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SPANNENDE SPURENSUCHE IN DER PROVINZ CHEFINSPEKTOR ANTON ("Tone") HAGEN KEHRT NACH JAHREN BEI DER LINZER KRIMINALPOLIZEI NACH VORARLBERG HEIM. Einen Tag nach seinem Dienstantritt wird in Feldkirch ein Schriftsteller ermordet - genauer: geköpft, und zwar mit einer mittelalterlichen Hellebarde. Neben der Leiche findet man ein Manuskript, das den Mord literarisch vorwegnimmt. Mit einer wesentlichen Abweichung in der Person des Opfers freilich. Die Töchter des Ermordeten, eine davon mit einem Türken der zweiten Generation verheiratet, scheinen ihrem Vater nicht sonderlich nachzutrauern. Türkische Kreise und das regionale Schriftstellermilieu sind denn auch zunächst das Umfeld, in dem Hagen und seine neuen Kollegen ermitteln. Doch die Spuren sind rar. Da passiert ein zweiter Mord… Während die von Franz Kabelka detailgenau und realistisch beschriebene Polizeiarbeit ihren Lauf nimmt, zerbröckeln Fassaden gutbürgerlichen Familienlebens, und Chefinspektor Hagen wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert LESERSTIMMEN: "Heimkehr ist ein schräger Krimi, aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt und hat durchaus literarische Qualitäten verpackt mit viel Ironie." "Kabelka zeigt dass die Auflösung eines Mordfalls oft näher liegt, als man denkt: ein Schriftsteller, dem sein eigenes Manuskript zum Verhängnis wird … das muss man gelesen haben!"
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Seitenzahl: 291
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Kabelka: Heimkehr
Franz Kabelka
Kriminalroman
Mit besonderem Dank anHans Poiger, Herbert Mathis, Walter Widderund Sibylle
© 2004HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7099-7533-6
Satz: Haymon-VerlagUmschlag: Benno Peter
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Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen?Wer wartet hinter der Tür der Küche?Rauch kommt aus dem Schornstein,der Kaffee zum Abendessen wird gekocht.Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause?Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.Meines Vaters Haus ist es,aber kalt steht Stück neben Stück,als wäre jedes mit seinen eigenenAngelegenheiten beschäftigt, die ich teilsvergessen habe, teils niemals kannte.
Franz Kafka
Es wird ein Beben geben.
Hat er dieses reinigende Gefühl nicht schon beim Aufstehen gehabt? Jetzt ist das Gefühl zur Gewissheit gereift. Ein Beben, wie er, wie seinesgleichen es noch nicht erlebt haben würde. Nicht jenes vage Vibrieren, das einem der Nachrichtensprecher im Nachhinein als ein Beben Stärke vierkommafünf nach Richter bestätigt; nein, eines, wie es in unseren Breiten nur alle paar hundert Jahre einmal auftritt, eines, dem auch moderne Stahlbetonarchitekten nichts entgegenzusetzen haben. Alles rennet, rettet, flüchtet, einem Urinstinkt folgend, hinaus auf die Straße, die indes schon keine Straße mehr ist, nur noch eine zu schroffen Platten und Blöcken sich auftürmende Agglomeration, ein Wirrwarr von umgestürzten, ineinander verhedderten Strommasten und -drähten, von dahinschlitternden Autowracks, von abgerissenen Gliedmaßen. Abgründe tun sich auf, mit denen die Maler apokalyptischer Szenarien seit jeher drohen, Schlünde einer realen Hölle, die innerhalb von ein, zwei Minuten verschlingt, was Menschenhand seit Menschengedenken errichtet. Heulen und Zähneknirschen aus der Knochenmühle, und Zischen, und Klirren, und Brodeln und Bersten, wo Glas und Stahl im Feuersturm verschmelzen, so leicht wie Haut und Haar. Wer verschwendete noch einen Gedanken an die Aktien und Dokumente im Tresor, wo deren Nutznießer und Besitzer ihnen bereits vorangegangen sind in der Auflösung aller Werte? Wer nähme Anstoß am Gestank des brennenden Benzins, wo Menschenfleisch brennt?
Wo hat er bloß den Satz gelesen, der ihn seit geraumer Zeit verfolgt?
…dass das, was vom Leben eines Menschen am Ende übrig blieb, auf der nächsten Müllkippe landete.
Wie du den Satz auch drehst und wendest, sezierst und mit Antithesen konfrontierst – er bleibt unaufhebbar. In all seiner Grausamkeit. In all seiner Schönheit, wie allein wahre Sätze sie ausstrahlen. Und zutiefst egalitär: Auf jener Müllkippe sticht nichts hervor durch Glanz, durch Form, durch Wert. Individuellste Gerüche lösen sich auf im modrigen Mief der uniformen Halde.
Die Selbstverständlichkeit des Mülls. Er hat sie nie hinnehmen wollen. Hat achtlos weggeworfene Plastikflaschen auf fremden Stränden eigenhändig zusammengeklaubt. Papa, der Müllmann! Der zertretene Zigarettenstummel pflückt vom heißen Asphalt. Der kein Papierfetzchen duldet im Plastikcontainer und mit seinem Ordnungssinn die Familie foltert. Solange er noch so etwas wie eine Familie hatte. Der penibelste aller Opas, der gewissenhafteste.
Dein Gewissen nimmt dich in Haft, mein Freund! – Ein dünner Telegraphendraht vermiest dir das schönste Panorama! – Was du Ästhetik nennst, nenne ich pure Pedanterie!
Rhomberg, der immerzu verräumen muss, was nicht ins Bild passt. Das, was ohnehin nicht in den Griff zu kriegen ist. Rhomberg, ein Don Quijote der Müllkippe. Jener letzten, auf der am Ende ein jeder landet. Eugen Rhomberg, der selbstsüchtige Riese aus Oscar Wildes Märchen. Der die Kinder aus seinem Garten vertreibt und dafür mit ewigem Winter bestraft wird. Wie gerne würde er mit diesem Riesen tauschen, der, steif und starr hingestreckt wie die gefrorene Erde unter ihm, bedeckt ist mit einem Leichentuch aus weißen Blüten. Dessen Probleme möchte er haben! Wann sind die Kinder seiner Kinder das letzte Mal bei ihm im Garten herumgetollt, wann bekommt er sie überhaupt noch zu sehen?
Nein, kein Trost: Die Müllkippe wälzt sich, schleichend, stetig, auf einen zu, ein gewaltiger Polyp, der dich erstickt, ehe er dich verschlingt. Was wäre dem entgegenzusetzen? Stoizismus? Existentialismus? Kalte Verachtung? Nein. Neue Hüte würden landen, wo die alten verrotten, würden die Müllkippe nur noch schneller anwachsen lassen. Überhaupt hätte er, zugegeben, auch kein Talent dafür. Wie sollte einer mit bald sechzig noch etwas dermaßen Zähes erlernen wie die Gesetze der Stoa?
Seit Frühjahrsbeginn ist es offensichtlich geworden: Er ist im Begriffe, eine Glatze zu bekommen. Dabei finden sich in der Bürste oder im Duschbecken nicht mehr Haare als früher. Sie scheinen sich, nicht nur sprichwörtlich, in Nichts aufzulösen.
Die Haare gehen mir aus wie meine Themen, sagt er sich – worüber soll ich noch schreiben, was wäre es noch wert, beschrieben zu werden? Schon in den Achtzigern haben seine Familienepen nur mit Mühe einen Verleger gefunden. „Zu schwermütig, Rhomberg“, sagte ihm Kahlmann, sein Verleger, ins Gesicht, „und zu viele, die sich wie du in dieser Schwermut suhlen.“ Suhlen – die Vokabel hat er tatsächlich verwendet! Zu allem Unglück suhlten sich die anderen immer einen Tick vor ihm in genau den Themen, die auch er beackerte.
Der Wahn der Freiheit …, sein umfangreichstes und vielleicht wichtigstes Werk. Dessen Erscheinungsdatum liegt mittlerweile auch schon sechs Jahre zurück – länger, als der kurzlebige belletristische Markt es erlaubt. Welche Demütigung, sich seither mit gemeinen Rundfunkfeatures über Wasser halten zu müssen! Nicht zu reden von der gleichermaßen unumgänglichen wie verhassten Gesichtswäsche: Bei jeder noch so idiotischen Vernissage, bei jeder noch so nichtigen kulturpolitischen Veranstaltung solltest du aufkreuzen, bloß weil dort auch die aufkreuzen könnten, bei denen es präsent zu sein gilt, um überhaupt ein Produkt platzieren zu können: die Macher, die Rezensenten und, last not least, die professionellen Adabeis, die wiederum Macher und Rezensenten maßgeblich beeinflussen. Doch während ihm solcherlei gesellschaftliche Präsenz eine unsägliche Überwindung abverlangt, genießen es viele seiner so genannten Mitbewerber, vom Kulturlandesrat zum ritualisierten Kulturfrühstück ins Hotel Metz eingeladen zu werden, zum Meinungsaustausch über kulturpolitische Weichenstellungen, wie es im Aussendungstext so hübsch heißt.
Ladstätter, der neue Kulturlandesrat, weiß als ehemaliger Rechtsanwalt, wie er seine Klientel bei der Stange hält. Wo sich einst die jungen Wilden in der Autorenschaft aufregten über politische Gängelung und verkrustete Strukturen, stellt man sich heute zahm an um ein literarisches Förderungsstipendium oder um die Zuteilung des landeseigenen Ateliers auf einer griechischen Insel.
Er zündet sich eine Pfeife an. Durch die Rauchschwaden hindurch betrachtet er sinnierend den ausgeschalteten Neunzehnzoller, der seit ein paar Monaten die Hälfte seines Schreibtischs belegt. Ob es vielleicht nur Neid ist? Neid auf die neue Generation, auf ihren Erfolg, ihre Anpassungsfähigkeit? Dass sie stundenlang am Bildschirm hocken und ihre postmodernen Mon-tagen zusammenbasteln können, ohne tränende Augen zu bekommen? Dass sie die Welt nicht als einzige große Müllhalde erleben, sondern fröhlich draufloskonsumieren und, wann immer ihnen danach ist, auf schweren Maschinen über die Schweizer Pässe in den Süden jagen? Die Lederhosenträger seiner Kindheit hat er noch belächelt, die Lederkluft der rasenden Zunftgenossen aber hasst er. Sie vermittelt schon von ihrer Textur her, wie aalglatt und rasant ihre Träger durchs Leben lavieren. Zurück bleiben leere Bierdosen und leere Phrasen, Staub und Gestank. Und zurück lassen sie in dem Zurückbleibenden das dumpfe Gefühl: Bist halt zurückgeblieben und also, zu Recht, verstaubt und verstunken! Räum du doch die leeren Dosen weg, wenn du ihren Anblick nicht aushältst!
Noch mehr zuwider sind ihm die Alten, die meinen, sich wie Junge gebärden zu müssen; die plötzlich versuchen, sich mit ihren überschwappenden Bierbäuchen auf einspurigen Rollschuhen fortzubewegen, oder sich, als biedere Steuerberater wie Burkhart Brandner, eine röhrende Harley Davidson zulegen, um damit bei einschlägigen Bikertreffen einzureiten, wo sie sich den Frust des gehobenen Bürgers für ein Wochenende von der Seele saufen. Wahllos herumficken, ohne Kondom, der vorgeblichen Freiheit zuliebe ihre Angst verdrängen. Und von ihren Touren heimkehren bewaffnet mit Videos, wie von einer Großwildsafari in Südafrika. Braun gebrannt. Mit geschwellter Brust. Ein ödes Aufplustern des Egos. Geiles Berichterstatten vom geilen Dabeigewesensein. Früher mittels Dias, heute per Video, das Publikum auf dem Sofa in Geiselhaft. Hast du nichts erlebt diesen Sommer, bist du es nicht wert, dabei zu sein, wenn wir unser Dabeigewesensein präsentieren. Erlebniszwang und Präsentationszwang – eins funktioniert nicht ohne das andere. Es gibt keinen größeren Tabubruch, als sich gegen eine Präsentation zur Wehr zu setzen.
Tief in ihm brodelt eine Kraft, die nur darauf wartet, freigesetzt zu werden. Inwendig ist er gefährlicher als ein Vulkan. Ein Vulkan kennt keine Gefühle. Er sehr wohl. Auch wenn er sie gut zu verbergen versteht. Er hat es satt, das ewige Nachbeten, hat sie satt, die elenden Nachbeter. Gradso wie die Vorbeter.
Auf die Pfähle mit den Schädeln der Präsentatoren! Nicht, um irgendwelchen Schaulustigen zu imponieren, nein – um damit ihre eigenen Regeln zu zitieren, was immer ein Kokettieren ist, ein Spiel, sinnlos und sinnvoll zugleich, das Spiel als Gegenpol zum Korsett, das sie alle längst meinen abgestreift zu haben, nur weil es nicht mehr aus Fischgräten gefertigt ist. Mit dem Leben selbst herumzuspielen, und also mit dem Tod. Wie Gott selbst, oder wie jeder kleine Krimiautor.
Das Motiv dafür? Ein Beben auszulösen…
Ein Beben, das ganze Inseln zerbersten lässt. Das Flutwellen in Gang setzt und jede Barriere überschwemmt, wie seinerzeit auf Santorini und Kreta. Überschwemmt mit blankem Entsetzen, mit Panik pur: das Meer der Ohnmacht, unendlich mächtig, unermesslich tief; und schließlich der Dauerregen der Trauer, graue, nasse Schleier, die nichts hineinlassen, und nichts hinaus. Das schiere Gegenteil aller Präsentation: echt Erlebtes. Letzte Gefühle. In diesem Land, wo Gefühle verboten sind, so sie sich nicht verkaufen lassen in katholischen Bildungshäusern oder auf Tai-Chi-Kursen oder beim Bauchtanzseminar. Aber er wird sie lehren: Die Tiefe des Gefühlten hat nichts mit Gut und Böse zu tun – nur damit, ob das Wesentliche berührt wird, einmalig, nicht reproduzierbar. Nicht wie die vielen täglichen Tode, von denen du wieder auferstehst, ungeläutert, unbefriedigt. Ein wirkliches Beben eben. Ein Umsturz.
Denn am Anfang muss herrschen das Chaos. Notwendigerweise! Das Chaos ist, weiß die Bibel, wissen alle großen Schöpfungsmythen, die Vorbedingung jeglicher Kreation.
Er fühlt, dass er endlich wieder ein Thema hat, für das es sich lohnt zu schaffen. Sein Thema! Niemand wird es ihm vor der Nase wegstehlen können, und es wird aktuell sein, solange er es dafür hält. Marktunabhängig, marktenthoben.
Er schaltet, das erste Mal seit Tagen, den Computer ein und aktiviert den Internetzugang. Auf den hätte er von sich aus auch gerne verzichten können, aber sein Schwiegersohn Erdal hat ihm das Modem eingeredet: Dann kriegst du täglich elektronische Post von deinen Töchtern und Freunden und Kollegen. Und für deine Recherchen brauchst du nicht einmal mehr in Bibliotheken zu fahren, die sind heute alle schon online. Von wegen tägliche Post! Seine Töchter, die sich am Telefon verleugnen lassen, haben ihn in ihren Verteiler für Massenmails aufgenommen, das ist alles. Um ständig damit genervt zu werden, für irgendein Weltverbesserungsanliegen Namen und Adresse herzugeben. Was er sich natürlich verbeten hat.
Langsam, aber stetig beginnt er zu schreiben, im Zwei-Finger-Suchsystem. Wie zwei Raubvögel kreisen die Zeigefinger kurz über der Tastatur, stoßen plötzlich zu. Das Beutegut wächst von Minute zu Minute. Er nickt zufrieden, wie immer, wenn er merkt, dass ein Text aus einem Guss ist, und muss kichern: Welch eine Vorstellung, dass das Chaos aus einem Guss sein könnte! Aber hat er jemals so unprätentiös formuliert, so bar aller abgegriffenen Metaphern, so kindlich konkret? Jede Silbe ist durchstrahlt von einer Akkuratesse, die seine sonst so aufwändige Korrekturarbeit erübrigt. Egal, ob jemals einer dieses Opus zu sehen bekommt: Hauptsache, Stimmigkeit herrscht – perfekte Stimmigkeit zwischen dem Werk und seinem Schöpfer.
Die Stimmigkeit der wortgewordenen Rache.
Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt … Jetzt wohnt es, jetzt macht es sich breit in ihm!
Zufrieden streicht er sich mit beiden Händen über den Schädel, von der Stirn über die Geheimratsecken bis zurück zur schütteren Wirbelpartie, und ihm ist, als würde sich auch unter seiner Kopfhaut bereits etwas regen, etwas Neues zu sprießen beginnen.
Knapp nach Ansfelden, keine fünfzehn Kilometer entfernt von seiner alten Wohnung und noch gute vierhundertfünfzig vom Ziel seiner Fahrt, kommt Hagen wieder der Spruch von Edi in den Sinn, den der ihm als das elfte Gebot vor Jahren mit auf den Weg gegeben hat: dass nichts, aber auch gar nichts einen halbwegs zurechnungsfähigen Vorarlberger, der es geschafft hat, sich vom Ländle loszueisen, zur Rückkehr bewegen dürfe. Keine Bürgschaft, keine Erbschaft, keine Liebschaft. Nichts und niemand!
Ach Edi, weiser Edi! Wenn der wüsste! Auslachen würde er ihn, lauthals. Und das wirklich Peinliche daran: Keiner hat ihn auffordern müssen oder gar genötigt zu diesem Schritt, diesem Salto rückwärts! Zu einem Salto, der sein Leben, er ahnt es, von Grund auf verändern wird. Im Gegenteil: Hatten nicht gleich zwei Frauen versucht, ihn mit allen Mitteln in Linz zu halten? Die eine, indem sie ihm die Ehe anbot, und die andere, indem sie beteuerte, eh nix mit Heirat am Hut zu haben. Und er? Er hatte mit beiden zu wenig am Hut, um zu bleiben.
Obwohl, objektive Gründe (objektiv subjektive eigentlich, aber so genau wollen wir’s nicht nehmen) ließen sich schon anführen für seine Rückkehr, jede Menge sogar: der Bruder, geschieden, seit seiner Scheidung seelisch noch angeknackster als zuvor und hauptsächlich damit beschäftigt, nicht wieder oben auf der Maria Ebene zu landen, bei den wandelnden Alkoholleichen; die Mutter, herzkrank und trotz einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit nicht zu einem Hörgerät zu bewegen; und ein Heimplatz für den Vater hat sich im ganzen Land keiner finden lassen, jedenfalls keiner, für den man nicht mehr als das Monatseinkommen eines Chefinspektors hätte hinblättern müssen. Sollen sich doch die Jungen um die Alten kümmern, im Fall von Söhnen halt die Schwiegertöchter. Geschiedene Söhne sind im Altenkonzept des Landes nicht vorgesehen. Den halben Urlaub hat er heuer damit vertan, von Behörde zu Behörde zu pilgern, mit dem ernüchternden Ergebnis: Er, der Ältere, der mit dem geregelten Einkommen, würde sich der Eltern annehmen müssen, Sozialstaat hin, Wohnort her. Ja, die neue Regierung! Die mit dem neuen Regieren! Hält viel auf Familienbande. Hat eben das Familiengeld für alle, ihr zentrales Wahlversprechen, eingeführt und Nulldefizit und Neuanschaffung von Abfangjägern beschlossen. Woher sollen sie da noch das Geld nehmen für zusätzliche Heimplätze für achtzigjährige Väter, die ihre Kinder nicht mehr erkennen?
Aber wenn du ehrlich bist, ist da auch noch etwas anderes. Diffuses Zeugs, verfilzte Sehnsüchte, die, wie Seetang, manchmal bei einem Glas Bier im Harlekin hochgeschwappt sind in dir. Nach einem vergammelten Drumset zum Beispiel, das zerlegt im Keller des Elternhauses vor sich hinrostet; nach einer kleinen, feinen Session im verrauchten Lustenauer Jazzhuus und nach den stundenlangen Palavern mit Joe, die kaum jemals vor vier Uhr morgens und einem gehörigen Alkspiegel temporär terminiert worden waren. Vielleicht sogar danach, dass dich nur wieder einmal einer mit Tone anredet. Und nach Lisa natürlich, x-beinig und zwiebelbrüstig, mit aufgestellten Nippeln in gelsenschwangeren Riednächten, beim Nacktbaden am Alten Rhein. Besondere Kennzeichen: Hasenscharte und frech wie ein Rohrspatz, ein Spatz mit ausgeprägtem Dialekt – Wälder Dialekt. Genau genommen müsstest du auch noch ihre Fähigkeit, dich immer wieder sitzen zu lassen, zu ihren Spezialitäten zählen.
Wer hat eigentlich wen aufgerissen? Oh beschauliche Bundesheerzeit, frühe Siebzigerjahre. An jedem freien Wochenende bist du mit Vaters Ford von Fete zu Fete gezogen, von Konzert zu Konzert. Blues, Soul, Rock, Jazz – egal, Hauptsache raus. Bis in den hintersten Bregenzer Wald, oft zusammen mit dem damals siebzehnjährigen Bruder, damals, als der noch zu gebrauchen war. Hartmut war auch dabei, als du sie das erste Mal getroffen hast. Im kult, klein geschrieben, aber groß in Mode. Die verruchteste aller verrauchten Kneipen, und das ausgerechnet in Egg! Die gibt es sicher schon lange nicht mehr.
Verdammt gut, dass man auf der Polizeischule, kaum ein Jahr später, von diesen Besuchen des Aspiranten Anton Hagen nichts spitzgekriegt hat; obwohl, andererseits müsste man die Besuche im kult ja als erste Feldversuche einstufen, als Erfahrungsschatz, den keine Polizeischule je vermitteln kann – quer durch die Teilbereiche jeder Kriminalabteilung. Verführung Minderjähriger war da noch das Geringste. Ein bisschen fühlst du dich bis heute unwohl, dass Hartmut damals durch dich das erste Mal mit Gift in Berührung gekommen ist, auch wenn es nur Haschisch war. Du selbst hast dich mehr ans Bier gehalten, und an Lisa natürlich. Man hat in der Kneipe herumgeschmust und einander inmitten des Gedränges an der Bar die Leibchen aus den Hosen genestelt. Sie haben beide immer so sauenge Jeans getragen, aber sie hat es wahrscheinlich ein bisschen weniger gekniffen im Schritt. Oder auch nicht. Jedenfalls: Welch ein Prickeln, wenn die anderen aus den Augenwinkeln beobachteten, wie die forschenden Finger unter den T-Shirts verschwanden… Bei dem Gedanken daran kriegst du jetzt noch einen Steifen. Im kult hat es sogar ein Hinterzimmer gegeben, in das die Pärchen zu gegebener Zeit verschwinden konnten, aber darauf hast du dich dann doch nie eingelassen. Man musste sich geradezu anstellen um Tickets, um in diesen stinkenden Verschlag zu gelangen.
Sie waren lieber ins Ried gefahren, oder an den Alten Rhein. Dabei hatte Hartmut klarerweise nichts mehr verloren. Das erste Mal war vielleicht nicht das beste Mal, aber sicher ist es das einprägsamste Bumsen gewesen in deiner Karriere. Die Motorhaube des väterlichen Gefährts hatte danach eine Delle, die dir zum Glück ein Fähnrich deiner Kompanie, der schwarz eine Autowerkstatt unterhielt, noch am selben Abend ausbügelte. Lisas Keuchen und ihre kleinen Schreie, während die abgestützten Hände das Blech eindrückten… Es gibt Schlimmeres, worauf man zurückblicken kann.
Etwa jener Tag, als der Bruder plötzlich verschwunden war. Der Notizzettel auf seinem Bett sagte nichts aus über die Gründe für sein Abhauen, geschweige denn über seine weiteren Absichten. Ich bin weg. Das wusste man auch so. Erst Wochen später kam eine fettige Karte aus Kreta, auf der Hartmut lakonisch mitteilte, die nächste Zeit in einer Höhle hausen zu wollen, die on keinem Briefträger besucht werde, weswegen sich eine genauere Adressenangabe erübrige.
Hagen schiebt eine Kassette ein. Ärgert sich wieder einmal, nicht schon längst auf CDs umgestiegen zu sein. Praktisch alle seine Kollegen brennen mittlerweile ihre eigenen auf dem Computer, pfeifend auf alle Urheberrechte, gerade so wie die Kids mit ihren mp3-Playern. Keinerlei Unrechtsbewusstsein. Schon gar nicht auf Seiten der Hersteller dieser handlichen Geräte, die das Ganze ja erst ermöglichen. Ein richtiges Brennfieber hat sich in letzter Zeit breit gemacht, weil die Musikfirmen den Kopierschutz zu verbessern drohen, die größte Gratis-mp3-Börse im Internet haben sie schon stillgelegt. Nur er alter Trottel schlägt sich noch mit ausgeleierten, abgeriebenen Bändern herum. Dabei sitzt er von allen mit Abstand am meisten im Auto, dort, wo er vorzugsweise Musik hört. Doch ihm graust vor dem Aufwand der Umstellung. Das Sichten, das Ordnen, das Überspielen auf die Festplatte, das Beschriften, womöglich Layouten, das Brennen auf CD-Rohlinge, was auch nicht immer hinhaut, wie man sich erzählt, das Stapeln in neuen Regalen… Deine Musikwand ist über die Jahre hin so organisch gewachsen, dass du blind nach der gewünschten Kassette greifen kannst. Das System verstehst nur du. Es hat nichts Alphabetisches an sich, nichts Chronologisches, überhaupt hat es wenig mit Logik zu tun. Eine autonome, logikfreie Zone – wenigstens im Privaten muss es die noch wo geben! Du, und nur du, weißt, warum die Theolonius-Monk-Interpretationen von Round Midnight neben dem frühen David Murray Octet zu finden sind, und Carla Bleys Social Studies gleich unter Gillespie in Cuba. Hast deine Musikwand, wortwörtlich, im Griff. Und andere haben dort ohnehin nichts zu suchen. Das ist selbst Gertrud mit der Zeit klar geworden. Ja, die Musikwand wirst du als Erstes wieder aufbauen müssen.
Der lange Baustellenbereich ist endlich vorbei, und er schafft es, mit einem Schlag gleich vier dieser Sonntagsfahrer zu über-holen, die sich, laut seiner privaten Statistik, aus irgendeinem Grund immer zwischen Mondsee und Salzburg anhäufen. Wird wohl an der Wirkung der Seen liegen, mutmaßt er, die Wirkung einer größeren Wasseransammlung auf die menschliche Psyche ist ja längst noch nicht hinreichend erforscht. Leichte Nebel ziehen über die Fahrbahn, die schmierig ist und rumpelig.
Vermutlich schon unter Hitler gebaut, für seine Kraft-durch-Freude-Kisten. Der Zeiger auf dem Tachometer sagt ihm, dass er für einen Polizisten nicht eben vorbildhaft unterwegs ist. Wurst, ab nächster Woche gehört er eh zur Gendarmerie. Er dreht die Lautstärke rauf, um das Archie-Shepp-Solo besser hören zu können, und überholt den nächsten Lahmarsch.
Salzburg bringt den ersten Stau und, logo, die Erinnerung an Gertrud. An ein Fortbildungsseminar, von dem er begeistert war. Sie hatte es verstanden, ihm schon beim Eintritt in den Sitzungssaal die Seminarunterlagen mit einem derart gewinnenden Lächeln auszuhändigen, da musste man sich ja für den Abend in der Hotelbar verabreden. Unglücklicherweise spielten sie dort keinen Jazz, sonst hätte er gleich Bescheid gewusst. Vielleicht hätte man sich dann all das Gemurkse erspart: die Gondelfahrt in der dreckigen Lagune, sein wahnwitziges Wollen wir heiraten?, ihr Nicken, die Scheidung keine zwei Jahre später. Gertrud, die nichts so sehr liebte wie diese schwedische Softieband, deren Namen ihn immer an den infantilen Spruch seines Alten erinnerte: Adda, adda, fortgehn tut der Vata. Sollte heißen: Die Frau bleibt zu Haus, ich geh jassen. Abba-Gertrud, die nichts so sehr verabscheute wie die Namen Nickelsdorf, Saalfelden und Ulrichsberg – alles Jazzfestivals in Österreich, auf die er sie anfangs schleppte. Mit anschließendem Wanderurlaub in der Region. Damit sie auch auf ihre Rechnung kam. Sie, die Alpenvereinsnummer 20052. Aber das hatte nur in Saalfelden funktioniert, das Mühlviertel und erst recht das Burgenland waren ihr zu flach. Und bald war auch sie ihm zu flach.
Irgendwie vermisst er die Grenzkontrollen an der deutschen Grenze. Nach dem Walserberg beschleunigt er den Toyota gewohnheitsmäßig auf 160, reduziert aber bald das Tempo. Wie wär’s mit einem Abstecher zu Jan Berger, mit dem er im Latzl-Fall so erfolgreich grenzüberschreitend zusammengearbeitet hat? Seine Nummer ist noch im Handy gespeichert. Nach zwei Versuchen, bei denen er von einer Abteilung zur nächsten verbunden wird, ohne dass er Berger ans Telefon kriegt, gibt er auf.
Wäre wohl auch keine besonders gute Idee gewesen, die Fahrt zu unterbrechen – eher ein Ablenkungsmanöver. Besser, du besinnst dich jetzt darauf, was der eigentliche Sinn dieser Reise ist. Dieser Übersiedlung. Deiner Heimkehr.
Bewusst wählt er die innerösterreichische Strecke, obwohl es über München erfahrungsgemäß flotter geht. Noch drei Stunden Aufschub also. Immer vorausgesetzt, es kommt zu keinen gröberen Staus über den Arlberg oder im Walgau. Drei Stunden, um sich einzustellen auf das Wiedersehen mit alten Gesichtern, mit alten Geschichten. Wen würde er außerhalb des Elternhauses als Ersten treffen? Einen der wenigen verbliebenen Freunde vor Ort? Joe, oder Edi? Oder eher Typen wie Quaks, den verhassten Gymilehrer, der ihn in Englisch einmal durch-fallen ließ, weil er gewagt hatte, die My-home-is-my-castle-Mentalität des Herrn Professor allzu deutlich zu hinterfragen? Ob er endlich in Pension ist? Wahrscheinlich nicht. Aufzuhören scheinen immer nur die halbwegs brauchbaren Lehrer, die miesesten verfügen über den längsten Atem. Sadismus hält fit. Oder, wie Joe zu sagen pflegte: Das Stabilste auf der Welt ist und bleibt ein breitgesessener Arsch. Was, no na, auch auf den eigenen Stand zutrifft. Siehe Koller und Kopetzky, dieses dop pelte K.o. im Linzer Revier, das partout nicht dazu zu bewegen war, in Pension zu gehen. Noch ein Grund übrigens, sich versetzen zu lassen. Obwohl einem natürlich keiner garantiert, dass es bezüglich potentieller Breitärsche in Bregenz besser ausschaut…
Wie oft Lisa wohl aus St. Gallen herüberkommt?
Er hat sie seit einer Ewigkeit nicht mehr getroffen, trotz seiner häufigen Kurzbesuche bei den Eltern im letzten Halbjahr. Nicht einmal erkundigt hat er sich nach ihr. Aber dazu reicht seine kriminalistische Schulung allemal: ohne direkte Fragen herauszukriegen, was man wissen will. Sie arbeitet jetzt in so einem schweineteuren Physiotherapiestudio, wo sie den Schweizer Managern ihre Verspannungen wegmassiert. Wie wär’s, sie zu überfallen und um einen Sozialtarif für Bullen anzusuchen? Ach was: sentimentale Blasen! Betrug an der Vergangenheit! Geboren aus einem – selbst verschuldeten – Notstand heraus.
Noch drei Stunden, um sich vorzustellen, wie es sein wird, wieder das alte Vier-maldrei-Meter-Loch im ersten Stock zu beziehen. Wo das Rauschen der Abwässer deutlicher zu hören ist als im Klo. Und wo das Knarren des Holzbodens jedem im Haus mitteilt, ob du dich gerade auf der Bude aufhältst, solo oder mit Anhang.
Knappe drei Stunden, um sich vorzubereiten auf etwas, das man vor Jahren endgültig verabschiedet zu haben meinte.
Mit lächerlichen Hundertzwanzig kriecht er jetzt dahin. Es schadet nichts, ein bisschen Zeit zu gewinnen. Der Speditionswagen mit seinen Möbeln sollte nicht vor vierzehn Uhr in Feldkirch eintrudeln. Da dürfte er längst die erste Kanne Kaffee bei Mutter geleert haben. Und hoffen, dass der Vater ihn wieder erkennt.
*
„Der Tone ist wieder da, Vater.“
Der Tone. Der Bub. Der grau melierte, mit einer sich deutlich abzeichnenden Fettschwarte in Nabelhöhe.
Er betrachtet sie von der Seite. Registriert, wie faltig ihre massiven Oberarme geworden sind. Früher verglich er sie gerne mit den zylindrischen Gliedmaßen der Frauengestalten auf den kubistischen Gemälden Picassos oder Légers. Die starken Oberarme hat er von ihr. Waren schon ein Vorteil gewesen im Handballteam, trainiert vom eigenen Vater. Wie der Bruder auch. Sie gehörten beide zu den besten Kreisläufern in der Ländleauswahl. Seinerzeit. Ach ja: Genau das, hatte er sich als Jugendlicher geschworen, werde er niemals auf den Lippen führen: zu meiner Zeit. Nicht das!
Hartmut. Wo Hartmut wohl steckt? Ob er den Computerführerschein endlich angegangen ist? Wie oft hat er ihn dazu gedrängt! Damit du eine bessere Chance hast auf dem Stellenmarkt! Er fragt nicht nach ihm, starrt nur auf den leeren Platz gegenüber, auf dem Hartmut zu hocken pflegte, zu lümmeln, mit angezogenen Knien. Verhärtet. Mutlos. Ihn wird er sich gleich einmal zur Brust nehmen. Bruderherz soll sich nicht ewig aus der Verantwortung stehlen dürfen. Mutters Hand vermag ja kaum noch die Kaffeekanne zu halten, ohne etwas zu verschütten. Nicht nur wegen der Probleme mit dem Herzen. Sie spricht nicht darüber, aber er sieht es ihrer ganzen Statur an und ihren trüben Augen – ja, vor allem denen –, wie der Verfall von Vater sie mitnimmt.
Und Hartmut rührt keinen Finger für sie! Obwohl seine Hütte keine fünfzig Meter neben der der Alten steht, auf dem Grund und Boden, der, genau genommen, zur Hälfte ihm gehört. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Hartmut ein verdammter Weichling ist, die lebende Ironie auf seinen sprechenden Vornamen. Immer sind die anderen schuld an allem, die Verhältnisse, das Land. Nie er selbst. Hättest ihn damals nicht decken sollen, als er Gitte krankenhausreif prügelte. Mehrfach! Um danach jedes Mal zu winseln, wie ein Schoßhund. Prügeln und winseln, ja, das geht bei einem wie ihm zusammen. Tadellos. Und unsere Alten? Die haben ihn nie zur Verantwortung gezogen, haben ihm schon als Kind jeden Scheiß durchgehen lassen und ihn noch nach seiner Scheidung gehätschelt, als wäre Gitte das Biest gewesen und nicht er, ihr Goldiger, ihr Jüngster. Der das Gymnasium in der siebten Klasse schmiss, um in den Hippiehöhlen von Matala die Selbstverwirklichung zu proben, und als Junkie und Alki zurückkam, als ob nicht schon eins davon gereicht hätte für eine biedere Vorarlberger Familie.
Seither jagt ein Entzug den nächsten, in immer kürzeren Abständen. Wie soll man da einen Job finden? Währenddessen hat ihm Vater, praktisch im Alleingang, das Haus gebaut, Nobelfliesen, Kachelofen, tutto! Mein Gott, ist der Alte da noch fit gewesen! Er, der längstdienende Nachwuchstrainer der Vorarlberger Handballmannschaft; aus seinen Händen sind mehr Spieler ins Nationalteam gekommen als sonst wo her.
Mein ganzes Leben hab ich keinen Kalender gebraucht, und mir kommt auch in Zukunft keiner ins Haus! Dermaßen brüsk hat er die lederne Agenda, ein Geschenk von Mutter, zurückgewiesen. Kannst du gleich wieder in den Laden zurückbringen! Drei Jahre, nicht länger ist das her. Da wurde sein Altersstarrsinn noch belächelt. Zumindest von denen, die ihn nicht täglich aushalten mussten. Jetzt würde ihm keine Agenda der Welt mehr helfen. Jetzt heißt es den Autoschlüssel vor ihm verstecken, und den Führerschein haben sie ihm mit physischer Gewalt wegnehmen müssen. Ihm, dem ehemaligen Handelsreisenden von Rupp-Käse, der jährlich an die fünfzig-, sechzigtausend Kilometer heruntergespult hat.
Morgen werde ich die Kiste abmelden, denkt Hagen dumpf. Schenkt sich noch einmal nach vom bitteren Kaffee. Wenn er sich nicht verrechnet, ist der blaue Ford hinten im Schuppen Vaters neunter Wagen. Immer dieselbe Marke, und immer gebraucht gekauft. Aber Vater hat auch von Motoren was ver-standen und jeden auf über zweihunderttausend Kilometer gebracht.
Der Alte sitzt keine zwei Meter von ihm auf seinem selbst gedrechselten Lehnstuhl. Er hat den Sohn seit seiner Ankunft noch nicht einmal angeschaut und redet unentwegt vor sich hin. Unverständliches Zeug zumeist, aber eine Phrase wiederholt sich ständig: „Bitte für uns arme Sünder, bitte für uns arme Sünder.“
Er sagt es ohne jede Regung, ohne Intonation. Ironie des Schicksals, des Alzheimerschicksals: Mutter war doch die Erzkatholische im Haus, katechismuskundig, Wojtylafan; zu ihr hätte der Vers aus dem Gegrüßet seist du Maria gepasst wie der Deckel auf den Topf. Mutter, über die der Alte immer gelästert hat, sie müsse eigentlich einen neuen Meldezettel ausfüllen – Fester Wohnsitz: Feldkircher Dom. Aber er, ausgerechnet er! Hagen kann sich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, bei denen er den Vater in der Kirche gesehen hat: bei seiner eigenen Firmung und beim Begräbnis von Tante Klothilde. Die Gebetsformel muss demnach von einer sehr frühzeitigen Kalkablagerung stammen. Er wird sich bei Vaters Hausarzt über den weiteren Krankheitsverlauf informieren. Aber dass es sich hier bereits um ein fortgeschrittenes Stadium handelt, das kann auch ein Laie erkennen.
Die verbleibenden neun Urlaubstage gilt es zu nutzen. Am meisten Sorgen bereitet ihm, ob er in so kurzer Zeit eine anständige Wohnung finden wird, noch dazu in der Nähe der Alten. Das alte Loch droben – du darfst es nicht einmal als Provisorium betrachten, sonst erstickst du daran! Und für die Linzer Möbel wirst du wohl ein Zwischenlager benötigen. Vielleicht kann dir Gitte bei alldem behilflich sein, die sitzt ja in einem Maklerbüro in der Marktgasse. Aber nein: Das sähe doch zu sehr nach einer spät eingeforderten Gegenleistung aus. Nein, besser du gibst ein Inserat auf, oder suchst nach der passenden Kleinanzeige.
Die jährliche Fahrt ins Tessin kannst du dir für heuer jedenfalls abschminken – kein Wandern im Valle Veddasca, kein Bad im Wasserfall, kein Boccalino abends auf der Terrasse. Brauchst gar nicht daran zu denken, wann der erste Urlaub an der neuen Dienststelle drin ist. Selber schuld: Wer als Letzter kommt, kriegt die Knochen. Auch wenn du zufällig der Leiter des Ermittlungsbereichs Leib/Leben/Gesundheit bist. So lauten nun einmal die Regeln, dafür hast du dich selbst immer stark gemacht.
Hagen merkt, dass dies seit langem die ersten Gedanken sind, in denen er sich, wenigstens indirekt, mit seinem künftigen Arbeitsfeld beschäftigt. „Die Familienchose muss schleunigst unter Dach und Fach“, murmelt er vor sich hin und erschrickt darüber; aber Mutter hat nichts mitbekommen. Musst den Kopf wieder frei kriegen für den Job, der erste Fall kommt bestimmt. Verbrecher pflegen nicht darauf zu warten, dass der Herr Inspektor disponiert ist für sie.
Als er vom Küchentisch aufsteht, fährt sie hoch, als hätte jemand sie beim Schlafen ertappt. Lächelt verlegen, und er erwidert ihr Lächeln. Er möchte sie umarmen, aber es wird nur eine fahrige Berührung ihrer Schulter daraus. Dann steigt er langsam die Stiege hoch. Er braucht die Anzahl der Stufen nicht zu zählen. Fünfzehn Stufen, die er früher mit drei federnden Sprüngen geschafft hat.
„Das ist natürlich alles nur ein verrückter Zufall. Ich mein, Schriftsteller müssen sich ja so allerhand zusammenphantasieren, ist schließlich ihr Job. Aber makaber ist es schon. Als hätt er hellsehen können. Bis auf die Person des Mordopfers, versteht sich. Da hat er allerdings gründlich danebengehauen!“
Der zähe Tonfall, den dieser Werner Winder draufhat – an wen erinnert er ihn doch gleich? Natürlich: an den Pepi, den Mühlviertler Vierschröter in der Linzer kriminalpolizeilichen Abteilung. Den haben alle für einen verkappten Bauern gehalten. Nicht abwertend gemeint – aber der Pepi hätte einfach besser auf einen granitenen Vierkanthof gepasst als in ihre Mordgruppe, so gutmütig und langsam, wie der sich aufgeführt hat. Dass auch der neue Kollege hier ein Ostösterreicher ist, hört man beim ersten Wort. Grad weil er sich so bemüht, vorarlbergischer als irgendein Vorarlberger zu klingen. Aber es wird doch nur eine Art Bödeledütsch daraus.
„Na geh, so hör er doch auf!“, kommentiert ihn der gegerbte Schnurrbärtler auf der anderen Schreibtischseite. Er dehnt die Worte so aufreizend, nuschelt in einem dermaßen affektierten k.-u.-k.-Österreichisch, dass man dahinter nie und nimmer den Urmontafoner vermuten würde, der Gfader doch ist. Klar, dass der Abteilungsinspektor Lukas Gfader aus Schruns damit dem Winder nur unter die Nase reiben will, wie künstlich sein Dialekt tönt. Aber der pfeift auf alle Ironie (oder kriegt er sie gar nicht mit?) und setzt seinen Bericht in derselben Manier fort. Furchtbar engagiert übrigens, als wolle er seinem neuen Chef gleich von Anfang an zeigen, was für ein Tiger er ist.
„Fakt ist, dass der Rhomberg praktisch auf genau die Art und Weise ex gemacht worden ist, wie es auf den Zetteln steht, die wir gefunden haben – halt im wahrsten Sinn des Wortes um einen Kopf kürzer, haha.“ Er amüsiert sich königlich über den plumpen Witz. „Das ist doch wohl mehr als nur Zufall, oder?“
„Das heißt Manuskript, nicht Zetteln!“, belehrt ihn Gfader und reckt das Kinn nach oben. Hagens neue Kollegen sind wirklich wie Hund und Katz zueinander. Da hilft es vielleicht, sich ein bisschen mit konkreten Fragen einzumischen.
„Wer außer uns hätte die Möglichkeit gehabt, an das Manuskript von Rhomberg heranzukommen? Gibt es jemanden, der noch Schlüssel hatte zu der Wohnung?“
„Ungeklärt“, sagt Gfader, „der Nachbar aus der Villa gegenüber, ein Pensionist namens Kaiser, hat erzählt, dass Rhomberg zwei Töchter hat bzw. hatte, eine davon ist in Rankweil verheiratet, die andere lebt irgendwo im Tirolerischen.“
„Landeck“, wirft Winder ein.
„Ja eh, Landeck. Mit der Ranklerin hat ja der Major schon geredet, die besitzt offenbar keinen Zweitschlüssel, und bei der… der Neotirolerin ist das auch eher unwahrscheinlich.“
„Wieso?“
„Weil sie, laut Kaiser, mit ihrem Vater gar nicht gut gestanden sein soll. Eher total zerstritten. Aber vielleicht hat die Zugehfrau vom Rhomberg einen Schlüssel. Die, die ihm wöchentlich einmal die Wäsche gemacht hat und das Haus geputzt.
Höchstvermutlich eine Exjugoslawin oder so, ihren Namen hat der Kaiser allerdings nicht gewusst.“
Höchstvermutlich! Ein kreativer Bursche, der Schnurrbärtige! Außerdem scheint er leicht zu schielen.
„Na, Name und Adresse dürften wohl nicht schwer herauszufinden sein. Schau einfach mal nach in Rhombergs Taschenkalender, und überprüfe die gespeicherten Telefonnummern. Ich wette, dass sich dort eine passende Eintragung findet. Aber, was mich mehr interessieren würde: Wo genau habt ihr eigentlich dieses Manuskript gefunden?“
„Ja, das war eh ein wenig komisch: in einem Pfeifenkasten an der Wand. Der war zwar versperrt, aber der Major hat einfach einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade gefischt, und – Volltreffer! Der Rhomberg besaß übrigens eine schöne Sammlung von Peterson-Pfeifen, mit echtem Silberring und so. Der gab sich nicht ab mit billigem Zeug.“
„Hab auch einmal eine Peterson geraucht“, meldet Winder sich zurück. „De luxe, Eigenimport aus Dublin! Hat sehr fesch ausgeschaut.“
„Bist dann aber doch bei Hobby Filter gelandet“, grinst Gfader ihn an. „Abgesandelt – oder wie sagt man bei euch in Wien dazu?“