Heißzeit - Mojib Latif - E-Book

Heißzeit E-Book

Mojib Latif

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass unser Umgang mit fossilen Brennstoffen zu einer in dieser Geschwindigkeit noch nie dagewesenen Erwärmung des globalen Klimas führt. Mit katastrophalen Folgen für die Umwelt und das Leben auf der Erde. Doch anstatt endlich den Anstieg der weltweiten Temperatur zu begrenzen, wird der Ausstoß von CO2 weiter rasant in die Höhe getrieben. Nicht zuletzt mutige Bewegungen wie Fridays for Future haben in jüngster Zeit darauf hingewiesen. Angesichts einer Politik, die nötige Entscheidungen verzögert, angesichts der Scheinargumente selbsternannter Klimaskeptiker und angesichts populistischer Regierungen, die den Klimawandel wider besseres Wissen kleinreden, ergreift der renommierte und aus den Medien bekannte Klima- und Meeresforscher Mojib Latif das Wort. Für ihn ist klar: Die Physik lässt nicht mit sich verhandeln. Mit der Natur kann man keine Kompromisse schließen. Schnelles Handeln ist nötig. Engagiert und gut verständlich präsentiert Latif die Fakten und richtet den flammenden Appell an alle, diese Fakten endlich ernst zu nehmen. Ganz aktuell beschäftigt er sich auch mit den Auswirkungen der Coronakrise auf den Umgang mit dem Klimawandel. Weder Verharmlosung noch Panikmache, sondern Aufklärung: Mojib Latifs Ziel ist es, die Klimadebatte auf eine wissensbasierte Ebene zurückführen. Und die Fakten sprechen für sich. Längst ist das Klima zum Spielball wirtschaftlicher und politischer Interessen geworden. Warum etwa gibt es nach vielen Jahren mühsamer Klimakommunikation und zäher politischer Verhandlungen noch immer keine Fortschritte? Warum existiert aus naturwissenschaftlicher Sicht so gut wie kein Klimaschutz? Solange der Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre mit einer unfassbaren Geschwindigkeit immer neue Höhen erklimmt, scheint es, dass die an den Schalthebeln der Macht sitzende Generation entweder unfähig ist oder schlicht versucht, das Problem auszusitzen. Lösungswege zur Bewältigung der drohenden Klimakatastrophe existieren schon lange. Es sind in erster Linie die erneuerbaren Energien, die aus der Klimakrise führen können. Sonne, Wind oder Erdwärme und andere saubere, nichtfossile Energiequellen sind im Überfluss vorhanden und könnten den Energiehunger der Welt spielend stillen, ohne die Umwelt über Gebühr zu belasten. Die technischen Voraussetzungen dafür sind da, und sie sind innerhalb weniger Jahrzehnte umsetzbar. Die notwendigen Investitionen könnte die Finanzwirtschaft zur Verfügung stellen. An Geld mangelt es der Welt nicht, wie Corona gezeigt hat. "Die Menschheit muss es nur wirklich wollen, einen entsprechenden Plan entwickeln und ihn konsequent und zügig umsetzen. Denn es gibt eine unumstößliche Wahrheit: Wir haben nur diese eine Erde; es gibt keinen Planeten B." Diese warnenden Worte des Klima- und Meeresforscher Mojib Latif dürfen nicht länger ignoriert werden.

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Mojib Latif

Heißzeit

Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © JONGHO SHIN / iStock / GettyImages

E-Book-Konvertierung: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark

 

Printed in Germany

 

ISBN E-Book 978-3-451-81961-2

ISBN Print 978-3-451-38684-8

Inhalt

Es gibt keinen Planeten B Vorwort

Die Welt am Rande des Abgrunds

Die Grenzen des Wachstums

Extremwetter

Wird Australien zum „Fukushima“ des Klimawandels?

Die Ursachen des Klimawandels

Kohlendioxid

Der natürliche Treibhauseffekt

Der an­thro­po­gene Treibhauseffekt

Belege für die an­thro­po­gene Klimabeeinflussung

Temperatur

Meeresspiegel

Der Beweis

Stillstand im Kampf ums Klima – warum sich nichts bewegt

Die Komplexität des Pro­blems

Entkopplung von Ursache und Wirkung

Die Methoden der Klimaskeptiker

Störfeuer aus Politik und Wirtschaft

Gesellschaftliche Veränderungen

Schöne neue Medienwelt

Gefahr für Demokratie und Freiheit

Die Coronaviruskrise

Was wir tun müssen

Ein schneller Umbruch ist vonnöten

Klimapolitik oder Wortakrobatik

Klimakommunikation neu gestalten

Vom Wissen zum Handeln

Zehn-Punkte-Plan zum Klimaschutz

Anmerkungen

Es gibt keinen Planeten B Vorwort

„Wir sind jetzt mit der Tatsache konfrontiert, dass morgen heute ist. Wir sind mit der heftigen Dringlichkeit des Heute konfrontiert. In diesem sich entfaltenden Rätsel des Lebens und der Geschichte gibt es so etwas wie zu spät zu sein. Zögern ist immer noch der Dieb der Zeit … Wir mögen verzweifelt nach der Zeit schreien, um in ihrem Lauf innezuhalten, aber die Zeit ist taub für jede Bitte und eilt weiter. Über den gebleichten Knochen und den durcheinandergewürfelten Überresten zahlreicher Zivilisationen stehen die pathetischen Worte geschrieben: ‚Zu spät‘.“

Martin Luther King Jr., 1967

Diese Worte von Martin Luther King Jr. waren auf den Vietnamkrieg gemünzt. Sie können jedoch problemlos auch auf den Umgang der Menschheit mit der Klimakrise angewendet werden. Die Temperatur der Erde steigt seit Jahrzehnten, und der Grund dafür ist in der Wissenschaft unumstritten. Die Menschheit emittiert gewaltige Mengen Treibhausgase in die Atmosphäre, allen voran Kohlendioxid (CO2), weswegen sich die Erde erwärmen muss. Und Jahr für Jahr werden es mehr Treibhausgase, die sich in der Luft ansammeln. Die Jahre 2010 bis 2019 waren, für Klimawissenschaftler wenig überraschend, das bisher wärmste Jahrzehnt seit Beginn der flächendeckenden Messungen 1880 und setzten damit einen Trend fort.1 Sollte der Erwärmungstrend in den kommenden Jahrzehnten unvermindert anhalten, würden sich die Lebensbedingungen auf der Erde extrem verschlechtern. Einige Weltregionen drohen unbewohnbar zu werden. Die Wissenschaft warnt die Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren vor dem drohenden Klimakollaps. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der 2019 in einer Fachzeitschrift erschienene Beitrag mit dem Titel „Warnung der Wissenschaftler der Welt vor einem Klimanotstand“.2 In dem Aufsatz heißt es zu Beginn: „Wissenschaftler haben die moralische Verpflichtung, die Menschheit deutlich vor einer katastrophalen Bedrohung zu warnen und die Dinge so darzustellen, wie sie sind … Auf der Grundlage dieser Verpflichtung … erklären wir zusammen mit mehr als 11 000 Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, klar und eindeutig, dass der Planet Erde vor einem Klimanotstand steht.“

Die Dinge so darzustellen, wie sie sind, war die Triebfeder, die mich dazu veranlasst hat, dieses Buch zu schreiben. Der Umgang der Menschheit mit der Klimapro­blematik ist völlig unakzeptabel. Es wird viel über das Thema geredet und diskutiert, sowohl auf den zahllosen Gipfeltreffen auf höchster politischer Ebene als auch in den Medien wie zum Beispiel in Talkshows. Verantwortung für die Begrenzung der Erderwärmung möchte aber kaum jemand übernehmen. Die Staatengemeinschaft handelt trotz großspuriger Versprechungen so gut wie überhaupt nicht, um eine Klimakatastrophe zu verhindern, obwohl es die vornehmste Aufgabe der Weltpolitik wäre, genau darauf hinzuarbeiten. Große Teile der Wirtschaft sind nur auf schnelle Gewinne aus. Ihre kurzfristigen Interessen gefährden das Wohlergehen der Menschheit. Und für viele Bürgerinnen und Bürger, gerade in den Industrieländern und somit auch in Deutschland, scheint das Thema doch irgendwie weit weg zu sein, zumindest, wenn man es an deren Verhalten misst. Ich wünschte mir, es wäre anders und die Welt hätte schon längst begriffen, dass es bei der Klimapro­blematik um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit geht. Ich wünschte mir, dass man nicht wieder und wieder auf die Faktenlage hinweisen müsste. Die Zahlen sprechen schon lange eine unmissverständliche Sprache. So ist die Menge von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf einem Niveau angelangt, wie es seit Jahrmillionen nicht der Fall gewesen ist. Allein dieser Sachverhalt müsste die Menschheit in Alarmstimmung versetzen und zu kraftvollem Handeln bewegen. Stattdessen schiebt sie das Pro­blem auf die lange Bank, Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt. Morgen ist heute, um mit den Worten von Martin Luther King Jr. zu sprechen. Und in der Tat sind wir mit der heftigen Dringlichkeit von heute konfrontiert, wie er gesagt hatte. Viele Menschen leiden bereits unter der Erderwärmung und ihren Folgen. Das Zeitfenster schließt sich, um eine dramatische Klimaveränderung zu vermeiden, eine Veränderung, die die Menschheit mit dieser Wucht noch nicht getroffen hat.

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen fragt in seinem gleichnamigen Buch: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ Franzen ist davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe verloren ist.3 Entsprechend lautet der Untertitel des Buches: „Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Jahrzehnte seien verstrichen, ohne dass die Menschheit bei der Begrenzung der Erderwärmung erfolgreich gewesen wäre. Für eine Klimarettung sei es jetzt schlicht zu spät, weil Politik und Wirtschaft von Haus aus viel zu träge agieren. Und auch die Klimaaktivisten sollten sich eingestehen, so Franzen, dass das Klima nicht mehr zu retten ist. Wenn man sich alle relevanten Parameter ansieht, dann sieht es tatsächlich danach aus, als sollte Jonathan Franzen recht behalten.

Es sträubt sich aber alles in mir, mich Franzens Hauptthese anzuschließen. Die Klimamodelle berechnen, dass es – zumindest theoretisch – immer noch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit möglich wäre, eine Klimakatastrophe zu verhindern. Wie aber eine Klimarettung konkret aussehen würde, ist nur schwer zu definieren; auf jeden Fall würde sie drakonische Maßnahmen erfordern. Diese würden auch neue Chancen eröffnen und den Wohlstand auf der Welt keineswegs gefährden. Ganz im Gegenteil. Viele Menschen könnten aus der Armutsfalle befreit werden. Es gibt aber auch Unwägbarkeiten, vielleicht ist es tatsächlich schon zu spät, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. Möglicherweise hat die Menschheit schon Prozesse in Gang gesetzt, die man nicht mehr stoppen kann und die uns in eine Superwarmzeit, in eine Heißzeit, befördern werden. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario ist zum Glück gering. Und solange es nicht erwiesen ist, dass wir für die Klimarettung keine Option mehr haben, möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Menschheit doch noch die Kurve bekommt. Es gibt unzählige Menschen, die sich für den Klimaschutz engagieren und ihn Tag für Tag praktisch umsetzen. Ich hoffe, dass sich daraus eine Bewegung entwickelt, die so viel Druck auf Politik und Wirtschaft ausüben wird, dass den Worten endlich Taten folgen. Die Zivilgesellschaft kann der Schüssel dafür sein, dass die Menschheit doch noch den Weg in eine nachhaltige Zukunft findet. Es wäre verrückt, wenn erst Katastrophe auf Katastrophe die Menschheit heimsuchen müsste.

Der extrem heiße und nicht enden wollende Sommer 2018 mit seinen zahlreichen Wetterrekorden hat in Deutschland die Debatte über den Klimawandel neu belebt. So hatte die Gesellschaft für deutsche Sprache „Heißzeit“ als das Wort des Jahres 2018 gewählt.4 In der Begründung heißt es: „Sie5 thematisiert nicht nur einen extremen Sommer, der gefühlt von April bis November dauerte. Ebenfalls angedeutet werden soll eines der gravierendsten globalen Phänomene des frühen 21. Jahrhunderts, der Klimawandel  ... Mit der lautlichen Analogie zu Eiszeit erhält der Ausdruck über die bloße Bedeutung ‚Zeitraum, in dem es heiß ist‘ hinaus eine epochale Dimension und verweist möglicherweise auf eine sich ändernde Klimaperiode.“ Diese Worte treffen den Nagel auf den Kopf. Und genau deswegen habe ich das Wort „Heißzeit“ als Titel für dieses Buch gewählt, weil eine ungebremste Erderwärmung in der Tat eine Klimaveränderung epochaler Dimension wäre, einzigartig in der Geschichte der Menschheit, die sie vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellen würde.

Heerscharen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weisen seit Jahrzehnten in unzähligen wissenschaftlichen Publikationen auf die Möglichkeit einer gefährlichen Überhitzung der Erde hin. Die Anzeichen für den nahenden Klimakollaps sind unübersehbar, sei es in Form steigender atmo­sphärischer Treib­haus­gas­kon­zen­tra­tionen, steigender Temperaturen oder steigender Meeresspiegel. Die Menschheit verschließt die Augen vor den Alarmzeichen. Seit der Weltklimarat IPCC6 1990 seinen ersten Bericht vorgelegt und vor einer massiven globalen Erwärmung gewarnt hatte, sind die weltweiten Kohlendioxidemissionen um über 60 Prozent angewachsen. In dem Bericht des IPCC von damals heißt es: „Wir sind uns folgender Dinge sicher: Es gibt einen natürlichen Treibhauseffekt, durch den die Erde bereits wärmer ist, als es sonst der Fall wäre. Durch menschliche Aktivitäten verursachte Emissionen erhöhen die atmo­sphärischen Konzentrationen der Treibhausgase Kohlendioxid, Methan, Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und Lachgas erheblich. Diese Anstiege verstärken den Treibhauseffekt und führen im Durchschnitt zu einer zusätzlichen Erwärmung der Erdoberfläche. Das Haupttreibhausgas Wasserdampf wird als Reaktion auf die globale Erwärmung zunehmen und diese weiter verstärken.“7

Genauso ist es gekommen. Während der letzten 30 Jahre hat sich der Planet ungewöhnlich stark erwärmt (Abb. 1). Die Erde würde sich, so heißt es in dem IPCC-Bericht von damals weiter, unter der Annahme eines Worst-Case-Szenarios für den Ausstoß von Treibhausgasen noch vor Ende des 21. Jahrhunderts um etwa vier Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit8 erwärmen, eine Projektion, die im Rahmen der Unsicherheiten immer noch Gültigkeit besitzt. Im Allgemeinen wird der Zeitraum 1850 bis 1900 für die vorindustrielle Zeit verwendet. Etwas über ein Grad sind es bereits. Ein Erkenntnisproblem gibt es in der Wissenschaft schon lange nicht mehr; die Forschung hat schon vor Jahrzehnten ihre Bringschuld an die Gesellschaft erbracht.

Abb. 1: Die global gemittelten jährlichen Werte der Temperatur an der Erdoberfläche als Abweichungen gegenüber dem Referenzzeitraum 1961–1990 und die Dekaden-Mittelwerte (schwarze Balken) zwischen 1900 und einschließlich 2019 sowie die jährlichen Werte der Konzentration von Kohlendioxid (CO2) in der Luft (grau; ppm: parts per million, Teile pro eine Million).

Die globale Erwärmung steht seit vielen Jahren nicht nur im Fokus der Wissenschaft, sondern auch im Fokus der Medien. Es handelt sich also ganz und gar nicht um ein Pro­blem, das quasi über Nacht über die Menschheit gekommen ist, obwohl Politik und Wirtschaft hin und wieder diesen Anschein zu erwecken versuchen. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel machte schon im August 1986 mit einem Titelbild auf, das in einer Fotomontage den Kölner Dom halb unter Wasser zeigte. Darunter stand in großen Lettern „Die Klima-Katastrophe“ geschrieben.9 Das Titelbild sollte den Anstieg der Meeresspiegel als Folge einer ungebremsten globalen Erwärmung und der daraus resultierenden Polschmelze symbolisieren. Der Anlass für das apokalyptische Titelbild des Magazins war eine Erklärung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom Dezember 1985 gewesen, in der eindringlich vor einer drohenden Klimakatastrophe gewarnt wurde, sollte die Menschheit weiterhin riesige Mengen Treibhausgase in die Luft blasen.10 Schon damals, vor über 30 Jahren, war die Beeinflussung des Klimas durch die Menschen in groben Zügen in der Wissenschaft erforscht und weit über die Klimaforschung hinaus bekannt. Danach erfuhr das öffentliche Interesse an der menschlichen Klimabeeinflussung viele Aufs und Abs. Insbesondere nach Wetterkatastrophen wie der Oderflut 1997 oder dem Hitzesommer 2003 nahmen sich die Medien des Klimathemas an, und viele Politikerinnen und Politiker bekräftigten dann auch pflichtgemäß die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen. Es gab aber auch Phasen, in denen das Thema fast komplett aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. So spielte die Klimathematik im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2017 so gut wie keine Rolle. Der Hitzesommer 2018 und die „Fridays for Future“-Bewegung haben das Klimapro­blem wieder in den Fokus der Öffentlichkeit katapultiert. Im Moment aber steht völlig zu Recht die Bewältigung der Coronaviruskrise im Mittelpunkt des Interesses. Dabei gibt es durchaus Parallelen zwischen der gegenwärtigen Infektionswelle und der Klimakrise, die ich in diesem Buch diskutieren werde. Außerdem dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass andere Krisen wegen der Dramatik der gegenwärtigen Pandemie von allein verschwinden werden und dass sich die Menschheit Nachhaltigkeit für lange Zeit nicht mehr wird leisten können. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Je mehr eine Gesellschaft auf Nachhaltigkeit setzt, umso höher ist ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber plötzlich über sie hereinbrechende Krisen.

Die Klimakrise hat mit dem Ausstoß von Treibhausgasen durch die Menschheit zu tun, Gase die die Erdoberfläche aufheizen, wenn sie in die Atmosphäre gelangen. Dabei geht es vorrangig um das CO2, das hauptsächlich bei der Verbrennung der fossilen Brennstoffe – Kohle, Öl, Erdgas und deren Derivate wie Benzin und Heizöl – in die Luft entweicht. Die weltweite Strom- und Wärmeproduktion wie auch der Verkehr basieren zum überwiegenden Teil auf den fossilen Energieträgern. Andere wichtige von der Menschheit ausgestoßene Treibhausgase sind Methan (CH4) und Lachgas (N2O), bei deren Freisetzung u. a. die Landwirtschaft eine gewichtige Rolle spielt. Es ist völlig unerheblich, wo die Treibhausgase in die Atmosphäre emittiert werden. Sie können über Jahrzehnte und noch viel länger in der Luft verbleiben, verteilen sich mit den Winden um den Erdball und kennen somit keine Ländergrenzen. Damit ist die Begrenzung der Erderwärmung der Lackmustest für die Weltpolitik. Weder China noch die USA, Europa oder Deutschland für sich allein können das Klimapro­blem lösen. Alle Länder sitzen im selben Boot. Handelt die Menschheit nicht schnell und konsequent, könnte der Planet tatsächlich sein lebensfreundliches Antlitz verlieren. Der frühere amerikanische Präsident Barack Obama zitierte anlässlich der Eröffnung der 21. Weltklimakonferenz 2015 in Paris den Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. mit den Worten, dass es so etwas gäbe wie zu spät zu kommen.11 Präsident Obama fügte hinzu: „Und wenn es um den Klimawandel geht, ist diese Zeit schon fast gekommen.“12

Die Staatengemeinschaft hat sich 2015 mit dem Pariser Klimaabkommen13 darauf verständigt, die Erderwärmung auf „deutlich unter zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit“ zu begrenzen. Außerdem möchten die Länder Anstrengungen unternehmen, um den globalen Temperaturanstieg sogar auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Dies kommt einer wahren Herkulesaufgabe gleich, beträgt die Erderwärmung schon jetzt etwas mehr als ein Grad. Die Einhaltung der Pariser Klimaziele könnte sogar noch schwieriger sein, als man noch vor ein paar Jahren gedacht hatte, weil sich bestimmte Entwicklungen beschleunigt zu haben scheinen.14 Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, wäre auf jeden Fall, das versteht sich von selbst, ein schnelles und couragiertes Handeln der Länder nötig. Die 25. Weltklimakonferenz in Madrid 2019, auf der es um die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens ging, ist krachend gescheitert. „Mal wieder“ ist man geneigt zu sagen. Von der Konferenz ging ein Signal der Uneinigkeit aus. Mächtige Länder wie die USA, Brasilien, Australien oder Saudi-Arabien wollen nichts von Klimaschutz wissen – für sie zählen nur die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen, während die tiefliegenden Inselstaaten, die schon heute wegen der steigenden Meeresspiegel in ihrer Existenz bedroht sind, verständlicherweise endlich Taten sehen wollen. Gründe, warum die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens nicht gelingt, mag es viele geben. Einige werde ich in diesem Buch aufgreifen. Dem Klima sind die Gründe egal. Die Gesetze der Physik diktieren, dass sich die Erde im Falle weiter steigender atmo­sphärischer Treib­haus­gas­kon­zen­tra­tionen immer stärker erwärmen wird – mit zum Teil nicht mehr beherrschbaren Folgen, wie noch nie dagewesene extreme Wetterereignisse, einem Anstieg der Meeresspiegel um viele Meter oder dem Kollaps von Ökosystemen zu Land und in den Meeren mit unabsehbaren Folgen für die Welternährung.

Die Menschheit ist bis heute unfähig, dem Klimapro­blem wirksam zu begegnen, obwohl die Veränderungen immer offener zutage treten. Es ist daher völlig unverständlich, dass trotz der nicht mehr zu übersehenden Warnsignale und des seit vielen Jahren bestehenden Konsenses in der Wissenschaft, wonach die Menschheit die Hauptursache der Erderwärmung ist, die weltweiten an­thro­po­genen15 Treibhausgasemissionen immer noch steigen. Es droht im wahrsten Sinne des Wortes eine Heißzeit, ein Klima mit Temperaturen auf der Erdoberfläche, die weit über denen liegen würden, die die Menschheit jemals während ihrer langen Geschichte erlebt hat, mit Verhältnissen, an die man sich nicht mehr wird anpassen können. Wenn es so käme, würde die Menschheit völliges Neuland betreten. Was dies für die Menschheit und für die Natur in allen Einzelheiten bedeuten würde, ist nur schwer vorherzusagen. Das Erdsystem ist äußerst komplex und zumindest zum Teil buchstäblich unberechenbar. Zum ersten Mal, seit es Leben auf der Erde gibt, existiert aber mit den Menschen eine Spezies, die imstande wäre, auf dem Planeten ein globales Desaster anzurichten, sollte sie fortgesetzt große Mengen Treibhausgase in die Luft pusten.

Sind wir also auf dem Weg in die Klimakatastrophe, die die Deutsche Physikalische Gesellschaft schon vor über 30 Jahren thematisiert hatte? Dieses Buch will die Diskussion über die Klimapro­blematik auf eine wissensbasierte Ebene zurückführen. Dabei geht es weder um Verharmlosung noch um Panikmache. Die Fakten sprechen für sich. Die ungeschönte Darstellung des wissenschaftlichen Kenntnisstands in Sachen Klimaveränderung scheint aus meiner Sicht wichtiger denn je zu sein, denn das Thema wird mehr und mehr zum Spielball wirtschaftlicher und auch politischer Interessen. Das Klimapro­blem spaltet inzwischen Gesellschaften, was keine guten Voraussetzungen für seine ­Lösung schafft. Die physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse hinter dem an­thro­po­genen Klimawandel sind kompliziert, die Grundprinzipien, die zur Erderwärmung führen, aber auch Nichtwissenschaftlern verständlich zu vermitteln. Dies möchte ich versuchen.

Da gibt es jedoch das Störfeuer der sogenannten Klimaskeptiker oder Klimaleugner, die den menschlichen Einfluss auf das Klima bezweifeln oder kleinreden und denen es gelingt, einen nicht geringen Teil der Bevölkerung in vielen Ländern der Erde davon zu überzeugen, dass die Menschen gar nicht imstande seien, das Klima nennenswert zu beeinflussen. Dabei erfahren die Klimaskeptiker Unterstützung aus Teilen der Politik und der Wirtschaft. Eine Strategie der Klimaskeptiker besteht darin, Nebelkerzen in Form von Desinformation zu zünden. Es reicht ­leider aus, wenn man Menschen pausenlos mit falschen Behauptungen bombardiert, damit sie beginnen, die grundlegenden Ergebnisse der Wissenschaft anzuzweifeln. Was aber treibt die Klimaskeptiker? Es gibt dafür mehrere Gründe, auf die ich eingehen werde. Oftmals verbergen sich große Konzerne hinter den Organisationen, die die klimaskeptischen Argumente lautstark in die Öffentlichkeit tragen. Kurzum: Es handelt sich um Lobbyarbeit im schlechtesten Sinne, einen unlauteren Wettbewerb, um die wirtschaftliche Vormachtstellung derjenigen Konzerne zu zementieren, die ihr Geschäftsmodell auf fossile Energien ausgelegt haben und die damit verbundene Klimaänderung billigend in Kauf nehmen.

Das Buch thematisiert, warum es nach vielen Jahren mühsamer Klimakommunikation und zäher politischer Verhandlungen immer noch keine Fortschritte beim internationalen Klimaschutz gibt. Ich muss es so deutlich sagen: Aus naturwissenschaftlicher Sicht existiert so gut wie kein Klimaschutz. Das klingt hart, ist vielleicht auch ungerecht gegenüber den vielen Menschen, die sich tagtäglich für den Klimaschutz einsetzen und ihn praktizieren. Ihnen gebührt meine aufrichtige Hochachtung. Solange aber der Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre mit einer unfassbar großen Geschwindigkeit Jahr für Jahr immer neue Höhen erklimmt, muss man konstatieren, dass die heute an den Schalthebeln der Macht sitzende Generation entweder unfähig ist oder schlicht versucht, das Pro­blem auszusitzen. Lösungswege zur Bewältigung des Klimapro­blems existieren schon lange. Es sind in erster Linie die erneuerbaren Energien, die uns aus der Klimakrise führen können. Sonne, Wind oder Erdwärme und andere saubere, nichtfossile Energiequellen sind im Überfluss auf dem Planeten vorhanden und könnten spielend den Energiehunger der Welt stillen, ohne die Umwelt über Gebühr zu belasten. Technisch wäre dies überhaupt kein Pro­blem und innerhalb weniger Jahrzehnte umsetzbar. Die notwendigen Investitionen könnte die Finanzwirtschaft spielend zur Verfügung stellen. An Geld mangelt es der Welt wahrlich nicht, wie Corona gezeigt hat. Die Menschheit muss es nur wirklich wollen, einen entsprechenden Plan entwickeln und ihn konsequent und zügig umsetzen.

Eines muss man sich vor Augen führen. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen auf der Erde durch den fortschreitenden Klimawandel geschieht ohne jeden rationalen Grund. Denn die Erderwärmung ist schließlich alles andere als ein unausweichliches Schicksal, dem die Menschheit nicht entrinnen kann. Sie ist die Folge von Ignoranz und Egoismus, der ungezügelten Gier nach immer mehr Macht, Geld und Besitz sowie der grenzenlosen Respektlosigkeit der Menschheit gegenüber der Natur. Es gäbe viel überzeugendere Möglichkeiten für die Menschheit, auf der Erde zu leben, in Wohlstand und ohne den Planeten so lange auszubeuten, bis nichts mehr aus ihm herauszupressen ist. Ohne das Klima immer weiter aufzuheizen und dadurch die Land- und Meeresökosysteme zu gefährden, von denen die Menschheit schließlich selbst abhängig ist. Die Umkehr in diese andere und selbstverständlich auch bessere Welt muss schnellstens erfolgen. Denn es gibt eine unumstößliche Wahrheit: Wir haben nur diese eine Erde; es gibt keinen Planeten B.

Stellen Sie sich vor, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, ohne Not ihr Heim in Schutt und Asche legen würden, obwohl Ihnen keine andere Bleibe zur Verfügung steht. Man denkt sofort, dass niemand auf eine solch törichte Idee kommen könnte. Was würde das Zerstören des eigenen Domizils für einen Sinn ergeben? Natürlich überhaupt keinen. Wir selbst behandeln selbstverständlich unser eigenes Zuhause mit aller Sorgfalt, damit es nicht zu Schaden kommt. Betrachtet man aber die globale Skala, d. h. die Menschheit insgesamt, stellen sich die Dinge auf einmal völlig anders dar. Wir leben in einer auf natürliche Art und Weise global vernetzten Welt. Und genau hierin liegt ein riesiges Pro­blem. Die Luftströmungen verteilen Klimagase wie CO216 buchstäblich in Windeseile rund um den Globus. Diese Gase, die die Menschen in relativ begrenzten Gebieten in die Luft emittieren, ändern deswegen das Klima überall auf der Welt und damit auch weit entfernt von ihrer Freisetzung. Die Meeresströmungen sind ein anderes Beispiel. Sie verteilen den Plastikmüll über den Weltozean und vieles mehr, was die Menschen in die Meere kippen. Die Handlungen der Menschen in einer Region beeinflussen die Umweltbedingungen nicht nur in der Region selbst, sondern haben Auswirkungen überall auf der Welt. Wir nehmen es aber nicht wahr. Solange die Weltbevölkerung klein gewesen ist, waren die globalen Auswirkungen vernachlässigbar, selbst wenn sich die Menschen nicht umweltgerecht verhalten hatten. Wenn sehr viele Menschen die Erde bevölkern, dann kann ihr summarischer Einfluss zur Belastungsprobe für den Planeten und zu einer Gefahr für alle Menschen werden, und natürlich auch für die Pflanzen- und Tierwelt, kurzum für alles Leben. Ernst Ulrich von Weizsäcker unterscheidet die „Leere Welt“ und die „Volle Welt“.17 Viele Konzepte für unser Handeln und für die Zukunft stammen aus der Leeren Welt. Diese Konzepte sind jedoch nicht auf die Volle Welt übertragbar, in der wir heute leben. Und genau das ist der Kern der globalen Umweltpro­bleme, von denen das Klimapro­blem eines der gravierendsten ist und der Gegenstand dieses Buches.

Warum führt wissenschaftliche Erkenntnis nicht zum Handeln? Diese Frage treibt mich seit Jahren um. Ist es die den Menschen innewohnende Hybris? Glaubt die Menschheit tatsächlich, dass sie der Natur überlegen ist und sich alles auf der Erde erlauben darf, ohne dafür irgendwann einen Preis zahlen zu müssen? Oder ist es der feste Glaube der Menschen an den technologischen Fortschritt, mit dem man alle Krisen wird meistern können? Nach dem Motto: „Uns wird schon etwas einfallen.“ Beim Atommüll hat diese Strategie ja schon vorzüglich „geklappt“ … Will die Menschheit wirklich Gefahr laufen, so zu enden wie Belsazar,18 der Regent von Babylon, dem eine geheimnisvolle Schrift an der Wand erschien, das Menetekel, die seinen nahen Tod und den Untergang seines Reichs prophezeite, und der am Ende seinem eigenen Übermut zum Opfer fiel? Will die Menschheit sehenden Auges, die Fakten ignorierend, ins Verderben stürzen? Was ist aus dem Homo sapiens geworden? Das einzige Lebewesen auf der Welt, das Zusammenhänge erkennt und vernunftgesteuert handelt. Will die Menschheit wirklich mit Vollgas in die Klimakatastrophe hineinsteuern? Im Moment sieht es ganz danach aus. Ich werde in diesem Buch eine Reihe von möglichen Gründen diskutieren, die die Untätigkeit der Menschheit gegenüber der Klimapro­blematik erklären können. Dabei ist mir selbstverständlich klar, dass dies meine ganz persönliche Sicht der Dinge ist und von vielen nicht geteilt werden wird. Es ist schlicht der Versuch, die Klimakrise in gesellschaftliche Entwicklungen einzubetten, um daraus Möglichkeiten abzuleiten, wie die Blockade beim globalen Klimaschutz gelöst werden könnte.

Die Stabilisierung des Weltklimas auf einem Niveau, das die lebensfreundlichen Bedingungen auf der Erde bewahrt, erfordert nicht nur ein Umdenken in allen Sektoren der Weltwirtschaft, sondern vor allem auch in der Art und Weise, wie die Länder der Welt miteinander und mit den globalen Herausforderungen umgehen wollen, denen sich die Menschheit gegenübersieht. Wir stecken nicht „nur“ in einer Klimakrise, sondern in einer Weltkrise. Institutionen wie die Vereinten Nationen sind zu zahnlosen Tigern mutiert, wenn sie denn jemals Zähne hatten. Internationale Verträge werden nicht eingehalten oder einseitig aufgekündigt. Verabredungen werden gebrochen, so wie nach der Libyen-Konferenz, zu der Bundeskanzlerin Merkel im Januar 2020 eingeladen hatte. Schon einen Tag, nachdem sich die Regierungschefs in die Hand versprochen hatten, keine Waffen mehr in das nordafrikanische Land zu liefern, ging der Rüstungsexport nach Libyen unvermindert weiter. Und schließlich greift der Nationalismus um sich. Der aber ist am allerwenigsten dazu geeignet, um globale Pro­bleme wie die Klimakrise zu lösen. „America first“ wird die Welt bei der Begrenzung der Erderwärmung nicht weiterbringen, sondern zurückwerfen.

Außerdem müssen sich insbesondere die Menschen in den reichen Ländern fragen, was für sie eigentlich Wohlstand bedeutet. Geht es ihnen ausschließlich um materielle Werte, wie es heute weitgehend der Fall ist? Oder zählen auch ideelle und kulturelle Werte zu den Kriterien für Wohlstand? Welche Rolle spielen Frieden, Gerechtigkeit, Zufriedenheit oder Glück im Wohlstandsbegriff? Könnte weniger nicht auch mehr sein? Müssen wir uns wirklich dem Konsumterror unterordnen? Zum Zeitvertreib „shoppen“ gehen, obwohl man eigentlich gar nichts Neues benötigt? Ist die Wegwerfgesellschaft die erstrebenswerte Gesellschaftsform? Sollten wir uns nicht besser von den Scheinwerten wegbegeben – ich würde sagen, von ihnen befreien – und uns wieder auf die wahren Werte im Leben konzentrieren, die das Menschsein ausmachen? Ich vermisse diese gesellschaftliche Debatte schmerzlich. Sie ist aber unerlässlich, denn bei der Lösung der Umweltpro­bleme im Allgemeinen und der Klimakrise im Speziellen handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der sich niemand wegducken kann.

Mehr Macht, mehr Besitz, mehr Geld. Koste es, was es wolle. Selbst wenn der Preis die Umwelt ist. So lautet die Lebensmaxime vieler Menschen. Trotz der drohenden Klimakatastrophe wollen beispielsweise viele Deutsche nicht auf große Spritschlucker verzichten, um mobil zu sein, obwohl es, zumindest in Städten, keinen vernünftigen Grund für das Fahren der PS-starken Automobile gibt. Erstmals wurden 2019 etwas mehr als eine Million SUVs19 und Geländewagen neu zugelassen, was einer Steigerung von 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Ihr Marktanteil liegt inzwischen bei über 30 Prozent.20 Der Boom hat sich für die deutschen Automobilkonzerne durchaus bezahlt gemacht, die in den letzten Jahren durch den Verkauf der Riesenschlitten formidable Gewinne einfahren konnten. Die Werbemaschinerie der Automobilkonzerne läuft auf Hochtouren und verspricht den Menschen Glücksmomente durch den Kauf eines der fahrenden Ungetüme. Gesetzliche Regelungen, um dem Wahnsinn im Verkehrssektor Einhalt zu gebieten? Fehlanzeige. Die Lobbyarbeit der Autohersteller funktioniert bei der Politik wie geschmiert. Tempolimit? Nein danke. Ein Anruf der Regierungschefin in Brüssel, um schärfere Abgaswerte zu verhindern? Ja bitte. Und schließlich können Betrügereien deutscher Automobilhersteller bei den Abgaswerten wegen ihrer Kungeleien mit dem Kraftfahrtbundesamt, das dem Bundesverkehrsministerium untersteht, im Gegensatz zu den USA, hierzulande so gut wie nicht geahndet werden. Es scheint geradezu so, als wenn die Automobilindustrie in Deutschland machen kann, was sie will. Und dies ist ein Grund dafür, dass sich die deutschen CO2-Emissionen im Verkehrssektor immer noch etwa auf dem Stand von 1990 befinden, während sie in anderen Sektoren deutlich gesunken sind. Natürlich wird Deutschland durch kleinere oder weniger Autos das Weltklima nicht retten können. Die Vorgänge rund um die Automobilwirtschaft zeigen aber Zusammenhänge auf, wie zum Beispiel die enge Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik, die man kritisch hinterfragen muss, wenn es um die Lösung von Umweltpro­blemen geht.

Außerdem wollen uns einige skrupellose Konzerne ein ums andere Mal weismachen, dass die verschwenderische Art, mit der wir auf der Erde leben, gar nicht zulasten der Umwelt gehe. Dabei schrecken sie vor kaum etwas zurück. Einer dieser Konzerne ist der Mineralölkonzern Exxon, von dem weiter unten noch die Rede sein wird. Exxon wusste nachgewiesenermaßen durch eigene Forschung bereits vor Jahrzehnten über das Pro­blem der Erderwärmung durch mehr CO2 in der Atmosphäre Bescheid. Exxon-Wissenschaftler hatten schon frühzeitig Berechnungen zum zukünftigen CO2- und Temperaturanstieg durchgeführt, die sich im Nachhinein als ziemlich treffsicher erwiesen haben. Die Kenntnis der Forschungsergebnisse aus dem eigenen Haus hielt aber den Konzern nicht davon ab, millionenschwere Kampagnen gegen die Klimaforschung zu fahren, um deren Arbeitsweise und Ergebnisse zu diskreditieren. Korrupte Politiker, insbesondere in den Reihen der Republikanischen Partei der USA, waren dem Konzern auf dieser Lügentour behilflich.

Darüber hinaus greift der Marktradikalismus um sich. Berauscht vom unheilvollen Gedanken des ewigen Wachstums in einer globalisierten Welt ohne Regeln wollen die Verfechter des Marktradikalismus alles den Gesetzen des Marktes unterordnen. In so einer ökonomisierten Welt gilt jedoch das Recht des Stärkeren. Einige multinationale Konzerne besitzen inzwischen eine nicht mehr vertretbare Machtfülle. Sie bestimmen, wo es langgeht. Getan wird, was Rendite verspricht. Steuern werden von ihnen kaum noch gezahlt. Die Menschlichkeit und der Gedanke der Nachhaltigkeit sind vielen Konzernen heute fremder denn je. Wie kann es zum Beispiel angehen, dass die großen Pharmaunternehmen so gut wie keine neuen Antibiotika mehr entwickeln,21 obwohl die Arzneien so dringend wegen der zunehmenden Resistenzen benötigt werden? Wieso kommt es immer häufiger zu Engpässen bei Standardmedikamenten? Weil es sich für die Pharmakonzerne finanziell nicht lohnt, Vorsorge zu treffen, für den Fall, dass Produktionsstätten in Billiglohnländern ausfallen.

In der heutigen Zeit gilt das unsägliche Prinzip der Gewinnmaximierung. Hier muss die Politik eingreifen. Sie ist für die Menschen da und nicht für die Gewinne von Konzernen zuständig. Das Arbeitsplatzargument ist ein Totschlagargument, es verhindert Innovation und gefährdet