Heartless, Band 3: Die Seele der Magie - Sara Wolf - E-Book

Heartless, Band 3: Die Seele der Magie E-Book

Sara Wolf

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Beschreibung

Eine Diebin ohne Herz Ein Prinz ohne Zukunft Eine Liebe ohne Hoffnung Jahrelang hatte Zera nur ein Ziel: ein Mensch zu sein. Als Herzlose ist sie nicht nur unsterblich und stark, sondern auch eine Gefangene, denn wer ihr Herz in seiner Gewalt hat, kann sie kontrollieren. Doch seit ihr Herz Prinz Lucien gehört, wünscht sie sich zum ersten Mal, herzlos zu bleiben. Nur so kann sie ihn beschützen: vor seiner Schwester, der mächtigsten und grausamsten Hexe des Landes. Vor dem unbarmherzigen Krieg, der das Königreich in Schutt und Asche legt. Und vor sich selbst … Gefährlich. Knisternd. Herzzerreißend. Band 3 der fantastischen Heartless-Trilogie Die HEARTLESS-Trilogie: Heartless, Band 1: Der Kuss der Diebin Heartless, Band 2: Das Herz der Verräterin Heartless, Band 3: Die Seele der Magie

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2021 Ravensburger Verlag Copyright © 2020 by Sara Wolf Die leicht veränderte Originalausgabe erschien unter dem Titel „Send Me Their Souls“. This translation is published by arrangement with Entangled Publishing, LLC, through RightsMix LLC. All rights reserved. Lektorat: Gabriele Dietz Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München Verwendetes Bildmaterial von ©Jingjing Yan, © AndrejKlepiko, © JOAT, © aaltair, © Irina Bg, © evgeny freeone und © Mikado767, alle von Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473-47359-5

www.ravensburger.de

Für S. Es hat lange gedauert, nicht wahr? Aber jetzt sind wir endlich am Ziel.

Es stand einmal ein Baum auf einem Friedhofshügel. Ein Reisender suchte unter seinen Ästen Schutz vor dem Regen.

»Hast du viele gehen sehen?«, fragte er.

Der Baum nickte mit seinen Ästen im Wind. »Ja.«

Der Reisende dachte einen Moment lang nach, und dann: »Hast du viele kommen sehen?«

Wieder nickte der Baum. »Ja.«

»Nun«, sagte der Reisende. »Dann ist das wohl richtig so.«

1

Der stürzende Turm

Prinz Lucien d’Malvane sieht mich so unverwandt an wie ein Wolf, der ein Weidetier fixiert. Er wartet. Wartet, dass sich ihm die Gefährten seines Rudels anschließen. Dass ich mich ihm anschließe.

Ich erwidere seinen Blick und weine Blut.

Auch seine Schwester Varia d’Malvane wartet auf mich. Die beiden sind sich so ähnlich wie Spiegelbilder – nachtschwarze Haare, eine Haut von der Farbe der untergehenden Sommersonne. Gemeißelte Züge, wie Habicht und Eule. Sie steht aufrecht und triumphierend da, während ihr Bruder, der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, sich nicht mehr aufrecht halten kann. Er ringt nach Luft. Er hat uns mit seiner nur schwach entwickelten Zauberkraft vor der Explosion des Knochenbaums geschützt, mit einem Hexenfeuer, das den gesamten Schnee des halb zerstörten Berggipfels weggeschmolzen hat. Er ist ein Hexer.

Und Varia ist eine Hexe.

Sie steht so reglos da, als würde sie nicht mehr atmen. Vielleicht muss sie das nicht mehr, wegen der Kette aus Valkerax-Zähnen um ihren Hals – und der geballten Kraft des Knochenbaums, über die sie jetzt verfügen kann.

Für sie bedeutet diese Halskette Macht. Sie hat ihren Tod vorgetäuscht und ihre Eltern und ihren Bruder zurückgelassen. Als sie wiederauftauchte, hat sie mich gezwungen, Evlorasin, einen der riesigen Valkeraxe, zu lehren, wie er seine Sehnsucht durch Weinen unterdrücken kann. Um das hier zu erreichen, hat sie bestochen, getötet und gedroht. Für sie bedeutet diese Kette alles. Sie ist der Lohn von fünf Jahren Arbeit. Und Blut. Und Gnadenlosigkeit und Hoffnung und allem, was dazwischenliegt. Aber für mich sieht diese Kette bloß aus wie eine extravagante Fessel.

Malachite und Fione starren den Knochenbaum an, der hinter ihrer Kronprinzessin hin und her schwankt. Es ist das einzige Geräusch in der Luft – das Rasseln der Valkerax-Knochen, aus denen die gebleichten Äste, die weißen Wurzeln und der glatte Stamm bestehen.

Und hinter dem Baum erheben sie sich.

Eine massive wogende Säule lebender Wesen, bestehend aus Hunderten strahlend weißer Valkeraxe, steigt über dem Berggipfel auf. Direkt hinter Varia erheben sie sich, und es sieht aus, als würden sie einen Thron für sie bilden. Einen leuchtenden Strahl, der sie zu stützen scheint. Ein grauenvolles Rückgrat, das sich aus dem Tiefen Dunkel bis in den Himmel erstreckt.

Sie geben keinen Laut von sich. Vielleicht sind sie aber auch nur so weit weg, dass man nichts hören kann, nicht das Kratzen der Schuppen, das ich von Evlorasin kenne, nicht das hungrige Kreischen und Knurren, das ich so oft gehört habe. Nein, diese Valkeraxe sind in ihr Lied versunken. Ihren Hunger. Ihren Wahnsinn.

Sie geifern, bestimmt schreien sie, und ihre Reißzähne schnappen voller Wut, während sie hektisch übereinander strampeln, verzweifelt bemüht, die Befehle des Knochenbaums zu empfangen. Varias Befehle. Aber auf unserem Berg hören wir nichts. Hier sind nur wir vier, nur einer von uns ein Mensch. Wir keuchen Atemwolken in die bitterkalte Luft und sehen zu, wie die Säule aus Valkeraxen immer höher wird. Wie sie wächst. Von wütenden Hunderten zu fieberhaften Tausenden. Sie winden sich umeinander und bilden in ihrer fiebrigen Ekstase einen riesigen Turm. Immer noch herrscht absolute Stille.

Keiner von uns weiß, was er tun oder sagen soll, angesichts von Myriaden hungriger Valkeraxe, die ihre Krallen in die Wolken zu schlagen scheinen. Es ist die Art Schweigen, die nachhallt, die mein Unherz mit panischer Angst erfüllt.

Varia hat, was sie wollte. Aber wo bleibt mein Herz? Was ich will?

Ich kann es fühlen. Ich fühle, dass mich ihre Macht durchströmt wie Schnaps, der an einem kalten Winterabend durch die Kehle rinnt, wie eine Flamme, die einer Ölspur folgt und sich durch trockenes Gras frisst. Ihre Magie setzt die Leere in meiner Brust in Flammen, jeder Millimeter davon brennt lichterloh. Das halte ich nicht aus. So etwas habe ich noch nie erlebt – und ich weine. Eigentlich sollte in mir jetzt absolute Stille herrschen und ich vor dem Einfluss meiner Hexe geschützt sein. Vor Varia. Aber sie kann mich immer noch erreichen. Sie tut es genau jetzt. Ihre Magie … trifft mich. Es ist noch viel mehr als das – sie lastet mit ihrem ganzen Gewicht auf mir, sodass ich kaum atmen oder einen Muskel bewegen kann.

Sie könnte es tun.

Die Worte hallen in meinem Kopf. Ein Angstschauer läuft mir über den Rücken und mir wird nur zu deutlich bewusst, dass sie es tun könnte. Mit der ungeheuren Macht des Knochenbaums hinter sich, kann sie mir trotz meines Weinens Befehle erteilen. Mein einziges Ass im Ärmel ist nutzlos.

Mein einziges Fetzchen Kontrolle, Unabhängigkeit.

Nutzlos.

Wie üblich bin ich die Erste, die etwas Dummes tut.

»Varia!« Ich gehe auf sie zu und Schlamm und Schneematsch dringen in meine Stiefel. »Mein Herz! Gib es mir!«

In der Stille ist jedes Wort überdeutlich zu hören. Varias schwarz glänzende Augen verengen sich kaum merklich und sie lächelt. Sie gleitet um den Knochenbaum herum und streicht dabei mit einer Hand über den Stamm. Als hätte sie alle Zeit der Welt. Als könnte die Welt auf sie warten.

»Wir hatten eine Abmachung, richtig?« Sie lacht kurz auf. »Und du warst so loyal. Was mehr ist, als man über die Person sagen kann, die du vorher warst. Und über jeden anderen.«

Ihr Blick wandert zu Fione, die so heftig zurückzuckt, dass sie sich mit den Händen abstützen muss, um nicht in den Matsch zu fallen.

Ich bin selbstsüchtig, das ist mir klar. Fione ist verletzt, innerlich und äußerlich, und die Kratzwunden in Malachites Gesicht bluten. Wunden, die ich ihm zugefügt habe. Lucien ist erschöpft – er versucht, auf die Beine zu kommen, doch seine Stiefel rutschen immer wieder weg, weil er im Schlamm keinen Halt findet. Varia wirkt frisch. Varia ist wie neugeboren. Ihr Gesicht glüht förmlich, ihr tiefschwarzes Haar ist glatter und glänzender als jemals zuvor, als hätte sie gut gegessen und lange und gut geschlafen. Ich weiß, dass ihr Fione und Lucien etwas bedeuten, aber dieses harte Funkeln in ihrem Blick, der zwischen ihrem Bruder und ihrer Geliebten hin und her wandert, ist neu und fremdartig und gefällt mir gar nicht. Das sind die Augen einer Wildkatze. Jeder Instinkt in mir schreit mir eine Warnung zu.

Vielleicht liebt sie die beiden.

Aber der Knochenbaum in ihr – um ihren Hals – tut das sicher nicht.

Die Säule aus Valkeraxen türmt sich immer weiter auf. Es ist ein Tornado aus weißem Fleisch, der immer höher in den Himmel steigt. Warum fliegen die so hoch hinauf?

»Zera!«, brüllt Lucien plötzlich.

Hitze. Durch mein Weinen spüre ich Hitze hinter mir. Ich drehe den Kopf gerade noch rechtzeitig, um die schwarzen Haare zu sehen und den Arm, der sich von hinten um meinen Hals legt. Ganz beiläufig. Varia hält mich, als würde sie eine Freundin umarmen.

Ich kann mich nicht bewegen. Jeder Millimeter meiner Muskeln ist plötzlich Granit, der in Teer feststeckt. Das ist ihre Magie. Das muss ihre Magie sein.

»Zera.« Varias Stimme klingt gelassen und ich spüre ihren Atem an meinem Ohr. »Du hast so gute Arbeit geleistet.«

»Geh …« Lucien rutscht im Schlamm aus, dann schafft er es, auf die Knie zu kommen. »Geh weg von ihr!«

Was soll das heißen? Ich von ihr oder sie von mir? Ich kann den Kopf nicht drehen, aber ich fühle es. Fühle, wie sich Varias brennender Blick in ihn bohrt. Malachite erkennt es als Erster. Wie immer – seine Instinkte sind schärfer als meine. Er springt auf Lucien zu, zieht Fione an der Hand mit sich und beide schlittern vor den Prinzen. Fione zittert zu sehr, um ihren Armbrust-Gehstock zu heben, aber Malachite hält sein Breitschwert vor sich, vor sie alle. Kampfbereit, abwartend, auch wenn seine milchweißen Finger am Schwertgriff zittern. Ich habe erlebt, wie er einen ausgewachsenen Valkerax niedergestarrt hat, als der auf ihn losging, aber jetzt ist da ein Anflug von Angst in seinen rubinroten Augen.

»Gib mir …« Ich bewege meine tauben Lippen. »Mein Herz.«

»Ist das alles, was du willst?«, fragt Varia unschuldig. »Du könntest so viel mehr haben, Zera. Ich bin jetzt die mächtigste Hexe der Welt. Diese Dummköpfe vom Hexenrat, ihre Wachen der Dunkelheit, sogar mein Vater, seine ganze Armee, alle Armeen auf dem Nebelkontinent – niemand kann mich aufhalten. Jetzt nicht mehr. Mit deinem Weinen und meiner Kraft können wir die Welt verändern. Wir können den Grundstein für etwas legen, was bisher kein König, keine Königin und kein Rat in unserer langen Geschichte zustande gebracht hat: Frieden. Echten, dauerhaften Frieden.«

»Mein … Herz«, würge ich hervor.

»Denk doch mal nach, Zera«, bedrängt sie mich. »Denk nicht nur an dich. Kein Krieg mehr bedeutet, auch keine Herzlosen mehr. Es braucht niemand mehr sein Herz zu verlieren. Niemand müsste mehr so leiden wie du. Wäre es das nicht wert? Ist es nicht das, was du willst – die rote Glut verstummen lassen? Was, wenn du das für jeden tun könntest, für immer? Sie verschwinden zu lassen, ein für alle Mal und bis in alle Ewigkeit?«

Für immer? Für jeden?

Schmerz und Wut durchfluten mich, die Stille des Weinens fließt davon wie Wasser aus einem durchlöcherten Ledersack. Die rote Glut kriecht wieder heran und klettert, Kralle um Kralle, aus der friedlichen Tiefe empor.

Du wirst mich niemals los, du und ich – wir sind eins. Nie ohne den anderen, wir haben dich erschaffen, dich geschützt, dich ganz gemacht.

»Zera …« Lucien stützt sich auf Malachite und kommt zittrig auf die Beine. »Varia, lass sie gehen …«

»Ich werde dir etwas geben, das dir noch nie eine Hexe gegeben hat, Zera. Die freie Wahl«, sagt Varia ruhig und streicht mir gleichmütig über eine Haarsträhne. »Komm mit mir und verändere die Welt. Oder bleib hier, während ich weiterziehe, und verbringe den Rest deines Unlebens damit, dich auf diesem Berggipfel zu Tode zu schreien.«

Sie will mich hierlassen. Mich hierlassen, bis das Band zwischen uns, das nötig ist, damit ich als Herzlose leben kann, zerreißt. Ein Herzloser kann außerhalb des Einflussbereichs seiner Hexe nicht existieren. Normalerweise sind das nur rund zwei Kilometer, doch dank meines Medaillons ist dieser Radius größer. Aber Varia könnte sich weiter entfernen. Ich würde hier für ewig festsitzen, vor Schmerzen schreien, ohne Bewusstsein oder Gefühle oder Sinne.

»Zera, sag ihren Namen.« Lucien stolpert auf uns zu. Magie lässt seine Fingerspitzen schwarz werden. »Sag ihren Hexennamen und ich kann dich befreien …«

»Warum solltest du das wollen?« Varia lacht mir ins Ohr. »Warum willst du sie, Lucien? Sie hat dich wieder und wieder betrogen. Sie ist nur ihrem Herzen gegenüber loyal. Sogar jetzt bettelt sie noch darum. Ein Mädchen wie sie, selbstsüchtig bis zum bitteren Ende, könnte dir niemals treu sein.«

»Treue«, knurrt Lucien und seine schwarzen Augen funkeln böse, »ist keine Voraussetzung, jemanden zu beschützen.«

Ich bin überwältigt. Das ist er. Das ist er, in einem stolzen Satz. Selbstlos. Bereit, sich für mich einzusetzen, jetzt, wo alles endet. Ich spüre, wie etwas durch die verkrusteten Bluttränen auf meinem Gesicht läuft.

Richtige Tränen. Menschliche Tränen.

Mein Mund bewegt sich, aber die Magie durchzuckt mich schneller, als ich denken kann.

»Nicht«, befiehlt Varia, ihre Stimme ist dunkel. »SagkeinWort.«

Ihr Befehl zwingt mich beinahe in die Knie. Es fühlt sich an wie Vorschlaghämmer, die immer und immer wieder auf mich einschlagen, meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpressen. Es ist so stark, dass ich benommen ins grelle Licht des Berggipfels blinzle, denn der Schatten des Valkerax-Turms fällt nur für kurze Momente auf mich.

Wir. Er. Lucien. In meinem Kopf schrillt es.

Meine Zunge ist wie Blei, meine Lippen gehorchen nicht und lassen sich nicht bewegen. Aber meine Zähne – ich benutze meine Zähne nicht zum Sprechen und ihnen ist der Befehl egal. Ich beiße zu, bis ich Blut schmecke, einen scharfen Schmerz.

»Lach…«

»Nicht!«, faucht Varia böse. Aus den Hämmern werden Felsbrocken, ein Erdrutsch, eine Kaskade aus Steinen, die herabstürzt und mich zermalmt, bis ich nur noch ein Klumpen zerquetschtes Fleisch bin. Doch obwohl ich mich so zerschlagen fühle, kriecht die Angst in mir hoch – wenn Lucien mein Hexer wird, ist er nur eine weitere Person, die mein Herz gegen mich einsetzt. Wieder jemand, der mir Befehle erteilt. Wir wären aneinandergekettet und er könnte mich zu allem zwingen, was seinen Zielen dient.

Mein Herz, meine Erinnerungen, mein Leben, alles unerreichbar fern.

Er streckt die Hand aus, seine Finger sind durch die Magie jetzt völlig schwarz. Die Anstrengung des Stehens lässt seine Knie zittern. Aber er steht. Er wartet immer noch. Ich sehe in sein sanftes Gesicht, die Schatten der Valkeraxe fallen immer wieder auf ihn. Hell, dunkel, hell, dunkel.

»Was immer geschieht, Zera«, murmelt er mit froststarren Lippen, »wie immer du dich entscheidest, ich werde für dich da sein.«

Wirst du das? Die Glut lacht. Oder bist du jetzt nur tapfer und edelmütig, um zu kriegen, was du willst, kleiner Prinz?

Wenn ich seine Herzlose würde, könnte er über mich befehlen. Er könnte alles verlangen, was er will, und ich könnte absolut nichts dagegen tun.

Er kann dir wehtun.

Er kann mir wehtun.

Er kann dich benutzen.

Er kann mich benutzen.

Er kann dich vernichten.

Er kann mich vernichten.

»Sei nicht naiv.« Varia lacht mir wieder ins Ohr. »Du weißt doch besser als jeder andere, dass Liebe nichts wert ist. Sieh dir meinen Bruder an – er wendet sich gegen mich. Sein eigen Fleisch und Blut, das er so sehr liebt. Sieh dir Fione an – sie hat mich verraten, obwohl wir heiraten wollten. Liebe ist nicht von Dauer. Aber Macht, Zera. Macht bleibt. Die Welt dauerhaft zu verändern bedeutet mehr, als es Liebe jemals kann.«

Das Weinen erstirbt im Nu und Varias Magie füllt jede Lücke, die es hinterlassen hat. Lucien steht nur da, stark und sicher wartet er, die Augen wie Seide. Er wartet einfach nur. Er wirkt bereit. Er sieht aus, als hätte er seinen Frieden gefunden.

Wie immer ich mich entscheide, er wird für mich da sein.

Die Säule aus Valkeraxen taucht sein Gesicht in ihren Schatten. Ich schaue mit wachsendem Entsetzen hoch. Nicht aufwärts. Sie fliegen nicht mehr nach oben. Sondern seitwärts.

Der riesige Turm aus Valkeraxen knickt in der Mitte ab und stürzt auf uns zu, auf den Berg zu, und das in rasender Geschwindigkeit. Eine Brücke. Sie formen eine Brücke, die direkt vor Varias Füßen endet. Ich spüre, wie Varias Magie einen Moment aussetzt und wie dieser Kontrollverlust einen Anflug von Panik in ihr auslöst. Sie lässt mich los und in ihrem verzweifelten Bemühen, die Magie wiederzugewinnen, werden ihre Finger schwarz.

»Nein!«, schreit sie dem herabstürzenden Turm aus Valkeraxen entgegen. »Noch nicht!«

Aber das ist den Valkeraxen egal. Sie stürzen auf die Erde wie tote Vögel, werden größer und größer. Mein Weinen ist jetzt fast vollständig versiegt, die friedvolle Leere in mir wird kleiner und kleiner.

Jetzt oder nie.

Bei ihr bist du sicherer. Die Glut unternimmt einen letzten verzweifelten Versuch. Du weißt, was sie dir antut, aber er … Du hast keine Ahnung. Unsicherheit, Chaos, ein Wagnis, Gefahr …

Ich habe Angst gehabt. Ich habe gegen einen Valkerax gekämpft. Ich habe an einem Königshof zwischen Menschen gelebt, die mich nur zu gern lebendig verbrannt hätten. Ich habe den ersten Söldner in Nightsingers Wald bekämpft, zitternd vor Angst, das Schwert fest umklammert. Angst ist niemals bedeutungslos, nicht mal wenn man unsterblich ist. Da ist immer noch die Angst vor Schmerzen. Ohne den Tod ist die Angst vor Schmerzen das Einzige, was einem bleibt. Das Einzige, das einen mit der Welt verbindet, dem Zyklus vom Leben und Tod aller Menschen. Ein Fuß in höllischer Qual, der andere im Niemals-Grab.

Angst bedeutet alles.

Angst ist alles, was ich habe.

Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst wie in dem Augenblick, in dem mir diese Worte über die Lippen kommen.

»Lachende Tochter!«

2

Herzen unter dem Schnee

Wenn ich etwas in dieser weiten Welt gelernt habe, dann dass die Zeit rebellisch ist. So wie ich. Die Zeit vergeht nicht, wie man es erwartet, vor allem in höchster Gefahr. Kurze Momente kommen einem ewig lang vor, lange Zeiträume vergehen wie der Blitz, alles zerspringt, wirbelt herum und stürmt in Form von Gefühlen, Gerüchen und Geräuschen auf dich ein, obwohl es eigentlich klare rationale Gedanken sein sollten.

In dem Augenblick, in dem ich Varias Hexennamen ausspreche, zerfetzt die rebellische Zeit die Welt.

Ich weiß mit Sicherheit, dass danach zwei Dinge passiert sind: Varias unglaublich starke Magie versucht ein letztes Mal, mich festzuhalten, und dann lässt sie plötzlich los. Freier Fall. Eine eiserne Hand, die mich gerade noch zu erwürgen drohte, und in der nächsten Sekunde ist sie verschwunden. Ich höre Varia schreien, so außer sich, wie ich die Kronprinzessin von Cavanos nie erlebt habe.

»Nein, nein, nein – Lucien, gib sie zurück!«, schreit sie. »Sie wird dein Untergang sein! Ich weiß es! Ich kann dich vor ihr schützen …«

Ein Tentakel ihrer Macht schießt durch meine Brust wie ein Pfeil und will zugreifen. Sucht darin herum. Ich schnappe nach Luft und das Gefühl droht mich zu ersticken, aber es ist sofort wieder vorbei. Etwas, ein Nicht-Ich, stößt diesen Tentakel sofort hinaus, wehrt sich dagegen, verbittet sich eisern jeden Zugriff. Endgültig.

Lucien ist so erschöpft, dass ihm selbst das Lächeln schwerzufallen scheint, aber er bemüht sich um Haltung. Da ist aber auch ein Hauch von Traurigkeit.

»Auch der mächtige Knochenbaum kann die Regeln nicht aufheben, Varia«, sagt er. »Das solltest du besser wissen als ich. Viel besser. Immerhin hast du fünf Jahre Hexenausbildung genossen.«

»Lucien!« Varias wütendes Fauchen verwandelt sich in ein Flehen. »Tu das nicht!«

Die herabstürzenden Valkeraxe kommen immer näher. Der Boden bebt und das Brüllen wird stetig lauter. Eine breite Linie aus sich windendem Weiß teilt den blauen Himmel. Der Aufprall wird uns alle töten. Ich kann sie jetzt sehen, ihre Barthaare, ihre Schuppen und ihre Augen – alle Valkeraxe haben sechs geisterhaft weiße Augen ohne Pupillen, und meine Angst verwandelt sich in blankes Entsetzen, als ich erkenne, dass jeder von ihnen Varia ansieht. Wohin sich ihre Körper auch winden, wie verdreht und verknäult sie auch sind, jeder der großen wolfsähnlichen Köpfe ist direkt auf sie gerichtet. Als würden sie sie lieber verschlingen, als ihr zu gehorchen.

Es sind so viele. Viel mehr, als ich je gedacht hätte.

Die Zeit macht schon wieder, was sie will – jemand zieht mich an der Hand mit sich, und obwohl die Finger schwitzig sind, kenne ich das Gefühl, kenne die Hornhaut. Lucien. Ein Aufblitzen weißer Haare, als Malachite uns beide von Varia wegzieht, und Fiones Schluchzen, als sie die Armbrust hebt. Und sie auf Varia richtet.

Die Valkeraxe sind jetzt so nah, dass ich ihren stinkenden Atem riechen kann.

Die Zeit verlangsamt sich. Diese eine Sekunde dehnt sich. Ich sehe mich über die Schulter um, mein Kopf ruckt schmerzhaft, weil Malachite gleichzeitig an mir reißt, aber ich kann den Blick nicht von Varia abwenden. Einer Varia, die allein in der schlammigen Ödnis des Berggipfels steht und uns ansieht. Enttäuschung, Wut, all die glühenden Emotionen in ihrem Gesicht verwandeln sich in etwas Ruhigeres. Etwas Einsameres, denn wir ergreifen die Flucht vor ihr. Vor ihnen. Weiße Federn und Schuppen regnen herab wie lebendiger Schnee.

Eine einsame Prinzessin steht einfach nur da und muss erleben, wie die Welt auf sie herabstürzt. Eine einzelne weiße Feder schwebt herab und landet auf ihrer ausgestreckten Hand.

Der Schatten der Valkeraxe taucht sie ins Dunkel.

Aufprall.

Die ersten Körper, die auf den Boden stürzen, bersten sofort unter der Wucht der nachfolgenden. Fleisch und Knochen und Valkerax-Geschrei. Blut, durch die Wucht des Aufpralls in alle Richtungen verspritzt, hängt für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft wie roter Nebel. Und dann bäumt sich die Erde auf, der massenhafte Aufprall der Körper versetzt den Schlamm in eine wellenförmige Bewegung und wir werden von den Füßen gerissen wie Spielzeuge.

Ich werde hochgeworfen und jemand greift nach mir, greift hektisch zu und umschlingt mich. Wir schlagen im Schlamm auf, nicht auf hartem Boden, und es fühlt sich an, als würden wir kilometerweit schlittern, bis die Rutschpartie plötzlich endet und wir durch die Luft fliegen. Malachite an meiner Seite, Fione auf mir und Luciens Arm um meinen Bauch. Seine Finger verfärben sich schwarz, von den Spitzen bis zu den Handflächen.

Tief im Innern weiß ich, dass er mich nicht schützen kann. Ich bin die Unsterbliche.

Es muss andersherum sein.

Ich drehe meinen schwerelosen Körper in der Luft, umklammere Lucien, so fest ich kann, und schütze seinen Kopf, seine Brust und seinen Bauch mit meinem Körper. Wenn wir unten aufschlagen, trifft es mich zuerst. Ich muss als Erste auf dem Boden aufkommen.

Ich muss ihn schützen. Ich bin seine Herzlose.

Nein.

Ich bin sein.

Der Wind pfeift kalt. Malachite brüllt etwas. Und dann wird alles schwarz. Der Anblick von Varia, wie sie allein, die weiße Feder in der Hand, dasteht, brennt sich mir in die Netzhaut ein.

Es ist kein Traum. Kein richtiger Traum. Nicht so, wie er sein sollte, so schwebend und losgelöst und klar. Der Geruch von Blut ist überall. Dunkelheit ist überall. Zu real, um ein Traum zu sein, aber nicht real genug für die Wirklichkeit.

Ich sehe durch fremde Augen. Ich werde zerquetscht – nein, nicht ich, sondern die Person, durch deren Augen ich alles sehe. Schwere überall. Wir müssen fliehen. Eine Hand in meinem Blickfeld, nicht meine, greift in die Schwere und ein heißer Feuerball explodiert auf der Handfläche.

Licht.

Licht dringt durch das Loch, von dem Fleischfetzen hängen. Wir kriechen hinaus, Zentimeter für Zentimeter, bis wir schließlich die Freiheit erreichen, das Sonnenlicht. Die erdrückende Schwere kriecht in uns hinein. In unsere Brust, wo das Herz sein sollte.

Ein Herz.

Ich kann fühlen, wie es schlägt. Das bin eindeutig nicht ich. Das ist eine Sterbliche. Meine Augen sehen hinab auf Hände, goldene Hände mit schwarzen Fingerspitzen, doch das Schwarz wird immer weniger, die belebte Dunkelheit zieht sich weiter zurück, bis auch das letzte bisschen verschwunden ist. Menschliche Fingernägel. Menschliche Haut. Die Hälfte der Finger menschlich, die andere aus Holz.

Varia.

Und das Schreien.

Bei den Göttern über und unter uns, das Schreien. Wie zerbrochene Glocken, wie Metall auf Metall, wie Dinge, die sterben, geboren werden und wieder sterben, ein endloser Kreislauf aus Lärm. Wir können kaum noch etwas hören, kaum denken. Wir kämpfen gegen das Erbrechen, fallen auf die Füße und starren in den Schlamm. Schmutzig. Ekelhaft. Sinnlos. Die Welt dreht sich, schreit, erregt Übelkeit.

ZERSTÖRE.

Das Lied des Knochenbaums? Auch hier in ihr? Hexen hören es nicht.

ZERSTÖRE. Das ist nicht meine Glut. Das hier ist klar, nicht gezähmt von Magie oder frisch verzehrtem Fleisch. Das hier wird nie gezähmt sein, nie nachlassen. Es ist keine Glut.

Es ist eine Wunde.

ZERSTÖRE.

Es ist ein Befehl. Ein Auftrag. In unserem Kopf blitzen Bilder auf von brennenden Wäldern, brennenden Häusern, brennenden Menschen. Bilder von Blitzen, die die Erde spalten, von Meeren, die Berge niederreißen, von gebrochenen Knochen und gelbem Fett und grauen Organen, die zerplatzen, brennendes Holz und Stein, Schutt. Schutt, aus Fleisch und nicht aus Fleisch. Und es hört nie auf. Zögert nie. Wie eine Million Kettenglieder aus Erinnerungen, die nicht meine sind und auch nicht die von Varia. Zerstören.

Dieses Ding in uns will zerstören.

Aber wir haben es hereingelassen, nicht wahr? Also werden wir es auch nutzen, richtig?

Es ist unser Werkzeug, nicht andersherum.

Wir rappeln uns auf, hinter uns das Fauchen und Schnappen von tausend Valkeraxen, und wir halten das einzige Ding fest, das uns geblieben ist. Ein Gesicht. Ein liebes Gesicht mit Apfelwangen, mit mausbraunen Locken, das stark bleibt, auch als die Bilder von Tod und Zerstörung aufblitzen.

Wir sehen hinüber zum Knochenbaum, der jetzt nicht mehr im Wind schwankt. Er steht vollkommen still. Und daneben, geisterhaft und kaum zu erkennen, steht noch ein Baum. Ein Baum, den ich kenne, aber Varia nicht. Ein Baum, den ich sehen kann, aber Varia vermutlich nicht.

Wie eine Spiegelung im Wasser wabert dieser Baum in der Luft. Er ist ein Wunderwerk aus Glaszweigen, Glaswurzeln, Glasblättern, und er bewegt sich sanft in einer kaum merklichen Brise.

Der Glasbaum.

ENDLICHVEREINT.

Merkwürdigerweise erwacht mein Körper eher als mein Gehirn. Und mein Mund ist bereits vor beidem wach.

»Bei der haarigen Scheiße des Alten Gottes …«

»Ganz ruhig.« Eine Stimme, und sofort versucht mich eine Hand nach unten zu drücken. »Keine Hektik, Valkerax-Zähmerin. Reg dich ab. Du bist in Sicherheit.«

Ich blinzle und in der brutalen Helligkeit tauchen Schatten und Farben auf. Rubinrote Augen, Ohren, so lang und spitz, dass sie ein wenig herunterhängen, ein Mund, der immer ein bisschen amüsiert wirkt. Und drei neue böse Kratzwunden quer über die Nase, die einen Mundwinkel aufgerissen haben. Kein Schmerz in meinem Körper. Ich bin nicht verletzt. Aber er.

»Malachite!« Ich hole tief Luft. »Was hast du …?« Den Raum, in dem wir uns befinden, kenne ich nicht, viel Stein und blauer Samt. Ich liege in einem zu weichen Bett. »Wo sind wir?«

»In irgendeiner Stadt. Wir ruhen uns aus nach der ganzen Scheiße, das ist alles, was ich weiß. Warte mal.« Er hebt einen Finger, wühlt in einer Tasche unter seinem Kettenhemd herum und holt ein hastig bekritzeltes Stück Pergament hervor. Er räuspert sich übertrieben laut und liest: »›Zera, ich habe dies für dich aufgeschrieben, weil Malachite dazu neigt, meine Worte so zu verdrehen, wie es ihm passt.‹«

»Lucien.« Ich atme aus, lache kurz auf und lehne mich zurück ins Kissen. Malachite liest weiter und zeigt dabei so viel Emotionen wie ein Kutschenrad.

»›Wir sind in Breych. Das ist eine kleine helkyrische Stadt nicht weit von der Grenze.‹« Malachite nutzt die Gelegenheit, eine Anmerkung zu machen. »Und hier gibt’s so öde Dinge wie Bücher. – ›Varia ist noch am Leben‹«, liest er weiter. »›Da bin ich ganz sicher. Fione und mir geht es gut – ich bin auf dem Weg, mit dem Weisen zu sprechen, und sie trifft sich mit den Wissenschaftlern. Wir werden bald mit einem Plan zurückkommen. Bis dahin ruh dich bitte aus. Dein Lucien.‹«

»Geht es ihm wirklich gut?«, will ich wissen und starre auf das Pergament. »Ist Fione …?«

»Frag mich nicht wie«, sagt Malachite. Er knüllt das Pergament zu einem Ball zusammen und wirft ihn perfekt gezielt aus dem schmalen Fenster in der Steinwand. »Aber er hat es geschafft, unseren Sturz mit einem Rest Magie abzufangen, die er erstaunlicherweise noch aufbringen konnte. Und dann hatten wir das unverschämte Glück, in einem von Breychs vielen Sicherheitsnetzen zu landen.«

»Sicherheits…netze?«

Er seufzt. »Wie ich dich kenne, wirst du es nicht kapieren, solange du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast.«

Er erhebt sich von dem Stuhl neben meinem Bett und geht zum Fenster. Mein geheilter Körper folgt ihm und durch die Löcher und Risse in meinen Kleidern dringt kalte Luft. Es ist wirklich bitterkalt, viel kälter als in Cavanos, selbst im Winter. Der Beneather zeigt mit seiner langen Hand aufs Fenster und ich strecke den Kopf hinaus.

»Vachi-verdammt-ayis.« Ich hauche meinen Fluch als weiße Wolke nach draußen.

Es ist die Stadt mit den Türmen, die ich beim Aufstieg zum Knochenbaum gesehen habe, doch jetzt liegt sie direkt vor mir. Sie sah so klein aus, als ich Varia auf dem Rücken hatte, wie ein Kinderspielzeug, und jetzt erhebt sie sich rund um mich herum. Türme. Dutzende und Aberdutzende Türme, direkt auf dem Felsgestein von drei Bergflanken errichtet, eindrucksvoll und doch irgendwie chaotisch in unordentlichen Reihen. Manche der Türme sind riesig und großartig, mit Wasserspeiern in Form von Knochenmonstern, Spitzen aus Gold und Lapislazuli, während andere eher instabil wirken, die hölzernen Stützen dürr, die Steinsimse dick mit Moos bewachsen und einfache grüne und rote Ziegel auf den Dächern. Zwischen den drei dicht beieinanderliegenden Bergflanken erstreckt sich ein Gewirr aus Seilbrücken, manche breit, andere schmal, aber sie alle verbinden die Türme miteinander. Zwischen zweien von ihnen ist das Licht der untergehenden Sonne zu sehen, die das Diamantglas ihrer Dächer zum Leuchten bringt.

Und zwischen den Felswänden? Zwischen den Türmen? Nichts. Hundert Kilometer Tiefe, ein Abgrund, der sich überall in dieser Stadt auftut. Ich sehe genauer hin. Eigentlich stimmt das nicht. Über den Abgrund erstrecken sich Seile. Miteinander verwoben. Planvoll verwoben. Unter den Türmen ragen überall dicke Holzbalken über die Steinkanten hinaus und halten das raffinierte Gewebe aus Netzen, das sich über die ganze Stadt erstreckt, wie ein letzter Rettungsanker oder ein riesiges Spinnennetz. Der Wind pfeift mörderisch und ich ziehe den Kopf wieder zurück, um nicht noch mehr Eiskristalle ins Gesicht zu bekommen.

»Die Leute hier haben die Explosion gespürt«, sagt Malachite. »Und auch das Erdbeben durch die fallenden Valkeraxe.«

»Ist jemand verletzt worden?«, frage ich sofort.

Er seufzt. »Müsst ihr das tun?«

»Was tun?« Ich blinzle verblüfft.

»Dieselbe Frage genau im selben Moment stellen. Ihr seid entweder ein und dieselbe Person oder füreinander bestimmt.«

Natürlich meint er Lucien. Meine Wangen wollen anfangen zu glühen, aber das lasse ich nicht zu.

»Niemand in Breych wurde verletzt«, berichtet er gelangweilt.

»Ein Glück. Wie lange war ich weg?«

»Sieben Halbe.«

»Oh, gut!« Ich hebe beide Hände. »Nicht lange genug, um irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Wo kann ich neue Sachen kriegen?«

»Hier.« Malachite geht zu einem Schrank und wirft mir ein schlichtes, aber ganz passables senfgelbes Kleid und einen schweren schwarzen Umhang aus Wolfsfell zu.

»Igitt.« Ich verziehe das Gesicht. »Diese Farbe.«

»Grelle Klamotten scheinen hier angesagt zu sein.« Er öffnet sein Lederwams, sodass ich die pinkfarbene Tunika mit einem Schwall magentafarbener Rüschen sehen kann, die er darunter trägt. Wir prusten beide los, aber die dicken Steinwände verschlucken unser Gelächter. Die Stille ist nicht bedrückend, aber sie ist da und Bruchstücke der Realität hallen in ihr nach. Einer Realität, die sich so schnell und brutal verändert hat.

Varia ist fort. Sie hat den Knochenbaum. Die Valkeraxe.

Ich bin Luciens Herzlose.

Fione ist …

Malachite und ich …

»Ich habe dich verletzt«, sage ich und strecke eine Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. Nicht die mit Salbe bestrichenen Wunden, die bestimmt höllisch wehtun, sondern eine Stelle, die unverletzt ist.

Seine roten Augen blicken sanft und sein Grinsen wird breiter. »Du hast mich verletzt? Das hättest du wohl gern.«

»Mal …«

»Es ist vorbei, Zera.« Er fällt mir ins Wort. Nicht grob. Sanft. Freundlich. »Du hast deine Wahl getroffen. Und zum ersten Mal bin ich damit einverstanden.«

Ich trete hinter die hölzerne Trennwand und ziehe mir das zerfetzte Kleid über den Kopf. Malachite hat mir noch nicht vollständig vergeben. Das kann er nicht. Dafür sind seine Wunden noch zu frisch. Auch mein Verrat bis zu diesem Moment auf dem Berggipfel ist noch zu frisch. Aber selbst wenn er mir noch nicht vergeben kann, ist es ein Anfang. Besser als nichts. Freundlicher als nichts. Er ist so freundlich zu mir, und das nach allem, was war.

Ich werde anfangen zu weinen. Ich werde hinter dieser verdammt hässlichen Trennwand losheulen. Äh, nein. Das würde er nicht wollen. Das weiß ich.

Ich kenne ihn.

Ich bin so froh, dass ich ihn kenne.

Endlich ein bisschen Ruhe. Ein kurzer Moment hinter dieser Trennwand, in dem ich nach allem, was passiert ist, allein sein kann. Na gut, nicht ganz allein.

Niemals allein.

Die Glut ist so weit entfernt, dass ich lauschen muss, um sie zu hören. Das ist noch nie passiert. Und es wird sicher nicht so bleiben. Lucien bemüht sich, sie mit seiner Magie zu unterdrücken. Wahrscheinlich steckt er viel zu viel Kraft in diese Aufgabe, viel mehr, als es Nightsinger und Varia je getan haben. Aber es fühlt sich nicht an, als wäre es von Dauer.

Ich als seine Herzlose. Er als mein Hexer. Ist das von Dauer? Ist es überhaupt richtig?

Was sollen wir jetzt machen, nachdem wir alles verloren haben? Und wir haben verloren. Varia hat den Knochenbaum. Wir haben versagt. Ich hätte nicht versagen dürfen, aber das habe ich. Ich hätte mein Herz bekommen sollen, und jetzt …

Jetzt habe ich meine Freunde wieder.

Und vielleicht, wispert eine leise Stimme in mir, ist das ein fairer Tausch.

»Fertig.« Ich trete in dem senfgelben Kleid hervor und setze mein bescheidenstes Lächeln auf. »Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass wir noch so lebendig sind, uns zu beschweren.«

»Stimmt.« Malachites Mund zuckt, als er mir den Arm hinhält und einen übertrieben vornehmen Ton anschlägt. »Meine grelle Lady, wollen wir in die Stadt und unsere geliebte Beute jagen?«

»Durchaus«, bestätige ich und hake mich mit einer affektierten Geste bei ihm ein.

Mein Zimmer ist ein Turmzimmer, wie ich auf der endlosen Wendeltreppe schnell merke. Aber es ist bei Weitem nicht das einzige Zimmer. Der ganze Turm scheint eine Art Gasthaus zu sein, mit nummerierten Türen überall auf dem Weg nach unten und einem großen Gastraum im Erdgeschoss, in dem an einer hölzernen Bar Getränke serviert werden. Je weiter wir nach unten kommen, desto kälter wird es. Malachite öffnet die Tür und Eiszapfen fallen vom Türrahmen, sie knacken einfach ab und fallen lautlos in die Schneewehen wie Schwerter in ihre Scheiden.

»Hier draußen ist es ja noch kälter«, jammere ich. »Wie überleben die Leute das?«

»Warm eingepackt«, antwortet er und zeigt auf die Seilbrücken in unserer Nähe, auf der die Menschen kreuz und quer laufen und ihren täglichen Geschäften nachgehen, alle in so knallbunt gefärbte Wolle gekleidet, dass es mir förmlich die Netzhäute verätzt. Der Beneather führt mich über eine der Brücken, dann über eine weitere. Ich bin überrascht, wie stabil sie sind, denn von oben haben sie ziemlich zerbrechlich gewirkt. Doch zwischen den lackierten Bohlen sind keine Zwischenräume und die Brücken schwanken kein bisschen in dem eisigen Wind.

Jeder Schritt über eine dieser Brücken ist ein Schritt in Richtung Besorgnis. Und Angst.

Was sollen wir jetzt tun? Varia ist die mächtigste Hexe der Welt. Und dann sind da noch wir. Diebin, die ich bin, beschäftigen sich meine Instinkte wie üblich zuerst mit dem Überleben. Ein Beneather, ein sehr cleveres Mädchen mit einer Armbrust, ein Hexer und eine Herzlose. Ich weiß, dass wir unsere Stärken haben. Aber die Realität sieht anders aus. Keiner von uns ist stark genug, um sich der Macht des Knochenbaums entgegenzustellen, die ich in Varia gespürt habe.

Sie hat mich sogar durch mein Weinen hindurch beeinflusst. Das Weinen, meine letzte Zuflucht, eine Zuflucht, die eigentlich undurchdringlich sein sollte.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass mich Malachite zur Seite reißen muss, damit ich nicht mit einem Stadtbewohner zusammenstoße. »He, alles in Ordnung?« Er späht mir prüfend ins Gesicht.

»K-klar.« Ich lächle. »Mir geht’s gut. Lass uns weitergehen.«

Die Luft ist hier oben so schneidend und dünn, dass mir schwindelig ist, ich aber gleichzeitig bis ins Mark friere. Die einzigen Wärmequellen sind die gelegentlich geöffneten Türen irgendwelcher Türme, an denen wir vorbeikommen, in denen Feuer lodern. Aus den Turmschornsteinen quillt samtiger Rauch in den Himmel. Außer dem Rauch bewegen sich dort oben nur die unzähligen Messingkreuze, die sich auf den Dächern drehen.

»Wetterfahnen«, sagt Malachite und zeigt auf eine in der Form eines Valkerax. »Zeigen die Windgeschwindigkeit und – richtung. So was eben. Angeblich können sie auch die Temperaturen vorhersagen.«

»Wie denn?«, staune ich.

Er zuckt mit den Achseln und sagt nur: »Wissenschaftler. Helkyris ist voll von ihnen.«

»Nicht leicht, sie zu erkennen«, stelle ich fest. »Wenn man daran gewöhnt ist, sie in diesen grässlichen braunen Kutten zu sehen.«

»Hast du nicht auch mal eine getragen?«

»Und ich habe jede Minute darin gehasst.« Ich grinse ihn an. Es stimmt, anders als in Cavanos scheint es in Helkyris keine strenge Kleiderordnung für Wissenschaftler zu geben. Oder irgendeine Kleiderordnung. Ich entdecke nichts Braunes – nur Menschen in bunt gefärbter Wolle. Es sieht aus wie eine Blumenwiese oder ein Haufen wild flatternder Schmetterlinge.

»Ich glaube, jetzt habe ich es kapiert«, stelle ich fest, während wir eine viel breitere Brücke überqueren, an deren Enden Wolfsköpfe eingeschnitzt sind.

»Hast lange gebraucht«, stichelt Malachite.

»Hier gibt’s nur Felsen und Schnee.« Ich ignoriere ihn. »Grau, Weiß, Grau und noch mehr Weiß. Was soll man in einer so tristen Welt anderes tun, als die knalligsten Farben anzuziehen?«

Malachite grinst und ich verstumme, betrachte meine Stiefel auf ihrem Weg über die Brücke. Der Wind weht mir die Haare in den Nacken. Ich lege eine Hand auf meine Brust. Es ist wirklich merkwürdig – noch am Tag zuvor war ich überzeugt, dass ich nur diesen Berg hochklettern müsste, um als Mensch wieder hinabzusteigen. Als Mensch voller Erinnerungen. Wieder ganz. Aber meine Brust ist immer noch leer. Das Leben ist nicht so verlaufen, wie ich es geplant hatte. Meine Tricks haben ebenso wenig funktioniert wie die Opfer, die ich gebracht habe.

Oder der Verrat.

Lucien ist mein Hexer. Ich habe mein Herz immer noch nicht, aber es ist zum Überlaufen voller Gefühle. Ich habe es noch nie so sehr gespürt wie in diesem Augenblick, obwohl ich kaum weiß, was ich fühle. Stolz? Erleichterung? Angst? Alles, vermischt zu einem trüben Wasserstrudel, in dem ich mich an jedes Wrackteil klammere, das zufällig an mir vorbeischießt. Im Moment ist es die Hoffnung, Lucien wiederzusehen. Meine Füße werden schneller, meine Gedanken langsamer.

Er ist mein Hexer.

Wir haben einen Vertrag geschlossen, magisch und unsichtbar, und ich kenne noch nicht all seine Bedingungen. Natürlich kenne ich etliche davon, jedenfalls viel mehr als vor drei Jahren, als ich zur Herzlosen wurde. Aber nicht alle. Ich will sie gar nicht alle kennen. Ich bin froh, am Leben zu sein, froh, dass wir alle am Leben sind, aber da ist auch ein bohrender Gedanke in meinem Hinterkopf: Ich will mein Herz zurückbekommen. Ich bin dazu bestimmt, ein Mensch zu sein.

Ich will wieder Mensch sein.

Als ich zu Varia gehörte, wollte ich unbedingt menschlich sein.

Aber was will ich jetzt? Mit Lucien? Mit mir? Auch eine Hexe, der ich etwas bedeute, ist immer noch eine Hexe, und aus Erfahrung weiß ich, dass Hexen mir gegenüber nicht gerade großzügig sind.

Ich lächle ein kleines Mädchen an, das mir mit seinem Vater entgegenkommt, sein Wollmantel ist leuchtend orange und pink gefärbt. Doch das Mädchen starrt nur zurück. Allerdings starrt es nicht mich an.

»Die haben hier noch nie einen Beneather gesehen«, beantwortet Malachite meine unausgesprochene Frage.

»Ich nehme an, es kommt nicht allzu oft vor, dass sich ein Beneather von den tiefsten Tiefen auf den höchsten Berg verirrt«, necke ich ihn.

Er grinst. »Ich bin halt was Besonderes.«

Die Kälte ist so beißend, dass sie uns vorwärtstreibt. Angeblich ist es Sommer, um des Alten Gottes willen! Es ist unglaublich, was die Leute von Helkyris auf so wenig Platz erschaffen haben – es gibt hier fast nirgendwo Boden, auf dem man laufen könnte, und doch haben sie eine ganze Stadt gebaut! Terrassen sind ihre geniale Lösung, gehauen in die drei Bergflanken, sodass die Bewohner auf Steinbänken sitzen und über ihre niedrigen Eisenzäune hinweg die Aussicht auf das grüne Cavanos genießen und an Verkaufsständen heiße Würzgetränke und warmes Gebäck verzehren können. Es ist eine Stadt mit verschiedenen Ebenen und vielen Stufen, und als Malachite mich zu einem besonders großen Turm aus quarzfleckigem Gestein führt, keuche ich in der dünnen Höhenluft.

»Das ist der Turm der Weisen«, sagt er. »Einer für jede helkyrische Stadt. Hier wird Politik gemacht und außerdem erfährt man hier den neuesten Klatsch. Dieser Turm erfüllt eine ähnliche Rolle wie ein Tempel des Neues Gottes in Cavanos.«

Ich starre ihn an. »Bist du klug geworden, während ich bewusstlos war?«

»Nein.« Er lacht. »Lucien. Sein übliches Prinz-Lexikon-im-Kopf-Ding.«

»Ach so.« Ich öffne die schwere Holztür und Malachite taucht unter meinem Arm hindurch. Dieser Turm ist höhlenartig und weitläufig. Überall stehen Tische und Bänke, die Treppe befindet sich in einer Ecke und windet sich durch stickige, nach Weihrauch riechende Luft endlos weit nach oben. Der Turm ist so hoch, dass man kaum das Dach sehen kann. Bis ganz oben herrscht Dunkelheit, doch bei genauem Hinsehen kann ich einen kleinen hellen Punkt ausmachen, wo etwas Licht durchs Dach einfällt. An den Wänden reihen sich Türen aneinander und es sind Nischen ins Gestein gehauen, in denen vollgepackte Bücherregale stehen. Ich bin an Öllampen gewöhnt, aber hier brennen weiße Quecksilberlampen.

Jedenfalls vermute ich, dass es Quecksilberlampen sind. Sie brennen viel heller und reiner als die, die ich aus Cavanos kenne. Eine oder zwei reichen, um einen großen Bereich auszuleuchten. Gut möglich, dass die hiesigen Wissenschaftler sie perfektioniert haben – möglich und absolut unglaublich. Wenn es diese Technologie in Cavanos gäbe, müsste nicht ständig neues weißes Quecksilber von Avel herangeschafft werden, weil es sich verbraucht wie Wasser.

»Hier lang.« Malachite zeigt auf einen entfernten Raum. Unsere Schritte hallen auf dem kalten Steinboden, bis wir die Tür erreichen und er im selben Rhythmus anklopft, den er immer benutzt, wenn er zu Lucien will. Dreimal klopfen, dann zweimal.

»Komm rein.«

Beim Klang von Luciens Stimme richten sich die kleinen Härchen auf meinen Armen auf und beginnen zu brennen. Mein Hexer. Mein Prinz. Mein? Nein. Mein Hexer, aber nicht mein Prinz. Er ist der Prinz seines Volkes. Er hat immer nur seinem Volk gehört.

Mein Unherz krampft sich zusammen, als mir klar wird, dass er seine Schwester verloren hat. Schon wieder. Diesmal an die Macht, nicht an einen vorgetäuschten Tod. Diesmal ist sie nicht vertrieben worden, diesmal war es ihre eigene Entscheidung zu gehen. Er muss am Boden zerstört sein.

Malachite öffnet die Tür und ein Geruch von Zimt und Gewürznelken schlägt uns entgegen. Üppige Wandteppiche umgeben einen runden Konferenztisch, an dem ein gebeugter alter Mann steht, schrumpelig wie eine Walnuss und von Kopf bis Fuß in Smaragdgrün und Gold gehüllt, und neben ihm Lucien, in Hellblau gekleidet und mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, als er mich sieht.

»Zera.«

Er deutet eine höfliche Verbeugung an, entschuldigt sich bei dem alten Weisen und kommt herbei.

Es ist nur ein Wort. Das sollte mich nicht so glücklich machen. Es sollte mehr als nur eines nötig sein. Es sollten ganze Bücher, endlose epische Gedichte, Bardengesänge nötig sein, um mich so schnell und so heftig zum Glühen zu bringen. Das ist nicht fair. Es ist nicht fair, dass er diese Wirkung auf mich hat.

Es ist nicht fair, dass wir immer noch das Monster sind.

Der Raum ist nur matt erleuchtet, aber ich kann jede Falte seiner Kleidung sehen, jede Sommersprosse, jeden Zentimeter, den er zurücklegt, um zu mir zu kommen. Mein Hexer. Der Prinz. Seine Augen – ich bin so daran gewöhnt, sie als harte Scherben aus Onyx zu sehen. Aber jetzt, genau jetzt, sind sie wie vergossene Tinte. Weich, sanft reflektieren sie das wenige Licht und meine Nervosität.

Er bleibt stehen. Genau an der Grenze zwischen meinem Bereich und seinem. Er weiß es. Er kennt die Gefahr. Er kann es ebenso spüren wie ich – die beiden weiß glühenden Ringe, die von uns ausgehen, drängend, wartend, wartend auf die nächste Reaktion des anderen.

»Geht es dir gut?«, fragt er. »Du warst so lange bewusstlos …«

»Ja.« Ich lächle angespannt. »Es geht mir gut, Euer Hoheit.«

»Du …« Luciens Lider zucken. »Das … du brauchst mich nicht mehr so zu nennen.«

»Ihr habt darauf bestanden.«

»Und jetzt bestehe ich darauf, es zurückzunehmen.«

Da ist ein Summen, das in meinen Adern beginnt, aber ich kann nicht sagen, ob es am Duft seiner Haut liegt, den ich mittlerweile so gut kenne, oder an seiner Magie, die mich am Leben erhält.

Das Einzige, das uns am Leben erhält. Er ist unsere Verbindung zum Leben; er hält unser Leben in seiner Hand …

Ein Beutel. Er hält ihn mir so schnell hin, dass ich erst begreife, was es ist, als ich die Stickerei lese. Unordentlich und schlecht gestickt, allerdings mit einem feinen Goldfaden: HERZ.

Es ist so nah und so verlockend und lenkt mich beinahe von meinem ersten Gedanken ab: Nicht besonders originell, oder? Varia hat wenigstens Verräterin auf meinen Beutel gestickt. Aber bei ihm ist es bloß eine Beschriftung des Inhalts. Einfach. Simpel. Vielleicht passt es zu ihm. Vielleicht ist er die Art Hexer, die es einfach mag.

»Hier.« Lucien hält mir mein Herz hin, der Beutel pocht ganz leise und sieht ein bisschen klumpig aus.

In meinem Kopf hämmert es. Echos, die niemand hören kann, dringen aus diesem Beutel – Echos von Erinnerungen, wie Abdrücke von jemandem im Schnee, dessen Gesicht ich nicht mehr sehen kann. Wer war da? Irgendwer. Vielleicht meine Eltern. Ganz sicher meine Vergangenheit. Ich glaube Worte zu hören, Gelächter, rieche den Duft von Zimt.

Ich wage nicht zu träumen. Zu glauben. Ich will – ich will mehr als alles andere glauben, dass er jemand ist, die Art Hexer ist, die mir sofort mein Herz zurückgibt. Aber ich habe zu viele Hexen kennengelernt, um auf so etwas hereinzufallen.

»Oh, ich darf es mal anfassen?«, stichle ich. »Echt nett von dir.«

»Es gehört dir«, beteuert der Prinz. »Wenn du es willst.«

Das ist zu schön, um wahr zu sein. Er ist zu gut, um wahr zu sein. Niemand im Raum regt sich – nicht der alte Weise, nicht Malachite, nicht Lucien und schon gar nicht die tausend Jahre alten Steine, aus denen die Wände bestehen. Also beschließe ich, etwas zu tun, gehe um den runden Tisch herum und lasse dabei die Finger über die Tischplatte gleiten.

»Hmm«, mache ich nachdenklich. »Bist du sicher? Ich bin nämlich ziemlich nützlich. Unsterblich, immer im selben Alter. Ich kann nicht versprechen, dass ich immer still oder höflich sein werde, aber ich kann es zumindest versuchen.«

Ich nähere mich dem alten Weisen mit dem Knittergesicht, der mich aufmerksam mustert.

»Herzlos?«, fragt er, und seine Stimme ist leise und kratzig vom vielen Pfeifenrauch.

»Nur eine von vielen.« Ich lächle ihn an und mache einen Knicks. »Ist mir ein Vergnügen.«

»Du hast genug durchgemacht …« Lucien gibt nicht auf. Auch er geht um den Tisch herum und schneidet mir den Weg ab. »Für dieses verdammte Ding. Ich werde es dir jetzt sofort einsetzen.«

Ich sehe, wie seine Fingerspitzen schwarz werden, goldenes Zwielicht verwandelt sich in tiefe Nacht.

Da ist es. Endlich, nach so langer Zeit. Gleich wird er …

Wenn du uns verlierst, wie willst du ihn dann schützen?

Mein Sehnen erstirbt.

Ohne uns hast du nur dein Schwert, wir bewahren dich vor dem Menschentod. Wenn du uns verlierst, bist du schwächer. So schwach, dass ihn jemand direkt vor deinen Augen töten könnte.

Schwäche. Ich habe mich so lange schwach gefühlt, drei Jahre lang, aber Gefühle sind keine Realität. Das Hexenfeuer in Vetris, in dem er fast umgekommen wäre, der Abend bei der Jagd, bei dem er beinahe von Erzherzog Gavik ermordet worden wäre. Wenn ich nicht unsterblich gewesen wäre, hätte ich ihn nicht retten können. Er wäre gestorben. Und jetzt, wo Varia ihre zigtausend Valkeraxe in den Krieg gegen die Welt führt, ist der Tod niemals weit entfernt. Für uns alle. Aber vor allem für ihn.

Wenn du uns verlierst, könntest du ihn verlieren.

Ich weiß, dass er versuchen wird, sie aufzuhalten, das kann ich ihm von den Augen ablesen. Ich habe es sofort gesehen, als ich hereinkam – Traurigkeit, ja, aber auch ein eiserner Wille. Er hat einen Plan.

Und wenn ich wieder ein Mensch bin, kann ich ihn nicht schützen.

Du kannst fliehen. Nimm dein Herz und lauf.

Das kann ich nicht.

Du willst nicht.

Nein, ich will es nicht. Nicht mehr.

Nicht, nachdem ich ihn zurückgewonnen habe.

Er hält den Beutel so arglos, so überzeugt von seiner Entscheidung. Natürlich will ich mein Herz. Ich habe ihn dafür verraten. Dafür gelogen. Mich dafür mit Varia verbündet. Seine Finger sind tiefschwarz und er ist fest entschlossen, mir das zu geben, von dem er glaubt, dass ich es will.

Von dem ich glaubte, dass ich es will.

Aber jetzt weiß ich es besser. Varia hat mich eines Besseren belehrt. Wo immer sie ist, ich bin ihr fast ein bisschen dankbar für ihre Versuche, ihre Misserfolge, die Schmerzen. Die Erkenntnis.

»Es ging nie um mein Herz«, sage ich.

Die Schwärze breitet sich nicht weiter über seine Finger aus, sein Gesicht wird ganz starr und er sieht mich verwirrt an. »Wie meinst du das?«

Ich lache und gehe um den Tisch herum, an ihm vorbei und zurück zu Malachite. »Es war nie mein Herz, das ich wollte. Was ich die ganze Zeit wollte, war, mich wieder wie ein Mensch zu fühlen.«

»Dann …« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Hier.«

»Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu begreifen. Das war nicht einfach.«

»Zera, bitte, kannst du nicht …«

»Das kleine schlagende Ding in Eurer Hand, Eure Hoheit«, unterbreche ich ihn, »macht einen nicht menschlich. Es macht nur die Brust ein bisschen schwerer, den Körper ein bisschen lauter. Aber es ist nicht das Ding, das einen menschlich macht.«

Die Faust, die mein Herz hält, sinkt herab. »Aber … was sonst?«

Mein Lächeln erstirbt. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Nein – ich habe es immer gewusst, seit dem Abend der Jagd, als mein Körper schneller reagiert hat als ich selbst. Etwas in mir hat es immer gewusst.

»Was uns menschlich macht, ist ein Gefühl«, beginne ich. »Das Gefühl, das ich habe, wenn ich bei dir bin.«

Luciens Augen werden größer und fangen an zu strahlen.

»Wenn ich mal unterbrechen darf«, krächzt der alte Weise.

Froh, die Aufmerksamkeit und Luciens glühenden Blick von mir abzulenken, hebe ich eine Hand in seine Richtung. »Ja, bitte.«

»Wir haben sehr viele Wissenschaftler hier in Breych. Sie studieren Tag und Nacht die Geheimnisse des Lebens, der Natur, des Himmels und der Leere, die dahinterliegt.«

»Und?« Lucien wird ungeduldig. Unser wohlerzogener Prinz fällt einem Älteren ins Wort? Seit wann denn das?

»Vor Kurzem hat die Gruppe um Miralin eine sehr interessante Theorie aufgestellt. Die Hypothese war, dass im Tod eine gewisse Energie abgegeben wird. Quecksilberenergie, kinetische Energie, Wärmeenergie – sie sind sich nicht sicher, was es ist. Aber es scheint da zu sein, bei allen Lebewesen jeden Alters. Vielleicht …« Er schaut mich an. »Vielleicht ist es das, was du ›Seele‹ nennen würdest. Gut möglich, dass es das ist, was uns menschlich macht. Nein …« Er wirft einen nachdenklichen Blick auf Malachite und verbessert sich. »Vielleicht ist es das, was uns existieren lässt, hier in diesem Augenblick auf Arathess, und uns sowohl schöne als auch schreckliche Dinge denken und fühlen lässt.«

Einen Moment lang sagt niemand etwas. Das ist eine große Sache, zu groß, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir alle hier im Raum teilen sie, sie lastet schwer und wir können das Gewicht nur im gemeinsamen Schweigen tragen. Bis Malachite schnaubt – amüsiert. Lucien hört nicht auf, mich anzustarren. Und ich ihn.

»Vergebt mir.« Der alte Weise pocht mit seinem Gehstock auf den Boden. »In meinem Alter neigt man zum Schwadronieren. Lasst uns das Gespräch vertagen. Wir können morgen weitermachen, junger Mann.«

»Vielen Dank«, sagt Lucien, ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden. »Und bis dahin möge Euch der rechte Weg beschieden sein.«

»Ebenso«, erwidert der Weise und lächelt.

Die Zeit macht schon wieder, was sie will. Luciens Schritte auf mich zu sind langsam, doch die Wärme seiner Hand in meiner spüre ich blitzschnell, und dann gehe ich, nein – ich renne, wir beide rennen zur Tür hinaus, zurück in die Eingangshalle des Turms, vorbei an Schnee und Eis bis zu einer Brücke, auf der niemand zu sehen ist, uns niemand sieht, und dann Wärme. Wärme trotz der eisigen Kälte, an einer Seite meines Gesichts, um meinen Bauch, an meiner Brust und meinen Lippen.

Er. Ein Kuss, eine Umarmung, Feuer in meinem Mund und meinem Magen und in meinem Gesicht, und er ist überall und ich will, dass er überall ist. Die rote Glut kann nichts dagegen ausrichten, sie verpufft einfach und lässt nicht einmal Asche zurück.

Ah, denkt ein winziger Teil meines Gehirns, so kann ein Kuss sein. Nicht wie das Ende der Welt, sondern auch wie der Anfang der Welt.

Es muss enden. Alles muss irgendwann enden, und die Zeit hört auf, mir einen Streich zu spielen, jetzt, wo ich es am wenigsten brauchen kann – die kalte Luft peitscht mir ins Gesicht, als wir uns voneinander trennen.

»Jeder Tag.« Er umfasst meine Wangen mit den Händen, selbst durch die Handschuhe spüre ich die Wärme seiner Handflächen. »Jeder Tag, an dem du nicht an meiner Seite warst, war die reine Folter.«

»Tut mir leid.« Ich lache. »Es war meine Pflicht, richtig? Dich zu unterhalten. Und dann habe ich dich sitzen lassen.«

»Das hier ist kein Spaß« Seine Lippen berühren meine. »Es ist ein Versprechen«, murmelt er. »Du und ich, solange Arathess existiert und wir mit ihm. Und darüber hinaus. Und darüber hinaus.«

Das ist albern. Aber so süß. Kann ich das annehmen? Habe ich das verdient? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Vielleicht ist es nicht meine Entscheidung, was ich verdiene.

Ich kann nicht einmal mehr an die Vergangenheit denken. Sie ist weggeblasen, wie ein starker Wind die Samen des Löwenzahns verweht. Jeder Fehler, jeder Verrat, alles, was wir einander in Vetris angetan haben, was wir einander an den Kopf geworfen haben – diese Küsse heilen alles. Sie schließen die Wunden. Es wird Narben geben, natürlich. Aber wenigstens bluten sie nicht mehr.

Und ich bin unglaublich froh, dass mein gebrochenes Unherz aufgehört hat zu bluten.

Diesmal ist mein Lachen wie Wasser, das wild davonstrudelt. »Lass dir gesagt sein, dass die Ewigkeit schwer zu ertragen ist.«

Er legt seine Stirn an meine, unsere Atemwolken vermischen sich in der eisigen Luft und seine dunklen Augen funkeln, als hätte sich die Sonne in ihnen gespiegelt. »Und mit mir?«

»Mit dir, Lucien d’Malvane.« Ich küsse seine stolze Nase und seine Lippen. »Für immer und ewig.«

3

Das schwerste Versprechen

Natürlich ist die Liebe für mich ein klein wenig anders als für jeden anderen.

Lucien ist immer noch mein Hexer. Aber es ist schwierig, das im Hinterkopf zu behalten, denn wir verbringen den Rest des Nachmittags damit, über Breychs hundert Brücken zu wandern, uns die Stadt aus jedem Blickwinkel anzusehen und über belanglose Dinge zu plaudern. Wir machen Witze über die Adligen zu Hause am Königshof, sprechen über mein Leben im Wald und seine Kindheitserinnerungen. Er sagt, dass es Fione gut geht, so gut es jemandem gehen kann, der gerade die Liebe seines Lebens verloren hat. Doch die ganze Zeit hängt das Varia-Thema bedrohlich über uns, und auch die Gefahr, in der seine Eltern und sein Volk schweben. Aber er erwähnt es mit keinem Wort – ich kann nicht beurteilen, ob er meinetwegen nicht darüber redet oder um sich selbst zu schützen.

Sein Lächeln und unser Lachen lässt die Stunden vergehen wie im Flug. Wir genießen diese Zeit, denn uns beiden ist klar, nach diesem Spaziergang, diesen unbeschwerten Momenten, wird der wahre Kampf beginnen.

Der gegen seine Schwester.

Ein Kampf, der vielleicht die Welt vor ihr retten wird. Und sie vor sich selbst.

Aber womit sollen wir anfangen? Wer hat Antworten für uns?

Der Sonnenuntergang beendet unseren Ausflug. Malachite erscheint, aber wie ich ihn kenne, hat er uns die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Er besteht darauf, uns in unser Gasthaus zu bringen, sehr höflich natürlich. Bevor er aufgetaucht ist, haben wir uns geküsst, doch jetzt glüht Luciens Gesicht in den verschiedensten Schattierungen von Rot, denn Malachite und ich können es nicht lassen, ihn ein bisschen zu ärgern.

»Du hattest kein Recht, uns zu beobachten, Mal«, beschwert sich Lucien.

»Luc, ich habe neun Jahre lang zugesehen, wie du stinklangweilig warst. Da solltest du mir wenigstens gestatten, auch zuzusehen, wenn es endlich interessant wird.«

»Du kannst nicht ewig um uns herumlungern.« Ich verpasse Malachite einen spielerischen Knuff.

»Das merkst du doch gar nicht«, kontert er. »Nur ein Scherz. Aber du kriegst es wirklich nicht mit. Weil ich sehr gut darin bin, mich zu verstecken.«

»Du bist auch sehr gut darin, im Gefängnis zu landen«, murrt Lucien.

»Sperr mich ein, wenn es unbedingt sein muss«, seufzt Malachite. »Aber du solltest wissen, dass ich in der Lage bin, die meisten Gesteinsarten problemlos zu verdauen.«

»Himmelsknast«, verkündet Lucien. »Da kannst du dich nicht rausnagen.«

»Pah!« Malachite schnaubt mit gespielter Empörung. »Das finde ich echt übertrieben.«

Ich muss so sehr lachen, dass ich die Tauben auf einem nahe gelegenen Turm aufschrecke. Sie flattern davon mit ihren blauen Flügeln, der weiße Brustfleck leuchtet im frühen Sternenschein. Ein echtes Lachen. Bei den Göttern, wann habe ich zuletzt ohne eine Last auf meiner Brust so gelacht? Es kommt mir vor, als wäre es Jahre her.

Natürlich ist auch das Abendessen für mich ein klein wenig anders als für jeden anderen.

Wir sitzen im Hausturm des alten Weisen und mein Teller ist über und über beladen mit der fettigsten Leber, die ich je gesehen habe. Alle anderen bekommen gebratenen Fasan mit glänzenden karamellisierten Jamswurzeln und leuchtend grünem Wyrmfruchtkompott.

Helkyris und Cavanos haben nur wenig gemeinsam, doch die öde Sitzordnung gibt es auch hier. Lucien sitzt auf dem ersten Platz rechts, wie es dem höchstrangigen Gast zusteht, Malachite will an die Wand gelehnt stehen bleiben, aber das lässt der Weise nicht zu. Er platziert ihn neben Lucien und bietet ihm irgendeinen Beneather-Schnaps an. Ich grinse und setze mich dem Prinzen gegenüber, allerdings einen Platz versetzt nach unten. Der Stuhl neben mir ist für Fione. Der alte Weise nimmt am Kopfende des Tisches Platz. Y’shennrias Stimme flüstert mir zu, dass ich ihn mit »Ältester« ansprechen sollte. Und ich dachte schon, dass ihre Vorträge über helkyrische Titel vollkommen sinnlos gewesen wären. Ich muss mich bei ihr entschuldigen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.

Falls wir sie wiedersehen.

Ich lege mir die Serviette auf den Schoß. Nicht falls. Wenn.

Fione erscheint als Letzte. Ihre Nase und die Apfelwangen sind rot vor Kälte und beim Hereinkommen schüttelt sie den Schnee von ihrem Samtumhang und den mausbraunen Locken. Unsere Blicke treffen sich und einen Moment lang kann ich kaum atmen. Der Schmerz hat sich tief in ihr Gesicht gegraben. Er verzerrt ihren Mund, brennt in ihren kornblumenblauen Augen. Augen, die glücklich sein sollten. Lächeln sollten. Doch sie blicken müde, trüb und düster. Es ist der Ausdruck von jemandem, der alles verloren hat.

Anfangs schaut sie weg. Ich stehe hastig auf und nehme ihr den Gehstock ab, den sie gerade einem Bediensteten geben will.

»Ich war in letzter Zeit wirklich furchtbar.« Ich lächle und lehne den Stock vorsichtig an die Wand. Sie verkneift sich ein angewidertes Gesicht, doch sie reckt auf die typische Erzherzogin-Himintell-Art steif den Hals.

»Du bist jetzt hier«, sagt sie teilnahmslos. »Das ist alles, was zählt.«

»Bitte, Ladys.« Der Weise deutet auf unsere Stühle. »Nehmt Platz und esst. Ihr müsst doch hungrig sein.«

»Manche von uns mehr als andere.« Malachite nickt mir zu. Ich hätte ihm nur zu gern mit einer sehr unhöflichen Geste gezeigt, was ich von ihm halte, aber ich fürchte, dann würde unser uralter Gastgeber einen Herzinfarkt bekommen, also setze ich nur mein gewinnendstes Lächeln auf. Aber lange halte ich das nicht durch, denn Fiones Menschenduft lenkt mich ab. Lilien und Haut.

Ich drehe mich zu ihr um und werfe alle Zurückhaltung über Bord.

»Es tut mir leid …«

»Es ist nicht deine Schuld, dass sie sich für den Knochenbaum entschieden hat.« Sie fällt mir ins Wort.

»Fione …«

»Es war ja nicht so, als hättest du eine Wahl gehabt. Du warst ihre Herzlose. Lucien hat mir erklärt, wie das alles funktioniert.«

»Fione, darf ich mich entschuldigen? Bitte?«