Heimkehr ins Unbekannte - Lina Meruane - E-Book

Heimkehr ins Unbekannte E-Book

Lina Meruane

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Beschreibung

"Im Kopf werfe ich eine Münze: Falls mich eine Einladung nach Europa führt, werde ich die Reise auf eigene Faust gen Osten ausdehnen." Die Einladung kam, und die in New York lebende Chilenin Lina Meruane fuhr erstmals in die Heimat ihrer palästi­nen­sischen Großeltern, ins ­heutige Israel. Der Bericht über die Reisen in die eigene Vergangenheit ist ein gedankensprühender Kommentar zu einem zu­nehmend weltbewegenden Problem: Warum wird es immer komplizierter, die Fragen "Wo kommst du her ? Wer bist du ?" eindeutig zu beantworten ? Ein Buch darüber, wer man zu sein glaubt, und welche politisch wirksamen Täuschungen damit verbunden sind.

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Lina Meruane

Heimkehr insUnbekannte

Unterwegsnach Palästina

Aus dem Spanischenvon Susanne Lange

Teil 1Rückverwandlung

I. Der Verfall der Dinge

II. Ruf nach Palästina

III. Palästina in Fetzen

Teil 2Gesichter in meinem Gesicht

I. Verkehrte Gesichter

II. Wir, die Deutschen

III. Where Are You From-From?

IV. Totenmaske

V. Eindeutige Beweise

VI. Gesichtsgeröll

Teil 1

Rückverwandlung

Für meinen Vater, der sich weigert, zurückzukehrenFür meine Freunde A und Z, die sich weigern, wegzugehen

Das Schicksal der Palästinenser ist es gewissermaßen, nicht dort zu enden, wo sie hergekommen sind, sondern an einem unerwarteten Ort, weit weg.

Edward Said

I. Der Verfall der Dinge

geliehene rückkünfte

Zurückkehren. Immer wieder überfällt mich dieses Wort, wenn ich das Ziel Palästina erwäge. Eine Rückkehr, sage ich mir, wäre es nicht, höchstens der Besuch eines Landes, in dem ich nie gewesen bin, von dem ich kein eigenes Bild habe. Das Palästinensische war für mich immer nur Hintergrundgeräusch, eine Geschichte, mit der man eine gemeinsame Herkunft vor dem Aussterben bewahren will. Es wäre nicht meine Rückkunft. Es wäre eine geliehene, ein Zurückkehren anstelle eines anderen. Meines Großvaters. Meines Vaters. Aber mein Vater will keinen Fuß in die okkupierten Gebiete setzen. Er hatte sich der Grenze nur genähert. Hatte einmal von Kairo aus seine schon alten Augen ostwärts gewandt und sie für einen Moment auf dem fernen Punkt ruhen lassen, wo Palästina liegen musste. Wind wehte, filmreif erhob sich Sand, während Touristen mit ihren Turnschuhen, Bermudas und Rucksäcken an ihm vorbeizogen, gewürgt von ihren japanischen Kameras, in den schweißnassen Händen Plastiktüten mit Einkäufen. Touristen, umringt von Führern und Dolmetschern, denen sie keine Beachtung schenkten. Mein Vater reckte den Kopf über sie hinweg. Schickte den Blick zu diesem Stückchen Palästina, das am Rand von Ägypten klebte und sich fern anfühlte, fern von dem Bild, das er von Beit Jala hatte. Das hier war der ummauerte Gazastreifen, umkämpft, muslimisch, fremd. Einmal war mein Vater auch an der jordanischen Grenze gewesen; sein Blick umfasste die Wüste, durch die die Grenze verlief. Er hätte sich nur dem Übergang nähern müssen, aber seine großen Füße versanken im Treibsand der Unschlüssigkeit. Meine Mutter sah in seinem Zweifeln eine Chance, sie deutete mit ihrem kleinen, steif gereckten Zeigefinger in die Ferne, auf das weite Tal des Jordan, der dem Berg Nebo entspringt, auf all dies spärliche Wasser, das dem Christentum nach heilig sein soll, und bestand darauf, ins Westjordanland hinüberzugehen. Wir müssen dorthin, drängte sie, als wäre sie die Palästinenserin. Ein Bedürfnis, das meine Mutter nach all den gemeinsamen Jahren entwickelt hatte, eine weitere Stimme in diesem lauten Clan. Aber mein Vater machte kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung. Er würde sich nicht den willkürlichen Wartezeiten aussetzen, der peinlich genauen Durchsuchung seines Koffers, dem schikanösen Verhör an der israelischen Grenze und all den Kontrollpunkten. Er wollte nicht voll Argwohn behandelt, Fremder in einem Land genannt werden, das er als das seine betrachtet, denn dort steht noch immer sein Elternhaus. Drüben, auf der anderen Seite, befindet sich dieses Erbe, das niemand je in Besitz genommen hat. Vielleicht schreckt ihn der Gedanke, davorzustehen und keinen Schlüssel zu haben, an die Tür dieses Hauses zu klopfen, das leer ist von allem Eigenen und voll von Unbekannten. Bestimmt schreckt es ihn, durch Straßen zu gehen, die unter anderen Umständen sein Spielplatz hätten gewesen sein können. Die Qual, den früher freien Horizont von den gleichförmigen Häusern der Siedler verstellt zu sehen. Die Siedlungen und ihre Überwachungskameras. Die Soldaten mit ihren Stiefeln, ihren grünen Uniformen, ihren Gewehren. Den Stacheldraht und die Ruinen. Stämme uralter Olivenbäume, abgeholzt oder verstümmelt. Vielleicht wäre das Überschreiten dieser Grenze für ihn auch ein Verrat an seinem Vater, der sehr wohl versucht hatte, zurückzukehren. Einmal, vergebens. Der Sechstagekrieg verhinderte es. Er blieb auf den gekauften Flugtickets sitzen, mit einem Koffer voller Geschenke und dem Verdruss dieser katastrophalen Niederlage, die die Aneignung weiterer Palästinensergebiete bedeutete. Der Krieg hatte nicht einmal eine Woche gedauert, aber der Konflikt nahm unaufhaltsam seinen Lauf, und dann starb meine Großmutter: die einzige Gefährtin für eine Rückkehr. Dieser Verlust stürzte ihn plötzlich, unwiderruflich ins Alter. Ohne ein Zurück. Wie im Leben so vieler Palästinenser, die nicht mehr zurückkehren konnten oder wollten, sogar das arabische Wort für Rückkehr vergessen hatten; Palästinenser, die sich wie meine Großeltern schließlich als ganz normale Chilenen fühlten. Beide liegen nun in einem Familiengrab in Santiago, das ich seit der letzten Beerdigung nicht mehr besucht habe. Ob in den letzten dreißig Jahren jemand da war? Ich fürchte, nein. Ich fürchte sogar, frage aber nicht danach, dass niemand mir sagen könnte, wo genau auf dem Friedhof ihre Grabsteine zu finden sind.

gültige übersetzung

Unter welchen Vornamen hat man Abschied von ihnen genommen? Dem spanischen Salvador oder dem arabischen Isa, das Jesus bedeutet? Milade oder Maria? Meine Mutter fährt von ihrem Stuhl auf, ich ebenso, da ich zum ersten Mal diese Namen aus einer verlorenen Sprache höre. Mein Vater rutscht hin und her und versucht sich ins Gedächtnis zu rufen, welche in den Stein gehauen wurden.

ein familienname als falsche fährte

Zuerst gebe ich das Wort Meruane ein. Ich klicke auf die Lupe, und die Suche in der Datenbank beginnt. Als einziges Ergebnis bietet mir der Bildschirm einen Artikel aus einer britischen Zeitschrift. Sein Titel: »Die Sahara 1915«. Das Räderwerk der Fantasie läuft an. Ein Meruane-Forscher mit Feldflasche in der Wüste. Ein schwarzer Meruane, den es nach Palästina verschlagen hat (meine Erinnerung ruft Fotos von meinem Vater um die dreißig auf, kurzes krauses Haar, große Sonnenbrille über gebräunter Haut, dicke Lippen wie meine). Das afrikanische Missing Link in meinem Blut, denke ich. Aber zeitlich passt es nicht: Um 1915 herum war mein Großvater von der Levante aus nach Chile emigriert. Ich stürze mich dennoch in die Lektüre und verwickle mich in Beschreibungen einer Topographie, die der Bau einer Eisenbahnlinie zerstückelt und zerstört hat. Sechs algerische Oasen werden genannt, ausgetrocknete Flussbetten, öde Wüstengegenden, Flächen mit Salzkruste. Einige Zeilen weiter taucht endlich das Wort auf. Meruane: noch so ein ausgetrockneter Salzsee, der niemals von Bedeutung war und nun endgültig von der Landkarte verschwunden ist.

vergegenwärtigen

Sich das Vergangene zu vergegenwärtigen ist selbst für meinen Vater schwierig. Man hat ihm nicht genug erzählt, oder er hat nicht aufgepasst oder alles nur aus zweiter, dritter Hand erfahren. Oft überlässt er das Erzählen den Schwestern, die ihm noch geblieben sind. Deine Tanten wissen das bestimmt, sagt er und entledigt sich meiner Fragen; die wissen sicher mehr als ich, schickt er hinterher und stößt mich damit noch weiter weg, denn er befürchtet, dass die Zeit auch in seine Schwestern das Vergessen gepflanzt hat. Wenn ich mich an sie wende, ereifert sich meine Tante-die-Erstgeborene: Was denn, das hat dein Papa dir nicht erzählt? Am anderen Ende des Tischs zuckt mein Vater mit den Schultern. Liest du nicht Al Damir?, fährt dieselbe Tante fort, die mit dem besten Gedächtnis. Ich muss sie daran erinnern, dass ich Chile vor Jahren verlassen und keinen Zugang zu dieser Zeitschrift habe. Warum schickt sie dir dein Papa nicht? Jetzt zucke ich mit den Schultern. Der Vorwurf der Gleichgültigkeit hängt in der Luft. Ein Vorwurf gegen mich und meinen Vater, der allerdings, wie viele Landsleute seiner Generation, solidarische Bande zu Beit Jala aufrechterhält, auch wenn er sich niemals damit brüstet. Finanzielle Hilfen, die dort zusammengerechnet eine Schule mit dem Namen Chile ermöglichen. Es gibt einen Platz mit Namen Chile. Kinder, wahre Palästinenser, wenn es denn das wahre Palästinensische noch gibt.

muslimischer aberglaube

Das ist ein islamischer Aberglaube, sagt mir Asma, als ich sie in New York kennenlerne und ihr den chilenischen Teil unserer palästinensischen Geschichte erzähle. Was denn?, frage ich verwirrt und hebe im ansteigenden Lärm ringsum die Stimme. Nicht erzählen, was man aus Barmherzigkeit tut, das ist ein tief verwurzelter Brauch in der muslimischen Welt, antwortet sie. Es muss geheim bleiben, sonst verliert es seinen Wert. Aber mein Vater ist kein Muslim, sage ich zu Asma, die Muslimin ist. Mag sein, aber dein Vater hängt einem islamischen Aberglauben an, beharrt sie; wie mein Mann, fügt sie hinzu: Der ist Christ, aber auch voll von unserem Aberglauben.

buchstaben, die niemand gesehen hat

Eines Abends, bei einem meiner Chile-Besuche, schlage ich meinem Vater vor, sich zurückzuwenden. Die Orte aufzufrischen, die uns mit der Zeit ausgetrocknet sind. Orte, die wir nach und nach hinter uns gelassen haben, ohne zurückzublicken. Vor langer Zeit hatte er, wie zuvor seine Eltern ihre Geburtsstadt Beit Jala, die kleine Provinzstadt verlassen, in der er geboren worden war. Und wie sie bin auch ich immer weitergezogen, habe die Adressen gewechselt. Einmal war ich zu meinem Elternhaus in Santiago zurückgekehrt. Unter demselben Dach, wenn auch ohne Zwischenwände, befand sich nun ein Geschäft mit persischen Teppichen. Ich lüpfte eine Teppichecke nach der anderen, ohne jeden Anhaltspunkt, bis ich das untrügliche Zeichen fand, wo mein Bett gestanden hatte: eine Schrunde, im Laufe der Jahre von einem der Eisenfüße ins Parkett gegraben. Die Wand war nicht mehr da, von der ich das Gestell jeden Morgen hatte abrücken müssen, wenn ich das Bett machte. Aber auch diesen Laden gibt es nicht mehr, weder die Nachbarhäuser noch die Bäume oder die Gitter, die sie voneinander abgrenzten. Mehr als einmal bin ich auf der Suche nach meinem Haus daran vorbeigegangen. Kehren wir also zu seinem zurück, zu seinem alten Haus, das noch steht, sage ich zu meinem Vater, entstauben wir es und setzen einen Flicken auf unser Erinnerungsloch. Ich sage, dass ich von dem Haus in der Provinz kaum mehr als ein Beet vor Augen habe, am Zaun ein Hühnerstall mit rostigem Gitter, schon ohne Hühner, der Boden übersät mit Federn und Mais. Im Ohr habe ich noch das Geräusch eines offenen Wasserhahns. Auch von dem Innenhof mit Orangenbäumen weiß ich noch. Und von den Bodenfliesen in einem langen Flur. Einem schwarzen Klavier, das niemals gespielt wurde und das nun stumm im Wohnzimmer meiner Tante-der-Zweiten ruht. Von einem Schirmständer neben dem Dielenspiegel, der nach dem Tod meiner Tante-der-Letzten weiß Gott wo hingekommen ist. Im Gedächtnis sind noch das Holztor zum Gehweg und ein paar hochgeschossene kahle Bäume, die das Pflaster anhoben. Weiter hinten der Platz mit Bronzebrunnen und buschigen Südbuchen, Linden oder gar libanesischen Zedern, aus einer anderen Zeit. Ladenschilder mit palästinensischen Namen in lateinischen Buchstaben. Zurückkehren, sage ich, zu diesen Straßen und ihrem dörflichen Rhythmus, zu diesem Haus, seinem Haus, dem seiner Schwestern. Das Haus gehört seit Jahren nicht mehr uns, korrigiert mich mein Vater mit dem Rücken zu mir, während er sich seinen täglichen Kaffee kocht, mit dickem Kaffeesatz. Was noch im Haus war, ist verkauft worden, als dein Großpapa, sagt er und vermeidet es, den Satz zu beenden. Es wurde leer geräumt und vermietet, das Haus, und dann kam der Brand. Sie hatten auch den Eckladen aufgegeben, in dem mein Großvater Stoffe vom Meter verkauft hatte, aus den Textilfabriken der Yarurs und der Hirmas, sowie fertige Kleidung (von Hemden bis zu Unterhosen und Socken) und Schuhe aus den Fabriken in der Calle Independencia. Kaschmir Marke Bellavista Tomé und Seidenballen, fügt mein Vater hinzu, und der Kopf füllt sich mir mit Fasern und Gewebe, mit Farben. Aber es sind nur verknitterte Bilder übrig, die sich nicht mehr bügeln lassen. Die schwere Holzelle, die scharfe Schere, die den Stoffrand einschneidet, bevor die Hände ihn mit einem Ruck aufreißen, die ohnmächtigen Fäden auf der Theke, die rumpelnden Zahlen, zusammengerechnet auf der Registrierkasse aus dunklem Metall, die die Preise von Wolle, Bändern und Schnürsenkeln addierte oder sogar von den Matratzen, die auf dem Speicher lagen, wo mein Bruder-der-Ältere und ich, Die-Mittlere, einander auf Kopfkissen in durchsichtigen Plastikhüllen schubsten. Diesen Verfall der Dinge möchte ich aufhalten, sie wieder zum Leben erwecken, denke ich, aber bevor ich es meinem Vater sage, wirft er auf all das ersterbende Alte einen frischen Geruch. Das habe ich dir gar nicht erzählt, sagt er, den dampfenden Kaffee in der Hand. Die kleine Provinzstadt hat neulich ihre ersten Kaufleute geehrt. Darunter auch meinen Großvater. Sein Name steht auf dem Schild einer gerade eingeweihten Straße. Druckbuchstaben, die sich kein Meruane angesehen hat, noch nicht. Es gab keine Feierlichkeiten, kein Band wurde durchschnitten. Keine Fotos. Mein Vater ist sich nicht sicher, wo genau sein Nachname eingeprägt wurde, der auch der meine ist, unserer. Und vielleicht, weil ich Erklärungen, Einzelheiten verlange, weil ich die Brauen hebe oder überrascht zusammenziehe, willigt er schließlich ein, mich auf kurvenreichen, steilen Straßen Richtung Nordosten in die Vergangenheit zu chauffieren. Fahren wir, sagt er, und stürzt seinen Kaffee hinunter. Fahren wir, als begeisterte ihn die Vorstellung auf einmal und als müsste er das laut mit seiner sonst leisen Stimme betonen. Machen wir uns ans Zurückkehren, denke ich und notiere den Satz oder den Zweifel auf einem Zettel.

hinten die anden

Die schneebedeckten Berge der Cordillera am Horizont. Die dünnen Stämme der zurückgeschnittenen Reben bewegen sich in entgegengesetzte Richtung und rufen mir die Trance in Erinnerung, die diese Landschaft aus schnell vorüberziehenden Stöcken stets bei mir ausgelöst hatte. Ich kurbele das Fenster herunter, um mich mit wilder Luft anzufüllen, die meine Lungen reizt. Das Land zu atmen ist heute eine Form der Vergiftung. Eine weitere ist diese Fahrt zurück. Das Einfallen in eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Das Hinausfallen aus der Gegenwart. Unserem Ausflug in dieses Tal fehlt jene Dramatik, die die Reise für die ersten Einwanderer besaß. Ich denke an ihre erwartungsvollen, aber vor allem mühseligen Fahrten, bei denen sie im Gegensatz zu den europäischen Einwanderern von keiner Regierung unterstützt wurden, mit keinerlei Hilfe rechnen konnten. Die Schiffe legten in Haifa ab, liefen unterwegs einen Hafen im Mittelmeer an (Genua oder Marseille), bevor sie nach Amerika weiterfuhren, die unteren Decks der dritten Klasse vollgestopft mit Arabern, Mäusen und hungrigen Kakerlaken. Diese fahrenden Araber waren orthodoxe Christen, die von den Türken verachtet wurden. Man betrachtete sie als Agenten des Westens, als Vorposten Europas, von feindlichen Nationen protegiert. Paradoxerweise verließen sie, diese Araber, ihre Länder mit einem osmanischen Pass, der es ihnen erlaubte, diesem Reich und einem Militärdienst in Kriegszeiten zu entfliehen, bei dem sie nur Kanonenfutter sein würden. Wer durchkam, entrann der Todesstrafe, aber nicht diesem Widerspruch: für immer den Beinamen Türke zu tragen. Der Name des Feindes prägte sich als ewiger Fluch auf die verschwommene Landkarte ihrer Einwanderung. Die Araber zogen andere Araber nach sich, nach Lateinamerika, nach Chile, und in erstaunlichen Mengen; an jedem Punkt dieses Tals zwischen den Cordilleras pflanzten sie die Legende, das neue Land habe eine syrische, libanesische oder palästinensische Seele, so dass man das gleiche Leben dort nachleben könne, wie es war und niemals mehr sein würde. Sie redeten sich ein, dass es ihre einzige Chance war. Inmitten von Gärten mit Aprikosen- und Olivenbäumen, später mit Avocados, Auberginen und Zucchini, die sie italienische Kürbisse nannten, und süßen Tomaten, so prall, dass sie zu bersten schienen. An den Abenden im Schutz der Weinreben, deren Blätter man von September an ernten musste, bevor der Herbst sie zu Pergament machte. Unter ein und derselben zersetzenden Sonne vermehrten sich die bereits zahlreichen Palästinenser, bis sie doppelt so viele waren wie die anderen Araber, die sich mit ihnen eingeschifft, mit ihnen Halt in Río de Janeiro gemacht und mit ihnen all die Monde über dem Meer hatten aufsteigen sehen, bis zur Ankunft in Buenos Aires, die mit ihnen auf Maultieren, von Treibern geführt, die Cordillera überquert hatten oder später in den Waggons der Transandenbahn, die inzwischen stillgelegt ist.

liebespfeil eisenbahn

Die heisere Dampfpfeife ist zum Schweigen gebracht worden, und die dicken schwarzen Rauchwolken der Lokomotiven haben sich zerstreut, aber die Geschichte von meinen Großeltern und dem Liebespfeil Eisenbahn hat überlebt. Meine Tanten haben dafür gesorgt, sie so weiterzugeben, wie sie sie von ihrer Mutter und voneinander gehört haben, all die Jahre lang. Die Geschichte kann sogar meine Mutter erzählen, lieber als die ihrer eigenen italienischen Verwandtschaft, die sich niemals durch Triumphe der Liebe ausgezeichnet hat. Meine Mutter und meine Tanten erzählen sie und manchmal sogar mein Vater, mit Varianten: dass beide aus Beit Jala stammten, wo sie sich nie begegnet waren, dass sie der gleichen Glaubensrichtung angehörten und sogar einen gemeinsamen Nachnamen hatten (mein Großvater war der Cousin seiner zukünftigen Schwiegermutter, sie hatte einen ausrangierten Meruane in ihrem Stammbaum), dass mein Großvater mit seinem künftigen Schwager in die Schule gegangen war und all das nicht gereicht hatte, um in den Clan aufgenommen zu werden. Meine Großmutter Milade oder Maria sollte einen aus dem engeren Kreis heiraten. Das Stammesgesetz (wie mein Vater es ausdrückte) sprach sich für einen der vielen Sabajs aus, ihre Nachbarn in Chile. Meine Großmutter hatte einen Bewerber, der zwar keine Reichtümer besaß, dafür jedoch mit etwas Land gesegnet war. Kurz bevor Maria meinen Großvater kennenlernte, schaffte sie sich diesen Sabaj vom Hals. Dieser Teil der Geschichte entzückt meine ledige Tante, meine Tante-die-Erstgeborene, die sich an dem Punkt vielleicht mit ihrer Mutter identifiziert: Milade oder Maria hielt es für angebracht, diesem Sabaj mitzuteilen, er sei zu alt für sie und außerdem hässlich, so hässlich, dass man einen Schreck bekomme, wenn man ihn bei helllichtem Tag sehe. Denken Sie nur, wie wird das erst sein, wenn ich Ihnen nachts begegne, sagte sie. Damit war das Werben beendet. Meine Großmutter blieb ledig, im beunruhigenden Alter von fünfundzwanzig Jahren. Bald ist der Zug abgefahren, sagten oder flüsterten die anderen. Aber sie stieg in letzter Minute in den Waggon, und aus eigener Überzeugung, wie ihre Kinder und meine Mutter beharrlich erzählen. Ausgerechnet auf einem Bahnsteig sahen sie sich zum ersten Mal. Auf dem nicht mehr existierenden Bahnhof von Llay-Llay. Sie stieg dort um nach Santiago, in Begleitung ihres Bruders, mit dem sie Geschenke für die Frauen der Familie kaufen musste, in die er hineinheiraten sollte. Dem Bruder war mein Großvater aufgefallen, als er aus dem Zug kam, um ebenfalls umzusteigen, allerdings war Isa oder Jesús oder Salvador in die entgegengesetzte Richtung unterwegs: nach Süden. Mein Großvater war so alt wie sie, oder sie war ihm um ein, zwei Jahre voraus oder auch nur einen Monat, das ließ sich niemals klären. Und er sollte behaupten, um die Sache noch zweifelhafter zu machen und sie zu ärgern, er habe meine Großmutter allein auf dem Bahnhof angetroffen, meine Großmutter mit ihrem langen krausen, geflochtenen Haar, in der Hand einen Weidenkorb, aus dem sie lauwarme Sandwichs anbot, im Pulk der anderen Verkäufer, die die Reisenden bedrängten. Großvater behauptete, Maria habe mit ihm geflirtet, ihm das Schinken- oder Mortadella-Brötchen für einen Sonderpreis angeboten, und so habe alles angefangen. Und mein Vater, wie zuvor der seine, lacht beim Erzählen. Er lacht schallend und für sich allein über diese Bosheit, die seine Mutter so wütend machte. Vielleicht fürchtete sie, jemand könnte diese Version ihrer Begegnung glauben. Und wenn schon, denke ich, mag sie doch eine Straßenverkäuferin gewesen sein wie so viele Araber damals. Da fällt mir auf, dass Schweigen eingetreten ist. Mein Vater ist es leid, die Geschichte zu wiederholen, die wir bereits kennen, oder er hat beim Fahren nichts weiter hinzuzufügen. Vielleicht lenkt ihn auch ein Straßenschild ab. Er verstummt, neben ihm meine Mutter, abwesend oder dösend, ihre nackten Füße auf dem Armaturenbrett. Meine Brüder sitzen neben mir, jeder blickt aus dem Fenster. Wir sitzen so wie immer, wenn wir zusammen sind, wie früher, bei unseren Ausflügen. Abgelenkt auf der kurvenreichen Straße, mit dem Kopf irgendwo anders.

sprachen, die sich gabeln

Weiter geht es, schweigend oder auf Spanisch, obwohl noch andere Sprachen in unserer Genealogie schlummern. Die arabischen Einwanderer machten sich das Spanische im gleichen Rhythmus zu eigen, in dem sie ihre Muttersprache verloren, behielten sie jedoch untereinander bei wie einen Geheimcode, der ihren Kindern verwehrt war: Sie verschluckten lieber ihre Zunge, bevor sie ihnen das Stigma einer zweitklassigen Staatsbürgerschaft vermachten. Diesen Akzent umgab ein auffälliger Schatten wie die Armut ihre verschlissenen Kleider. Beide musste man loswerden, und das war nicht schwer. Mit der neuen Kleidung hatten sie kaum Schwierigkeiten, denn ihr Stil glich dem der mitgebrachten. Kaum Schwierigkeiten hatten sie auch damit, ihren durchlässigen Sprachen das Spanische hinzuzufügen: Ihre Vorfahren hatten jahrhundertelang im Spanischen gewohnt, auf der Iberischen Halbinsel, hatten es arabisiert und mit der stummen Parenthese des eingeschobenen arabischen h und des vorangestellten, hallenden al- seine Seele erobert. Es jetzt zu sprechen, war eine andere Art der Rückkehr. Meine Großmutter, sagt mein Vater, hatte es gleich nach ihrer Ankunft erlernt, als Kind; mein Großvater dagegen hatte es erst mit elf, zwölf, vielleicht auch mit vierzehn angenommen. Mein Vater nutzt diesen Abzweig und erklärt, Salvadors Alter sei deshalb ungewiss, weil seine Geburtsurkunde beim Brand der palästinensischen Kirche verloren gegangen sei. (Noch ein Brand, notiere ich. Noch ein Verlust, der der Dokumente, die seinen Ursprung belegen.) Aber seine Mutter und seine Geschwister hätten das Jahr doch wissen müssen, führe ich ins Feld, hebe den Bleistift vom Papier, die Augen zu meinem Vater. Er verzieht die Lippen und beruft sich auf meine Tante-die-Zweite, die sich dieses Rätsel ebenfalls nicht erklären kann, es gar nicht versucht, sondern sagt, man habe damals die Kinder spät getauft, das Datum gefälscht, um den türkischen Militärdienst hinauszuschieben oder zu umgehen. Dann erfahre ich, dass nicht einmal klar ist, ob Isa mit seiner verwitweten Mutter eingetroffen war, einer Frau mit Namen Esther (und tiefblauen Augen, die niemand geerbt hat), oder ob sie mit seinen älteren Geschwistern bereits in Chile und er später mit Onkel und Tante nachgekommen war. Die Versionen widersprechen sich. Mein Vater sagt und verbürgt sich auch dafür nicht, mein Großvater habe dann im Süden gearbeitet, in der Mühle seiner älteren Brüder, während er seine dritte Sprache in Angriff nahm. Deutsch hatte er auf einer protestantischen Pfarrschule gelernt, denn damals hatte es viele Schulen europäischer Religionsgemeinschaften in Palästina gegeben. Szenen kommen mir in den Sinn: Mein Großvater, der im Laden La Florida mit einem Kunden auf Deutsch radebrecht, mein Großvater, der sich als Schreiber betätigt, als freiwilliger Vorleser für Landsleute ohne Schulbildung, die Familienbriefe aus der Levante bekamen. Er sagt, mein Vater: Ich sehe ihn noch vor mir, ein kleiner alter Mann aus der Kolonie, sehr weißhäutig, blond mit hellen Augen, der weder lesen noch schreiben konnte. Wenn er Briefe von seiner Familie erhielt, ging er zu meinem Vater, damit er sie ihm vorlas und beantwortete, und manchmal begleitete ich ihn in den Laden und staunte, wie er da von rechts nach links über das Blatt fuhr. Damals war es keine Tragödie, seinem Alphabet ein zweites hinzuzufügen, die Schreibrichtung zu ändern, die Syntax zu tauschen, den Tonfall zu modulieren, bis man den chilenischen Akzent perfektioniert hatte: Das Schild an dieser Weggabelung der Sprachen deutete in Richtung Fortschritt, und diesen Weg schlugen die Palästinenser ein. Sie ließen den fliegenden Handel hinter sich, und auch mein Großvater gab seine Fahrten durch den Süden auf, wo er den Stoffvertrieb eines gewissen Manzur vertreten hatte. Mein Vater betont, übergenau und überflüssig, da es nicht einmal mich interessiert, für ihn jedoch eine Frage der sozialen Stellung zu sein scheint: Mein Großvater sei kein fliegender Händler gewesen, sondern Vertreter. Das gab seiner prekären Stellung etwas Gewicht, so dass mein Großvater die Mühle und den Laden verlassen konnte, den er gemeinsam mit seinen älteren Brüdern in Toltén führte, einer Stadt, die zwanzig Jahre später ein Tsunami hinwegreißen sollte. (Noch ein Verschwinden, notiere ich, in dieser Saga der Verluste.) Es war dringend angebracht, sich im Landesinnern niederzulassen, damit die drei Töchter und die folgenden zwei Söhne eine bessere Ausbildung bekamen. Denn meine Großmutter, kultivierter oder zumindest eine Leserin, folgte dem Motto, Fortschritt beruhe auf Bildung. Sie war es, die darauf bestand, meine Tanten auf die Universität zu schicken, ihnen die Chancen zu geben, die sie als Schülerin einer Fachoberschule ohne Abschluss nie gehabt hatte. Sie war es, die verhinderte, dass mein Vater mit sechzehn den Laden übernahm, als mein Großvater, erschöpft von seinen vielen Unternehmungen, seinem einzigen Sohn die Geschäftsführung von La Florida übergeben wollte. Und sie setzte sich dafür ein, dass ihre Töchter außerhalb der Kolonie heiraten konnten. Dass sie sich mischten, ja, aber den Familiennamen beibehielten, als unlöschbares Zeichen der Zugehörigkeit.

hinter geschlossener tür

Sie ist abgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht mehr in unserem Besitz. Mein Bruder-der-Jüngere blickt durchs Schlüsselloch und kann nichts erkennen. Es ist dunkel, sagt er. Wie im Grab, ergänze ich und denke an meinen Großvater in seinem. An sein hängendes Augenlid auf der linken Seite. An seine verschränkten Hände, die nicht mehr in die Hosentaschen tauchen und Mandeln verteilen. Ein schlichter Tod, ganz anders als bei seinem Cousin Chucre, der bestimmt hatte, bei seiner Totenwache solle Musik gespielt, um den Leichnam getanzt und opulentes Essen für alle aufgefahren werden, die sich von ihm verabschieden wollten. (Ich weiß nicht mehr, ob ich mich daran erinnere oder es mir nur vorstelle, dass seine Kinder geteilter Ansicht waren: Die einen legten die arabische Kassette ein, die anderen schalteten trauernd und vielleicht beschämt das Radio aus und ließen ihn in Grabesstille versinken.) Nach all den Familienbegräbnissen verschwimmt mir im Gedächtnis der Raum dieser Totenwachen. Ich sehe nichts, beharrt die Stimme meines Bruders-des-Jüngeren vor dem Schlüsselloch. Und vielleicht gibt es gar nichts zu sehen, denn zu dem Brand im Familienhaus war später ein Erdbeben gekommen, und man hatte es für unbewohnbar erklärt. Ich habe euch doch gesagt, es hat keinen Sinn, zurückzukehren, murmelt mein Vater. Und mit langen Schritten geht er über die Straße davon und lässt uns schnell hinter sich. Zurück bleibt das Holztor, das am Rand des Gehwegs noch bis zum nächsten Erdstoß aushält, während wir meinem Vater die Straße hinab folgen, die Augen starr auf das Pflaster gerichtet, als sähen wir zwischen den Linien der Pflastersteine die Zimmer mit den hohen Decken, könnten zwischen den Strichen die Küche im hinteren Teil finden, ihre Aluminiumtöpfe, den geblümten Kühlschrank, den meine Mutter mit ins Strandhaus genommen hatte, das uns auch nicht mehr gehört. Was mag wohl aus all dem geworden sein, aus den Laken, die an einer Leine im Garten hingen, aus dem winzigen Elfenbeinelefanten, von dem meine Tanten sagen, ich hätte ihn erfunden, weil sie sich nicht an ihn erinnern. Alles aus Palästina ist auf mysteriöse Weise verschwunden, während ich irgendwie die Zeit totgeschlagen habe, sage ich mir und gehe mit den anderen hinter meinem Vater her, ohne zu wissen, wohin. Er bleibt stehen, ganz plötzlich, und deutet auf seine erste Schule: von Nonnen geführt, sagt er, vielleicht noch heute. Eine Mädchenschule? Ja, und zum ersten Mal scheint er zu lächeln. Sie lag so nah, dass er allein zur Schule gehen konnte, aber er war immer mit einer seiner Schwestern gegangen: der Schwester-der-Dritten, die als Erste gestorben war, oder der Schwester-der-Vierten, die auch nicht mehr lebt. In dieser Stadt voller Palästinenser gab es doch sicher arabische Schulen, bemerke ich, aber er hört nicht oder weiß nicht oder will nicht antworten. Dann, als wachte er plötzlich auf, verneint er. Alle Schulen waren chilenisch, und dort wurde nur in der offiziellen Landessprache unterrichtet. Mein Vater lässt diese Vergangenheit hinter sich und klärt uns über seine nächste Schule auf: Internatsschüler in der Oberschule im Instituto Nacional Barros Arana. Die Wochenenden verbrachte er manchmal bei seinem Onkel Constantino, der in der Calle Juan Sabaj lebte. Überrascht erfahre ich, dass es in Santiago noch eine Straße mit einem Namen aus unserer Familie gibt. Dass diese Straße nach meinem Urgroßvater benannt wurde. Von den Onkeln meines Vaters angelegt, nachdem sie beschlossen hatten, das Grundstück in Ñuñoa zu teilen, dort Häuser zu bauen und von den Mieteinnahmen zu leben. Das Geschäft hat sich nicht gerechnet, sagt mein Vater, der später in einem dieser Häuser wohnen sollte, umgeben von Verwandten. Ich wundere mich, warum mein Vater und seine Schwestern, unter Palästinensern aufgewachsen, sich niemals in der Kolonie engagiert hatten. Warum sie nie Mitglieder im Estadio Palestino gewesen waren, gleich um die Ecke. Da musste man einen großen Schein hinblättern, den ich nicht hatte, entgegnet mein Vater, als ich ihn danach frage. Dort haben sich die wohlhabendsten Landsleute getroffen, und wir hatten nie eine besonders enge Beziehung zur Kolonie, über die Familie hinaus. Das erklärt einiges. Den Spardruck. Die Abneigung gegen Verschwendung. Einen gewissen Hang zur Enthaltsamkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber Besitz. Diesen feinen Unterschied, von dem nie die Rede gewesen war und der doch unter uns lebte wie ein Vogel, sage ich mir, obwohl mir dieses durch den Kopf flatternde Bild seltsam vorkommt. Warum ausgerechnet ein Vogel? Weil alles so flüchtig war? Ich bin mir nicht sicher und beschließe, die Idee schweben zu lassen, während ich mich hinsetze, die Speisekarte lese und dann auf einem recht fade gefüllten Weinblatt herumkaue, dort, in einem arabischen Restaurant in der chilenischen Provinz, wo wir zu Mittag essen.

ein verwittertes schild