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Sie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegenwart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und sich gerade von einer Explosion auf einer Baustelle erholt, die ihn fast getötet hätte. Sie wird von einer Schreibblockade geplagt und wünscht sich, sie würde krank, um eine Entschuldigung für ihre mangelnden Fortschritte zu haben. Dann treten bei ihr mysteriöse Symptome auf. Während ihre Angst wächst, wird die Anziehungskraft der Vergangenheit stärker und stärker, und ihre Familie rückt ins Blickfeld: der verwitwete Vater, die Stiefmutter, die Geschwister. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Krankheit und Gewalt gemacht, und schließlich werden die Systeme aufgedeckt, die sie zusammenhalten und zugleich atomisieren. Nervensystem von Lina Meruane ist die außergewöhnliche klinische Biographie einer Familie – voller Zuneigung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Geheimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden – Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Länder, in denen wir leben, heimsuchen können. Ein elektrisierender Roman über Krankheit, Vertreibung und das, was uns zusammenhält.
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Seitenzahl: 309
Lina Meruane
Nervensystem
Aus dem chilenischen Spanisch von Susanne Lange
Für meine Brüder im Orbit
Ein System hat nicht nur eine, sondern jede mögliche Geschichte.
Richard Feynman (nach Stephen Hawking)
Das Land versank im Dunkel. Es war ein gewaltiges schwarzes Loch, ohne Kerzen.
Zu anderer Zeit, an anderem Ort war ihr Haus voller Kerzen gewesen, dünne lange nebelhafte, in blaues Papier gewickelt oder mit einer Schnur zusammengebunden, für den Notfall.
Es gab keine Kerzen im Land der Gegenwart, in dem der Strom nie ausfiel. Niemals, bis es doch geschah.
Sie sah die Lampe ersterben, die gerade einmal ihr Gesicht erhellte, kaum die Nacht. Ließ die Hände ein paar Sekunden auf der Tastatur, blinzelte vor dem hellen Bildschirm voller Zahlen. Sie. Und fragte sich, ob es an der Sicherung lag. Ob es bloß ein Stromausfall war oder ein Anschlag auf das alte Atomkraftwerk, erbaut und aufgegeben während des Kalten Krieges. Nicht weit von ihrem Haus entfernt, diese Atomenergie, die jeden Moment in die Luft gehen konnte.
In ihrem Land der Vergangenheit, immer am Rand der Katastrophe, verabschiedete sich der Strom oft wegen Überschwemmungen, Schnee auf den Bäumen, Ästen auf den Hochspannungsleitungen. Blanke Drähte, die dem Wind Stromschläge verpassten. Kanäle und Flüsse schwollen an. Und Gebäude schwankten durch die beständige Reibung unterirdischer Platten. Vulkane rumorten und verspritzten Lava. Wälder brannten, Bäume stürzten um, verkohlt bis zu den Wurzeln, die Häuser bis zu den Fundamenten, geschmolzene Wege Weiser Waben, flatternde Vögel. Ihre Körper verbrannt, wenn sie sich mit der Evakuierung nicht beeilten.
Besessen vom Licht, diese Körper.
Das wirft mich noch weiter zurück, rief sie und hob die Arme; weiter, noch weiter wirft mich das zurück, und sie schrie nach ihm, der bestimmt schon gehört hatte, wie sie überall Schubladen aufriss und zuknallte, vergebens auf der Suche nach einer Taschenlampe. Sie wühlte zwischen Papieren, Schlüsseln und fluchte. Seine aufflackernde Stimme goss Öl ins Feuer, lass es sein, Elektron. Seit Monaten sagte er ihr schon, sie solle den Computer zuklappen, ihre Doktorarbeit aufgeben und damit die Qualen, die ein solches Forschungsprojekt mit sich brachte, eine lebenslange Strafe.
All die endlosen Stunden Arbeit, sie werde noch explodieren. Das sagte er, der sich mit Sprengsätzen auskannte. Aber er sagte nicht explodieren, sagte nicht durchbrennen, er sagte und verbrühte sich dabei die Zunge an dem Kaffee, den er sich eben gemacht hatte und jetzt im Dunkeln balancierte. Sagte, als spuckte er es aus: Kurzschluss.
Und sie sah, wie ein flinker Funke ihre Nerven entlanglief. Die Haut, die Härchen darauf züngelnd zitternd elektrisch.
Selbst die unbedeutendsten, schwächsten Sterne betupften nun die Nacht mit ihrem Licht. Über der erloschenen Stadt schienen sie zu dampfen vor Helligkeit. Sie ging ans Fenster und bewunderte sie. Die strahlenden Sternbilder, das pulverisierte Universum der Physik, das sie nicht einfangen konnte in dieser Doktorarbeit, an der sie seit Jahren schrieb. Seit Jahren nicht schrieb. Zuerst hatte sie die elliptischen Umlaufbahnen und ihre Magnetfelder studiert, die Asteroidengürtel und die Überreste jahrtausendalter Supernovae; sie hatte Monate, vielleicht Jahre den Sternensystemen gewidmet, die der Sonne am nächsten lagen, hatte vergebens bewohnbare Planeten gesucht und nach Gestirnen gefahndet, die der Erde glichen. Eins führte zum anderen und widerlegte das Vorige, zwang sie, ihre Forschung wieder von vorn zu beginnen.
Ihren letzten Versuch würde sie den Sternen widmen, die bereits erloschen und kollabiert waren und nun dichte schwarze Löcher bildeten.
Doch diese Löcher brauchten einen Doktorvater, der von ihnen wusste und ihre Dissertation betreute. Einen, der darauf vertraute, dass sie es mit so einer Dichte aufnehmen konnte. Nicht einmal sie war sich sicher, ob sie es schaffen würde, und ihre Zeit lief ab.
Mit einem Mal leuchteten alle Glühbirnen zugleich auf, wie von einem Blitz belebt. Die Vorstellung ging weiter, nach einigen Stunden Pause. Sie öffnete eine Dose Cola voll Zucker und Koffein, würde sie trinken, bevor sie sich wieder dem Bildschirm überließ, ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie würde kosmische Abweichung und Strahlung berechnen. Die Bewegung der Sterne messen, die sich rund um das Loch sammelten, rotierender gieriger point of no return, das sie schlucken würde. Formeln tippen und anschließend verwerfen.
Wenn sie zu ihm ins Zimmer sah, an dem Morgen und an den folgenden, würde er die Narbe runzeln, die quer über seine Stirn lief. Nein, auch er glaubte nicht mehr daran, dass sie es zu Ende bringen konnte.
Während sie an Stromstörungen und unergründliche Löcher dachte, blitzte die Hoffnung auf, krank zu werden. Ihr Kopf hatte sich noch nicht für eine Krankheit entschieden. Ein Schnupfen oder eine Grippe würde ihr nicht die Zeit verschaffen, die sie für die Fertigstellung der Doktorarbeit benötigte. Mit einer Lungenentzündung konnte man nicht arbeiten. Krebs war zu riskant. Da streifte der Vater durch ihr Gedächtnis, mit dem blutenden Geschwür, das ihn mehrere Monate ans Bett gefesselt hatte. Sie sah sich selbst, wie sie in einem anderen Bett lag, vor sich der Computer, und weich gekochte Eier und fade Kekse aß und heimlich korrosive Schlucke Cola nahm.
Krank werden: Darum würde sie die Mutter bitten, die sie auf die Welt gebracht hatte, die genetische und verstorbene Mutter. Die sie nie kennengelernt hatte. An sie wandte sie sich immer, wenn es kritisch wurde. Sie zündete ein Räucherstäbchen an und bat die Mutter, sie an etwas Ernstem, aber Vorübergehendem erkranken zu lassen. Ohne zu sterben wie die Mutter, so plötzlich. Nur so lange, dass man sie für ein Halbjahr vom Unterricht in Planetologie befreite, in all den Klassen mit all den unaufmerksamen Schülern, die sie bilden bewerten blitzschnell vergessen musste. Bloß ein kurzer Urlaub von dieser schlecht bezahlten Arbeit, damit sie sich einer anderen widmen konnte, gar nicht bezahlt.
Sonst konnte sie sich an niemanden wenden. Ihr Vater hatte ihr bereits gegeben, was er besaß.
Geschichte eines geheimen Pakts. Niemand wusste, dass der Vater ihr Studium im Land der Gegenwart mit den Ersparnissen für sein zukünftiges Alter finanziert hatte. Von dieser Abmachung waren ihre drei Geschwister ausgeschlossen worden und die Mutter, die nicht ihre war. Denn die Mutter, die die erste ersetzt hatte, wäre niemals einverstanden gewesen. Das ganze Geld!, hätte sie ausgerufen, sich für ihre eigenen Kinder in die Bresche geworfen, enterbte Zwillinge. Ein Vermögen!, hätte sie ins Feld geführt, voller Angst, welche Entwürdigungen diese Ausgabe für den Vater mit sich bringen könnte.
Nie hätte der Vater seiner zweiten Frau erzählt, dass er dieses Versprechen seiner ersten gegeben hatte, als sie nach der Geburt der Tochter so schwer erkrankt war. Versprich mir, dass sie studieren kann, was sie mag, dass du ihr die Ausbildung bezahlst, für die sie sich entscheidet, ohne Bedingungen, flüsterte sie mit zittriger Stimme, jedoch sicher, dass sie sterben würde. Ebendas hätte ich gewollt. Hätte ich getan. Studieren. Hätte ich nicht, und sie hielt inne, schloss die Augen für eine lange Sekunde. Geheiratet, sagte sie, ein langsam ausblutender Satz. So jung, ich, dich. Hätte ich.
Er, schon gekämmt, angezogen und rasiert, das Frühstück fast aufgegessen, bereit, ins Radiokarbonlabor zu gehen und frisch entstaubte Knochen zu datieren. Sie schleppt sich angezogen, doch ungekämmt ins Schlafzimmer, um ihre Lehrerinnenmontur auszuwählen und die Aufzeichnungen für die fünf Stunden zusammenzusuchen, die sie an dem Tag in drei über die Stadt verteilten Schulen unterrichten wird. Mit trüben Augen setzt sie sich an den Tisch und vertraut ihm an, was ihr am liebsten wäre. Krank werden. Sechs Monate Beurlaubung herausschlagen. Zu Hause bleiben, allein mit ihren beiden Händen, den zweiundachtzig Tasten unter den zehn Fingern, die im Wechsel auf sie herabfallen. Ihren Abdruck in einer Doktorarbeit hinterlassen, der noch anstrengende Wochen am Schreibtisch fehlen.
Be careful what you wish for, antwortet er und vereint die Brauen auf einer Geraden. Die spitze Nase weist zum leeren Teller, während er diese Warnung flüstert. Du brauchst nicht die Billigung deines Dad, sagt er entnervt, du musst ihm nicht mal sagen, dass du noch nicht fertig bist, es vielleicht nie sein wirst. Du brauchst diesen Titel nicht, Elektrode, nicht, um Astronomie-Unterricht zu geben. Außerirdische Planetologie, korrigiert sie.
Sie hat ihm nie erzählt, dass sie für ihr Studium kein Stipendium erhalten hatte, ebenso wenig, woher auch noch der letzte Peso dafür gekommen war, aus welcher Tasche, hat ihm nicht erzählt, dass sie vorhin ihren Vater angerufen und gesagt hat, eben war meine Disputation, jetzt habe ich den Doktortitel. Auch nicht, dass ihr Vater traurig oder vielleicht mit leichtem Groll entgegnete, wurde auch Zeit, Kleines. Und dann schwieg, bevor er feststellte, sie sei nun die einzige echte Doktorin in der Familie. Eine etymologische, nach Herkunft des Wortes, flüsterte der Vater, während sich ihr die Kehle zusammenschnürte.
Sie wusste nicht, warum sie gelogen hatte, aber auch das war eine Lüge.
Be careful, und er stand vom Tisch auf und ging fort, ohne ein Wort des Abschieds.
9 Wochen. 63 Tage. 1512 Stunden später war sie noch immer die trübe Bewohnerin dieser Wohnung, in der sie zwar gemeinsam lebten, gemeinsam aßen, gemeinsam schliefen, die Beine ineinander verhakten, bis man ihre Körper nicht mehr auseinanderhalten konnte, in die sie sich jedoch vor allem zum Arbeiten zurückzog. Die Prüfungen waren korrigiert, ihre Schüler benotet. Sie hatte das Halbjahr ohne ein Niesen, ohne eine Migräne abgeschlossen, aber nun begann der Sommer, und die Zeit gehörte ganz ihr, sie würde ohne Unterbrechung arbeiten.
Und sie tippte, ja, hielt jedoch inne, ließ sich ablenken, schrieb auf ihrem Handy Nachrichten voller Rechtschreibfehler, erstellte Reihen mit einem nicht passenden Begriff, notierte beliebige Wörter, die sich bloß reimten, sonst nichts, auch wenn ihnen eine seltsame Schönheit innewohnte. Und sie knabberte sich einen Fingernagel blutig, kratzte sich am Bein, machte sich einen Tee mit Milch, sah aus dem Fenster, setzte sich wieder.
Sie lehnt sich nach hinten und streckt beide Arme aus. Dreht den steifen Hals zur Seite, dann nach vorn. Ein Krampf läuft ihr den Rücken hinunter, dann Reglosigkeit.
In diesem heißen, feuchten Sommer wehte höchstens die matte Brise des alten Ventilators.
Dahin gingen, hastige Striche Zahlen an der Wand, die Tage und Stunden. 1564. 1598. 1613. Und während dieser Stunden blieb sie reglos, ein Heizkissen im Nacken. Der verfluchte Tisch zu hoch, der harte Stuhl, der sie jetzt in die Horizontale zwang. Der verfluchte jähe Schmerz, wann immer sie die Stellung wechselte.
In zwei Tagen arbeite ich wieder, verordnete sie sich und stellte die höchste Stufe ein.
Sie hatte brennen wollen. Beide Hände hoch in der Luft, so hatte sie die kleine Paraffindose gehalten und in einem Zug ausgetrunken. Dieser Körper, ihr fünfjähriger Körper, hatte sich nicht den Geschmack des Brennstoffs gemerkt, den die Großmutter benutzte, um das Orange und Blau der Flammen im Kamin zu entfachen.
Sie erinnerte sich nicht mehr, was danach geschehen war.
Als sie das Heizkissen ausschaltete und das Bett verließ, dachte sie erst an eine Brandverletzung. Ein unerträgliches Brennen hatte sich in Schulter Nacken Glut eingenistet. Vor dem Computer sitzend hatte sie das Gefühl, in eine unsichtbare Wunde gehüllt zu sein, die sie erstickte. Draußen heizte der Sommer noch immer die Backsteine auf, und jede Bewegung war ein Aufflammen, jedes Ankleiden ein Tod, und so beschloss sie, nackt in der Küche zu arbeiten.
Nur die kreisenden Flügel an der Decke besänftigten das Brennen.
Wichtig war bloß die Flammenwut auf ihrer Schulter.
Hatte sie sich verbrennen wollen, oder war die Hand aus Versehen unter das Gitter geraten, das vor der Gasflamme schützte? Das Brandmal, das dieser gewollte Unfall ihrer Kindheit hinterlassen hatte, war jetzt kaum mehr als ein Fleck faltiger Haut, der damals gewiss den ganzen Handrücken bedeckt hatte.
Inflammatio. In flames. In Flammen. Entbrannt, nicht in Liebe.
Der griechische Philosoph der Entzündung war vor zwanzig Jahrhunderten erkaltet und ruhte steif unter der Erde. Aber nein, er ruhte nicht, weder steif noch bekleidet oder nackt, dachte sie, seine Bestandteile waren aufgelöst unter Ruinen. Das hatte er ihr erklärt, ihr Knochenexperte: Von dem Leichnam war kein Splitter mehr übrig, kein Gramm Hirn Schweiß Haare auf der Brust. Nur Calcium und Phosphor. Und Wasserstoffatome, sagte sie, Moleküle. Dieser Körper wäre nicht mehr der geringsten Möglichkeit einer Entzündung ausgesetzt, die sich, wie ebenjener Denker beschrieben hatte, durch vier Kardinalsymptome auszeichnete.
Rubor. Tumor. Calor. Dolor.
Das waren die Anzeichen, nach denen sie an ihrem Rücken gesucht hatte, einen Spiegel zwischen Schulterblatt und Schlüsselbein balancierend. Keine Verfärbung. Keine Schwellung, keine Wärme bei Berührung. Keine Spur einer Verletzung, aber da war der Schmerz wie eine zweite Haut.
Anstatt ihren Vater anzurufen, wählte sie die Nummer des Knochenexperten, um ihm vom Rätsel der Brandwunde zu erzählen. Es gab keinerlei Hinweis, dass sie sich versengt hatte. Es ist nicht einmal gerötet, brennt aber, erklärte sie ihm, während sie Zahnpasta auf Rumpf Rücken tote Zungen strich. Doch er kannte sich nur mit trockenen Knochen aus. Dazu fällt mir nichts ein, und seine Stimme klang abgelenkt, feindselig vielleicht. Er konnte ihr nicht helfen von jener fernen Stadt seines Kongresses aus, doch sie sprach weiter wie zu sich selbst, hielt das Handy in den weiß beschmierten Fingern. Ich muss mich verbrannt haben, innen drinnen, unter der Haut, das ist die einzige Erklärung, die ich habe.
Er hatte sie gewarnt. Zu viele Stunden Arbeit. Zu viele Nächte Übernächtigung und ganze Tage mit elektrischer Hitze auf einem Muskel. Allzu viel Vernachlässigung dessen, was sie beide einmal gewesen waren. Aber er wiederholte es nicht. Frag deinen Vater, sagte er stattdessen.
So erlischt allmählich der Sommer. So, widerstrebend, halb nackt, Pfefferminz verströmend und ohne mit dem Manuskript eine Zeile weitergekommen zu sein, entschlossen, die Doktorarbeit ruhen zu lassen, bis das Brennen nachlässt, steigt sie in ein Flugzeug, um sich mit ihm in der fernen Stadt seines Kongresses zu treffen.
Diese Stadt weitab in der Provinz, so feucht und frisch, so aufgerührt von nächtlichen Böen, ist eine Erleichterung.
Und obwohl die Brandwunde und ihr Gespenst nicht weichen, lässt die Intensität langsam nach. Das Unbestimmbare wird gemildert, doch zwischen sie und ihr Symptom schiebt sich etwas anderes: eine leichte Taubheit, die in der Schulter beginnt und über den Arm bis zum Ellbogen wandert, bis sie den Rücken der rechten Hand erreicht, die Finger, wo alles angefangen hat.
Das war kaum mehr als Spekulation, vielleicht hatte es gar nicht dort begonnen. Das geschädigte Schulterblatt, der geschädigte Arm ließen andere Lesarten zu. Denn es waren nicht mehr nur Schulter Arm Karpaltunnel, sondern auch die Schädelbasis, die Gesichtsränder, die Zunge.
Unter der lauwarmen Hoteldusche merkt sie, dass ihre Haut sich verabschiedet hat. Sie berührt sich, spürt sich aber nicht. Das Handtuch gleitet wie ein Hauch über ihren Rücken. Und wenn der Knochenexperte sie berührt, was spürt sie? Doch seit Langem schon berührt er sie nicht mehr. Wenn er sie betrachtet, sieht er sie verschwinden?
Sie schrieb eingeschlafener Arm in die Suchleiste und konnte nicht mehr schlafen.
Sie konsultierte per Mail einen Neurologen im Land der Gegenwart, doch der Arzt geizte mit Worten, schrieb einsilbig zurück, wenn er überhaupt daran dachte, ihre Nachrichten zu beantworten. Also wandte sie sich an ihren Vater, mochten eingeschlafene Arme auch nicht sein Fachgebiet sein, und an den Antipoden der Vergangenheit sagte der Vater am Telefon, wegen einer Parästhesie müsse sie nicht vorzeitig zurückkehren. In einer lakonischen Zeile ohne Interpunktion kam der Neurologe zu einer ähnlichen Auffassung, aus der Zukunft geschickt, ein eingeklemmter Nerv sei kein Grund zur Beunruhigung. Doch bei einem anderen Anruf in der fernen Stadt befand ihr Vater, es sei kein eingeklemmter Nerv. Die Mutter war der gleichen Meinung. Ihr Bruder, der Erstgeborene, ließ die Fingerknöchel knacken. Die anderen Geschwister wurden nicht befragt.
Nur der Knochenexperte wahrte ein nervöses Schweigen.
Und die Frau, die sie Mutter nennt, seit sie denken kann, fragt jeden Morgen in einer Nachricht nach dem Arm, den dieser seltsame Schlaf entlangwandert. Und sie antwortet mit einem kurzen Bulletin: keine Veränderung, nichts Neues. Und verabschiedet sich von dieser Mutter, die ihre ist und zugleich fremd, indem sie tippt: Danke, dass du fragst, eine große Armung. Erst beim Versenden merkt sie, dass ihre legasthenischen Finger die Vorsilbe weggelassen haben.
Porträt eines rebellischen Arms, der sich gegen die Fahrstuhltüren stützte, wenn sie vom Untergeschoss hinauffuhren. Sie solle sich da nicht abstützen, das sei gefährlich, warnte ihr Vater, aber sie lehnte das Gewicht ihrer Kindheit gegen diese rostigen Türen, die mit einem Quietschen auseinanderglitten. Die Stahltüren öffneten sich im sechsten Stock und nahmen ihren Jackenärmel mit, ihre weichen Muskeln, ihren Oberarmknochen. Die Türen verklemmten sich, und die Mutter schreiend brüllend blökend fürchtete, der Arm könnte abgetrennt werden, doch der Vater packte sie mit seinen Pranken und riss sie weg.
Er versetzte ihr eine unvergessliche Tracht Prügel, die sie jedoch vergessen hat.
Die Tochter auf dem Schoß des Vaters. Die Tochter, die sich die Augen wischt, während der Vater ihr eine Geschichte erzählt, an die sie sich auch nicht erinnert. So viele Augenblicke, eingeschlafen in ihrem Gedächtnis.
So sehen ihre erzwungenen Ferien in der fernen Stadt aus. Nachmittags geht es ihr immer schlechter.
Während sie auf den Arzt warten, den das Hotel hat rufen lassen, bestellen beide eine Suppe und löffeln sie still in der Lobby. Blicken ständig vom Teller auf, halten nach dem Arzt Ausschau, doch der schleicht unerkannt an ihnen vorbei wie ein Gespenst ohne Laken und geht wieder fort, ohne sie gesehen zu haben.
Sie müssen warten, bis er seine Nachtschicht beendet, warten, bis er zu dem verlorenen Arm zurückkehrt, und es ist bereits Mittag. Glocken läuten von den Kirchen herab.
Wie ein Fußballer hieß dieser Arzt, untersuchte sie jedoch wie ein Trainer oder Masseur. Sie musste in dem kleinen Zimmer eine Reihe koordinierter Bewegungen ausführen. Musste vorwärts und rückwärts gehen, in gerader Linie. Die Arme heben, während seine von oben dagegendrückten, damit er ihre Kraft einschätzen konnte. Sie musste erst mit dem einen Zeigefinger die Nasenspitze berühren, dann mit dem anderen, musste mit den Augen der horizontalen Linie folgen, die sein Finger beschrieb. Er schob einen Fingerknöchel zwischen jedes Rippenpaar und fragte, ob es wehtue, tastete ihren Kopf nach Schwellungen ab, drehte ihren Hals, den sie locker lassen sollte. Er blies über ihre Zehen, nachdem er sie mit einer Stecknadel angestochen hatte. Er kam zu keiner Diagnose. Vielleicht ist es der eingeklemmte Nerv, ein Bandscheibenvorfall, sagte er zögernd, doch das müssten wir uns im Röntgenbild ansehen.
Der Vater trommelt mit frisch geschnittenen Fingernägeln auf den Tisch, während er wartet, dass die Tochter ihm mitteilt, zu welchem Schluss der Arzt des fernen Landes gekommen ist. Er besteht darauf, mit dem Allgemeinarzt zu sprechen, und beide erörtern ihr Schicksal, das schlimmer für sie aussieht, wenn der Vater recht haben sollte. Der Masseurarzt optiert für eine Spritze, die der Vater ablehnt, und der desavouierte Arzt zuckt mit den Schultern und gibt sich geschlagen und den Fall auf, reicht ihr wieder den Hörer mit dem Vater darinnen.
Es ist kein eingeklemmter Nerv, beharrt der Vater ungeduldig am anderen Ende der Leitung. Dieser Nerv verläuft nicht dort, wo dein Symptom auftritt. Und mit der ernsten Stimme des Dozenten, der er ebenfalls gewesen ist, erklärt er ihr trocken die Anzeichen, die für eine Blutung oder einen Gehirntumor sprechen würden.
Unter fernen Hotellaken reibt sie sich die eingeschlafenen Ränder des Gesichts, als könnte sie es dadurch wecken. Ihre Pupille wandert wieder über medizinische Webseiten, die die Parästhesie mit Krankheiten in Verbindung bringen, die mit einer Lähmung enden. Das Auge rollt, fällt ins Leere, schlägt auf der Tastatur auf und weckt ihn, der knurrt, bitte, mach das aus.
Er nimmt ihre kalte Hand, verflicht Finger für Finger steif magnetisch klamm, bis er sie alle eingefangen hat. Die raue Haut, die sie vereint und kratzt. Der Zeigefinger, der das Licht ausschaltet. Das Handgelenk, das sich biegt. Der Handteller, der ihre Lider bedeckt und sie am Lesen hindert.
Diese Seiten, die der Vater ihr strikt verboten hat. Doch der Arzt, auf den sie am wenigsten hört, ist immer ihr Vater gewesen.
Zurück in der Stadt der Gegenwart hält die Hand des Neurologen ihre Finger in den seinen, kraftlos, kalt, als wollte er sie weniger drücken, als ihren Puls suchen.
Dieser Arzt wird lädierte Halswirbel und einen gequetschten Nerv feststellen, Überarbeitung oder all die Papiere, die sie mit sich schleppt, über Rampen Brücken Züge Stadtgerippe. Und dieses Kribbeln im Gesicht, ist das Nervosität? Der Arzt entfaltet ein unfreiwilliges, unpassendes, unerträgliches Lächeln, ein zuckendes Lächeln: Your nervous face. Nerv oder Nervosität, wer weiß. Das weiß niemand, denkt sie. Der Neurologe sollte es wissen, doch er ist ein Arzt mit vorgefasster Meinung. Ich bin nicht schwachsinnig, weil ich eine Frau bin. Dieser Gedanke strahlt auf ihre Wangen aus und benetzt ihre Zunge. Womöglich ist es gar kein eingeklemmter Nerv, wirft sie ein und ahmt ihren Vater nach. Es ist ein Nerv, entgegnet der Arzt und betont kräftig das ist. Wir könnten es uns ansehen, um sicher zu sein, bringt sie vor und folgt im Plural der Empfehlung des Arztes oder Masseurs im fernen Land. Wir sind uns völlig sicher, hört sie den Neurologen schon sagen, der sich die Lider unter den buschigen Brauen reibt, absolutely sure, sagt er tatsächlich und dehnt in beiden Wörtern das u. Unless you insist, und er macht eine Pause, ein Kräftemessen, der Arzt sammelt Sauerstoff, lässt seine blitzenden Zähne vor ihr knirschen, die insistiert, I would absolutely insist, und ihre schiefen Zähne versteckt, die Backenzähne voller Mulden, in denen sie mit der Zunge spielt.
Wir wissen genau, was die Bilder zeigen werden, stellt der Neurologe fest, erhebt sich siegreich von seinem Stuhl und tippt mit vervielfältigten Fingern das Rezept für die MRT.
Sich in die Nacht stürzend senden die Fledermäuse zu ihrer Orientierung ein Kreischen in verschiedenen Frequenzen aus, dessen Echo ihnen anzeigt, was sich rund um sie bewegt. Was die Kurzsichtigkeit ihnen zu sehen verwehrt, erhält Form, Umfang, Geschwindigkeit durch den unhörbaren Hall, der zurückkehrt. Die Resonanz ist das blinde Kreischen der Medizin. Ein Klangstrahl von Bildern im undurchdringlichen Dunkel des Körpers.
Nie war sie in einer Resonanzröhre gewesen. Die Mutter, die das bereits erlebt hat, empfiehlt ihr, die Augen zu schließen und sich auf etwas Angenehmes zu konzentrieren. Doch mitten im Beschuss mit schrillem Pfeifen und zermürbendem Glockenläuten findet sie keinen einzigen ruhigen Ort, an den sie sich flüchten könnte. Böse Erinnerungen überfallen sie. Der Anruf, durch den sie von dem Attentat auf ihn erfuhr. Sein Kopf, rundum bandagiert voller Schweigen, und ihr eigener voller Schrecken. Sie wird attackiert von imaginären radioaktiven Kraftwerken, Bomben mit ebendem Wasserstoff, der die Sterne erhellt, Tauben, die Oxide auf sie kacken. Ihre Forschung voller Ruinenlöcher, die sie nicht zu füllen vermag. Vielleicht wird sie damit leben müssen, sagt sie sich, damit sterben müssen, jemanden damit umbringen, ihren Vater, immer am Rand des Zusammenbruchs.
Auf einmal ändert sich das Klopfen im Gerät, wird sanfter, beschleunigt sich, ein Sausen erfasst sie, so misstönend wie die Resonanzröhre, in der sie sich befindet. Wellen schlagen gegen die Felsen, während sie im Ozean versinkt, sich von der Strömung aufs offene Meer treiben lässt. Sie schwimmt in dem Geräusch, durchquert eine aufgewühlte südliche Meerenge – oder versucht es –, in der so viele Matrosen mit Skorbut Schiffbruch erlitten haben, so viele Schiffe Masten Nager der Conquista. Das Meer bäumt sich auf, biegt sich im Schaum der Kämme, hebt sie empor und lässt sie mit einem Schlag gehärteten Wassers fallen. Mit Ohrstöpseln durchquert sie ohrenbetäubende Brandung, konzentriert sich auf ihren Atem. Es dauert nicht mehr lang, sagt sie sich erschöpft, atmet ein und aus, ohne aus dem Takt zu kommen, nicht unbedingt, um die Küste zu erreichen, sagt sie sich, während sie ihren Mund mit Luft und Salzwasser füllt, den ganzen Ozean verschluckt, Mal auf Mal und noch ein Mal.
Damals am Strand. Die Cousine, die sie anstachelte, sich mit ihr in das kabbelige, verbotene Meer zu wagen. Die Schilder untersagten das Baden, doch ihre nahe Cousine, die älter und kühner war, unverschämter, im Nabel einen Ring, die Strähnen ausgeblichen von der Sonne, diese Cousine, die alles vor der Zeit erledigen sollte, sich verlieben heiraten Kinder kriegen Witwe werden, ihre Cousine bestand darauf, ins Wasser zu gehen. Sei nicht kindisch, hör auf, deine Muscheln zu sammeln. Und als die Cousine sah, dass sie zögerte, mit ihrem Glas voll hohler Muscheln in der Hand, öffnete sie den Mund und bot ihr einen angelutschten, aber noch runden Bonbon an, mit Ananasgeschmack. Sie nahm ihn, legte ihn sich auf die Zunge wie ein Madonnenmedaillon und streifte die Angst ab, verlockt von der Cousine, die sie in ihrem Bikini anlächelte. Sie ließen die Handtücher auf dem Sand zurück und rannten ins kalte Wasser Kristallnadeln, die in die Knochen stachen. Und sie schwammen hinaus, von Strömung, Wirbeln und hohen konkaven Wellen mitgerissen, denen sie hatten ausweichen wollen. Dieser hautnahe Kampf erschöpfte sie, die Brecher kamen in Dreierreihen, wühlten beim Überschlagen den funkelnden Schaum auf und gruben Schlaglöcher in den Meeresboden. Die Wellen vermehrten sich, entschlossen, sie zu bezwingen. Da machte ihr die Cousine, aller Kühnheit ledig, Zeichen, an Land zu gehen. Sie vollführte ein paar Schwimmstöße, bevor sie sich aufrichtete, zwei feste Schritte, aber dann ein unerwarteter Abgrund, und sie verlor den Boden unter den Füßen und verlor den Kopf, die Kontrolle über ihren ganzen Körper. Sie sah, wie die Cousine unterging und auftauchte und, im Mund einen schwarzen Algenfaden, stammelte, ich fahre in die Grube, dann wieder verschwand. Kurz tauchte ihr Kopf mit dem blonden, zerzausten Haar noch einmal auf, mit starren Puppenaugen, glänzend von Salz. Sie schrie der Cousine zu, aber es waren triefende Schreie, die mit der Cousine versanken, sei nicht blöd, brüllte sie, das ist der Mond, der die Flut anzieht, die Wellen aufwühlt, es ist das gleiche kabbelige Meer wie immer mit seinen Medusen Quallen knotigen Algen, betete sie herunter wie eine Beschwörungsformel. Und sie näherte sich der Cousine von hinten, griff ihr unter die Arme und schleppte sie langsam zurück. Ihre dünnen Beine trieben beide mühsam voran, die Arme versuchten zu verhindern, dass das fast leblose Gewicht der Cousine sie auf den Grund hinabzog. Alle beide.
Sie beschimpfte die Cousine, als sie auf dem Strand lag, ihr Bikini noch immer grün von Algen, sie immer noch zitternd, immer noch hustend. Die Cousine, die sich Reste von Meer aus den Lungen beförderte. Sie verfluchte sie lauthals, bis ihre Stimme versagte, und stumm trat sie giftige Muscheln wutentbrannten Sand in ihre Richtung.
Porträt des gewaltigen Lochs im Zentrum der Galaxie. Ein so dunkler Nabel, dass ihn niemand je hat sehen können, nur erahnen, wenn er fluoreszierende Sterne und Gaswolken in seine elliptische prekäre Periskopspirale zieht, die alles verschlingt. Ein Körper, der sich seinem Rand nähert, dehnt sich in die Länge und wird immer röter, bis er verschwindet, vom Loch verschluckt. Daran dachte sie, als das MRT-Gerät verstummte. Der Labortechniker, der sie aus dem Innenraum, aus der gewaltigen Röhre holte und ihr die Ohrstöpsel herausnahm, sagte, it wasn’t so bad in there, right?, und sie schüttelte den Kopf, aber der Techniker hielt sie wohl für verwirrt, als sie antwortete, no, not too bad, but of course not, denn ein Körper sei sich nicht bewusst, wenn er in einen kosmischen Wirbel stürze, dieser Körper wandere blindlings weiter ins Innere, und das ferne Echo dieses Meers ohne Gezeiten lenke ihn von den Geräuschen der eigenen Agonie ab.
Die Tage vergehen wie lang gezogene Wellen. Ihr Schwindelgefühl ist nun das Warten.
Schließlich vibriert die Telefonleitung und entsendet zwei Berichte, telegrammartig knapp wie ihr Arzt. Positiv: Kein eingeklemmter Nerv zwischen den Wirbeln. Negativ: Etwas von anderer Art hat sich in ihrer Wirbelsäule gezeigt. Von welcher Art, fragt sie und sinkt auf einen leeren Stuhl im Klassenzimmer, in dem sie eben unterrichtet hat. Eine Rückenmarkentzündung. Ein greller weißer Fleck im Genick. Aber anstatt sie einzubestellen und ihn ihr zu zeigen, schickt sie der Neurologe kopfüber zurück in die Wellenröhre.
Man gibt ihr einen Termin für die nächste MRT, und der Vater empfiehlt, eine Kopie der ersten anzufordern. Sie geht zum neurologischen Institut, um sie sich zu holen, und während sie im Untergeschoss wartet, blitzt in ihrem Geist auf einmal der Krebs auf, den die Mutter vor einem Jahrzehnt überlebt hat, und eine Szene aus einem Roman, den sie während der Rekonvaleszenz der Mutter gelesen hat. Es ist das Bild einer Frau, so anders als die Mutter und zugleich ebenso krank oder noch kränker, doch wie krank sie beide sind, werden sie erst später entdecken. Auf dem wackeligen Stuhl im Untergeschoss sieht sie die Frau aus dem Roman vor sich, an den Badspiegel geklebt die Röntgenbilder ihres Übels, als hingen da Schmutzlappen zum Trocknen. Zwei schwarze Lappen, geädert von Röntgenweiß. In den Flecken auf ihrer Brust meint die Frau das Gesicht der heiligen Jungfrau zu erkennen, die sie retten wird, von der Jungfrau, die sie in die Hölle mitnehmen wird, denkt sie, die weiß, wie der Roman endet.
Sie hat noch keinen Besuch empfangen, weder von heiligen Jungfrauen noch von Teufeln, denn sie hat noch nichts zu sehen bekommen, hat sich noch nicht über ihr Inneres gebeugt. Die durchscheinenden Scheiben ihrer Wirbelsäule befinden sich verschlüsselt auf der CD, die man ihr zusammen mit einem ausgedruckten Bericht übergibt, und sie muss erst noch Gehirnwindungen ergründen interpretieren, Wort für Wort.
Die Masse eines jeden Wortes, der Schwerkraft ausgesetzt.
Medulla spinalis, vom altgriechischen myelós. Kein gutes Zeichen sendet ihr Rückenmark aus, und Demyelinisierung ist die Zerstörung der Myelinscheiden, die den Nerv schützen. Myelitis, wiederholt sie langsam und spricht diesen melodischen, zugleich so mühsamen Namen, dass er sie schmerzt bis ins Mark.
Die Worte ihres Vaters: Information ist nicht gleich Wissen. Als wüsste sie das nicht. Sie, mit all ihren kosmischen Daten, die sie nicht interpretieren kann. Sie, die planetarisches Wissen an ihre Klassen weitergegeben hat, Halbjahr für Halbjahr, ohne Unterlass, und bereits wieder unterrichtet, trotz ihres Rückenmarks.
Und weil Wissen nicht nur angehäuft wird, sondern auch verloren geht, wenn man nicht darauf zurückkommt, wiederholt sie den Stoff, den sie in Schulen der ganzen Stadt unterrichtet. Den neuen Jahrgängen widerstrebt immer mehr die Vorstellung, dass das Universum einem kosmischen Knall entsprang und sich seit dem Big Bang ausdehnt und zur Unordnung und Auflösung strebt.
Wenn ein Ei zerbricht, erlangt es nie mehr seine ursprüngliche Form: ein klassisches Beispiel für die Denkweise der Astrophysik, das sie auswendig kennt. Doch eine Schülerin unterbricht sie und sagt, dann machen wir eben ein Rührei daraus mit salt, onions, potatoes and a bit of our Lehrerin. Dieses zerbrochene Ei wird wiederverwertet, denn nichts geht verloren, alles verwandelt sich. Das habe ihnen der Chemielehrer erklärt, schließt die Schülerin mit unverschämtem Grinsen. Die anderen bejubeln ihre Antwort. Sie dagegen lächelt traurig und denkt, dass diese jungen Leute immer noch in der hoffnungsvollen Ordnung des Zeitlichen leben, die sie niemals erfahren hat.
Sie stammt aus einer Galaxie, die vor Abermillionen Jahren erloschen ist.
Vor Jahren hatte sich die Epidemie der Diktatur verbreitet und ihre Freundin Zuflucht bei der Großmutter auf dem Land suchen müssen, in ihrem kalten Lehmhaus, ohne Strom oder Trinkwasser, in der Küche ein Lehmofen, im Innenhof ein Hühnerstall und räudige Hunde. Dorthin fuhr auch sie an den Wochenenden, auf der Flucht vor ihrem älteren Bruder. Der Vater, damals noch alleinstehender Witwer, wusste, dass man sie besser aus der Wohnung schaffte, fort, fort von dort, und obwohl das Stück Land weit außerhalb lag, beförderte er sie dorthin, über alte Straßen voller Löcher und unbefestigte Wege, vorbei an verfallenen Toren und umgestürzten Laternenpfählen, und ließ sie bis Sonntag bei der Freundin. Dort wäre sie nicht umgeben von Morgenländischen Platanen, gegen die sie allergisch war, sagte er sich und verschwieg sich lieber, über was man besser schwieg. Frische Luft für seine Tochter. Reife Früchte von Bäumen in schillerndem Grün. Kakis von strotzendem Orange. Raue Kumquats. Pelzige Pfirsiche, aufgeplatzt bis ins Mark.
Seine Tochter, dachte der Vater, umgeben von Gesundheit.
Die Tochter sollte entdecken, dass die Hühner andersherum blinzeln, vielleicht andersherum denken.
Wenn der Vater gewusst hätte, dass die beiden grünlich-blaue Feigen von den Bäumen rissen und sie im Bewässerungsgraben nicht sauber, sondern schmutzig machten, bevor sie sie verzehrten. Dass sie über diesen wilden Bach sprangen, in den der Cousin ihrer Freundin gefallen war. Dass Onkel und Tante den Strom durchpflügt hatten, bis sie ihn unter Wasser verhakt in den Pflanzen fanden. Wenn er gewusst hätte, dass sie diesen Bewässerungsgraben mit geschlossenen Augen übersprangen. Wenn er gewusst hätte. Dass sie in den Hühnerstall schlüpften. Die Hähne aufscheuchten und lauwarme, braune Eier einsammelten, voll Federn und Stroh. Sie auf die parkenden Autos in der Straße warfen, ohne zu wissen, dass sie das teuer zu stehen kommen konnte. Sie wetteiferten gerade, wer die Windschutzscheibe traf, als sie von Weitem die Großmutter kommen sahen. Sie steckten sich das Ei in der Hand oben zwischen die Schenkel, es baumelte in ihren Unterhosen wie Hoden, und sie regten sich nicht, alle beide. Die Freundin flüsterte ihr zu, mach nicht so ein Gesicht. Aber das Gesicht war das zerbrochene Ei, das Knacken der Schale. Das Gesicht war Calcium Schuld Samen Eigelb, die ihr Bein hinunterliefen bis zum Sockenrand.
Dieses Ei, das nie mehr seine ursprüngliche Form wiedererlangen würde. Die Schalenstücke, die sie in eine Serviette tun und ihrer Teilchensammlung einverleiben würde.
Anstatt zu schlafen, lästerte die Freundin über die Nachbarn, die Bäckerin und geriet ins Stottern, als sie von ihren Cousins verschiedener Altersstufen samt Todesdatum erzählte. Und sie lachte leise über ihre langsame, dicke Großmutter mit dem heißen Mund, auf dem der Lippenstift zerlief. Die zerstreute Großmutter, so leicht zu täuschen. Ein Kopf wie ein Sieb, die Großmutter. Und die Freundin lästerte noch lauter, säte jedoch ein Feld von Schweigen um ihre Eltern, und die andere ahnte, dass sie irgendwo einen Platz in der Geschichte ihrer Freundin haben mussten, wenn sie noch lebten. Das Schwatzen der Freundin war voll dumpfer Stimmen, die beide um den Verstand brachten. Sie wünschte sich, die Freundin würde schweigen, damit sie sie aus ihrem Kopf verscheuchen konnte, diese verlorenen Eltern, den ertrunkenen Cousin, ihre eigene tote Mutter, ihren lebenden Vater, der jeden Moment sterben konnte. Sie hielt sich die Ohren zu. Lass uns schlafen, morgen erzählst du weiter, doch die Freundin schien entschlossen, die Nacht mit ihrem unermüdlichen Schwatz zu füllen. Also gut, sagte sie schließlich und richtete sich auf der Matratze auf. Nimm deine Sachen. Und die Freundin, die in der Zukunft studieren würde, wie man Leben rettet, hielt die Zunge an. Die Freundin mit den Ringen unter den Augen, mit ihrer dunklen Kindheit. Sie zog sich Wollsocken an, und mit Decken bewehrt traten sie aus dem Haus in das Observatorium des bestirnten Hinterhofs. Sie suchten sich drei leuchtende Sterne aus und gaben ihnen die Namen der verschwundenen Eltern. Und dem kleinen Stern den Namen des Cousins. Da sind sie, sagte sie, am Himmel. Der Raum krümmte sich um die Materie. Das Beben des Universums und das Zischen der Galaxien. Die irrsinnige Entfernung der Sterne. Sie schliefen, behütet vom milchigen Mond und den ländlichen Sternen. Sie erwachten, geblendet von der Sonne.
Ihr Heft war dieser Himmel voller Kometen, die eine Spur hinterließen, Staub Eiweiß flüchtige Schnecken. Das Heft ihrer Freundin war übersät mit goldenen Sternchen, aus Papier. Sie sollte sie lieben und hassen, denn sie würde alle Schuljahre mühelos hinter sich bringen, mit Höchstnoten, dem besten Durchschnitt, würde ihr Studium und die Fachausbildung Unfallmedizin zu Ende bringen, ohne jemanden anzulügen. Ohne Eltern, die sie hätte anlügen können.
Diese Freundin war jetzt am anderen Ende der Leitung. Diese Freundin hörte ihr zu, ohne einen Mucks von sich zu geben, denn es fehlten noch entscheidende Bausteine bei der Untersuchung des Rückenmarks, es sei nicht ihr Fachgebiet, sie könne sich aber kundig machen. Doch ihr Vater erkundigte sich bereits bei anderen Ärzten seines Krankenhauses.
Sie wird in einer anderen Röhre neununddreißig und muss darin noch mehr Zeit verbringen, bevor sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrt. Die Jahre falten sich vor und zurück, es erscheinen die Schreie, die sie ihrer Mutter entrissen hat, an die sie sich nicht erinnern kann, alles ist so dunkel, zähflüssig. Sie wagt es nicht, hinzusehen. Hat Angst, den Mund zu öffnen und sich mit Schrecken anzufüllen. Das Schellengeläute der mütterlichen Agonie betäubt sie, und sie hat wieder Geburtstag. Und niemand ist hier, nicht einmal Mutterzellen. Keine Torte, keine Kerzen, kein geschlucktes Salzwasser. Da ist kein Ozean zu durchqueren, nur eine Flüssigkeit, amniotisch amnesisch annullierend. Die Plazenta als toxische Qualle. Diese straffe Nabelschnur, die die Mutter von innen zerreißt, während ihr Kopf sich hinaus ins Licht einer weißen Lampe müht, die sie blendet, und ins Getöse, in das sie mit ihrem neugeborenen Plärren einstimmt. Der Fremdkörper sein, der einen anderen Körper zerfetzt und verlässt, der immer weiterbluten wird. Geburtstag haben in dieser Krypta voll unmenschlichem Geheul, ist der Fluch der toten Mutter, die sie niemals hätte anrufen dürfen. Sie hätte sie im Jenseits nicht aufwecken, hätte sie um nichts bitten dürfen. Von Kopf bis Fuß festgebunden und reglos, wie