»Hier.« Mia drückte mir einen Becher in die Hand, stieß mit mir an und sagte: »Trink. Das hilft.« Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen auffordernd an. Mia wusste, wie sehr es mich mitnahm, dass Henry wegging und ich war froh, dass sie heute für mich da war. Wir stießen unsere Becher aneinander und nippten an unseren Getränken. Es war eine Bowle, die erfrischend nach Limetten und nur nach erstaunlich wenig Alkohol schmeckte. So wie ich meine Freunde kannte, würde sich das im Laufe des Abends aber wohl noch ändern.

Ich wandte mich von Henry und Callie ab. Ich hatte ihn noch nicht einmal begrüßt, aber gerade war mir die Lust darauf auch gründlich vergangen. Mia griff nach meiner Hand und zog mich in den Garten. Es war drinnen sehr schwül gewesen und ich war dankbar für die kühle Brise, die jetzt um meine nackten Beine strich. Ich hörte Grillen zirpen und atmete tief den Geruch ein, der einem den ganzen Sommer in der Nase hing. Nach trockenem Gras, Sonnencreme, nach herrlich langen Ferientagen und ein bisschen nach Salz, wenn der Wind drehte und vom Meer her in die Stadt wehte.

Mia und ich setzten uns zu ein paar Schulfreunden auf die Wiese, aber ich konnte dem Gespräch, das sich um verschiedene Partys, Tage am Strand und Ferienjobs drehte, nicht wirklich folgen.

Meine Gedanken wanderten immer wieder zu Henry. Morgen würde er im Flugzeug sitzen und etliche Stunden später würde er tausende Meilen von mir entfernt sein.

Ich war immer noch ein bisschen wütend und enttäuscht, dass Henry ein Jahr ins Ausland ging. Dabei verstand ich nicht einmal, warum ich so etwas fühlte. Eigentlich sollte ich mich für ihn freuen. Ich konnte verstehen, dass er diese Erfahrung machen wollte. Außerdem gab es wirklich sehr viel schlechtere Städte für ein Auslandsjahr als Paris.

Die Zeit verging und je frustrierter ich wurde, dass Henry sich noch immer nicht bei mir hatte blicken lassen, desto mehr ließ ich mich von meinen Freunden dazu überreden mitzutrinken. Mir war bewusst, dass es eine dumme Idee war und dass ich es garantiert bereuen würde, aber sonst würde ich in nächster Zeit entweder so richtig deprimiert sein oder ziemlich sauer werden. Da ich weder das eine noch das andere wollte, ließ ich mich bequatschen. Ich wollte Spaß haben und nicht ununterbrochen daran denken, dass Henry bald weg war.

Deshalb war ich um halb elf, als Henry schließlich doch endlich zu mir kam, schon ziemlich angetrunken, während Mia mit Luke herumknutschte, der irgendwann aufgetaucht war – ich konnte mich nicht erinnern, wann. Allison hatte beim Strip-Poker bereits ihr Kleid verloren und saß jetzt nur noch in Höschen und BH im Garten. Sie kicherte ausgelassen und es kümmerte sie nicht, dass die Jungs kaum die Augen von ihr lassen konnten. Vielleicht weil sie die ganze Zeit gewann, seit sie halbnackt war, da das Blut der Jungs sich ganz eindeutig nicht länger in ihren Köpfen befand. Jen dagegen wirkte etwas genervt, aber das tat sie an Abenden wie diesen immer und ich fragte mich jedes Mal, ob sie wirklich keine Lust hatte, oder ob sie nur so tat, als ob.

Ich beobachtete meine Freunde und grinste in meinen Becher, als Henry sich neben mich setzte und so nah an mich heranrutschte, dass ich meinen Kopf auf seine Schulter legen konnte. Ich seufzte und ließ mich schwer gegen ihn sinken. Meine Wut war verraucht. Stattdessen erfüllte mich eine angenehme Art von Müdigkeit.

Henry legte seinen Kopf an meinen. »Willst du gar nicht mitspielen?« Ich spürte, dass er lächelte.

»Warum? Damit mich auch alle angaffen können, wenn ich mich ausziehen muss, weil ich verliere?«

»Damit würdest du bestimmt einigen eine Freude bereiten.« Er lachte leise in mein Ohr. Ich hob den Kopf und drehte mich zu ihm um, um ihm einen missbilligenden Blick zuzuwerfen. Doch Henry lächelte mich einfach weiter an. Seine blonden Haare fielen ihm vollkommen verstrubbelt in die Stirn und die blaugrünen Augen, die genau die gleiche Farbe hatten wie das Meer nach einem heftigen Sturm, blitzten vergnügt.

Ich wusste nicht, was mich in diesem Augenblick ritt, denn eigentlich wollte ich es gar nicht wissen, aber ich wollte auch nicht weiter über Strip-Poker reden, also fragte ich: »Wo ist denn Callie?«

Henrys Lächeln erlosch schlagartig. »Weg«, antwortete er knapp, wich meinem Blick aus und rückte ein Stück von mir ab. Ich hatte es geahnt. Wenn Callie noch hier gewesen wäre, wäre Henry mir im Leben nicht so nahe gekommen. Beste Freunde hin oder her, die meisten Mädchen waren nicht allzu begeistert davon, wenn ihr Freund ein anderes Mädchen im Arm hielt.

Ich beschwor meine Zunge einfach still zu sein, doch sie ignorierte mich gekonnt und so hörte ich mich fragen, wo Callie denn wäre und warum sie gegangen war. Henrys Blick wurde hart. Ich kannte diesen Blick, aber noch nie hatte er mir gegolten. »Wir haben Schluss gemacht.«

Mein Mund musste sperrangelweit offen stehen, so entgeistert starrte ich ihn an. »Was?! Warum?!«

Henry atmete tief durch. Er kämpfte mit sich, das sah ich ihm an. Dann ließ er die Bombe platzen. »Deinetwegen.«

Fassungslos sah ich ihn an. Meinetwegen? Meinetwegen?! Ich wusste zwar, dass sie mich nicht besonders gemocht hatte, weil es ihr nicht gefiel, wie viel Zeit Henry und ich miteinander verbrachten, aber ich hätte nie gedacht, dass sie deshalb mit ihm Schluss machen würde.

»Diese blöde Kuh!«, explodierte ich. »Sie hat dich überhaupt nicht verdient! Ich konnte sie sowieso nicht leiden! Sei froh, dass du sie los bist!« Ich sprang auf und zog Henry hoch. »Los, wir gehen was trinken. Ich verstehe echt nicht, wie sie so bescheuert sein und dich verlassen kann! Du bist perfekt und das wird sie auch noch merken, wenn sie den nächsten Vollidioten hat!«

Ich hörte Henry lachen, ließ ihm aber gar keine Möglichkeit etwas zu sagen, sondern regte mich so lange weiter über Callie auf, bis wir beide etwas zu trinken in der Hand hielten und uns abseits von den anderen in eine ruhigere Ecke des Gartens verzogen hatten. Ich hatte mich richtig in Rage geredet und allmählich machte es in meinem betrunkenen Zustand sogar irgendwie Spaß, immerhin hatte ich Callie noch nie gemocht.

»Emma«, unterbrach Henry mich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Ich verstummte abrupt, denn auf einmal fühlte sich mein Mund so ausgetrocknet an, als hätte ich seit Tagen nichts getrunken. »Du siehst sehr hübsch aus heute.«

Das Blut schoss mir ins Gesicht, ich wurde rot und brachte keinen Ton, geschweige denn einen ganzen Satz heraus. Ich konnte ihn nur überrascht anstarren und kam mir dabei ziemlich bescheuert vor. Immerhin kannte Henry mich schon mein ganzes Leben lang und er hatte schon oft gesagt, dass er mich hübsch fand oder dass ich gut aussah. Aber gerade eben hatte er es irgendwie anders gesagt und er sah mich auch anders an.

Allmählich musste mir der Alkohol doch sehr zu Kopf gestiegen sein. Anders konnte ich mir diese verqueren Gedanken, die mir da durch den Kopf schossen, nicht erklären. Hastig trank ich noch einen Schluck aus meinem Becher, um meine Gedanken zum Verstummen zu bringen, und musste prompt husten. Die Bowle bestand inzwischen wohl nur noch aus Schnaps und einem Hauch Limettensaft. Henry lachte laut auf, während ich darum kämpfte, wieder Luft zu bekommen. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, griff er nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander.

»Du wirst mir fehlen«, sagte er, sah mir einen Moment lang tief in die Augen und trank dann hastig aus seinem eigenen Becher. Beneidenswerterweise verzog er nur einmal kurz das Gesicht, anstatt sich die Seele aus dem Leib zu husten wie ich.

Ich folgte seinem Beispiel und trank, hauptsächlich weil ich einen Moment brauchte, um meine Stimme wiederzufinden. Dieses Mal war es nicht ganz so eklig. »Du mir auch.« Ich zwang mich zu lächeln, aber meine Unterlippe begann zu zittern und ich merkte, dass ich jetzt doch noch anfing zu weinen. Henry zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

»Ach komm, so schlimm wird es nicht werden«, versuchte er mich aufzumuntern. »Du wirst gar nicht merken, dass ich weg bin.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Ich schniefte, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und blickte zu ihm hoch. Henry sah mich auf einmal ganz seltsam an.

»Nein. Das glaube ich auch nicht.« Seine Stimme klang rau. Er trank noch einen großen Schluck und sah mich einfach nur schweigend an. Sein Blick war so intensiv, dass sich ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch ausbreitete. Dann holte er tief Luft und …

***

August – JETZT

Die Übelkeit holte mich wieder ins Badezimmer zurück. Ich atmete tief durch, um sie zu bekämpfen, konzentrierte mich stattdessen auf meine unscharfen Erinnerungen, die noch undeutlicher wurden, als ich versuchte zu ergründen, was später an diesem Abend passiert war. Aber da waren nur noch vereinzelte, ziemlich wirre Bilder von Henrys Zimmer und vielen, vielen Tränen, die ich vergossen hatte. Vage erinnerte ich mich daran, dass Henry irgendwas davon gesagt hatte, dass er nicht nach Frankreich gehen würde, wenn ich das wirklich nicht wollte. So als würde ich das eine Jahr ohne ihn nicht überstehen. Ich runzelte die Stirn, konnte mich aber nicht richtig erinnern. So oder so war das kein schöner Gedanke. Es war nur ein Jahr. Das würde ich schon irgendwie hinter mich bringen.

Schwerfällig rappelte ich mich auf und taumelte kurz, bevor ich mich wieder fing. Ich musste unbedingt mit Henry reden. Oder vielleicht besser doch nicht. Ich hatte ganz schön peinliches Zeug von mir gegeben und ziemlich viel geheult. Zumindest das wusste ich noch. Leider hatte ich diesen peinlichen Teil des Abends nicht so vollständig vergessen wie den Rest, auch wenn die Erinnerung ziemlich verschwommen war. Ich wusste noch, dass ich ihn gebeten hatte nicht nach Frankreich zu gehen und mich nicht alleine zu lassen. Ich hatte wirklich extrem viel geweint. Nein, wenn ich es recht bedachte, wollte ich wirklich nicht wissen, was ich auf der Party sonst noch so angestellt hatte.

Ich taperte zurück in mein Zimmer und ließ mich stöhnend auf mein Bett fallen. Die Sonne schien durch den Spalt zwischen den Vorhängen in mein Fenster. Kurz bevor ich einschlief, hatte ich das untrügliche Gefühl, dass irgendwas grundlegend falsch war. Ich fühlte mich irgendwie falsch.

Doch bevor ich den Gedanken zu fassen bekam, fielen mir die Augen zu und der Schlaf vertrieb jede undeutliche Erinnerung, die gerade wieder aus der hintersten Ecke meines Gehirns kriechen wollte.

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Als ich das nächste Mal aufwachte, war es in meinem Zimmer kochend heiß. Mein Kopf brummte, als hätte ich einen Hammerschlag abbekommen und ich hatte das Gefühl zu verdursten. Ich fühlte mich richtig eklig. Blind tastete ich nach der Wasserflasche neben meinem Bett, trank sie in einem Zug leer und musste mich drei Sekunden später fürchterlich beeilen, damit ich rechtzeitig ins Bad kam, bevor ich das Wasser wieder von mir gab.

So ein Mist! Ich durfte nie – wirklich nie! – wieder Alkohol trinken. Zumindest nicht so viel. Wieviel hatte ich überhaupt getrunken? Was war nur passiert?

Sobald ich mir sicher war, dass ich mich nicht direkt wieder übergeben würde, zwang ich mich aufzustehen und unter die Dusche zu gehen. Das würde helfen.

Nach der Dusche fühlte ich mich tatsächlich etwas besser. Ich schaute auf mein Handy, hatte aber keine Nachricht bekommen. Kein Wunder, es war ja auch erst neun Uhr. Meine Freunde schliefen bestimmt alle noch tief und fest.

Ich blickte aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass Henry vielleicht schon wach war, aber seine Vorhänge waren noch zugezogen. Unschlüssig, was ich jetzt tun sollte, kroch ich wieder in mein Bett und schaltete den Fernseher ein.

Zum Glück waren meine Eltern zusammen mit meinem kleinen Bruder und unserer Hündin Blue übers Wochenende verreist und würden erst am späten Nachmittag wiederkommen. Ich wollte lieber nicht wissen, was sie dazu sagen würden, wenn sie mich in diesem Zustand zu Gesicht bekämen.

Ich war gerade dabei wieder einzunicken, als es an meinem Fenster klopfte. Henry hockte auf dem Verandadach vor meinem Fenster und winkte mir zu. Sein Lächeln wirkte irgendwie scheu. Ich runzelte irritiert die Stirn, lächelte zurück und öffnete dann mein Fenster. Henry kletterte durch das Fenster und plumpste wenig elegant auf mein Bett, das direkt davorstand. Er schien die letzte Nacht auch nicht so gut verkraftet zu haben.

Wortlos rutschte ich zur Seite, um ihm Platz zu machen, doch Henry stand auf, setzte sich auf den Boden vor meinem Bett und legte das Kinn auf der Matratze ab. »Geht’s dir gut?«, fragte er sanft. »Als ich wach geworden bin, warst du weg.«

Mein Magen rebellierte schon wieder. Ich verzog das Gesicht und presste eine Hand auf meinen Bauch, während ich noch darüber nachgrübelte, warum Henry sich nicht neben mich gelegt hatte, so wie immer. »Nein, mir ist schon den ganzen Morgen echt übel. Ich hoffe, dir geht es besser.«

»Mir geht’s gut. Hör mal, wegen gestern Abend … Ich finde, wir sollten nochmal über alles sprechen. Das war ziemlich viel auf einmal, was ich dir da gesagt habe und, na ja, wir waren ziemlich betrunken. Ich wollte mich einfach vergewissern, dass du …«

»Ich war so betrunken! Ehrlich, so schlimm war das noch nie!«, unterbrach ich ihn, damit er mir nicht zuvorkam und mich damit aufzog. Da übernahm ich das lieber selbst. »Und ich habe so viel Mist geredet! Natürlich will ich eigentlich nicht, dass du nach Frankreich gehst, aber ich weiß, dass du gehen musst! Das ist das Richtige für dich!«, plapperte ich drauflos. Ich wollte nicht, dass er etwas dazu sagte, wie ich mich aufgeführt hatte. »Ich werde dich vermissen, keine Frage, aber es ist ja nicht so, als wärst du völlig aus der Welt. Das Jahr wird ganz schnell vergehen, du wirst schon sehen, und danach wird alles sein wie immer! Wir werden immer beste Freunde sein, Henry, versprochen! Auch wenn wir uns jetzt ein Jahr nicht sehen werden.«

Henry erstarrte. Sein Gesicht war auf einmal ganz leer, all seine Gefühle schienen auf einen Schlag verschwunden zu sein. Einen Moment lang starrte er mich einfach nur so an, vollkommen fassungslos, und mir drehte sich schon wieder der Magen um. Dieses Mal allerdings, weil ich mir sicher war, dass ich gerade einen ziemlichen Fehler gemacht hatte.

»So siehst du das also? Alles, was ich dir gesagt habe, was gestern passiert ist … das bedeutet dir nichts?! Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Das eine Jahr wird schnell um sein und ich soll nach Frankreich gehen? Und danach ist alles wie immer?!« Er spie die Worte förmlich aus und ich zuckte zusammen.

»Das … das ist doch das, was du wolltest«, erwiderte ich zaghaft. Das unausgesprochene Oder hing zwischen uns. In meinem Kopf drehte sich alles und ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, dass Henry und ich von derselben Sache redeten.

»Ja klar, das ist genau das, was ich wollte!«, zischte Henry wutentbrannt. »Vergiss es einfach! Ich hau dann ab. Muss eh noch packen!« Henry war blass geworden und bevor ich ihn aufhalten konnte, war er schon wieder aufgesprungen und aus dem Fenster geklettert. Fassungslos sah ich ihm nach. Was war das denn gewesen?

Verwirrt wie ich war, reagierte ich zu langsam. Als ich mich endlich aufgerappelt hatte und am Fenster stand, sah ich gerade noch, wie die Tür wieder ins Schloss fiel und Henry im Haus verschwand.

Ich rannte die Treppe hinunter nach draußen und stand einen Moment später bei ihm vor der Tür. »Henry!« Ich klopfte. »Henry, lass mich rein!« Ich klopfte noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Erst als ich gerade aufgeben wollte, öffnete sich die Tür doch noch.

Henry sah alles andere als begeistert aus. »Was?«, blaffte er. Ich zuckte zurück. So hatte er noch nie mit mir gesprochen.

»Was ist los mit dir?« Mir versagte die Stimme.

»Gar nichts. Ich wollte mit dir über gestern reden. Was passiert ist. Aber du willst nicht, also lassen wir das. Ich muss jetzt echt weiter packen, also …« Er verstummte und ich sah ihm an, dass er kurz davor war, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

»Aber …«

»Nein, Emma! Es reicht! Ich habe gerade wirklich keine Lust mit dir zu reden!«

»Henry, ich …«

Dieses Mal schloss er tatsächlich die Tür. Ich hämmerte dagegen. »Henry! Verdammt!« Aber sie blieb zu. Er ignorierte mich einfach.

Wenn ich gewusst hätte, dass es etwas nützen würde, hätte ich mich jetzt auf die Veranda gesetzt und so lange gewartet, bis Henry schließlich doch wieder zu mir herauskäme und mit mir redete. Aber ich kannte ihn gut genug. Er war mindestens so stur wie ich und er würde mich noch eine ganze Weile hier ausharren lassen. An jedem anderen Tag wäre ich einfach sitzen geblieben, um ihm zu beweisen, dass ich das genauso gut konnte wie er. Aber mir ging es immer noch ziemlich miserabel und die Hitze hier draußen tat meinem Kopf und meinem Magen gar nicht gut.

Also ging ich zurück nach Hause, hoch in mein Zimmer und legte mich in mein Bett. Dort blieb ich still und wie erstarrt liegen. Ich verstand einfach nicht, was da gerade passiert war. Die nächsten Stunden lag ich einfach nur da und starrte an die Decke. Irgendwann wich meine Verwirrung einer ziemlich hartnäckigen Wut. Ich war so sauer, dass ich innerlich förmlich kochte. Was bildete er sich eigentlich ein? Ich steigerte mich so in meine Wut hinein, dass ich drauf und dran war, mich gar nicht von Henry zu verabschieden. Bis mir klar wurde, wie bescheuert ich mich eigentlich benahm. Henry war mein bester Freund. Mochte ja sein, dass er gerade sauer auf mich war, aber das war noch lange kein Grund, mich nicht von ihm zu verabschieden. Ich würde ihn ein Jahr lang nicht mehr sehen. Und ich würde nicht zulassen, dass ein dämlicher Streit unsere Freundschaft kaputtmachte.

Dummerweise stellte ich nur ein paar Minuten später fest, dass Henry das ganz anders sah als ich. Als ich nämlich an die Haustür klopfte, öffnete niemand, denn es war niemand da. Auch das Auto seiner Eltern stand nicht mehr in der Einfahrt.

Die Erkenntnis, dass Henry einfach zum Flughafen gefahren war, ohne sich zu verabschieden, traf mich wie ein Schlag. Eigentlich hatten wir geplant, dass ich mitfahren würde, aber er hatte mich nicht abgeholt. Und ich war zu stolz gewesen, um früher zu ihm zu gehen.

Jetzt war Henry weg und ich hatte keine Möglichkeit ihm zu folgen, denn meine Eltern waren immer noch nicht wieder zuhause und ohne Auto würde ich es niemals rechtzeitig zum Flughafen schaffen. Ich schickte Henry eine Nachricht, in der ich ihn bat mir zu verzeihen, was auch immer ich falsch gemacht hatte. Doch ich bekam keine Antwort.

Kapitel 3

Dezember/Januar – JETZT

Mia: Emma, jetzt stell dich nicht so an. Es ist Silvester! Du musst zu der Party kommen!

Ich warf mein Handy auf mein Bett, ignorierte Mias Nachricht und griff wieder nach meinem Buch. Nein, ich würde mich definitiv nicht dazu überreden lassen, zu dieser dämlichen Silvesterparty zu gehen. Eigentlich wollte ich diese Nacht nur möglichst schnell hinter mich bringen und dann so tun, als hätte es sie nicht gegeben.

Die letzten Monate hatte ich mich ganz gut geschlagen. Abgesehen von den ersten Wochen – die waren furchtbar gewesen. Beinahe täglich hatte ich mir Henrys Facebook Profil angeschaut, in der Hoffnung zu erfahren, wie es ihm ging, was er so machte und mit wem er seine Zeit verbrachte. Bis ich mir selbst eingestanden hatte, dass das absolut nicht gut für mich war, weil ich von all den Bildern, die ich von ihm sah, einfach nur furchtbar traurig und wütend wurde. Henry hätte mir das alles selbst erzählen sollen. Ich hätte seine Erlebnisse von ihm erfahren sollen und nicht, weil ich sein Facebook Profil stalkte. Danach hatte ich mein eigenes Profil gelöscht und einfach so gut es ging ignoriert, dass Henry nicht da war und dass er sich auch nicht bei mir meldete.

Das hatte eine Weile ganz gut funktioniert. Doch seit Weihnachten hatte ich schlechte Laune. Für gewöhnlich feierten Henrys und meine Familie Weihnachten immer zusammen. Aber dieses Jahr waren Henrys Eltern in den Skiurlaub gefahren und ich hatte mit meinen Eltern und meinem Bruder alleine gefeiert. Auch meine Grandma war dieses Jahr nicht dabei gewesen, denn sie machte gerade eine lange Kreuzfahrt durch die Karibik. Weihnachten war also schon irgendwie doof gewesen, aber Silvester war noch eine Ecke schlimmer.

To-do-Listen machte irgendwie jeder und auch Henry und ich hatten bisher jedes Jahr eine erstellt. Wir waren neun Jahre alt gewesen, als wir es zum ersten Mal gemacht hatten und seitdem war es Tradition, dass wir jedes Mal an Silvester aufschrieben, was wir im kommenden Jahr alles zusammen machen wollten. Letztes Jahr hatten eine ganze Menge Dinge darauf gestanden, zum Beispiel, dass wir beide den Führerschein machen wollten.

Unwillkürlich musste ich lächeln, obwohl mir eigentlich gar nicht danach war, aber die Erinnerung daran, wie ich mich mit Henrys Hilfe durch den Tag vor der Prüfung gequält hatte, ließ sich nicht verdrängen.

***

April – Acht Monate zuvor

Ich zitterte wie Espenlaub, als ich meine Hände an das Lenkrad legte und sie sofort wieder sinken ließ. Der Motor lief noch nicht einmal. Zwar konnte ich es nicht sehen, aber ich wusste ganz genau, dass Henry, der neben mir auf dem Beifahrersitz saß, genervt die Augen verdrehte.

»Hör auf, mich so anzugucken!«, fauchte ich gereizt. »Das macht es nicht einfacher!«

»Wir stehen jetzt seit zwanzig Minuten auf einem riesigen, menschenleeren Parkplatz. Hier kann absolut nichts passieren!« Er versuchte mich zu beruhigen, aber ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich mich nicht mehr beruhigen lassen wollte.

»Meine Prüfung ist morgen, Henry! Und ich werde ganz sicher durchfallen!« Ich war kurz davor hysterisch zu werden. Gut, möglicherweise war ich schon hysterisch. Ich mochte Prüfungen nicht besonders. Weder Prüfungen in der Schule noch sonst irgendeiner Art. Obwohl die Prüfungen selbst gar nicht unbedingt das Problem waren. Wenn ich erst einmal angefangen hatte die Klausuren zu schreiben oder in einer mündlichen Prüfung begonnen hatte zu reden, ging es mir gut. Die Tage davor waren die Hölle, weil ich mich mit unsinnigen Selbstzweifeln quälte und diese dämliche Fahrprüfung trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Ich war kurz davor, einfach alles hinzuschmeißen. Wahrscheinlich wäre es sowohl für mich als auch für die Allgemeinheit besser, wenn ich keinen Führerschein hätte!

Vom rein logischen Standpunkt her wusste ich, dass ich fahren konnte. Immerhin hatte ich die letzten Wochen fleißig geübt und es hatte immer alles gut funktioniert. Ich wusste, dass morgen alles gut werden würde, aber emotional sah das leider anders aus und ich wünschte mir, mein Verstand wäre stärker als diese blöden Gefühle!

»Emma.«

Jetzt war es an mir die Augen zu verdrehen. Henry sprach in diesem besänftigenden Tonfall mit mir, den er normalerweise für seine Katzen reserviert hatte.

»Sieh mich an.«

Widerwillig wandte ich ihm den Kopf zu. Er lächelte und wirkte so vollkommen entspannt, dass ich fast explodierte. Ja, die Hysterie war auf jeden Fall da.

»So, du drehst jetzt den Schlüssel und lässt den Motor an. Ich will nämlich wenigstens Musik hören, wenn wir hier schon so lange sinnlos rumsitzen.« Pure Schadenfreude schwang in seiner Stimme mit und ich hatte das Bedürfnis ihn aus dem Auto zu schmeißen. Nur weil er schon vor zwei Wochen seine Prüfung hinter sich gebracht hatte, brauchte er jetzt nicht so zu tun, als wäre er der Profifahrer schlechthin und würde alles so viel besser wissen als ich.

Dass er jetzt so tat, als würde ich es nie hinbekommen, brachte das Fass zum Überlaufen. Ich wusste ganz genau, dass Henry mich provozierte, damit ich endlich das tat, was ich nicht wollte. Ich wusste es und ich tat es trotzdem. Es war eine reine Trotzreaktion, albern und kindisch, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste ihm einfach beweisen, dass wir hier nicht sinnlos herumsaßen.

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, der Henry jedoch nur noch breiter grinsen ließ, und dann bewies ich ihm, dass ich sehr wohl Auto fahren konnte.

Später saßen wir mit Milchshakes im Wagen – Henry war gefahren, da ich ja offiziell noch gar nicht fahren durfte – und er wirkte für meinen Geschmack viel zu zufrieden.

»Du wirst das morgen ganz bestimmt super hinbekommen!« Er schlürfte genießerisch an seinem Milchshake.

»Ja, ja«, grummelte ich, »aber nur, wenn du mich wieder in den Wahnsinn treibst, damit ich nicht daran denke zu versagen.«

»Also das kriege ich auf jeden Fall hin!«

Und das taten wir. Henry trieb mich in den Wahnsinn und ich schaffte es, meine Führerscheinprüfung fehlerfrei hinter mich zu bringen.

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Dezember/Januar – JETZT

Wehmut stieg in mir auf, als ich daran dachte, wie wir noch vor wenigen Monaten herumgeblödelt hatten. Und jetzt war da einfach gar nichts mehr. Henry hatte sich nicht gemeldet, auch nicht zu Weihnachten, und ich hatte es auch nicht getan. Ich brachte es nicht über mich. Die Angst vor einer weiteren Zurückweisung war einfach zu groß. Trotzdem flackerte irgendwo tief in meinem Inneren immer noch ein winzig kleiner, total irrationaler Funken Hoffnung. Dass er sich dieses Mal meldete, dass er sich an unsere Tradition erinnerte und wir zumindest über SMS eine Liste für das neue Jahr erstellen würden. Aber am allermeisten hoffte ich darauf, dass wir uns wieder vertrugen.

Doch wenn ich es rational betrachtete und meine verkorkste, emotionale Seite mal außer Acht ließ, war ich mir ziemlich sicher, dass das nicht passieren würde. Von ihm würde nichts kommen und ich war nicht stark genug über meinen eigenen Schatten zu springen. Also beschloss ich Mitternacht zu verschlafen.

Als ich am nächsten Morgen um elf Uhr aufwachte, konnte ich es dann nicht einmal mehr auf den Zeitunterschied schieben, dass Henry mir nicht geschrieben hatte.

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März – JETZT

»Bist du fertig?«, fragte Mia. Sie stand hinter mir und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, während ich an meinen honigblonden Haaren zupfte. Ich hatte sie heute abschneiden lassen und es war ungewohnt, dass sie jetzt nur noch bis knapp zu meinen Schultern reichten und nicht mehr fast bis zu meiner Taille.

Die neue Frisur war ein Geburtstagsgeschenk an mich selbst gewesen. Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und geheult und heute Morgen hatte ich einfach das Gefühl gehabt, dass sich etwas ändern musste. Die neue Frisur war der erste Schritt gewesen.

Gestern war Henrys Geburtstag gewesen. Und ich hatte mich – blöd, wie ich war – dazu entschieden, mich endlich bei ihm zu melden. Ich hatte ihm zum Geburtstag gratuliert, geschrieben, dass ich hoffte, dass es ihm in Paris gut ginge und dass ich es nicht mehr ertragen würde, dass wir keine Freunde mehr waren.

Zurückgekommen war absolut gar nichts. Weder ein Dankeschön noch eine Gratulation seinerseits, als es schließlich ein paar Stunden später so weit war, dass mein siebzehnter Geburtstag gekommen war.

Es nagte an mir, dass er sich nicht zurückgemeldet hatte und wenn ich ehrlich war, tat es ganz schön weh. Ich versuchte es zu ignorieren, schließlich würde gleich meine eigene Party anfangen, aber es war verdammt schwierig.

»Emma? Alles okay?« Mia schaute mich besorgt an. Ich schüttelte den Kopf, um wieder in der Gegenwart anzukommen und setzte ein Lächeln auf.

»Ja klar, alles in Ordnung. Lass uns runtergehen.« Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel – tatsächlich sah ich sehr viel besser und vor allem fröhlicher aus, als ich mich gerade fühlte. Die kürzeren Haare standen mir wirklich gut, das musste ich zugeben, weil mein Gesicht nicht mehr so von der langen Lockenflut verdeckt wurde und meine braunen Augen so viel mehr hervorstachen.

»Dann los! Die Party wartet schon!« Freudestrahlend zog Mia mich hinter sich her die Treppe hinunter. Ich versuchte das Lächeln auf meinen Lippen zu behalten, damit sie nicht merkte, dass ich mit meinen Gedanken bei Henry und nicht bei meiner Party war.

Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich ihm geschrieben hatte. Damit wollte ich erst einmal alleine klarkommen. Es hatte Wochen gedauert, bis ich Mia nach Henrys Abreise gestanden hatte, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Sie war zuerst entsetzt und dann ziemlich enttäuscht von uns beiden gewesen. Wir würden uns total kindisch benehmen, hatte sie gemeint. Erst als wir uns deswegen richtig gestritten hatten, hatte sie es schließlich gut sein lassen.

Es dauerte nicht lange, bis Jen und Allison kamen und schließlich auch der Rest meiner Freunde. Doch sosehr ich auch versuchte mich auf die Party zu freuen und Spaß zu haben, immer wieder drängte sich derselbe Gedanke in den Vordergrund: Henry hatte sich nicht gemeldet.

»Alles Gute zum Geburtstag, Emma!« Die fröhliche Stimme gehörte Jack. Er war Henrys bester Freund und ich war ihm in den letzten Monaten gründlich aus dem Weg gegangen. Er umarmte mich, drückte mich fester an sich, als ich es gewohnt war, und strahlte mich an, als er sich wieder von mir löste.

»Danke«, lächelte ich zurück.

»Geht’s dir gut? Wir haben ewig nichts mehr gemacht! Das sollten wir unbedingt nachholen! Vielleicht am Wochenende?«

»Ähm, ich kann leider nächstes Wochenende nicht. Aber irgendwann finden wir einen Termin, an dem wir uns alle treffen können«, erwiderte ich, etwas überrumpelt. Ich hatte seit Henrys Abreise nicht mehr wirklich viel mit Jack zu tun gehabt, und das war jetzt doch irgendwie überraschend gekommen.