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„Nicole LePera ruft zu einem lebensverändernden Perspektivwechsel auf: Sie ermächtigt uns dazu, uns nicht auf andere zu verlassen, sondern unsere Heilung selbst zu steuern. Mit ihrem Buch bekommen wir das Werkzeug dafür in die Hand.“ Dr. Sheila de Liz, Ärztin und Bestseller-Autorin
Mit ihrer Plattform »The Holistic Psychologist« hat die US-amerikanische Psychologin Nicole LePera nicht weniger als eine Revolution auf dem Psychologie-Sektor begründet. Ihr Ansatz: Fast jeder von uns hat in der Kindheit Traumata und seelische Verletzungen erlitten, die unser Leben nachhaltig beeinflussen. Und wir selbst haben es in der Hand, uns davon zu befreien – wenn wir die richtigen Tools kennen, uns die Erkenntnisse der Mind-Body-Medizin zunutze machen und unsere Selbstheilung auf allen Ebenen anstoßen.
Mit LePeras ganzheitlicher, einzigartiger Anleitung zur mentalen Selbstheilung gelingt es, die tieferen Ursachen von seelischen wie psychosomatischen Problemen zu erkennen, sich von selbstsabotierenden Mustern zu lösen und emotionale Wunden nachhaltig zu heilen.
Entdecke auch das Workbook »Erkenne. Dich. Selbst.« von Nicole LePera mit einem vertiefenden Übungsprogramm.
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Seitenzahl: 489
Zum Buch
Mit ihrer Plattform »The Holistic Psychologist« hat die US-amerikanische Psychologin Nicole LePera nicht weniger als eine Revolution auf dem Psychologie-Sektor begründet. Ihr Ansatz: Fast jeder von uns hat in der Kindheit Traumata und seelische Verletzungen erlitten, die unser Leben nachhaltig beeinflussen. Und wir selbst haben es in der Hand, uns davon zu befreien - wenn wir die richtigen Tools kennen, uns die Erkenntnisse der Mind-Body-Medizin zunutze machen und unsere Selbstheilung auf allen Ebenen anstoßen.
Mit LePeras ganzheitlicher, einzigartiger Anleitung zur mentalen Selbstheilung gelingt es, die tieferen Ursachen von seelischen wie psychosomatischen Problemen zu erkennen, sich von selbstsabotierenden Mustern zu lösen und emotionale Wunden nachhaltig zu heilen.
Zur Autorin
Nicole LePera studierte in New York an der Cornell University und an The New School Psychologie. In dem von ihr gegründeten Mindful Healing Center in Philadelphia behandelt sie Patienten mit Angststörungen, Depressionen, Burn-out und Bindungsängsten. Durch eine tiefe persönliche Krise kam sie zu der Überzeugung, dass seelische Probleme nur mit integrativen Methoden und selbstverantwortlich kuriert werden können. Im Jahr 2019 brachte sie die Instagram-Plattform »The Holistic Psychologist« an den Start, die sich zu einer weltweiten Bewegung mit über drei Millionen Followern entwickelt hat.
Weitere Informationen unter @the.holistic.psychologist und www.theholisticpsychologist.com
Nicole LePera
Warum auch kleinste seelische Verletzungen große Folgen haben – und wie du dich davon befreien kannst
Aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »How to Do the Work: Recognize Your Patterns, Heal From Your Past, and Create Your Self« bei Harper Wave, New York, USA. Published by Arrangement with Juniortine Productions LLC. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Deutsche Erstausgabe
© 2021 Arkana, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2021 Nicole LePera
Lektorat: Diane Zilliges
Covergestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner
Covermotiv: © Daniela Hofner
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-27448-1V004
www.arkana-verlag.de
Für Lolly, die mich gesehen hat, noch bevor ich mich selbst sehen konnte.
Und für euch alle: Ich sehe euch.
»Das, was unten ist, ist wie das, was oben ist. Und das, was oben ist, ist wie das, was unten ist. Ein ewig dauerndes Wunder des Einen.«
Hermes Trismegistos, Das große Werk
»Die Entwicklung des Menschen ist die Entwicklung seines Bewusstseins. Mit einem objektiven Bewusstsein kann man die Einheit von allem sehen und fühlen. Alle Versuche, diese Erscheinungen in ein geordnetes wissenschaftliches oder philosophisches System zu bringen, laufen jedoch ins Leere, denn der Mensch kann die Idee des Ganzen nicht aus isolierten Tatsachen rekonstruieren.«
George Gurdjieff,The Fourth Way
»Man kann nicht alle Umstände ändern, denen man sich stellt. Aber nichts wird sich je ändern, wenn du dich ihnen nicht stellst.«
James Baldwin, Remember This House(überliefertes Manuskript, das als Grundlage für den Dokumentarfilm »I Am Not Your Negro« diente)
Inhalt
Ein Wort zur Selbstheilung
Vorwort: Die dunkle Nacht der Seele
Einführung: Was ist Holistische Psychologie?
1 Dein bester Heiler bist du selbst
Mein Weg
Das Band zwischen Geist, Körper und Seele
Die Kraft zum Wandel
Der Placeboeffekt
Holistische Psychologie
Tu dein Werk: Steckst du fest?
Tagebuch für mein künftiges Selbst
2 Das bewusste Selbst: Seiner gewahr werden
Du bist nicht deine Gedanken
Das bewusste Selbst und das unbewusste Selbst
Der homöostatische Impuls
Wie du aus diesen Mustern ausbrichst
Die Macht des Glaubens
Tu dein Werk: Bau Gewahrsein auf
TKS: Aufbau des Gewahrseins
3 Eine neue Traumatheorie
Trauma: Ein missverstandener Begriff
Ausweitung des Traumabegriffes
Konditionierung in der Kindheit
Archetypen kindlicher Traumata
Wie wir traumatische Erfahrungen bewältigen können
Die Möglichkeit zur Veränderung
Tu dein Werk: Wie sehen deine Kindheitsverletzungen aus?
Mit Eltern, die deine Wirklichkeit verleugnet haben
Mit Eltern, die dich nicht sahen oder hörten
Mit Eltern, die durch dich ein Stellvertreterdasein führen oder dich formen wollten
Mit Eltern, die keine Grenzen setzen konnten
Mit Eltern, denen Äußerlichkeiten übermäßig wichtig waren
Mit Eltern, die ihre Gefühle nicht im Griff hatten
4 Der Traumakörper
Was bedeutet »Traumakörper«?
Die Polyvagaltheorie
Soziales Engagement
Kampf oder Flucht
Das Erstarren
Die soziale Welt
Co-Regulation
Emotionale Sucht
Der Kreis schließt sich
Tu dein Werk: Bestimme das Ausmaß der Fehlregulierung in deinem Nervensystem
Schritt 1: Beobachte dich selbst
Schritt 2: Gib deinem Nervensystem die Balance zurück
TKS: Wieder ins Gleichgewicht
5 Wie du Geist und Körper heilst
Top down, Bottom up
Die Heilung des Darms
Den Schlaf heilen
Mit dem Atem heilen
Heilung durch Bewegung
Heilen durch Spiel
Emotionale Aktivierung in Echtzeit kontrollieren
TKS: Atemübungen
6 Die Macht der Überzeugungen
Der Ursprung der Überzeugungen
Fürs Überleben eingerichtet
Unterbrochene Kindheit
Tu dein Werk: Eine Bestandsaufnahme deiner Grundüberzeugungen
TKS: Neue Überzeugungen schaffen
7 Lerne dein inneres Kind kennen
Bindungstheorie
Das innere Kind kurz vorgestellt
Kindheitsfantasien
Sag Hallo zu deinem inneren Kind
Anthonys inneres Kind
Tu dein Werk: Schreib einen Brief an dein inneres Kind
Der fürsorgliche Typ
Der Hochleister-Typ
Der Leistungsverweigerer-Typ
Der Retter und Beschützer
Der Typ Partylöwe
Der Jasager-Typ
Der Heldenverehrer-Typ
Geführte Meditation über das innere Kind
8 Ego-Geschichten
Lerne dein Ego kennen
Die Aktivierung des Egos
Ego-Projektionen
Wie arbeitet man mit dem Ego?
Unsere ureigenste Wahrheit
Das Ego-Bewusstsein
Tu dein Werk: Lerne deinen Schatten kennen
TKS: Das Ego-Bewusstsein in ein Bewusstsein für deine Möglichkeiten umwandeln
9 Die Traumabindung
Bindungstheorie im Erwachsenenalter
Scham, Sucht und Traumabindungen
Traumabindungs-Archetypen
Die Traumabindungs-Falle
Authentische Liebe
Tu dein Werk: Wo hast du Traumabindungen?
Mit Eltern, die deine Wirklichkeit verleugnet haben
Mit Eltern, die dich nicht sahen oder hörten
Mit Eltern, die durch dich ein Stellvertreterdasein führen oder dich formen wollten
Mit Eltern, die keine Grenzen setzen konnten
Mit Eltern, denen Äußerlichkeiten übermäßig wichtig waren
Mit Eltern, die ihre Gefühle nicht im Griff hatten
10 Grenzen setzen
Vermaschung
Grenzen. Eine Einführung
Welche Arten von Grenzen gibt es?
Die emotionale Müllkippe oder Über-Intimität
Wie du Grenzen setzt
Erwartungen und Mitgefühl
Die letztendliche Grenze
Tu dein Werk: Grenzen neu setzen
Schritt 1: Welche Grenze brauchst du?
Schritt 2: Setz deine Grenze
Schritt 3: Wahre deine Grenzen
11 Reparenting
Einführung ins Reparenting
Die vier Pfeiler des Reparenting
Wie du mit Einsamkeit, Enttäuschung und Ärger umgehst
Höret die Signale
Tu dein Werk: Stell dein Reparenting-Menü zusammen
Emotionale Regulierung
Liebevolle Disziplin
Selbstfürsorge
Kindliches Staunen und eine spielerische Einstellung
12 Emotionale Reife
Die Neunzig-Sekunden-Regel
Der Umgang mit emotionaler Reife
Eine Anmerkung für Eltern
Meditation und Reife
Innere Reife strahlt aus
Tu dein Werk: Entwickle emotionale Reife und Resilienz
Schritt 1: Entdecke deine Gefühle neu
Schritt 2: Wie du deinen Körper ins Gleichgewicht zurückbringst
13 Gegenseitige Verbundenheit
Wie ich die SelfHealer Community fand
Die Kraft der Gemeinschaft
Authentische Freundschaften
Das kollektive »Wir«
Tu dein Werk: Wie du Beziehungen voller Verbundenheit herstellst
Schritt 1: Wo lebst du diese Verbundenheit bereits (oder auch nicht)?
Schritt 2: Lass dich auf die wechselseitige Verbundenheit ein
TKS: Wechselseitige Verbundenheit schaffen
Ein Tag mit dem Werk der Heilung
Nachwort: Die Pizzaschachtel
Danksagung
Glossar der Holistischen Psychologie
Tipps zum Weiterlesen
Anmerkungen
Stichwortverzeichnis
Personenregister
»Das Werk« – die Arbeit daran, über unsere menschliche Erfahrung hinauszuwachsen – geht auf eine lange und reiche Tradition zurück, die von den unterschiedlichsten Sprachrohren verkündet wurde. Die alten hermetischen Traditionen nennen es »Alchemie«, moderne Mystiker wie George Gurdjieff rät all jenen, die tiefer in die Welt eintauchen wollen, sich auf höhere Bewusstseinsebenen zu begeben. Und wir sehen, dass im Antirassismus-Training, in der Suchtmedizin und im Kampf gegen systemische Unterdrückung eine ähnliche Sprache verwendet wird, so wie sie sich beispielsweise in den Zwölf-Schritte-Programmen zeigt. All diesen Ausprägungen des Werkes ist gemeinsam, dass sie sich um Einsichten in das Selbst und unseren Platz innerhalb der Gemeinschaft bemühen. Eben darum geht es auch in diesem Buch. Das Ziel meines Werks ist es, dir jene Instrumente zu vermitteln, die dir helfen, das enge Band zu verstehen und zu nutzen, das Körper, Seele und Geist verknüpft. Dies schenkt dir eine tiefere, authentischere und innigere Beziehung zu dir selbst, zu anderen Menschen und zur Gesellschaft als Ganzes. Im Folgenden werde ich dir von meiner Reise berichten, und ich hoffe sehr, dass sie dich inspiriert, deine eigene Version des Werks anzupacken.
Das Erwachen von Dichtern und Mystikern scheint sich stets an Orten zuzutragen, die vom Göttlichen erfüllt sind – auf einem Berggipfel, am Meeresufer, das den Blick fesselt, an einem murmelnden Bächlein oder im Angesicht eines brennenden Dornbusches. Meines allerdings geschah in einer Blockhütte mitten im Wald, als ich über einer Schüssel Haferbrei in hemmungsloses Schluchzen ausbrach.
Ich wollte mir mit meiner Partnerin Lolly im ländlichen Norden des Bundesstaates New York eine Auszeit vom stressgeplagten Stadtleben in Philadelphia gönnen.
Ich löffelte also gerade mein gesundes, aber fad schmeckendes Frühstück in mich hinein und vertiefte mich dabei wieder mal in ein psychologisches Fachbuch, meine Form der »Strandlektüre«. Thema? Emotional nicht verfügbare Mütter. Als ich darin herumblätterte – zur beruflichen Weiterbildung, so dachte ich jedenfalls –, lösten die Worte in mir eine emotionale Reaktion aus, die ebenso heftig wie unerwartet war.
»Du bist eben ausgebrannt«, schlug Lolly als Erklärung vor. »Du musst unbedingt kürzertreten. Versuch doch, dich mal zu entspannen.«
Ich tat das als Unfug ab. Ich glaubte nicht, dass meine Gefühle und Erfahrungen anders ausfielen als bei anderen Menschen. Ich kannte diese Symptome schließlich von meinen Patientinnen und Freunden. Wem graut es nicht vor dem neuen Tag, wenn er morgens aufsteht? Wer ist während der Arbeit nicht ständig mit seinen Gedanken woanders? Wer in aller Welt kann ehrlich von sich behaupten, dass er nicht Tag für Tag dem nächsten Urlaub entgegenfiebert? Ist das nicht einfach ganz normal, wenn man älter wird?
Erst vor Kurzem hatte ich meinen dreißigsten Geburtstag »gefeiert« und mich insgeheim gefragt: Und? War’s das jetzt? Ich hatte so viel von dem erreicht, was ich mir als Mädchen erträumt hatte – in einer Stadt wohnen, die ich mir selbst ausgesucht hatte; meine eigene psychotherapeutische Privatpraxis; eine liebevolle Partnerin. Und doch nagte an mir immer noch das Gefühl, dass etwas Wesentliches in meinem Leben verloren gegangen war, ausgeknipst oder vielleicht auch gar nicht erst da gewesen. Nachdem ich mich jahrelang immer wieder in Partnerschaften wiedergefunden hatte, in denen ich mich emotional verlassen fühlte, war ich endlich jemandem begegnet, bei dem ich spürte, dass es dieRichtige war, weil sie so ganz anders war als ich. Wo ich zögerlich und gleichgültig war, war Lolly leidenschaftlich und eigensinnig. Mehr als einmal hatte sie mich auf eine Art und Weise aus der Reserve gelockt, die ich extrem aufregend fand. Eigentlich hätte ich also glücklich oder zumindest zufrieden sein sollen. Stattdessen hatte ich ständig das Gefühl, neben mir zu stehen, isoliert und gefühllos zu sein. Ich fühlte schlicht nichts.
Zu alldem gesellten sich noch körperliche Probleme, die mittlerweile so massiv geworden waren, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte. Da war dieser Nebel im Hirn, der mich immer so benommen machte, dass ich manchmal nicht nur einzelne Wörter oder Sätze vergaß, sondern total wegdriftete. Dieser Zustand war reichlich verstörend, vor allem wenn er, wie vereinzelt geschehen, während einer Therapiesitzung auftrat. Hartnäckige Darmprobleme, die mir schon seit Jahren zusetzten, führten dazu, dass ich mich ständig schwer und niedergedrückt fühlte. Und dann eines Tages kippte ich aus heiterem Himmel um – ich verlor komplett das Bewusstsein, als ich bei Freunden zu Besuch war, was allen einen gehörigen Schrecken einjagte.
Als ich nun so dasaß, im Schaukelstuhl, mit meiner Schüssel Haferbrei, in dieser bildschönen Umgebung, spürte ich plötzlich, wie inhaltsleer mein Leben geworden war. Meine Kräfte waren erschöpft, die Verzweiflung an meiner Existenz hatte mich fest in ihren Klauen. Ich war frustriert, weil meine Patientinnen und Patienten einfach keine Fortschritte machten. Ich ärgerte mich über meine eigene Unzulänglichkeit, die mich daran hinderte, besser für ihr und für mein Wohl zu sorgen. Zudem bremste mich diese frei flottierende Stumpfheit aus und ließ mich an der Sinnhaftigkeit des ganzen Lebens zweifeln. Zu Hause im geschäftigen Treiben des Stadtlebens konnte ich diese verstörenden Gefühle überdecken, indem ich diese Energien in Aktionismus übersetzte: Küche putzen, mit dem Hund rausgehen, endlos Pläne schmieden. Immer auf Trab, Trab, Trab. Wer nicht allzu genau hinsah, hätte dabei vielleicht meine Typ-A-Effizienz bewundert. Aber hätte man nur ein wenig an der Oberfläche gekratzt, hätte man festgestellt, dass ich meinen Körper auf Trab hielt, um mich von meinen tiefsitzenden emotionalen Problemen abzulenken. Dort aber, tief in den Wäldern, wo es für mich keine andere Beschäftigung gab, als ein Buch über die langfristigen Auswirkungen von Kindheitstraumata zu lesen, konnte ich nicht länger vor mir weglaufen. Dieses Buch legte die Gefühle bloß, die ich meiner Mutter und meiner Familie gegenüber empfunden und so lange unterdrückt hatte. Es war, als würde ich in einen Spiegel schauen. Da stand ich nun, nackt, ohne jede Möglichkeit, mich abzulenken, und was ich sah, gefiel mir ganz und gar nicht.
Als ich mich nun insgesamt mit ehrlicherem Blick betrachtete, war kaum zu übersehen, dass viele meiner Schwierigkeiten sehr genau jene Probleme widerspiegelten, die ich an meiner Mutter wahrgenommen hatte. Da war vor allem die Einstellung, die meine Mutter ihrem Körper und ihren Gefühlen entgegengebracht hatte. Ich war Zeugin gewesen, wie sie mit anhaltenden Schmerzen in den Knien und im Rücken kämpfte, dazu noch die ständigen Sorgen und Ängste. Als ich größer wurde, unterschied ich mich in vielerlei Hinsicht von meiner Mutter. Ich war körperlich sehr aktiv. Es war mir wichtig, auf meinen Körper zu achten, indem ich Sport trieb und mich gesund ernährte. Ich wurde sogar Vegetarierin, nachdem ich auf einem Gnadenhof Freundschaft mit einer Kuh geschlossen hatte, was es mir unmöglich machte, je wieder Fleisch zu essen. Zugegeben: Von da an machten massiv verarbeiteter Fleischersatz und veganes Junkfood (allem voran vegane Philly Steaks) den Löwenanteil meiner Ernährung aus. Aber zumindest machte ich mir Gedanken über das, was ich meinem Körper zuführte (abgesehen vom Alkohol, dem ich nach wie vor reichlich zusprach). Dieses »Gedankenmachen« nahm bisweilen extreme Formen an. Dann legte ich mir so harte Beschränkungen auf, dass die Nahrungsaufnahme zur komplett freud- und genussfreien Angelegenheit verkam.
Ich hatte immer geglaubt, dass ich überhaupt nicht so wäre wie meine Mutter. Doch als all diese emotionalen und mittlerweile auch körperlichen Probleme aufbrachen und jeden Winkel meines Daseins überfluteten, wurde mir klar, dass es an der Zeit war, einiges zu hinterfragen. Und diese Einsicht ließ nun heiße Tränen in meine lauwarme Haferpampe tropfen. Und doch lag in diesem traurigen, einigermaßen armseligen Bild auch eine Botschaft für mich. Mein emotionaler Ausbruch war derart ungewöhnlich, lag so weit außerhalb meiner typischen Persönlichkeitsmuster, dass ich dieses seelische Signal nicht einfach übersehen konnte. Irgendetwas in mir schrie nach Aufmerksamkeit, und hier inmitten der Wälder gab es keine Möglichkeit, mich davor zu verstecken. Es war an der Zeit, mich meinem Leid, meinem Schmerz, meinem Trauma und meinem wahren Selbst zu stellen.
Heute nenne ich diese Geschichte meine »dunkle Nacht der Seele«, meinen Tiefpunkt. Seinen Tiefpunkt zu erreichen ist wie Sterben. Diese Erfahrung kann uns buchstäblich dem Tode nahe bringen. Doch der Tod ermöglicht auch unsere Wiedergeburt – und ich tauchte aus diesem finsteren Schlund mit dem festen Entschluss auf herauszufinden, was da nicht stimmte. Dieser Tiefpunkt ließ endlich Licht herein. Er offenbarte mir so viel über mich selbst, das ich bisher immer weggeschoben hatte. Auf einmal überkam es mich mit aller Klarheit: Ich muss eine Möglichkeit zur Veränderung finden. Dass diese Einsicht zu einem physischen, psychischen und spirituellen Erwachen führen und schließlich sogar eine internationale Bewegung begründen würde, ahnte ich damals noch nicht.
Anfangs konzentrierte ich mich auf das meiner Ansicht nach vordringlichste Problem: meinen Körper. Ich machte eine Bestandsaufnahme meiner Physis: Worin bestand meine Krankheit, und wie äußerte sie sich? Intuitiv wusste ich, dass sich mein Weg zur Heilung auf eine Veränderung meiner Ernährungsgewohnheiten und mehr Bewegung gründen musste. Also engagierte ich Lolly als Motivationstrainerin in Sachen Selbststärkung. Sie sollte mir helfen herauszufinden, wie ich meinen kostbaren Körper misshandelte, und dabei nicht vom Pfad der Ehrlichkeit abweichen. Sie warf mich morgens aus dem Bett, drückte mir Hanteln in die Hand und trieb uns auch darüber hinaus mehrmals täglich zu bewusster Bewegung an. Wir vertieften uns in Nährwerttabellen und stellten fest, dass viele unserer Vorstellungen über »gesunde« Ernährung eher zweifelhaft waren. Wir fingen an, ein tägliches Morgenritual aus Atemtechniken und Meditation zu praktizieren. Auch wenn ich all das anfangs nur zähneknirschend über mich ergehen und gern mal einen Tag sausen ließ, auch wenn es Tränen, Muskelkater und jede Menge Kummer gab, auch wenn ich täglich mit Trennung drohte: Nach vielen Monaten kristallisierte sich eine gewisse Routine heraus. Ich wurde schließlich sogar süchtig danach und fühlte mich körperlich und geistig stärker als je zuvor in meinem Leben.
Während mein Körper zu heilen begann, fing ich an, viele andere Wahrheiten, die ich einst für selbstverständlich gehalten hatte, zu hinterfragen. Mein Denken über geistige Gesundheit wandelte sich. Ich erkannte, dass sich eine schwache Verbindung zwischen Geist, Körper und Seele in Krankheiten niederschlug und zu emotionaler Fehlregulierung führte. Ich entdeckte, dass unsere Gene nicht unser Schicksal sind. Doch um uns zu ändern, müssen wir uns jene Verhaltens- und Denkmuster bewusst machen, die von den Menschen geprägt wurden, die uns am wichtigsten waren oder sind. Ich stieß auf eine neue, umfassendere Definition von »Trauma«, die auch die tiefgehenden spirituellen Auswirkungen berücksichtigt, welche Stress und negative Erfahrungen in der Kindheit auf unser Nervensystem haben.
Ich erkannte, dass ich ungelöste Kindheitstraumata mit mir herumschleppte, die mich immer noch jeden Tag meines Lebens beeinträchtigten. Je mehr ich diese Zusammenhänge durchschaute, desto besser konnte ich meine neu gewonnenen Erkenntnisse in Entscheidungen umsetzen, die ich täglich neu und konsequent traf. Und so wurden diese Veränderungen mit der Zeit ein Teil von mir, und ich begann, mich grundlegend zu wandeln. Sobald ich körperlich wieder gesund war, ging ich eine Ebene tiefer. Ich brachte das Wissen aus meiner klinischen Arbeit in die neuen Kenntnisse ein, die ich mir aneignete, Kenntnisse über die Integration unseres körperlichen, seelischen und spirituellen Selbst, über die Ganzwerdung des Menschen. Ich begegnete meinem inneren Kind und nahm es an. Ich untersuchte die traumatischen Bindungen, in denen ich feststeckte, und lernte, Grenzen zu setzen. Und ich begegnete der Welt mit jener emotionalen Reife, die ich zuvor nicht für möglich gehalten hatte, weil ich sie nicht hatte kennenlernen dürfen. Bald merkte ich, dass sich diese Arbeit nicht auf mein Inneres beschränkte, sondern ganz im Gegenteil weit über mich hinausging, in jede einzelne meiner Beziehungen hinein und in das Universum. Diese Offenbarung, diese Einsicht in die Bedeutung der Integration von Geist, Körper und Seele für unser Wohlbefinden, ist das Kernthema dieses Buches, mit dem ich dich in die Grundprinzipien der Holistischen Psychologie einführen möchte.
Wenn ich mich heute auf diesen Seiten an dich wende, dann tue ich das aus einem Zustand fortgesetzter Heilung heraus. Meine Symptome (wie Panikzustände und »Sorgsucht«) sind größtenteils Vergangenheit. Meine Beziehung zur Welt ist keine bloße Reaktion mehr, ich bin zu mehr Achtsamkeit und Mitgefühl fähig. Ich fühle mich den Menschen, die ich liebe, nun stärker verbunden und bin in diesen Beziehungen wacher. Umgekehrt kann ich mich jenen Menschen gegenüber abgrenzen, die meinen Weg nicht aktiv mitgehen. Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben lebe ich wirklich bewusst. Als ich an meinem Tiefpunkt war, konnte ich das nicht sehen. Auch ein Jahr später war es mir noch nicht klar. Heute aber weiß ich, dass ich nicht hier sitzen und dieses Buch schreiben würde, wenn ich mich nicht den Untiefen meiner Verzweiflung gestellt hätte.
Als ich 2018 mit meiner Website The Holistic Psychologist online ging, stand dahinter der Wunsch, die Methoden, die ich für mich entdeckt hatte, mit anderen zu teilen. Ich musste meine Erfahrungen einfach weitergeben. Sobald ich damit anfing, meine Geschichte auf Instagram zu erzählen, quoll mein Postfach über von Zuschriften, die von Traumata, Heilungen und emotionaler Widerstandskraft erzählten. Was ich über ganzheitliches Heilen schrieb, fand, über sämtliche Alters- und kulturellen Grenzen hinweg, Widerhall im kollektiven Bewusstsein. Heute habe ich drei Millionen Follower, die sich unter dem Hashtag #SelfHealers zusammengefunden haben – und sich aktiv um ihr geistiges, körperliches und spirituelles Wohlergehen kümmern. Diese Community zu unterstützen ist zu meiner Lebensaufgabe geworden.
Den ersten Geburtstag von The Holistic Psychologist beging ich mit einer Meditation über unser inneres Kind. Diese Meditation, die ich an der Westküste der USA geben wollte, sollte zum einen ein Dankeschön an meine Community sein und ihr zum anderen die Möglichkeit bieten, dass wir uns im realen Leben treffen und unsere gemeinsame Reise feiern. Ein paar Tage zuvor googelte ich »Veranstaltungsorte Venice Beach« und wählte aufs Geratewohl einen der Treffer aus. Über Instagram bot ich kostenlose Tickets für die Veranstaltung an und drückte mir die Daumen, dass sich auch ein paar Interessenten finden würden. Innerhalb weniger Stunden hatte ich dreitausend Anmeldungen. Ich konnte es kaum fassen.
Als ich schließlich so dasaß, mitten in den grenzenlosen Weiten des Venice Beach, wuselten Jogger an mir vorüber und alles, was sich sonst so unter der Sonne Südkaliforniens tummelt. Ich richtete meinen Blick auf die Wellen, die an den Strand schlugen. Der raue Sand unter meinen Füßen, die Kühle meiner vom Meerwasser feuchten Haare brachten mir die Präsenz meines Körpers in Raum und Zeit eindringlich zu Bewusstsein. Ich fühlte mich so unglaublich präsent, so lebendig, als ich meine Hände zum Gebet erhob und mir die vielen verschiedenen Lebenswege bewusst machte, die jeden einzelnen dieser bemerkenswerten Menschen um mich herum hierher an diesen Strand geführt hatten. Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen und war einen Augenblick lang überwältigt von der Vielzahl der Augen, die sich da auf mich richteten – auf mich, die es immer gehasst hatte, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Dann fing ich an zu sprechen:
»Etwas hat euch alle hierhergeführt. Etwas tief in euch ist hierhergekommen mit der leidenschaftlichen Sehnsucht nach Heilung. Der Sehnsucht nach der besten Version eures Selbst. Das ist ein Grund zur Freude. Bei jedem Menschen prägt die Kindheit die Wirklichkeit, die er im Augenblick erlebt. Und heute haben wir uns entschlossen, unsere Vergangenheit zu heilen und die Zukunft neu zu gestalten.
Jener Teil von euch, der weiß, dass das stimmt, ist eure Intuition. Sie war immer da. Wir haben uns nur angewöhnt, ihre Stimme zu überhören oder ihren Worten zu misstrauen. Dass wir heute hier sitzen, ist ein erster Schritt, das verlorene Vertrauen in uns selbst zurückzugewinnen.«
Während ich diese Worte sprach, begegnete ich in der Menge dem Blick einer mir unbekannten Frau. Sie lächelte mir zu und legte ihre Hand aufs Herz, als wollte sie »Danke« sagen.
Da traten mir plötzlich Tränen in die Augen. Ich weinte – aber es waren andere Tränen als jene, die ich Jahre zuvor über meinem Haferbrei vergossen hatte. Es waren Tränen der Liebe, der Akzeptanz, der Freude. Es waren Tränen der Heilung.
Ich bin der lebende Beweis dieser Wahrheit: Das Erwachen ist keine mystische Erfahrung, die Mönchen, Mystikern oder Dichtern vorbehalten ist. Es ist nicht nur »spirituell« veranlagten Menschen möglich, sondern allen und jedem, der den Wunsch hat, sich zu wandeln – der sich nach Heilung sehnt, nach Gedeihen, danach, sein Licht endlich erstrahlen zu lassen.
Ist dein Gewahrsein erst erwacht, ist alles möglich.
Heile. Dich. Selbst. ist die Essenz einer revolutionären Methode zur Heilung von Geist, Körper und Seele, die man als Holistische Psychologie bezeichnet. Dahinter steht eine ganze Bewegung: Menschen, die sich auf eine tägliche Praxis einlassen, um selbst für ihr Wohlbefinden zu sorgen, für Heilung von der Vergangenheit und die Formung ihres bewussten Selbst.
Die Holistische Psychologie konzentriert sich auf Geist, Körper und Seele, um den Körper und das Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen und ungelöste emotionale Verletzungen zu heilen. Dieses Werk schenkt dir die Kraft, dich in den Menschen zu verwandeln, der du im Grunde immer schon warst. Es erzählt dir eine aufregende, neue Geschichte, in der körperliche und seelische Symptome Botschaften sind, keine festgezimmerte Diagnose, mit der man leben muss. Diese Geschichte dringt bis zu den Wurzeln von chronischen Schmerzen vor, von Stress, Erschöpfung, Angst, Darmproblemen und Ungleichgewichten im Nervensystem, die von der westlichen Medizin lange Zeit übersehen oder schlicht ignoriert wurden. Sie erklärt, warum so viele Menschen nicht vorankommen, sich abkapseln oder sich verloren fühlen. Sie bietet praktikable Methoden, mit denen du für dich neue Gewohnheiten entwickeln kannst, das Verhalten anderer besser verstehst und dich von der Vorstellung lösen kannst, dass dein Wert von anderen Menschen oder Dingen abhängt. Wenn du dich diesem deinem Werk tatsächlich jeden Tag widmest, wird die Zeit kommen, da du in den Spiegel blickst und dem Menschen, der dich ansieht, voller Begeisterung begegnest.
Diese ganzheitlichen Methoden bestehen aus Techniken, die den Körper ansprechen (durch Atemübungen und Körperarbeit), die Psyche (durch eine veränderte Beziehung zu deinen Gedanken und früheren Erfahrungen) sowie den spirituellen Teil deiner selbst (durch die Verbindung zu deinem authentischen Selbst und dem großen Ganzen). Und diese Methoden funktionieren, weil Körper, Geist und Seele eng verknüpft sind. Sie wirken, weil sie sowohl auf der Wissenschaft der Epigenetik gründen als auch auf der Tatsache, dass wir viel mehr Macht über unser geistiges Wohlbefinden haben, als wir meinen. Heilung ist ein bewusster Prozess, der Tag für Tag erlebt werden kann, wenn wir unsere Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster ändern.
Viele von uns leben im Zustand der Unbewusstheit. Wir taumeln auf Autopilot durch die Welt und führen ständig automatisierte Gewohnheiten aus, die uns nichts bringen und kein bisschen widerspiegeln, wer wir im Innersten sind und was wir uns wahrhaft wünschen. Die Praxis der Holistischen Psychologie hilft uns, jene innere Führung wiederzufinden, die wir aufgrund unserer, in der Kindheit verinnerlichten, Gewohnheitsmuster aufgegeben haben. Mithilfe der Holistischen Psychologie findest du zurück zur Stimme deiner Intuition, lernst, ihr zu vertrauen und dich von jener »Persönlichkeit« zu lösen, die von Elternfiguren, Freunden, Lehrern und der Gemeinschaft im Großen und Ganzen geprägt wurde. Wir richten also das Licht des Bewusstseins auf die unbewussten Anteile unseres Selbst.
In diesem Buch lernst du ein neues Modell einer ganzheitlichen Heilmethode kennen, die Körper, Geist und Seele einbezieht. Eines aber möchte ich noch in aller Deutlichkeit sagen: Ich wende mich hier nicht gegen die klassische Psychologie. Ich bin keinesfalls der Ansicht, dass die Instrumente der hergebrachten Psychotherapie und anderer therapeutischer Modelle nichts taugen. Ich schlage nur einfach einen Ansatz vor, bei dem verschiedene Techniken zum Tragen kommen: die klassische Psychologie ebenso wie die Neurowissenschaften bis hin zu Achtsamkeitsübungen und verschiedenen spirituellen Ansätzen. Mir geht es vor allem darum, die wirksamsten mir bekannten Techniken für Heilung und Wohlbefinden zusammenzubringen. Daher findest du hier Methoden, die aus einer traditionellen Schule stammen, wie zum Beispiel aus der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) oder der Psychoanalyse, aber auch ganzheitliche Ansätze, die von der klassischen Psychologie zumindest bislang nicht akzeptiert werden. Es ist wichtig, dass du dir eines klarmachst: Die Praxis der Holistischen Psychologie hat ihre Wurzeln in der Freiheit, in der freien Wahl und der Stärkung unserer Selbstwirksamkeit. Einige Dinge werden dich ansprechen, andere nicht. Das Ziel ist, mit den Techniken zu arbeiten, die für dich am besten funktionieren. Allein die Tatsache, dass du sie gezielt auswählst, wird dir helfen, wieder mehr auf deine Intuition zu hören, auf dein wahres Selbst.
Lernst du, dich selbst zu heilen, dann hast du den Schlüssel in der Hand. Diese Selbstheilung ist nicht nur möglich, sie ist die einzig wahre Wirklichkeit unseres Menschseins, denn wer außer dir sollte wissen, was für dich in deiner Einzigartigkeit richtig ist? Hier aber tut sich ein Problem auf: Für sehr viele von uns ist eine gute gesundheitliche Versorgung – vor allem, wenn es um die geistige Gesundheit geht – einfach nicht verfügbar. Wir leben in einer Welt der Ungleichheit, in der unsere Versorgung davon abhängt, wo wir leben, was wir darstellen und wer wir sind. Selbst jene Menschen, die so privilegiert sind, dass sie Zugang zu einer guten gesundheitlichen Fürsorge haben, müssen häufig feststellen, dass diese Versorgung keineswegs immer gleich gut ist. Und wenn wir dann tatsächlich mal jemanden gefunden haben, dem wir in dieser Hinsicht vertrauen, ist die Zeit, die wir mit dieser Person verbringen dürfen, meist begrenzt. In diesem Buch aber findest du ein Lernmodell, bei dem du selbst bestimmst, wohin es geht. Du findest darin Informationen und Tipps, die dich in die Lage versetzen, dein heilerisches Werk zu beginnen. Deine Vergangenheit zu verstehen, ihr zu lauschen, sie anzusehen und von ihr zu lernen ist ein Prozess, der tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt. Einen Wandel, der bleibt. Eine wirkliche Veränderung.
Heile. Dich. Selbst. ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil schließen wir Bekanntschaft mit unserem bewussten Selbst, der Macht unserer Gedanken und dem Einfluss von Stress und Kindheitstraumata auf alle Systeme unseres Körpers. Wir werden erkennen, wie uns körperliche Fehlfunktionen davon abhalten, geistig und emotional vorwärtszukommen. Im zweiten Teil gehen wir eine Schicht tiefer und tauchen ein in das, was man »den Geist« nennt. Wir werden untersuchen, wie Bewusstsein und Unbewusstes zusammenspielen, und entdecken, wie die Konditionierung durch unsere Elternfiguren unsere Welt geschaffen hat. Und wie diese Konditionierung Gedanken- und Verhaltensmuster prägte, die wir bis heute ausagieren. Schließlich gehen wir noch einen Schritt weiter und lernen unser inneres Kind kennen. Wir werden erfahren, welche Ich-Geschichten uns zwar schützen, aber auch zur Folge haben, dass wir Beziehungsmuster leben, die noch aus unserer Kindheit stammen. Im letzten Teil, der für mich den Kern des Heilungswerkes darstellt, lernen wir, das bislang erworbene Wissen anzuwenden, um jene emotionale Reife zu erlangen, die es uns ermöglicht, mit anderen Menschen authentische Beziehungen einzugehen. Kein Mensch ist eine Insel. Wir sind soziale Geschöpfe. Erst wenn wir imstande sind, unser wahres Selbst zu leben, können wir zu den Menschen, die wir lieben, eine authentische Beziehung aufbauen. Damit legen wir den Grundstein für das Gefühl des Einsseins mit dem kollektiven »Wir«, das größer ist als wir selbst. Hier findest du Möglichkeiten und Instrumente, die dich dort abholen sollen, wo du gerade stehst.
Alles, was du für diese Reise brauchst, ist dein bewusstes Selbst, der Wunsch, tiefer zu gehen, und die Einsicht, dass der Wandel niemals einfach ist. Der Weg, der vor dir liegt, kann manchmal ganz schön schwierig werden. Es gibt keine Sofortlösungen. Wer irgendwann glauben gemacht wurde, es gäbe Wundermittel, kann das schwer begreifen. Ich bin dann vielleicht die Erste, die mit Nachdruck unterstreicht, dass das heilerische Werk vor allem eines ist: Arbeit. Es gibt keine Abkürzungen, und niemand kann diesen Weg für dich gehen. Es fühlt sich manchmal unangenehm an, ja es kann regelrecht erschreckend sein, aktiv an der eigenen Heilung zu arbeiten. Schließlich ist die Erkenntnis, wer du bist und wozu du fähig bist, nicht nur ein bestärkendes Erlebnis. Sie gehört zu den umwälzendsten Erfahrungen, auf die wir uns einlassen können.
Manche, die sich auf das Werk, wie ich es hier vorstelle, einlassen, sagen mir, dass ich die Wahrheit immer schön in kuschlige Decken verpacke. Ich nehme das als Kompliment, aber einen Punkt, und auch der entspricht der Wahrheit, möchte ich hier klipp und klar betonen: Man kann es auch zu bequem haben. Heilung vollzieht sich selten ohne Schwierigkeiten. Sie kann schmerzhaft sein und erschreckend. Heilung heißt, dass du Geschichten loslässt, die dich zurückhalten und dir schaden. Dass du einen Teil deiner selbst sterben lässt, damit ein anderer Teil Wiedergeburt erfährt. Nicht jeder Mensch will, dass es ihm besser geht. Auch das ist völlig in Ordnung. Für manche Menschen ist ihre Identität unlösbar verwoben mit ihrer Krankheit. Andere fürchten das Wohlbefinden, weil sie es nicht kennen und das Unbekannte nicht vorhersehbar ist. Es ist tröstlich, dass sie genau zu wissen meinen, was das Leben für sie bereithält, selbst wenn es Krankheit ist. Unser Geist ist eine Maschine, die stets nach dem Vertrauten sucht. Das Vertraute fühlt sich sicher an. Zumindest, solange wir uns selbst nicht klarmachen, dass auch unangenehme Gefühle vergehen werden und ein notwendiger Schritt hin zum Wandel sind.
Du wirst wissen, wann du bereit bist, dich auf diese Reise zu machen. Dann wirst du anfangen zu zweifeln und am liebsten gleich wieder aufhören wollen. An genau diesem Punkt ist es am wichtigsten, dass du bei der Stange bleibst und die jeweilige Übung so lange wiederholst, bis sie dir zur Routine geworden ist. Diese Routine schafft schließlich Vertrauen. Aus dem Vertrauen entsteht die Veränderung. Und die Veränderung wird zum dauerhaften Wandel. Das eigentliche Werk hat nichts mit der Außenwelt zu tun. Nur mit dem, was in dir ist. Es kommt ganz »aus dir« selbst.
Der erste Schritt erweist sich meist als erstaunlich schwierig. Es geht darum, dass du dir eine Zukunft vorstellst, die anders ist als deine Gegenwart. Schließ also die Augen. Sobald du fähig bist, dir eine Wirklichkeit vorzustellen, die anders ist als deine augenblickliche, bist du bereit. Kannst du dir diese Wirklichkeit im Moment noch nicht vorstellen, dann bist du damit nicht allein. Diese geistige Blockade hat ihre Gründe. Komm mit! Dieses Buch wurde für dich geschrieben, denn mir ging es ganz genauso.
Machen wir uns also ans Werk!
1
Das folgende Szenario kommt dir vermutlich bekannt vor: Du beschließt, mit dem heutigen Tag ein neues Leben anzufangen. Ab sofort wirst du regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, weniger industriell verarbeitete Lebensmittel essen, dir eine Auszeit von den sozialen Medien nehmen oder den Kontakt zu einem oder einer problematischen Ex abbrechen. Du bist dir auch ganz sicher, dass du es diesmal schaffen wirst: Du wirst dauerhaft gesünder leben. Aber dann – vielleicht schon ein paar Stunden oder Tage später, vielleicht auch nach ein paar Wochen – regt sich geistig Widerstand. Du fühlst dich körperlich einfach nicht in der Lage, auf zuckerhaltige Limonaden zu verzichten. Du kannst dich einfach nicht aufraffen, ins Fitnessstudio zu gehen. Und du verspürst den Drang, deinem oder deiner Ex schnell noch eine SMS zu schicken, nur so, um dich mal zu melden. Dein Geist zählt dir recht überzeugende Argumente auf, warum du bei deinem alten Leben bleiben solltest. Er brüllt dir förmlich ins Ohr: »Du hast dir eine Pause verdient.« Und dann kommt ihm auch noch der Körper zu Hilfe und steuert Gefühle von Erschöpfung und Antriebslosigkeit bei. Die überwältigende Botschaft lautet: »Du packst das nicht.«
In den zehn Jahren meiner Tätigkeit als Wissenschaftlerin und klinische Psychologin war »festgefahren« die Formulierung, die die meisten meiner Patienten gebrauchten, wenn ich wissen wollte, wie sie sich fühlten. Jede einzelne Patientin, jeder einzelne Patient kam in die Therapiestunde, weil er etwas ändern wollte. Der eine wollte sich selbst ändern, neue Gewohnheiten, neue Verhaltensweisen erlernen oder zumindest herausfinden, wie er sich selbst schätzen lernen konnte. Anderen ging es um Dinge im Außen. Sie wollten ihre Beziehung zu anderen Menschen verändern, ein problematisches Verhältnis zu Elternfiguren, Partnerinnen oder Kollegen. Viele wünschten (und brauchten) sowohl das eine wie das andere: Veränderung sowohl im inneren wie im äußeren Leben. Ich habe mit reichen Leuten ebenso gearbeitet wie mit armen; mit hyperfunktionalen Workaholics wie mit Menschen im Gefängnis oder an anderen Orten der Ausgrenzung. Am Rande der Gesellschaft. Unabhängig vom sozialen Hintergrund berichteten alle Klientinnen und Klienten beinahe einstimmig, sie hätten das Gefühl festzustecken. In schlechten Gewohnheiten, selbstschädigendem Verhalten, vorhersagbaren problematischen Reaktionsmustern, die in ihnen ein Gefühl von Einsamkeit, Isolation und Hoffnungslosigkeit hervorriefen. Fast alle machten sich Sorgen, wie dieses »Feststecken« wohl von anderen wahrgenommen würde. Die Grübeleien darüber, was geliebte Menschen, Freunde, Bekannte oder selbst völlig Fremde möglicherweise von ihrem »Feststecken« dachten, nahmen geradezu zwanghafte Züge an. Die meisten meiner Klientinnen und Klienten waren fest davon überzeugt, dass ihre Unfähigkeit, etwas zu verändern, eine tiefsitzende Persönlichkeitsstörung widerspiegle, dass sie für eine durchgehende »Wertlosigkeit« stehe – dieser Begriff wurde häufig gebraucht.
Diejenigen meiner Klientinnen oder Klienten, deren Selbstwahrnehmung gut entwickelt war, erkannten diese Verhaltensmuster bei sich und hatten klare Vorstellungen, wie sie sich verändern ließen. Doch selbst sie waren nicht imstande, den Schritt vom Wissen zum Tun zu vollziehen. Wer den Weg heraus erkannte, äußerte eine tiefe Scham darüber, dass er trotzdem immer wieder automatisch in unerwünschte Verhaltensmuster zurückfiel. Sie schämten sich dafür, dass sie es zwar besser wussten, aber trotzdem nicht besser machen konnten, was sie schließlich in meine Praxis führte.
Leider war auch meine Unterstützung in vielen Fällen nur von beschränktem Nutzen. Fünfzig Minuten Psychotherapie pro Woche schienen bei der Mehrheit meiner Patientinnen und Patienten keine wirklich entscheidenden Veränderungen zu bewirken. Einige waren von diesem unbefriedigenden Auf-der-Stelle-Treten schließlich so frustriert, dass sie nicht mehr in die Therapie kamen. Und selbst wenn manche von den gemeinsamen Sitzungen profitierten, stellten sich Verbesserungen nur quälend langsam ein. Einzelne Sitzungen schienen wirklich fruchtbar zu sein, und doch kam dieser Mensch in der Folgewoche wieder und berichtete von Erlebnissen, die genau der angesprochenen Problematik entsprangen. Manche zeigten in der Therapie unglaubliche Einsichten. Sie vermochten jene Verhaltensmuster, die sie blockierten, zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, und fühlten sich dennoch nicht imstande, dem Sog zu widerstehen, der sie im Alltag (wenn sie nicht in meiner Praxis saßen) in eben jene Muster zurückfallen ließ. Sie erkannten die problematische Dynamik in der Rückschau, aber das trug kein bisschen dazu bei, diese Einsichten im Alltag auch anzuwenden. Ähnliche Muster konnte ich bei Menschen beobachten, die starke transformative Erfahrungen gemacht hatten – etwa im Rahmen intensiver Retreats oder bewusstseinsverändernder Ayahuasca-Zeremonien: Im Laufe der Zeit fielen sie langsam, aber sicher in ihre alten unerwünschten Verhaltensmuster zurück, für die sie nach Lösungen gesucht hatten. Diese Unfähigkeit, nach solch offensichtlich wichtigen Erkenntnissen Fortschritte zu machen, löste bei vielen meiner Patienten Krisen aus: Was stimmt bloß nicht mit mir? Warum kann ich mich nicht ändern?
Schließlich begriff ich, dass uns Therapie und einzelne Transformationserfahrungen (wie zum Beispiel Ayahuasca-Zeremonien) auf dem Weg der Heilung nur ein kurzes Stück führen können. Damit sich nachhaltig etwas verändert, musst du täglich an dieser Veränderung arbeiten. Um geistiges Wohlergehen zu erlangen, musst du Tag für Tag für deine Heilung aktiv werden.
Je mehr ich mich umsah, desto öfter begegnete mir diese Frustration, auch bei meinen Freunden. Viele von ihnen nahmen Medikamente, weil sie unter Schlaflosigkeit, Depressionen oder Angstzuständen litten. Sie hatten zwar keine offiziell diagnostizierten seelischen Störungen, und doch wiesen sie viele der entsprechenden Symptome auf und suchten dafür gesellschaftlich akzeptierte Ausdrucksmöglichkeiten: Sie arbeiteten zu viel, waren ständig auf Reisen oder schafften es kaum, das Handy aus der Hand zu legen, weil sie unentwegt etwas in den sozialen Medien posteten. Sie waren die glatten Einser-Typen, Menschen, die ihre Projekte Wochen vor dem Fälligkeitstermin fertiggestellt hatten, Marathon liefen, stressige Jobs hatten und erst unter Druck zur Höchstform aufliefen. Auch ich war in vielerlei Hinsicht diese Art Mensch.
Die Grenzen der etablierten seelischen Gesundheitsversorgung hatte ich am eigenen Leib erfahren. Ich fing an, Therapie zu machen, als ich in den Zwanzigern war und mich um meine chronisch herzkranke Mutter kümmerte. Damals litt ich nahezu ständig unter Panikattacken. Angstlösende Medikamente halfen mir kurzfristig, trotzdem fühlte ich mich ständig antriebslos, gleichgültig und müde – und älter, als ich tatsächlich war. Ich war Psychologin. Ich sollte anderen Menschen helfen können, ihre Innenwelt zu verstehen, und doch blieb ich mir selbst ein Rätsel, unfähig, etwas für mich zu tun.
Mein Weg
Ich wurde in eine typische Mittelschichtfamilie in Philadelphia hineingeboren. Mein Vater hatte einen geregelten Bürojob, meine Mutter besorgte den Haushalt. Jeden Morgen wurde um 7:00 Uhr gefrühstückt. Abendessen gab es jeden Tag pünktlich um 17:30 Uhr. Das Familienmotto lautete: »Die Familie geht über alles.« Von außen betrachtet schien dieses Motto sogar zu stimmen. Wir waren der Inbegriff von Mittelschicht-Normalität und Mittelschicht-Glück – eine typisch amerikanische Projektion, welche die Wirklichkeit schlicht verschleierte.
Tatsächlich waren wir eine kranke Familie. Meine Schwester litt von klein auf unter lebensbedrohlichen schweren Krankheiten. Meine Mutter kämpfte mit mysteriösen Schmerzen, die sie immer wieder tagelang ans Bett fesselten. Auch wenn in der Familie nie offen über die Krankheit meiner Mutter gesprochen wurde, so entging sie mir dennoch nicht. Ich wusste, dass meine Mutter leidend war. Ich wusste, dass sie krank war. Mir war klar, dass sie nicht für mich da war, weil sie Schmerzen hatte. Sie war mit dem Kopf immer woanders und litt unter chronischer Angst. Bei all diesen Belastungen war es ja verständlich, dass man mich irgendwie vergaß.
Ich war das dritte und letzte Kind – ein »glücklicher Unfall«, wie es hieß. Meine Geschwister sind deutlich älter als ich (mein Bruder ging schon wählen, als ich das Licht der Welt erblickte), und ihre Erfahrungen unterschieden sich grundlegend von den meinen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Kinder selbst dann, wenn sie unter ein und demselben Dach groß werden, nicht die gleiche Kindheit haben. Meine Eltern witzelten immer, ich sei ihr »Christkind«. Ich schlief durch, machte kaum Probleme und beschäftigte mich meist selbst. Ich war ein lebhaftes Kind mit einer Menge Energie und immer auf Achse. Ich lernte schon früh, die Last meines Daseins dadurch zu lindern, dass ich überall dort, wo mir das möglich war, versuchte, perfekt zu sein.
Meine Mutter zeigte ihre Gefühle nicht. Wir waren keine »körperliche« Familie, es gab einfach kaum Körperkontakt. »Ich liebe dich« sagte man so gut wie nie. Ich erinnere mich daran, den Satz zum ersten Mal gehört zu haben, als ich Anfang zwanzig war und meine Mutter sich einer Herzoperation unterziehen musste. Bitte versteh mich jetzt nicht falsch. Ich wusste durchaus, dass meine Eltern mich liebten. Später erfuhr ich, dass die Eltern meiner Mutter ebenfalls sehr distanziert gewesen waren, völlig unfähig, Liebe und Zuneigung zu zeigen. Meine Mutter, selbst ein tief verletztes Kind, erfuhr nie die Liebe, nach der sie sich so sehr sehnte. Was zur Folge hatte, dass sie selbst nicht in der Lage war, ihren Kindern, die sie innig liebte, diese Liebe zu zeigen.
Alles in allem lebte unsere Familie in einer allgemeinen emotionalen Verweigerungshaltung, in der unangenehme Dinge einfach ignoriert wurden. Als ich anfing zu rebellieren (und damit kurzzeitig die Christkindrolle aufgab), auf Partys ging, bevor ich offiziell das Teenageralter erreicht hatte, und mit roten Augen und lallend nach Hause kam, verlor niemand auch nur ein Wort darüber. Das ging so weiter, bis plötzlich all die unterdrückten Emotionen hochkochten und explodierten. Einmal geschah das, nachdem meine Mutter eine Notiz von mir gelesen hatte, aus der hervorging, dass ich Alkohol trank. Sie wurde total hysterisch, warf mit Sachen um sich, heulte und schrie: »Du bringst mich noch ins Grab! Wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt und falle auf der Stelle tot um.«
Da ich, solange ich denken kann, das Gefühl hatte, anders als andere zu sein, begann ich, mich dafür zu interessieren, warum Menschen sich so verhielten, wie sie es taten. Kein Wunder also, dass schon bald für mich feststand: Ich will Psychologin werden. Und das nicht nur, weil ich anderen Menschen helfen wollte. Ich wollte sie verstehen. Ich wollte auf Forschungsergebnisse zeigen und sagen können: »Schau! Genau deshalb bist du so, wie du bist! Deshalb bin ich so, wie ich bin!« Dieses Interesse führte mich an die Cornell University, wo ich Psychologie studierte, und später nach New York in ein Promotionsprogramm der New School for Social Research. Das dort gelehrte duale Modell aus Theorie und Praxis verlangte, dass ich sowohl theoretisch als Wissenschaftlerin wie praktisch als Therapeutin arbeitete. Wie ein Schwamm sog ich begierig alles auf, was es über die diversen therapeutischen Ansätze zu wissen gab. Denn mein erklärtes Ziel war, als Therapeutin anderen Menschen wirklich zu helfen.
Dort erhielt ich auch eine Ausbildung in Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT). Es handelt sich dabei um einen systematisierten Therapieansatz, der hochgradig geregelt und ergebnisorientiert ist. Während einer KVT-Sitzung konzentriert sich der Patient meist auf ein einziges, genau umrissenes Problem – das kann ein Alkoholproblem sein oder die Angst vor Menschenansammlungen, aber auch so etwas wie Beziehungsschwierigkeiten. Ziel dieser Herangehensweise ist es, den Patienten dabei zu unterstützen, die verzerrten Denkmuster zu erkennen, die seinem problematischen Verhalten zugrunde liegen. Diese Methode kann helfen, den Leidensdruck zu lindern, den gewisse schwierige Gefühle erzeugen.
Die KVT beruht auf der Annahme, dass unsere Gedanken unsere Gefühle und am Ende unser Verhalten beeinflussen. Wenn wir unsere Haltung unseren Gedanken gegenüber verändern, verändern wir damit auch die Kaskade von Emotionen, die unseren Körper flutet und uns auf eine bestimmte Art und Weise handeln lässt. Dieser Ansatz ist übrigens ein Grundpfeiler der Arbeit, um die es in diesem Buch geht. Die KVT wird oft als der »Goldstandard« der Psychotherapie bezeichnet, da ihre Ergebnisse replizierbar, also jederzeit wiederholbar sind und Systematik und Form sie für klinische Studien besonders geeignet machen. Diese Therapieform war für mich eine wichtige Lektion über die Macht unserer Gedanken. Im realen Leben angewandt ist sie mitunter ein wenig unflexibel. In der Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten empfand ich sie oft tendenziell als einengend und unpassend für den speziellen Menschen, der da vor mir saß.
Während meines Promotionsstudiums fühlte ich mich vor allem zur interpersonellen Psychotherapie hingezogen. Dieser therapeutische Ansatz ist ergebnisoffener und nutzt die Patienten-Therapeuten-Beziehung als Katalysator, um auch andere Beziehungen des Patienten zu verbessern. Im Leben der meisten Menschen gibt es schwierige Beziehungen – ob mit der Familie oder dem Partner, mit Freundinnen oder Kollegen. Daher kann es zutiefst heilsam sein, wenn es einem Menschen gelingt, seinem Therapeuten gegenüber zu einer neuen, gesünderen Beziehungsdynamik zu finden. Wie wir in unseren Beziehungen auftreten, ist ein zuverlässiges Maß für unser Wohlergehen insgesamt. Wie wir in unseren Beziehungen auftreten, so treten wir auch im Leben auf – dieser Aussage stimme ich voll und ganz zu. Dieses Thema wird uns in diesem Buch durchgehend beschäftigen. In die Holistische Psychologie ist zudem die Erkenntnis eingeflossen, dass auch die frühesten Bindungen mit unseren Bezugspersonen unsere Beziehungen prägen. Diese Form der Verhaltensmodellierung wird als Konditionierung bezeichnet. Damit werden wir uns in Kapitel 2 beschäftigen.
Während meiner Ausbildung interessierte ich mich auch für psychodynamische Modelle. Diese Theorien besagen, dass der Mensch von Impulsen aus seinem Innersten getrieben wird. Bei diesen Ansätzen sitzt dann tatsächlich ein Analytiker (vielleicht Pfeife rauchend) dem Patienten auf dem Sofa gegenüber. Ich studierte sie am New York Psychoanalytic Society & Institute und an der Philadelphia School of Psychoanalysis. Dort hörte ich vom Sog des Unbewussten, jener Tiefenschicht unserer Psyche, in der unsere Erinnerungen abgespeichert sind und unsere Triebe (unsere Automatismen und Instinktreaktionen) ihren Ursprung haben. Als ich anfing, selbst therapeutisch zu arbeiten, verschaffte mir dieser Ansatz tiefe Einblicke in die Rolle eben dieses Unbewussten. Immer wieder konnte ich beobachten, dass meinen Patientinnen oder Patienten jene Teile ihres Lebens, die einer Veränderung bedurften (Drogenmissbrauch zur Ablenkung von Problemen, Ausbrüche von Jähzorn in Beziehungen, Zurückfallen in kindliches Verhalten innerhalb familiärer Beziehungen) durchaus bewusst waren, dennoch kamen sie zu jeder weiteren Therapiesitzung mit neuen Geschichten, in denen sich dasselbe alte Muster wiederholte. Was im Übrigen auch auf mich selbst zutraf. Diese Erkenntnis war entscheidend für die Begründung und Weiterentwicklung der philosophischen Hintergründe der Holistischen Psychologie.
Während ich diese neuen Behandlungstechniken erlernte, begann ich, theoretisch und praktisch auf dem Gebiet der Drogentherapie zu arbeiten. Ich leitete stationäre und ambulante Therapiegruppen und arbeitete an einem Programm mit, bei dem Menschen mit Suchtproblemen lernten, durch das Entwickeln sozialer Kompetenzen ihren Genesungsprozess zu fördern. Diese Arbeit bot mir Einblick in das Innenleben von Menschen, die mit Suchtproblemen kämpften. Die dabei gesammelten Erfahrungen führten mich zu dem Schluss, dass Sucht sich nicht auf abhängig machende Substanzen oder Erfahrungen beschränkt wie auf Alkohol-, Drogen-, Spiel- oder Sexsucht. Auch emotionale Abläufe können süchtig machen. Emotionale Süchte sind besonders dann sehr stark, wenn wir gewohnheitsmäßig bestimmte emotionale Zustände anstreben beziehungsweise vermeiden, um mit traumatischen Erfahrungen zurechtzukommen. Diese Auseinandersetzung mit dem Thema »Sucht« zeigte mir ein für alle Mal, wie stark das Band ist, das Körper und Geist unauflösbar verbindet, und dass das Nervensystem eine zentrale Rolle für unser geistiges Wohlbefinden spielt. Auch dieser Punkt wird uns später noch ausführlicher beschäftigen.
Nach meiner Promotion versuchte ich immer wieder, Elemente in meine psychotherapeutische Arbeit einzuführen, die nicht dem weiten Feld der Psychotherapie entsprangen. So hatte ich das Gefühl, dass die Achtsamkeitsmeditation gute Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung bot. Nachdem ich zu diesem Thema bereits eigene Recherchen angestellt und die Ergebnisse publiziert hatte1, versuchte ich, meinen Doktorvater dazu zu bewegen, mich im Rahmen der Doktorarbeit Untersuchungen über die Wirksamkeit von Meditationstechniken bei Suchterkrankungen durchführen zu lassen. Er lehnte das ab. Er glaubte nicht, dass Achtsamkeit irgendeinen therapeutischen Nutzen entfalten könne. Für ihn war das eine bloße Modeerscheinung, die der akademischen Betrachtung nicht würdig war.
In der Rückschau sehe ich heute, dass sich schon damals vor mir ein Weg auftat. Meine innere Führung zeigte mir, was ich brauchte, um ein ganzheitliches Modell der Heilung zu entwickeln. Ich eröffnete eine Privatpraxis, wo ich viele Aspekte der erlernten Techniken in die Behandlung einfließen lassen konnte. Doch obwohl ich einen ganzheitlichen Therapieansatz verfolgte, machte sich nach ein paar Jahren auch bei mir Frustration breit. Meine Patientinnen und Patienten gewannen zwar gewisse Einsichten, aber Veränderungen stellten sich, wenn überhaupt, nur langsam ein. Ich konnte spüren, wie sie mit der Zeit die Zuversicht verloren. Und damit schwand auch die meine.
Ich begann genauer hinzuschauen – wirklich hinzuschauen, so als würde ich alles zum ersten Mal sehen. Ich übertreibe jetzt nicht, wenn ich sage, dass bei jedem einzelnen Menschen, der zu mir in die Therapie kam, neben den seelischen auch körperliche Symptome vorlagen. Lange nach meinem Studium begann ich, mir neue Fragen zu stellen: Warum litten so viele in meiner Praxis an Verdauungsproblemen, angefangen beim Reizdarmsyndrom bis hin zur chronischen Verstopfung? Woher der derart hohe Prozentsatz an Autoimmunerkrankungen? Und warum kämpften wir alle mehr oder weniger ständig mit Gefühlen von Panik und Unsicherheit?
Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass ich ohne die klassische universitäre Ausbildung, die ich erhalten habe, meinen Weg nicht gefunden hätte. So viel von dem, was ich im akademischen Umfeld gelernt habe, ist in die von mir entwickelte Holistische Psychologie eingeflossen. Doch je mehr ich selbst über das Band zwischen Geist, Körper und Seele herausfand, desto deutlicher sah ich auch, wo die Grenzen eben jener klassischen Ausbildung lagen.
Das Band zwischen Geist, Körper und Seele
Schließ deine Augen. Stell dir eine Zitrone vor. Schau auf ihre glänzend gelbe Schale. Halte sie in der Hand. Spüre ihre Poren. Halte sie dir vor die Nase. Stell dir vor, wie ihr reiner Duft sich ausbreitet. Nun ruf dir vor dein inneres Auge, wie du eine dicke Scheibe von der Zitrone abschneidest. Wie der Saft spritzt, wenn du durchs Fruchtfleisch schneidest! Schau dir die ovalen Kerne an. Nun führst du die Zitronenscheibe an die Lippen. Vielleicht brennt es ein wenig, wenn die Zitrone sie berührt. Schmeck die Säure, den kühlen Zitrusgeschmack, die Frische. Zieht sich nun etwa dein Mund zusammen und füllt sich mit Speichel? Schon die bloße Vorstellung einer Zitrone kann eine Sinnesreaktion auslösen. Und ohne das Buch aus der Hand zu legen, hast du soeben das innige Band zwischen Geist und Körper live erlebt.
Diese Visualisierung ist eine einfache, aber höchst wirkungsvolle Methode, um zu zeigen, wie Geist und Körper zusammenspielen. Leider herrscht in der westlichen Medizin die beschränkte Überzeugung vor, dass Geist und Körper zwei getrennte Dinge sind – Kliniker behandeln entweder den Geist (Psychologen und Psychiater) oder den Körper (die einzelnen Fachmediziner). Nur selten werden Körper und Geist als Einheit in die Behandlung einbezogen. Durch diese willkürliche Trennung von Körper und Geist nimmt sich die Medizin ihr volles Heilungspotenzial und macht uns manchmal noch kränker. In den Kulturen indigener und asiatischer Völker versteht und respektiert man seit Jahrtausenden die Verbindung von Psyche, Körper und Seele/Geist2 – das Gefühl, dass es etwas gibt, das größer ist als wir.3 Rituale und Zeremonien werden dort seit jeher eingesetzt, um sich über das Selbst mit den Ahnen zu verbinden und sie um Führung und Klarheit in bestimmten Fragen zu bitten. Man handelte stets im Einklang mit dem tiefinneren »Wissen«, dass der Mensch als Ganzes aus miteinander innig verquickten Teilen besteht.
In der westlichen Schulmedizin wurde dieses Band lange Zeit als »unwissenschaftlich« abgetan. Im 17. Jahrhundert postulierte der französische Philosoph René Descartes den »Leib-Seele-Dualismus«4, der von einer Trennung zwischen Körper und Geist ausgeht.5 Vierhundert Jahre später existiert diese Zweiteilung noch immer. Wir behandeln den Geist beziehungsweise die Psyche immer noch als etwas, das getrennt vom Körper ist. Wenn Sie an einer psychischen Erkrankung leiden, dann gehen Sie zu einer bestimmten Art von Arzt, haben eine bestimmte Art von Krankenakte und landen schließlich in einer bestimmten Art von Klinik. Werden Ihre Symptome dagegen als »körperlich« deklariert, laufen völlig andere Prozeduren ab. Der technologische Fortschritt des 19. Jahrhunderts brachte uns viele neue Erkenntnisse über die Biologie des Menschen und darüber, wie Umweltfaktoren (Viren und Bakterien) uns schaden können. Die Medizin entwickelte sich zu einem System von Eingriffen von außen. Treten Symptome auf, so ist ein Arzt zur Stelle, der sie behandelt: entweder, indem er sie beseitigt (zum Beispiel mittels Operation) oder indem er sie therapiert (mittels verschreibungspflichtiger Medikamente, die bekannte und unbekannte Nebenwirkungen aufweisen). Statt auf unseren Körper zu hören – die verschiedenen Symptome sind schließlich die Sprache, in der er sich uns mitteilt –, versuchen wir, ihn zum Schweigen zu bringen. Aber durch das Unterdrücken von Symptomen handeln wir uns oft nur neue Probleme ein. Die Idee eines ganzheitlichen Heilungsansatzes wurde zugunsten der reinen Symptombeherrschung aufgegeben. Und dadurch sind schädliche Abhängigkeitsverhältnisse entstanden. Ich nenne das die »Heftpflastertherapie«, bei der wir uns nur darauf konzentrieren, isoliert die auftretenden Symptome zu behandeln, uns jedoch nie um die zugrunde liegenden Ursachen kümmern.
Die Psychiatrie bezeichnete sich selbst einmal als die »Wissenschaft (oder das Studium) von der Psyche beziehungsweise Seele«. Heute richtet sich das Augenmerk der Psychiatrie zum überwiegenden Teil auf die Biologie des Menschen. Ein Psychiater wird sich sehr viel wahrscheinlicher nach psychischen Erkrankungen in Ihrer Familie erkundigen und Ihnen dann ein Antidepressivum verschreiben, als Sie auf traumatische Kindheitserfahrungen hin zu befragen oder Ihnen Empfehlungen für eine gesündere Ernährung und einen anderen Lebensstil zu geben. In der US-amerikanischen Psychiatrie wird grundsätzlich gemäß den Anweisungen des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, auf Deutsch »diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen«, aktuell in der fünften Auflage) vorgegangen. Das DSM wird von der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association, APA) herausgegeben und stellt eine Auflistung von Symptomen dar, anhand derer eine Diagnose gestellt wird – für gewöhnlich das Vorliegen einer genetisch oder »organisch« bedingten »Störung«. Wenn wir allerdings unsere Diagnose sind, mindert das den Anreiz, uns zu verändern oder nach den eigentlichen Wurzeln unseres Problems zu suchen. Wir identifizieren uns mit dem Etikett, das man uns aufgeklebt hat. So bin ich.
Mit der Wende zum 20. Jahrhundert kam der Glaube, dass für jede Diagnose genetische Gründe verantwortlich seien, eine Theorie, die als genetischer Determinismus bekannt wurde. Diesem Modell zufolge werden unsere Gene (und in der Folge unsere Gesundheit) bei der Geburt festgeschrieben. Ob es unser »Schicksal« ist, gewisse Krankheiten zu bekommen oder eben nicht, wird allein davon bestimmt, wie viel Glück oder Pech wir mit unseren Erbanlagen gehabt haben. Der genetische Determinismus lässt Faktoren wie familiären Hintergrund, Traumata, Gewohnheitsmuster und sämtliche anderen Umwelteinflüsse unberücksichtigt. In diesem Szenario spielen wir keine aktive Rolle, was unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden angeht. Und warum sollten wir auch? Wenn alles genetisch bedingt ist, dann ist es auch nicht nötig, nach anderen Gründen als jenen zu suchen, die in der DNA festgeschrieben sind. Doch je besser die Wissenschaft das Zusammenspiel von Körper und Umwelt versteht (in seinen unzähligen Spielarten, angefangen bei unserer Ernährung über unsere Beziehungen hin zu Systemen rassistischer Unterdrückung), desto vielschichtiger wird das Ganze. Wir sind nicht nur Ausdruck unseres genetischen Codes, sondern auch das Produkt einer Vielzahl von Interaktionen mit der Umwelt, die zum Teil unserer Kontrolle unterliegen, zum Teil aber auch nicht. Sobald wir einmal unseren Fokus über die Geschichte, dass die Gene unser Schicksal sind, hinaus erweitern, können wir unsere Gesundheit in die eigene Hand nehmen. So können wir den Blick über unsere einstige »Alternativlosigkeit« hinausrichten und uns wirklich dauerhaft verändern.
Mit dieser »Alternativlosigkeit« wurde ich während meiner Ausbildung fortwährend konfrontiert. Auch mir brachte man bei, dass psychische Störungen genetisch bedingt sind; dass mit unseren Erbanlagen unser Schicksal vorgezeichnet ist und wir daran, wenn überhaupt, kaum etwas ändern können. Meine Aufgabe war es, Symptome aufzulisten – Schlaflosigkeit, Gewichtszunahme, Gewichtsverlust, Wut, Reizbarkeit, Trauer – und auf dieser Grundlage eine Diagnose zu erstellen, um dem oder der Betreffenden dann therapeutische Unterstützung anzubieten. Wenn diese nicht ausreichte, konnte ich den Patienten an einen Psychiater überweisen, der ihm dann Psychopharmaka verschrieb. Das waren meine Optionen als Therapeutin. Es gab weder Diskussionen darüber, welche Rolle dem Körper bei einer psychischen Erkrankung zukam, noch wurden wir je darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, Wörter wie »Heilung« oder »Wohlbefinden« zu gebrauchen. Die Idee, die Psyche über den Körper und seine Energie zu heilen, wurde als unwissenschaftlich verworfen. Oder schlimmer noch: als New-Age-Quatsch.
Wenn wir aber nicht fragen, was wir selbst zu unserem Wohlergehen beitragen können, begeben wir uns in einen Zustand erlernter Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Die dahinterstehende Botschaft lautet: Wir sind den Launen unseres Körpers ganz und gar ausgeliefert, und die einzige Möglichkeit, etwas für unser Wohlbefinden zu tun, ist es, unsere Gesundheit in ärztliche Hände zu legen. Denn die Ärzte haben Zauberkügelchen, die uns gesund machen, sie kennen alle Antworten, sie können uns retten. In Wirklichkeit aber werden wir so nur immer kränker und kränker. Als ich begann, den Status quo zu hinterfragen, dämmerte mir die Erkenntnis: Wir schaffen es nicht, uns zu ändern, weil uns niemand die volle Wahrheit über unser Menschsein sagt.
Die Kraft zum Wandel
Doch gerade in dieser Hinsicht vollzieht sich im Moment ein Erwachen. Wir müssen die Story von den »defekten Genen«, die angeblich unser Schicksal sind, nicht länger glauben. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse nämlich besagen, dass unsere ererbten Gene nicht unveränderlich festgeschrieben sind, sondern auf Einflüsse aus der Umwelt reagieren. Dieser Prozess beginnt schon im Mutterleib und setzt sich ein Leben lang fort. Die bahnbrechenden Entdeckungen der Epigenetik wissen eine ganz neue Gen-Geschichte zu erzählen.
Natürlich bekommt jeder von uns bei der Geburt einen Satz Gene zugeteilt. Doch wie bei einem Blatt Spielkarten können wir in einem gewissen Umfang selbst bestimmen, welche Karte wir ausspielen wollen. Wir entscheiden selbst über unsere Schlaf- und Essgewohnheiten, über unsere Beziehungen und die Art oder das Ausmaß unserer körperlichen Bewegung. Und all diese Faktoren wirken sich auf unsere Genexpression aus.
Der Entwicklungsbiologe Bruce Lipton leistet seit Jahren engagiert Öffentlichkeitsarbeit, um auf die wichtige Rolle der Epigenetik hinzuweisen, die er als »neue Biologie«6 bezeichnet. Gleichzeitig kritisiert er scharf den genetischen Determinismus als grobe Verzerrung der Wahrheit über die biologische Natur des Menschen. Tatsächlich übt alles – vom Fruchtwasser im Mutterleib über die Worte, die wir als Kind von unseren Bezugspersonen hören, und die Luft, die wir atmen, bis hin zu den chemischen Stoffen, die wir mit der Nahrung aufnehmen – Einfluss auf unsere Gene aus. Was zur Folge hat, dass manche ein- und manche abgeschaltet werden. Wir kommen mit einem bestimmten genetischen Code zur Welt. Doch Genexpression und -repression werden von der Umwelt beeinflusst. Mit anderen Worten: Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, verändern uns bis hinein in die Ebene unserer Körperzellen.
Die Wissenschaft der Epigenetik7