Heaven. Stadt der Feen - Christoph Marzi - E-Book

Heaven. Stadt der Feen E-Book

Christoph Marzi

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Beschreibung

London - das ist seine Stadt. Und über den Dächern von London - dort hat David sein zweites Zuhause gefunden. Hier oben kann er den Schatten der Vergangenheit entfliehen. Bis er eines Tages auf ein Mädchen trifft, das alles auf den Kopf stellt, woran er bisher geglaubt hat. Ihr Name ist Heaven. Sie ist wunderschön. Und sie behauptet, kein Herz mehr zu haben. Ehe David begreifen kann, worauf er sich einlässt, sind sie gemeinsam auf der Flucht. Und sie werden nur überleben, wenn sie Heavens Geheimnis lüften. Christoph Marzi erzählt mitreißend - Urban Fantasy vom Feinsten!

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Seitenzahl: 397

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Christoph Marzi Heaven. Stadt der Feen

Christoph Marzi wuchs in Obermendig in der Eifel auf, studierte an der Universität Mainz Wirtschaftslehre und lebt heute mit seiner Frau Tamara und seinen drei Töchtern in Saarbrücken. Marzi begann im Alter von fünfzehn Jahren zu schreiben. Nachdem er mehrere Kurzgeschichten verfasst hatte, erschien 2004 sein Romandebüt Lycidias, das zu einem Überraschungserfolg des Jahres wurde. 2005 wurde Marzi der Deutsche Phantastik-Preis verliehen.

www.malfuria.dewww.christophmarzi.de

Weitere Bücher von Christoph Marzi im Arena Verlag:

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt (Band 1) Malfuria. Die Hüterin der Nebelsteine (Band 2) Malfuria. Die Königin der Schattenstadt (Band 3) Du glaubst doch an Feen, oder?

Christoph Marzi

Heaven

Stadt der Feen

Für Catharina, die im richtigen Alter ist, um es zu lesen, und für Lucia und Stella, die noch ein paar Jahre warten müssen

Veröffentlichung als E-Book 2010 © 2009 Arena Verlag GmbH, Wörzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Arena Verlag ISBN 978-3-401-80007-3

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

When the’s ’ardly no day nor ’ardly no night There’s things ’alf in shadow and ’alf way in light On the rooftops of London coo, what a sight!

Richard M. Sherman und Robert B. Sherman »Chim Chim Cher-ee«

Prolog

Die Nacht, in der Heaven ihr Herz verlor, war mondlos und kalt. Die Klinge indes, die ihr das Herz aus dem Körper schnitt, war warm vom dunklen Blut des Mädchens. Verloren, verwirrt und furchtsam pochend, spiegelte sich das Herz im Silberschein dieser sichelförmigen Klinge. Finger, die in schwarzen Handschuhen aus glattem Leder steckten, hielten das Herz vor ein Gesicht, das äußerst zufrieden wirkte.

Der Mann, der in dieser Nacht nicht zum ersten Mal ein Herz stahl, winkte eine hinkende Lumpengestalt heran, die sich im Hintergrund verborgen gehalten hatte.

Allesamt befanden sie sich auf einem Dach, wo ein scharfer Wind wehte und die Rauchschwaden aus den vielen Kaminen wie lebendige Wesen die Finsternis berührten. Das Dach mit den dunklen Ziegeln gehörte zu dem Haus mit der Nr. 16 am Phillimore Place, gelegen zwischen Holland Park und Kensington Gardens. Es bot einen wirklich schönen Ausblick auf die Stadt, doch keine der beiden Gestalten, die dort oben waren, kümmerte sich darum. Beide starrten auf den Körper, der reglos zu ihren Füßen lag.

Das Mädchen war jung und das pechschwarze Haar war nass vom Wasser der Pfützen, die das Dach bedeckten. Seine dunkle Haut schimmerte in der Nacht, Tränen glänzten auf den Wangen.

Der große Mann, der in jedem Stadtteil Londons unter einem anderen Namen bekannt war, hatte sich an diesem Abend nach Chelsea begeben, um ein Herz zu finden. Er war dem Mädchen seit Wilton Crescent gefolgt, zwei Stunden lang. Der Lumpenmann, der wie ein räudiger Hund in alten abgetragenen Klamotten neben ihm stand, hatte die Witterung am Sloane Square aufgenommen und von da an hatte es kein Entkommen mehr gegeben. Das Mädchen, das eigentlich schon eine junge Frau war (jemand, den man früher in der Gegend von Hampstead Heath ganz sicherlich als ein Fräulein bezeichnet hätte), war allein und ohne erkennbares Ziel durch die Straßen geschlendert. Es war die Brompton Road entlanggewandert, hatte bei Harrods die Schaufenster angeschaut und sich später im Bunch of Grapes einen Imbiss gegönnt. Dann war es nordwärts gewandert, Richtung Kensington Gardens, doch anstatt den Park zu betreten, hatte es den Weg Richtung Notting Hill eingeschlagen. Vor der High Kensington Station waren dem Mädchen einige Teenager über den Weg gelaufen, die es zu kennen schienen. Sie hatten nur belanglose Worte gewechselt (Worte, die das Mädchen nicht sonderlich zu interessieren schienen) und einer von ihnen, ein junger Mann mit dem Emblem eines noblen Privatcolleges auf der Krawattennadel, hatte das Mädchen bei seinem Namen gerufen: Heaven.

Der nächtliche Verfolger, der gute Ohren und scharfe Augen hatte, fand, dass dies ein seltsamer Name für eine junge Frau war, doch gehörte es nicht zu seinen Aufgaben, sich den Kopf über Namen und derlei Dinge zu zerbrechen. Namen waren nichts als Schall und Rauch. Und er wollte nichts anderes als ihr Herz.

Das Mädchen war vor Nr. 16 Phillimore Place stehen geblieben und hatte zum Dach hinaufgeblickt. Dann fingerte es am Türschloss herum. Zweifelsohne verschaffte es sich Zugang zu einem Haus, in dem es nichts verloren hatte. Es huschte dennoch durch die Tür.

Der Lumpenmann und Mr Drood, wie sich der große Mann nannte, wenn er in Kensington unterwegs war, hatten all das beobachtet. Sie waren ihr gefolgt, wie Raubtiere in der Nacht. Durch die Tür, ins Haus, die Treppen hinauf, bis auf das Dach.

Aus dem Rucksack, den sie mit sich trug, hatte sie einen langen Gegenstand genommen. Es war ein Teleskop, das sie in Windeseile auf dem Dach des Hauses aufgebaut hatte. Sie hatte dort gestanden und den Himmel beobachtet. Immerhin gab es hier Sterne.

Dann waren Mr Drood und der Lumpenmann bei ihr gewesen. Sie hatte sie nicht nahen gehört. Niemand tat das. Mr Drood und der Lumpenmann waren wie die Katzen der Nacht, ihre Stiefel wie Samtpfoten. Wenn jemand verschwiegene Dienste verlangte, dann rief man nach Mr Drood oder einem der vielen anderen Namen, auf die er ebenso hörte. Man teilte ihm flüsternd den Auftrag mit und er erledigte, was man ihm auftrug. Herzen zu stehlen, gehörte dazu.

Mr Drood war listig. Stets arbeitete er mit einem, der die Fährte zu wittern vermochte. Dieser Lumpenmann hier würde bald zerfallen, dann müsste er sich einen neuen erwählen.

Nun denn, die Friedhöfe waren voll von ihnen.

Das Leben, dachte Mr Drood, konnte so einfach sein. Seltsam, dass niemand sonst das erkannte.

Er gestattete sich ein Lächeln auf den dünnen Lippen und betrachtete das Herz in seiner Hand. Es sah aus wie all die anderen auch, die er früher gestohlen hatte. Sie aus den Körpern zu schneiden, bereitete ihm Vergnügen. Als Kind hatte er Katzenfelle an die Händler in Whitechapel verkauft, schon damals hatte er mit genau diesem Messer gearbeitet. Sein Auftraggeber würde zufrieden sein. All seine Auftraggeber waren zufrieden mit dem, was er leistete.

Bereits einige Male hatte er ein Herz besorgt. Das Mädchen war sein neues Opfer. Mr Drood wusste, dass nicht jedes Herz für seinen Auftraggeber infrage kam. Allein die Auslese zu treffen, erforderte nicht wenig Geduld. Deswegen auch der Lumpenmann. Es musste ein gesundes Herz sein, eines, das nicht unglücklich war. Die Toten hatten ein Gespür für lebendige Herzen, in denen das Glück daheim war. Das kam wohl daher, dass sie tot waren und sich nach einem warmen schlagenden Herzen sehnten.

Auch dieser hier hatte getan, was Mr Drood von ihm verlangte. Sie hatten das Herz gefunden, Mr Drood hatte die Klinge gezückt, einen langen Schnitt getan und das Herz entnommen. Es war ganz einfach, und wenn man es öfter tat, dann fiel es leichter und leichter.

Heaven war da keine Ausnahme.

Doch dann passierte etwas, was sonst nicht passierte. Etwas, das eigentlich nicht geschehen konnte.

Die junge Frau, die eben noch regungslos und sterbend dagelegen hatte (ja, sterbend, da war Mr Drood sich ganz sicher), jene junge Frau mit dem seltsamen Namen Heaven und der noch seltsameren Angewohnheit, auf fremden Dächern die Sterne am Nachthimmel zu beobachten, sein Opfer, das nicht anders als all die anderen Opfer gewesen war, . . . diese junge Frau sprang plötzlich auf und begann davonzulaufen.

Mr Drood erstarrte, weil er so etwas noch nie zuvor erlebt hatte. Niemand lief davon, wenn man ihm das Herz genommen hatte.

Heaven tat es dennoch.

Sie rannte um ihr Leben.

Mr Drood sah ihr verwundert, aber ruhig hinterher. Sie zu verfolgen, wäre unnötig. Er hatte, weswegen er ihr gefolgt war.

Und der Lumpenmann war zwar ein guter Fährtenleser, aber kein Jäger. Er war schon zu lange nicht mehr lebendig, um das Mädchen verfolgen zu können. Normalerweise, dachte Mr Drood, rennen sie ja auch nicht fort, nachdem man ihnen das Herz genommen hat.

Als wolle er sich seiner Tat sicher sein, betrachtete er erneut das Herz in seiner Hand. Dann schüttelte er den Kopf und steckte es in den großen Lederbeutel, den er eigens zu diesem Zweck hatte anfertigen lassen, von einem alten Kürschner in Soho.

Der Lumpenmann stieß einen Laut aus, der wie ein trockenes Husten klang.

»Wir haben, was wir brauchen«, sagte Mr Drood zu dem Lumpenmann. Der Lumpenmann, an dessen Kleidung trockene Erde haftete, erwiderte nichts. Die beiden schauten dem Mädchen hinterher, und als sich ihre Silhouette in der Ferne verlor, da gingen sie ihres Weges. Denn die Nacht war noch jung – und der Auftrag, der Mr Drood und den Lumpenmann nach Kensington geführt hatte, war noch nicht ganz erledigt.

1. Kapitel Wie es begann, in finsterer Nacht

Er war nicht zum ersten Mal des Nachts unterwegs und auch die Dächer in dieser Gegend waren ihm bekannt. Ziemlich oft nahm er den Weg über die Ziegel und Zinnen, an manchen Tagen (oder in manchen Nächten) ging es einfach schneller.

David Pettyfer hatte sich den langen Schal eng um den Hals geschlungen, den Kragen der alten fleckigen Lederjacke hochgeschlagen und die Hängetasche mit den Flicken geschultert, ein letztes Mal geprüft, ob die kostbare Fracht auch sicher verstaut war, und dann war er in die Nacht hinausgegangen. Er mochte diese nächtlichen Ausflüge, weil die Stadt anders war, wenn die Sonne nicht mehr schien. Die vielen Lichter webten einen geheimnisvollen Zauber in die Straßen und Gassen und brachen sich in dem zarten Schleier aus Nebel und Nieselregen, der so typisch für London war. Alles wirkte auf eine schmutzige Art und Weise verwunschen, als seien die Märchen, an deren Wahrheiten man als kleines Kind glaubte, erwachsen geworden.

David mochte den Geruch der Stadt.

David mochte London.

Nur das ganz und gar und immerzu sternenlose Stück Firmament über der City war etwas, an das er sich nie richtig gewöhnt hatte. Seitdem er zurückdenken konnte, gab die Nacht hoch über der City den Menschen Rätsel auf, aber da niemand des Rätsels Lösung gefunden hatte, hatten sich die meisten damit abgefunden. Nur ihm wollte das nicht so recht gelingen. Sein Kumpel Mike hatte ihn deswegen oft genug ausgelacht.

David strich sich sein braunes zotteliges Haar aus der Stirn, sodass es wie eine wild gewordene Tolle abstand. Vollkommene Finsternis hing dort drüben, wo sich die Kuppel von St. Paul’s erhob. Kein einziger Nadelstich aus Funkeln und Licht durchstach die Schwärze.

Das nächtliche Hupkonzert unten auf der Kensington High Street klang durch die Lüfte. Die wahre Musik der Nacht, so hörte sie sich an.

David suchte seinen Weg über die Zinnen und Dachrinnen und schmalen Pfade zwischen den Dächern und achtete besonders auf die schimmernden rutschigen Stellen. Wie in allen Außenbezirken Londons funkelten hier die Sterne und schien der Mond. Nicht nur deswegen war er gerne hier draußen unterwegs.

Bevor er mit seinen Botengängen begonnen hatte, hätte David nie vermutet, wie viele Menschen hoch oben über den Dächern der Stadt lebten. Es war eine eigene Welt, die sich auftat, mit jeder Menge Schleichwege, Leitern und Schrägen, enge Passagen und Vorsprünge, die wie Brücken waren.

Mit der Zeit hatte David sich diese Welt erschlossen. Es gab Treppenhäuser, die allzeit offen waren, und Bäume, auf deren Ästen man die Straßenschluchten überqueren konnte. Es gab aber auch Fallwinde hier oben, jähe Böen. Ein einziger Fehltritt konnte einen in den nächsten Abgrund zerren.

David nutzte einen Mauervorsprung, um mit Schwung auf das nächste Dach zu wechseln. Er trug rote Chucks, wie immer. Der Rest seiner Kleidung war schwarz. Pullover, Jeans, Gürtel – alles schwarz. Auch wie immer.

Der Kunde, zu dem er unterwegs war, würde bereits ungeduldig warten. Die kostbare Fracht, die David bei sich trug, war die französische Luxusausgabe des Romans Die Braut von Lammermoor von Walter Scott, herausgegeben im Jahre 1886 von Firmin-Didot und versehen mit den Illustrationen von Brown, Godefroy und einer Reihe weiterer Zeichner. Ein UPS-Kurier hatte sie am frühen Abend in den Buchladen gebracht und sich einen Stapel Papierkram abzeichnen lassen. Und Miss Trodwood, die Eigentümerin von The Owl and the Pussycat, hatte darauf bestanden, dass David die Ware noch in dieser Nacht nach Kensington lieferte. Die Kunden, die Bücher wie dieses orderten, wollten nicht länger als nötig warten.

David hatte die U-Bahn bis nach Kensington High Street Station genommen, aber dann beschlossen, den Rest des Weges hier oben zurückzulegen. Er mochte die U-Bahn nicht sonderlich. Das Gefühl, unter der Erde eingesperrt zu sein, war etwas, auf das er gerne verzichtet. Wie so oft war er auf die Wege der Schornsteinfeger ausgewichen, an die frische Luft, wo er den Kopf freibekommen konnte.

Etwas, das er heute besonders nötig hatte. Denn David wollte endlich vergessen, was ihm seit Tagen schon Kopfzerbrechen bereitete. Natürlich wusste er, dass die Probleme, die er mit sich herumtrug, nicht zu der Sorte von Problemen gehörten, die Welten verändern und die Geschicke der Menschheit lenken.

Nein, das, was ihm zusetzte, war eigentlich in höchstem Maße banal, nichts, was andere Jugendliche nicht auch durchmachten.

Er war siebzehn Jahre alt und hatte festgestellt, dass er die junge Frau, mit der er gerade einmal zwei Monate auf eine Art zusammen gewesen war, die man nicht unbedingt als glückliche Beziehung hätte beschreiben können, nicht liebte. David wusste natürlich, dass die BBC aus einer Beziehungsgeschichte wie dieser ein Fernsehdrama hätte machen können, das sogar den East Enders den Rang abgelaufen hätte, aber er wollte der ganzen Sache nicht mehr Raum in seinem Leben zugestehen, als sie verdiente.

Er hatte einen Fehler gemacht und Kelly auch.

Mit einem Poltern landete er auf einem Dach am Phillimore Walk, schwang sich an einem Schornstein vorbei und rannte auf den schrägen Kaminkehrerwegen weiter.

Wenn er über die Dächer lief, dann wurde ihm bewusst, wie nah man sich doch die meiste Zeit über an einem Abgrund bewegt, der nur darauf wartet, einen zu verschlingen. David wusste, wie leicht man Gefahr laufen konnte, den Halt zu verlieren und abzustürzen, tief, tief hinab, wo die Menschen nur kleine Punkte sind, die wie Ameisen ihren eigenen kleinen Zielen entgegenwuseln. Ihm war klar, wie nah er dem Abgrund gewesen war, und es wurde Zeit, dass er endlich wieder Boden unter den Füßen fand. Und dazu gehörte auch, Kelly Robertson aus dem Weg zu gehen.

Er hielt kurz inne und atmete tief durch.

Die Gerippe der kahlen Bäume, die im Sommer so grün waren, dass es fast so aussah, als wüchsen regelrecht Wälder und Wiesen hoch über der Stadt, berührten überall die Regenrinnen, in denen kalte Rinnsale plätscherten. Bei starkem Regen war es gefährlich hier oben, aber wenn es nieselte oder nur neblig war, hielt sich das Risiko in Grenzen.

Oben am Firmament zog eine Sternschnuppe ihre Bahn und fiel mitten nach Bloomsbury hinein. Ihr glänzender Schweif, zart wie die gerade geborenen Worte, die ein Federkiel auf Pergament schreibt, glühte kurz über den Dächern auf und schien in dem Augenblick, bevor er gänzlich verschwand, zu den Schwingen eines bunten Vogels zu werden, der hinüber zum Regent’s Park flog.

Magie. Es soll ja Leute geben, die an sie glauben, dachte er und seufzte fast gleichzeitig. Er war definitiv in ziemlich merkwürdiger Stimmung heute. Mike würde das wahrscheinlich dem Beziehungsstress zuschreiben und ihm raten, ein paar Pillen einzuwerfen, um endlich runterzukommen. Aber diese Zeiten waren endgültig vorbei, auch wenn er sich manchmal noch immer nach dem Kick sehnte. Oder vielmehr nach der Zeit des Vergessens.

David hatte in Cardiff gelebt, dort war er zur Schule gegangen. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er sich aus dem Haus geschlichen und war allein ins Kino gegangen. Er hatte sich einen Film mit Michael York und Jenny Agutter angeschaut: Flucht ins dreiundzwanzigste Jahrhundert. Der Film hatte ihm die Augen geöffnet. Im Film ging es um Menschen, die Gefangene in einer perfekten Welt sind.

David hatte das Gefühl gehabt, als würde er zum ersten Mal einen Blick auf die wirkliche Welt werfen können. Die Menschen waren blind und selbstsüchtig. Dumm. Ignorant. Anschließend hatten überall Probleme gelauert, in der Schule, in den Straßen und natürlich zu Hause. Sicher wusste er, dass die Probleme schon vorher da gewesen waren, niemand hätte das übersehen können. Doch bis dahin hatte er versucht, sie einfach zu ignorieren, damit zu leben, wie sein Vater es tat und auch seine kleine Schwester Geraldine.

Am Ende, als die Wände immer näher rückten, hatte er die meiste Zeit über nur geschwiegen. Das war die Zeit, in der er ohne Unterlass Nick Cave and the Bad Seeds gehört hatte. Kaum jemand brachte ein Wort aus ihm heraus, nur kümmerliche Fragmente, Halbsätze. Selbst wenn er sich wie so oft mit seinem Vater stritt, brach er manchmal mitten im Satz ab und ließ ihn einfach stehen. Er war immer seltener mit den Jungs in seiner Clique zusammen, die ihm so ähnlich waren, die wie er Schwarz trugen, amerikanische Comics lasen und nichts auf Fußball gaben. Sie rauchten, was es so gab, klauten, um sich neuen Stoff zu besorgen, und lebten das Leben, das ihnen absolut egal war.

Dann kam die Nacht, als David sein Zeug in einen Seesack gepackt hatte. Er hatte es nicht geplant, es war einfach etwas gewesen, was er hatte tun müssen. Er hatte keinen Abschiedsbrief geschrieben, nichts dergleichen. Nur seiner Schwester hatte er eine Nachricht hinterlassen: einen Zettel, auf den er einen Songtext der Band The Divine Comedy geschrieben hatte, versteckt im zerfledderten Booklet einer ihrer Lieblingsalben: Zooropa von U2.

Dann hatte er den Zug nach London genommen, ohne zu wissen, ob ihn das Leben dort weniger einengen würde. Sein Geld hatte gereicht, um sich eine Woche lang ein Bett in einer uralten Herberge am Ludgate Hill für zehn Pfund pro Nacht und Frühstück zu mieten.

Er hatte damit begonnen, sich mit Jobs durchzuschlagen. Als Botenjunge in der himmellosen City. Als Bedienung in den Kneipen von Notting Hill. Unten bei den Docks von Rotherhithe als Aushilfe in den Lagerhallen. Nach und nach hatte er sich auf zweifelhafte Geschäfte eingelassen, um schneller an Geld zu kommen. Und an Stoff. Das war die Zeit gewesen, als er nur mit Mike und den anderen herumgehangen hatte. Zu viele Monate, die er nicht unbedingt zurückhaben wollte.

Doch dann waren zwei Dinge auf einmal passiert, die Davids Leben nachhaltig verändern sollten.

Erstens: Er stieß auf The Owl and the Pussycat.

In London hatte er sich angewöhnt, durch die Stadt zu laufen und sich vom Tumult des Verkehrs treiben zu lassen. Er lief los, ohne Ziel, rastlos, als würde er vor etwas davonrennen, das er nicht recht benennen konnte. So kam er eines Tages in die Nähe von Seven Dials nahe der Charing Cross Road. Nur ein kleines Stück weiter, in der Earlham Street, traf er schließlich auf einen Buchladen namens The Owl and the Pussycat und sah ein Schild im Schaufenster. Es stand zwischen Türmen von Büchern und wirkte sehr schlicht. Der Inhalt war denkbar einfach auf den Punkt gebracht: Miss Trodwood suchte einen Gehilfen.

Genau das stand dort handschriftlich auf ein schäbiges Stück Pappe geschrieben. Einen Gehilfen für Allerlei suchte sie. Keinen Auszubildenden, keinen Buchhändler, keinen Gelegenheitsjobber, nein, einen Gehilfen. Und sie bot geregelten Lohn und Unterkunft.

David zögerte keine Sekunde. Es war dieser Wortlaut, der sein Herz eroberte. Er ging in den Laden hinein und bekam nach einem kurzen Gespräch die Stelle des Gehilfen. Miss Trodwood, eine richtige alte Lady wie aus einem Roman von Jane Austen oder Agatha Christie, zeigte ihm sein Zimmer im ersten Stock, direkt über dem Laden. David kündigte das Bett in der Herberge und zog in die Earlham Street.

Das war die erste Sache, die geschah.

Zweitens – war Folgendes passiert:

David freute sich gerade über die Wendung in seinem Leben, als er im Virgin Store am Piccadilly Circus eine CD klaute – und erwischt wurde.

Bis heute konnte er nicht sagen, warum er die CD eingesteckt hatte. Gewohnheit, Dummheit, Übermut, Langeweile, wie auch immer. Die CD war in seiner Tasche verschwunden, aus einer Laune des Augenblicks heraus. Das Cover hatte ihm gefallen und die Musik natürlich auch. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass er erwischt wurde. Er, der monatelang zusammen mit Mike in den Clubs im East End Drogen vertickt hatte, bekam – Ironie des Schicksals – jetzt eine Anzeige, weil er eine CD für knapp vier Pfund geklaut hatte.

Letzten Endes rettete ihm die Anstellung bei Miss Trodwood den Hals. Er hatte einen festen Wohnsitz, einen Beruf, dem er nachging, er war von der Straße.

Doch von nun an hatte er die Aufmerksamkeit der Behörden. Die Sozialarbeiterin, die von nun an ein Auge auf ihn haben sollte, kam jetzt regelmäßig in den Laden. Dann führte Mrs Robertson – »Du kannst mich auch Kelly nennen!« – Gespräche mit ihm und manchmal tranken sie Kaffee drüben im Eco-Café am Cambridge Circus. Sie machte sich Notizen in ein braunes Buch und beobachtete ihn aufmerksam.

Eines Abends stellte David fest, dass auch Sozialarbeiterinnen die Clubs in Clerkenwell besuchen. Kelly war achtundzwanzig, blond, sie hörte The Clash, U2 und Leonard Cohen. Er hatte sie im Bones getroffen, sie hatten sich im flackernden Licht angeschaut und dann getanzt, zu den Tindersticks, Glasvegas, The Cure und Muse.

David gestand sich ein, dass es eigentlich kein gutes Omen war, wenn man sich zur Musik von Linkin Park zum ersten Mal küsst.

»Könnte eine ziemliche Dummheit sein«, hatte sie geflüstert und ihr Parfum war lauter als die Musik gewesen.

»Dummheiten«, hatte David entgegnet, »sind da, um sie zu machen.« Dann waren sie auf der Toilette verschwunden. Blaues Licht, gedämpfter Beat durch die Wände, hastige Bewegungen. Sie streifte ihm ein Kondom über, während nebenan Marilyn Manson Tainted Love sang. Er drückte sie gegen die Wand, die voller schmutziger Graffiti war.

So fing es an.

Kelly und er waren so etwas wie ein heimliches Paar geworden und David mochte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, auch wenn sie sich nicht viel zu sagen hatten. Doch immer häufiger wurde Kelly von Schuldgefühlen geplagt und darüber hinaus hatte sie natürlich Bedenken, dass jemand von der Beziehung etwas mitbekam und sie sich jede Menge Ärger einhandeln könnte.

Sie war seine Sozialarbeiterin, er war noch minderjährig.

»Wir sollten das lassen«, sagte sie. Sie sagte es nicht am Telefon, sondern im Bett.

»Warum?«

»Weil es nicht richtig ist.«

»Das fällt dir jetzt erst ein?«

Sie hatte sich von ihm weggedreht. »Es war nie richtig.«

»Aber es hat dir Spaß gemacht.«

Sie funkelte ihn wütend an. »Dir doch auch.«

Er stand auf, zog sich an. Über ihrem Fernseher hing ein billiger Kandinsky-Druck, Ecken, Kanten, kaum Kreise, kalte Farben. Er nahm ein Glas vom Tisch und warf es mit aller Wucht gegen das Bild. Der Rahmen splitterte und die Scherben fielen zu Boden. Kelly sagte nichts. Dann verließ David ihre Wohnung und kehrte nicht mehr zurück.

Eine Windböe fuhr durch seine Haare und trieb ihm den Nieselregen, der merkwürdig kalt für den Londoner November war, ins Gesicht. Doch er achtete nicht darauf. Er starrte auf den Verkehr tief unter ihm in der Kensington Street. All die Menschen, sie rannten aneinander vorbei und manchmal kam es vor, dass sich zwei kennenlernten. Dass sie Dinge taten, die ihr Leben schön machten oder die sie bereuten, noch ehe die Nacht vorbei war.

David schüttelte den Kopf. Okay, er hatte Kelly nicht geliebt. Sie war nur eine der wenigen Menschen in London, die nett zu ihm gewesen waren. Im Grunde genommen war sie ihm egal. Und er hätte sich wirklich wieder Ärger eingehandelt, wenn sie zusammengeblieben wären. Aber trotzdem – er fühlte sich leer, irgendwie. Scheiße, warum konnte er sie sich nicht einfach aus dem Kopf schlagen?

Er holte tief Luft, zog sich den Schal fester um den Hals und setzte sich wieder in Bewegung. Sein Kunde, Mr Merryweather, wohnhaft am Phillimore Place Nr. 18 und ein glühender Verehrer der Werke Walter Scotts, wartete mit Sicherheit schon Pfeife rauchend und sich den Backenbart kraulend auf Miss Trodwoods Fund.

In gut zehn Metern Höhe über der Straße umrundete David den Häuserblock mit den Pappeln im Innenhof und erreichte Essex Villa, einen Block von seinem Ziel entfernt. Die Dächer waren hier etwas flacher, sodass er rasch vorwärtskam. Kurz darauf stand er vor dem schmalen Zwischenraum, der Nr. 16 Phillimore Place von Nr. 18 trennte. David nahm Augenmaß und sprang hinüber. Schon oft hatte er sich überlegt, die gefährlich rutschigen roten Chucks gegen festes Schuhwerk auszutauschen, aber er mochte die alten Treter nun mal.

Der Schwung des Sprungs warf ihn nach vorne. Er griff nach einem aus dem Dach lugenden Blitzableiter, hielt sich daran fest und bremste im Weiterlaufen ab.

Dann spürte er einen Widerstand, wo er keinen vermutet hatte. Er stolperte und fiel über den Körper eines Mädchens, das auf dem Dach neben einem alten Teleskop hockte. Im Dämmerlicht hatte er sie nicht bemerkt – außerdem hatte er nicht damit gerechnet, hier oben jemanden anzutreffen.

Dunkle Haut, lange dunkle Haare.

Das sah er noch, dann war er vorbei, er rutschte über das Dach und spürte, wie ein scharfer Schmerz seine Schulter durchzuckte.

Seine Hände griffen ins Leere, er ruderte mit den Armen und versuchte, auf den nassen Ziegeln Halt zu finden. Seine Finger schrammten über die rauen Oberflächen der alten Dachabdeckung, verzweifelt krallte er nach jedem Vorsprung, der sich ihm bot, und doch dehnten sich die Sekunden bis zu einer halben Ewigkeit, als er endlich in Schräglage an einem Vorsprung hängen blieb.

Für einen Moment blieb er regungslos liegen. Sein Atem durchschnitt keuchend die Stille.

Mann, das war knapp gewesen! Wie hatte er nur so nachlässig sein können! Er hob den Kopf und spähte vorsichtig in die Tiefe. Die alten, um die vorletzte Jahrhundertwende entstandenen Häuser hier in Kensington waren nicht hoch zu nennen, David war weitaus größere Höhen gewohnt, aber drei oder vier Stockwerke reichten auch, um in den Tod zu stürzen.

Langsam rappelte er sich auf, kam auf die Knie und sah sich um.

Phillimore Place Nr. 18 hatte ein spitzes Dach mit einigen Erkern, aber an der Stelle etwas weiter oberhalb, an der das Mädchen kniete, war ein flacher Vorsprung wie ein kleiner Balkon eingelassen. Eine niedrige Mauer trennte ihn von dem übrigen Dach. Der Boden war nass vom Nieselregen und der Rauch quoll wie dunkler Nebel aus den Schornsteinen der Nachbarschaft.

Das Mädchen hob den Blick und sah ihn aus tiefdunklen Augen an.

»Was zur Hölle machst du hier oben?«, fragte David.

»Ich . . .« Sie schluckte die Worte hinunter. Dann sah sie sich hektisch um, als würde sie nach jemandem suchen. Sie wirkte wie jemand, der gerade bei irgendetwas ertappt worden war.

»Alles in Ordnung?«, fragte David mechanisch. Er überprüfte den Inhalt der Tasche und stellte erleichtert fest, dass es Walter Scott noch gut ging.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«

Er kletterte zu ihr hinauf und kniete sich neben sie. »Hast du dir was getan?«

»Nein, du bist nur über mich gestolpert. Hat nicht wehgetan.«

Frag mich mal, dachte er, aber er verbiss sich die Bemerkung.

»Wie bist du hier raufgekommen?«, fragte er stattdessen.

»Ich bin eingebrochen«, antwortete sie.

»Eingebrochen?« Er zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe und hockte sich auf den kleinen Mauervorsprung. Für einen Moment musterte er sie schweigend, während er seine schmerzende Schulter rieb.

David war es gewohnt, Menschen einzuschätzen, und meistens behielt er recht mit dem, was er auf ersten Blick sah.

Das Mädchen war groß, fast so groß wie er, und schlank, wie jemand, der keinen Sport machen musste, um gut auszusehen. Wenn sie sich bewegte, dann waren diese Bewegungen wie eine Melodie, die einem leicht über die Lippen kommt. Und sie war schön. Nicht schön wie gut aussehend, sondern atemberaubend schön.

Ihre Züge waren klassisch geschnitten. Die olivfarbene Haut schimmerte im Licht des Mondes und ihre langen, offenen Haare fielen über ihren Rücken.

Ihre Klamotten waren schlicht, nicht gerade warm für die Jahreszeit, als schien sie nicht recht darauf geachtet zu haben, was sie anzog. Aber eindeutig teuer. Ihre Stiefel kosteten vermutlich so viel, wie er bei Miss Trodwood in sechs Monaten verdiente.

»Eingebrochen?«, wiederholte er ungläubig, weil sie noch immer schwieg.

»Ja, unten. Durch die Tür, ganz einfach. Hinein ins Treppenhaus, und . . .« Sie sah ihn erschöpft an. »Ich wollte die Sterne sehen«, sagte sie.

Eine reichlich vage Aussage, dachte David und betrachtete das Teleskop, das zerbrochen war und dessen Splitter überall auf dem Boden verstreut lagen.

»Kannst du mir helfen?«, fragte sie. Ganz allmählich schien sie ihre Fassung zurückzugewinnen.

Wobei?, dachte er.

Aber gleichzeitig nickte er schon.

Sie versuchte aufzustehen, doch sie wankte. David sprang auf und half ihr auf die Beine. Sie war ganz leicht.

»Du bist eiskalt«, bemerkte er, als ihre Hand die seine berührte.

»Jemand ist hinter mir her«, sagte sie. »Hier oben.«

»Jemand?«

»Männer.«

David unterdrückte ein Stöhnen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ärger mit irgendwelchen Typen, darauf konnte er definitiv verzichten. Oder – korrigierte er sich insgeheim – er sollte darauf verzichten. Es sei denn, er wollte Besuch von seiner neuen Sozialarbeiterin.

»Welche Männer?«, fragte er.

»Böse Männer.«

David musste an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Das wurde ja immer besser!

»Du meinst, böse Männer wie im Märchen?«

Sie blieb ernst. »Ein Mann mit Handschuhen und ein Kerl in Lumpen.«

Aha. Handschuhe und Lumpen. »Und was wollten sie von dir?«

»Sie haben mir das Herz genommen, glaube ich.« Ihre Augen waren so dunkel, dass er sie nicht richtig erkennen konnte.

»Wie meinst du das?«

»Genau so, wie ich es sage.« Sie berührte ihre Brust. »Da schlägt kein Herz mehr.« Sie kämpfte mit den Tränen, ihre Hände fummelten nervös an dem Reißverschluss ihrer Jacke herum. »Er hat es herausgeschnitten.« Sie schluckte. »Aber da ist keine Wunde. Ich . . . ich habe nachgeschaut.«

David starrte sie an.

»Hier!« Plötzlich war sie dicht neben ihm und ergriff seine Hand. Dann öffnete sie ihre Jacke und legte die Hand auf ihre Brust, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

David fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Eindeutig gehörte seine Hand nicht dorthin, wo sie gerade lag. Er schaute in die dunklen Augen und dann fühlte er es unter dem dünnen Stoff des Shirts.

Da war ihr rhythmischer Atem, das sanfte Auf und Ab ihrer Brust, und unter der Eiseskälte, die von ihrer Haut auszugehen schien, war es deutlich zu spüren.

Oder vielmehr – es war eben nicht zu spüren.

Ruckartig zog er seine Hand zurück.

»Siehst du?« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Ich war hier oben. Sie sind von hinten gekommen und haben mich überwältigt. Der Typ mit den Handschuhen hatte das Messer. Danach bin ich einfach weggelaufen, vom Dach runter, in die Straßen, irgendwohin. Sie sind mir nicht gefolgt, glaube ich.«

David starrte sie noch immer an und versuchte, trotz der Dunkelheit in ihren Augen zu lesen. Was er dort fand, war echte Angst. Todesangst.

»Warum bist du zurückgekommen?« Er fragte es, weil ihm nichts anderes einfiel. Weil die ganze Situation so verrückt war, dass er das Gefühl hatte, er müsste irgendetwas von sich geben.

Sie berührte das Teleskop, das zerbrochen vor ihnen lag. »Ich wollte das hier nicht zurücklassen. Mein Vater hat es mir geschenkt, es ist mir wichtig.«

David schüttelte den Kopf. Mann, das hier war eindeutig das Verrückteste, was er je erlebt hatte!

»Niemand kann ohne Herz leben«, sagte er und verdrängte den Gedanken, dass er eben ihren Herzschlag hätte spüren müssen. Seine Hand hatte direkt auf ihrer Brust gelegen, durch den dünnen Stoff hätte er es fühlen müssen. Trotzdem, das konnte einfach nicht sein.

»Niemand kann ohne Herz sein«, wiederholte er noch einmal. »Geschweige denn, laufen.«

»Ich weiß«, sagte sie niedergeschlagen. Tränen flossen ihr jetzt übers Gesicht und gefroren zu kleinen Eiskristallen. Sie wischte sie hinfort. »Aber ich bin doch hier, oder? Und ich lebe?«

David betrachtete sie. Sie trug eine dunkelgrüne Jacke mit Reißverschluss, der offen stand, darunter ein orangefarbenes Shirt.

»Ich bin David.« Er fand, dass es an der Zeit war, sich vorzustellen. Irgendwie Ordnung in die Geschichte zu bringen.

»Heaven«, sagte sie.

Er sah sie an.

»Keine Witze wegen meines Namens«, bat sie.

David zuckte die Schultern. »Wäre mir nicht in den Sinn gekommen.«

Eine Weile standen die beiden schweigsam da. David hatte das Gefühl, als würden Stunden um Stunden vergehen, aber vermutlich war es kaum mehr als ein Wimpernschlag, der schmetterflügelzart vorüberflog. Der kalte Nieselregen setzte erneut ein und der sanfte Nebel, den er heraufbeschwor, wurde zu einem Vorhang aus unsichtbarer Seide.

David überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Irgendetwas war mit ihr passiert und er hatte keine Ahnung, was es war. Wer wusste schon, was für Zeug sie genommen hatte? Oder diese Männer, von denen sie sprach, waren tatsächlich hier oben gewesen. Was, wenn sie sie vergewaltigt hatten und sie in ihrem Schock nun wirres Zeug redete?

»Ich sollte dich in ein Krankenhaus bringen.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Sie nickte. »Würdest du das tun?«

»Das nächste ist das St. Mary Abbot’s Hospital.« Er zeigte über die langen Dächer südwärts. »Es ist gleich dort drüben.«

Sie gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Hat man Jimi Hendrix nicht auch dorthin gebracht?«

David zuckte die Achseln. »Das hat, glaube ich, nichts zu bedeuten.«

Mit einem Mal wurde sie wieder unruhig. »Können wir jetzt gehen?«, drängte sie. Ihr Blick flog über die Dächer der umliegenden Häuser wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel.

»Was ist mit den Männern?«, fragte er. »Hast du eine Ahnung, was sie von dir wollten?«

»Sieht so aus, als hätten sie es nur auf mein Herz abgesehen.«

David hielt inne, seufzte. Überdachte seine Worte. »Hör zu«, sagte er und betonte ihren Namen besonders deutlich: »Heaven.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, auf was für einem Trip du genau bist, aber das hier ist nicht die Wirklichkeit. Keiner kann ohne Herz leben. Was immer dir diese Männer angetan haben, du stehst hier vor mir und redest. Du atmest. Du bist lebendig.«

Sie sah ihn an und sagte nur: »Ich weiß.«

Und es war der Ton in ihrer Stimme, der jeden Widerspruch im Keim erstickte.

»David?«

Merkwürdigerweise fiel ihm auf, dass sie ihn das erste Mal beim Namen nannte.

»Ja?«

Sie sah ihm fest in die Augen. »Ich bin nicht verrückt.«

Er erwiderte ihren Blick, sagte aber besser nichts.

Doch schließlich: »Wo wohnst du?«

»Wie meinst du das?«

»Ich kann dich nach Hause bringen.« Er war sich auf einmal nicht sicher, ob das Krankenhaus der richtige Weg war. Er stellte sich vor, wie sie die Notaufnahme betreten würden. Er würde einem Arzt sagen, dass seine Begleiterin, die auf den klingenden Namen Heaven hörte, kein Herz mehr hatte.

Klar doch!

Okay, er würde dem Arzt sagen, dass sie nur glaubte, kein Herz mehr zu haben. Was aufs Gleiche herauskam. Keine Frage, wie man sie behandeln würde. Wenn sie Glück hatte, würde man sie nicht ernst nehmen. Wenn sie Pech hatte, würden sie den psychologischen Dienst rufen.

In jedem Fall würde es die Art von Ärger geben, auf den er verzichten musste. Außerdem wartete Mr Merryweather auf seinen Walter Scott.

»Marylebone«, sagte sie. »Ich wohne auf einem Boot. In Little Venice.«

»Allein?«

»Ich bin alt genug.« Jetzt klang sie schnippisch.

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Klang aber so.«

»Hey, ich wollte dir nur meine Hilfe anbieten«, sagte David. »Ich treffe nicht alle Tage jemanden hier oben.«

Wieder kehrte Stille ein.

Dann ergriff David die Initiative. »Okay, Heaven«, sagte er. »Ich bring dich nach Marylebone. Zu deinem Boot. Aber dann musst du allein klarkommen. Ich habe noch zu tun.«

Sie nickte und lächelte.

Und David Pettyfer, der nicht genau wusste, warum er das alles tat, ging voran, während Heaven ihm folgte.

So begann es jedenfalls, in finsterer Nacht.

2. Kapitel Die bösen Männer

Das Treppenhaus von Nr. 16 war alt und tief und die gusseisernen Geländer liefen spiralförmig abwärts wie die Rippenbögen eines längst vergessenen großen Tieres.

David ging voraus. Sein Entschluss stand fest. Er würde das Mädchen bis hinüber nach Marylebone und zu ihrem Hausboot bringen und dann könnte er guten Gewissens nach Hause gehen und die Sache vergessen. Sie wäre in Sicherheit, denn dort würde schon jemand sein, der sich ihrer annahm und der sich um sie kümmern würde. Mädchen, die so aussahen wie Heaven, hatten immer jemanden, der für sie da war und der sich um sie kümmerte. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Ihr kaputtes Teleskop hatte sie in einen Rucksack gesteckt. Sie schien darum zu trauern wie um ein totes Haustier, so sorgsam hatte sie es angefasst.

»Langsamer, bitte«, keuchte sie plötzlich hinter ihm. Ihr Atem ging schnell und ihre Hände hielten krampfhaft das Geländer umklammert.

David blieb stehen und sah sich um. »Alles okay?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist schwindlig.«

Er ging die wenigen Treppenstufen zu ihr hinauf. »Du siehst ziemlich fertig aus.«

»Danke.« Die Kraft, schnippisch zu sein, brachte sie immerhin noch auf.

»So war das nicht gemeint.«

»Entschuldige, schon gut.«

David musterte sie. »Wenn ich ehrlich bin, siehst du so aus, als würdest du gleich umkippen.« Er schaute nach unten. Normalerweise machte es jemandem zu schaffen, wenn er so viele Treppenstufen hinauflaufen musste, aber nicht, wenn er sie runterlief. Und Heaven sah mehr als nur ein wenig sportlich aus.

Doch irgendwelche Drogen?

»Hör mal, hast du was genommen?«, fragte er.

Der Blick, der ihn traf, war so voller klirrend kalter Verachtung, dass er fast zurückgezuckt wäre.

»Okay, okay«, sagte er beruhigend und überlegte. »Möchtest du dich setzen?«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich will nicht, dass jemand bemerkt, dass wir hier sind.«

David schaute zu den Wohnungstüren auf dem Treppenabsatz. Der Flur davor war verlassen, im Treppenhaus herrschte Stille. »Keine Angst«, sagte er. »Wenn jemand fragt, was wir hier tun, dann behaupte ich einfach, dass ich mich im Haus geirrt habe.«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Das Buch«, erklärte David und war sich nicht sicher, ob er es vorher schon einmal erwähnt hatte. »Ich muss ein Buch ausliefern, mein Kunde wohnt hier gleich nebenan. In Nr. 18.«

»Ach so.« Sie schwieg einen Moment, dann hob sie den Blick. »Was starrst du denn so?«, fragte sie. Ihre Hände zitterten sichtbar.

»Ich starre nicht.«

Was gelogen war. Natürlich starrte er. Sie sah wirklich klasse aus. So unglaublich schön. Mysteriös. Sie war ein Rätsel.

»Klar starrst du.«

»Ich schaue dich nur an.«

»Sag ich doch.«

»Nein, du hast gesagt, ich starre dich an. Ich habe nicht gestarrt. Starren wäre unhöflich.«

»Du hast also nur geschaut.«

Er verzog seinen Mund zu einem leichten Grinsen. »Ja.«

»Und?«

»Ich frage mich bloß, was mit dir los ist.«

Die Stille wurde lauter. »Ich muss nach draußen«, sagte Heaven schließlich. »An die frische Luft. An der frischen Luft wird es mir gleich wieder besser gehen.« Doch zweifelnd flüsterte sie: »Glaube ich.« Murmelte: »Hier ist es einfach verdammt stickig.«

»Okay.« David verstand zwar nicht, was sie meinte, denn im Treppenhaus war es nach dem ekligen Novemberregen draußen wohlig warm, aber egal. »Komm, gib mir die Hand.« Er reichte sie ihr. »Wenn du die Treppe runterfällst, dann kannst du dir alle Knochen brechen.« Sein Grinsen wurde breiter. »Ich werde auch nicht starren, versprochen.«

Sie musste lachen, doch als sie einen Schritt auf ihn zutrat, wurden ihr die Knie weich und sie klammerte sich mit aller Kraft ans Geländer. David schob seinen Arm unter ihre Achseln und hielt sie fest. Ihr Haar roch nach Zimt und Zitrone und ihr Atem war so flüchtig wie Nebel an einem kühlen Tag im Frühling.

Sie fühlte sich kalt an, unnatürlich kalt.

»Kannst du weiter?«, fragte David. Vielleicht hatte sie recht und sie brauchte wirklich nur frische Luft?

»Ich glaub schon«, murmelte sie, nickte vorsichtig und setzte sich in Bewegung.

Sie brachten die Treppe hinter sich, Stufe um Stufe, langsam und vorsichtig. Er hielt sie fest und sie vertraute seinen Bewegungen. Die Haustür war nicht verschlossen und einen Moment später schlichen sie nach draußen auf den Phillimore Place.

Die kalte Luft schlug ihnen entgegen und David fröstelte unwillkürlich. Die Straße war verlassen. Nichts los in dieser Gegend, nicht um diese Uhrzeit am Abend. Einige Autos parkten unter den Gerippen kahler Bäume, doch kein Mensch war zu sehen.

Heaven atmete tief durch und sah plötzlich viel kräftiger aus. Sie wirkte verlegen und völlig durcheinander. »Keine Ahnung, was das eben war.«

»Hauptsache, es geht wieder.« David löste sich von ihr. »Da drüben wohnt mein Kunde«, sagte er und tippte seinen Rucksack an. »Was dagegen, wenn ich kurz Walter Scott abgebe? Dann bringe ich dich nach Hause.«

Heaven schaute sich unruhig um. »Kann ich mitkommen?«, fragte sie.

»Nur zu!« David ging voran. Er sprang die Stufen zum Eingang von Nr. 18 empor und klingelte.

Heaven stand hinter ihm und spähte vorsichtig die Straße hinauf und hinab.

»Keine Angst. Die Typen sind weg«, sagte David beruhigend und merkte selbst, wie merkwürdig seine Worte klangen. Was tat er hier eigentlich? Glaubte er selbst schon an die Geschichte von zwei bösen Männern, die durch die Gegend liefen und Herzen klauten?

Natürlich nicht. Aber er hatte plötzlich das Gefühl gehabt, irgendetwas sagen zu müssen, was sie trösten würde. Denn Trost schien das Einzige zu sein, was ihr jetzt helfen konnte.

»Da kommt jemand.« Sie deutete zur Tür.

In der Tat, nur Sekunden später öffnete Mr Merryweather und stand wie ein Relikt aus Große Erwartungen im Türrahmen. Er trug einen langen Hausmantel mit überaus hässlichem Muster und karierte Pantoffeln. Die Meerschaumpfeife, die er in der Hand hielt, qualmte vor sich hin.

»Ah, David Pettyfer«, begrüßte er David überschwänglich und bedeutete ihm einzutreten. Dem Mädchen warf er wachsame Blicke zu. »Und wer sind Sie, junge Dame?«

»Ich bin Davids Freundin«, sagte Heaven schnell.

David schwieg. Spontan war sie ja, das musste man ihr lassen.

»Heaven Mirrlees.«

Zum ersten Mal nannte sie ihren vollen Namen. Er passte zu ihr.

Mr Merryweather lächelte und kraulte sich den Backenbart. »Du hast einen guten Geschmack, Junge.« Er winkte Heaven hinein.

»So ist es weniger auffällig«, raunte sie David im Vorbeigehen zu.

David fragte sich, was daran auffällig sein sollte, dass ihn ein Mädchen begleitete, aber da war sie auch schon an ihm vorbei und lief hinter Mr Merryweather her in den Salon.

Klein war das Zimmer und gemütlich. Es roch nach warmem Tabak und alten Büchern, nach Druckerschwärze an den Fingern und ausgelesenen Zeitungen, die auf dem Tisch lagen und auf denen sich Teekannen und Tassen und die Reste von Gebäck stapelten. Hohe Regale standen an den Wänden mit der bunt gemusterten Tapete zwischen der Holzvertäfelung. Um den Tisch herum: Ohrensessel und eine uralte Stehlampe mit Bommeln am Lampenschirm.

David stellte seinen Rucksack auf den Boden, öffnete ihn und kramte darin herum. Dann beförderte er äußerst vorsichtig eine hölzerne Schatulle hervor. »Da ist er«, verkündete er feierlich, öffnete die Schatulle und nahm das Buch heraus. »Walter Scott: Die Braut von Lammermoor.«

Mr Merryweathers Augen leuchteten auf und in diesem Moment konnte man sich vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen hatte. »Endlich, endlich«, flüsterte er voller Ehrfurcht.

Heaven beobachtete ihn genau.

Mr Merryweather nahm das Buch in seine Hände, schlug es auf und ließ seinen Finger über die erste Seite fahren. Er roch an dem Papier und blätterte weiter.

»Ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«, fragte David höflich.

Mr Merryweather lachte. »Es ist tatsächlich die Ausgabe von Firmin-Didot. Unglaublich.«

David schloss den Rucksack. Dann stellte er die Schatulle auf den Tisch. »Dann gefällt es Ihnen also?«

»Gefallen?« Mr Merryweather lachte glucksend. »Es ist wunderschön.« Er schaute zu Heaven. »Ist es doch, oder?«

»Es sieht verletzlich aus«, sagte Heaven ernst.

Mr Merryweather streichelte über den Buchdeckel. »Es erinnert mich an meine Frau«, sagte er leise. Er ging zum Fenster und sah für einen Moment schweigend auf die Straße. Dann drehte er sich wieder zu ihnen um. »Ihr müsst wissen, ich habe Mrs Merryweather in einem Theater kennengelernt, drüben in Islington.« Seine Stimme ging in einen gemütlichen Tonfall über. »Ich war sofort verliebt in sie. Und als ich sie in der Pause ansprach, da brauchte ich fast eine Viertelstunde, um herauszufinden, dass sie blind war. Sie konnte das sehr gut verstecken.« Während er sprach, betrachtete er unentwegt das Buch in seiner Hand. »Sie hat Bücher geliebt.« Er seufzte, hielt inne. »Das ist jetzt lange her. Lange, lange Zeit. Mrs Merryweather verstarb, als Mrs Thatcher ihre Reden im Parlament schwang.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Wie schnell die Zeit doch vergeht.« Er lachte versonnen. »Wie auch immer, diese Geschichte hier habe ich ihr unzählige Male vorgelesen.«

»Das ganze Buch?«, staunte Heaven.

Er zwinkerte ihr zu. »Wir haben hier gesessen, in diesem Raum, immer bei Kerzenschein. Wisst ihr, sie konnte den Schein der Kerzen spüren. Sie hörte sie förmlich flackern. Ich habe ihr alles vorgelesen und sie hat die Bilder berührt, die ich ihr beschrieben habe. Die Illustrationen . . . sie hat gesagt, dass sie die Bilder in Gedanken sehen kann.« Mr Merryweather hielt inne. »Aber das war später«, murmelte er. »Viel später.«

David warf Heaven einen Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass er hier war und Mr Merryweather eines der Bücher lieferte, die Miss Trodwood für ihn ausfindig gemacht hatte. Und jedes Mal erzählte der alte Mann seine Geschichten. Er fing bei seiner verstorbenen Frau an und hörte beim Zweiten Weltkrieg auf. David mochte das irgendwie, es erinnerte ihn ein bisschen an seinen Großvater, der zuletzt nicht mehr gewusst hatte, welcher Tag es war, aber jedes Detail seiner Zeit als Matrose auf einem U-Boot im Kalten Krieg im Gedächtnis hatte.

Aber auch wenn David gerne hier war, war er sich nicht ganz sicher, was andere von Mr Merryweathers alten Geschichten hielten. Ihm fiel Kelly ein und er überlegte, wie sie reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie die Erzählungen des alten Herrn als seniles Gequatsche abgetan, oder noch schlimmer, versucht, ihn zu einer dieser entwürdigenden Veranstaltungen in einem sogenannten Seniorenzentrum zu überreden.

David sah Heaven an.

Heaven hörte gespannt zu.

»Als wir frisch verheiratet waren«, fuhr Mr Merryweather fort, »da lebten meine Frau und ich in einem großen Haus oben in Hampstead Heath. Wir waren noch so jung. Eines Nachts kamen die Bomber.« Er schlug hart mit der Faust auf den Tisch. »Der verdammte Blitzkrieg, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für eine Zeit gewesen ist. Damals war noch ein richtiges Firmament über der City zu sehen. Nicht dieses sternenlose Nichts, das heute dort ist.« Er schüttelte den Kopf und nahm einen Zug an der Pfeife. »Nun denn, die Deutschen kamen in der Nacht und wir haben uns wie die Ratten unten in der U-Bahn verkrochen, während es über uns gedonnert hat.« Er ging auf und ab, betrachtete das Buch dabei. »Das Haus, in dem wir damals lebten, wurde eines Nachts getroffen. Gas trat aus. Es gab ein Feuer. Die Bücher, die mein Vater gesammelt und dann mir gegeben hatte, sie verbrannten alle.« Er klopfte auf den Walter Scott. »Der hier gehörte dazu.«

»Das Buch, aus dem Sie immer vorgelesen haben?«, fragte Heaven.

Mr Merryweather nickte. »Das allererste Buch.«

Heaven rieb sich die Augen.

»Als meine Frau von mir gegangen war, wollte ich es wieder besitzen. Es wird einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek einnehmen. Tausend Dank an die gute Miss Trodwood. Sie findet wirklich immer alles.«

Heaven wankte. »Was werden Sie damit tun?«

David fragte sich, ob sie eine Ahnung hatte, wie viel Geld der alte Herr für diese Ausgabe bezahlt hatte.

»Ich werde meiner Frau wieder daraus vorlesen«, sagte Mr Merryweather. »Ich werde ihr Bild dort drüben auf der Kommode aufstellen und ihr vorlesen, wie damals. Und wir werden uns nahe sein. Ja, wie früher.«

Heaven lächelte. Sie hielt sich an der Lehne des Ohrensessels fest und dann strauchelte sie.

»Geht es Ihnen gut, Kind?«, fragte Mr Merryweather besorgt.

David war schon bei ihr.

Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist schwindlig«, stammelte sie. Ihre Hand berührte die Stelle, an der ihr Herz war. Oder gewesen war, wie sie glaubte. Dann ging sie in die Knie.

David fing sie auf. Mr Merryweather legte das Buch auf die Kommode.

»Sie muss an die frische Luft«, sagte David schnell.

Mr Merryweather eilte voran zur Tür. Er war ganz aufgeregt und zupfte sich fortwährend an seinem Backenbart.