HELL WALKS - Der Höllentrip - David Dunwoody - E-Book

HELL WALKS - Der Höllentrip E-Book

David Dunwoody

5,0

Beschreibung

Fast über Nacht erscheinen massive Superstürme rund um den Globus. Diese konvergieren in der Arktis und zu einem apokalyptischen Megasturm, stören weltweit Wetter-, Kommunikations- und Sicherheitssysteme. Es herrscht Chaos … dann verebbt der Sturm, die Wolken teilen sich - doch nur, um die wahre Bedrohung preiszugeben. Höllengänger wird es genannt. Es ist sieben Meilen hoch, und jeder seiner Schritte verursacht Katastrophen, deren Auswirkungen über die Kontinente hereinbrechen. Aus seinem Leib schlüpfen aggressive Monster - jedes für sich in der Lage, eine ganze Stadt auszulöschen. Ohne etwas über die Herkunft dieser Monster zu wissen, sieht sich die Menschheit mit dem Albtraum ihrer eigenen Ausrottung konfrontiert. Einige Jahre später kommt der Höllengänger zur Ruhe. Er erstarrt, nur seine Nachkommen toben weiter über den Erdball. Frank Eckman führt eine Gruppe Überlebender an, immer darum bemüht, eine Konfrontation mit den Wesen zu vermeiden. Dann beginnen Visionen über den schlafenden Riesen Frank zu plagen. Er glaubt, den Schlüssel zur Beendigung dieser Apokalypse gefunden zu haben. Doch hoch über den Wolken erwacht der Höllengänger …

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Hell Walks

Der Höllentrip

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: HELL WALKS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: HELL WALKS Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-637-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Hell Walks
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Über den Autor

Kapitel 1

»Ich habe noch nie einen toten gesehen«, wisperte Caitlin.

»Ich auch nicht«, erwiderte Frank. Er sprach kaum lauter als im Flüsterton, doch in dem Vakuum, das sich um die Gruppe herum gebildet zu haben schien, hörte man ihn trotzdem so deutlich wie einen Trompetenstoß. Atmete überhaupt jemand? Frank definitiv nicht, aber es war auch keineswegs so, dass er in dieser Hinsicht immer eine Wahl hatte. Bei solch einer Witterung – der feuchten Kälte, die einem Aprilmorgen vorausging – kam ihm seine Lunge besonders schwach vor. In letzter Zeit hatte es kaum Regen gegeben, doch das Gras war trotzdem glitschig vom Tau und die Luft, die sich wie Öl auf der nackten Haut anfühlte, wehte nur träge. Davon wurde Frank übler und übler.

Caitlin kniete gerade hinter einer Betonplatte, die womöglich einmal Teil eines Splitterschutzwalls gewesen war. Diese stand im schrägen Winkel versenkt in der Erde, so als sei sie in die Luft geschleudert worden und dann einfach gefallen, was durchaus so geschehen sein könnte, allerdings vor langer Zeit. Denn Moos wuchs mittlerweile auf der Oberfläche und in den klaffenden Rissen, die an Lichtblitze erinnerten.

Frank wollte es ansprechen, doch Caitlins Schwester kam ihm zuvor: »Die Wand ist nicht sicher, kommt rüber«, bat sie Autumn und winkte. Ihre Stimme klang bevormundend, und sie zischte lauter, als ihnen allen lieb war. Frank hörte jemanden, der hinter ihm kauerte, seufzen, bestimmt Dodger, der damit sichergehen wollte, dass man ihn wenigstens hörte, wenn ihm gerade einmal keine sarkastische Bemerkung zu allem einfiel. Caitlin ihrerseits schnitt nicht einmal eine Grimasse für ihre Schwester, stattdessen zog sie sich von der Platte zurück und ging zu Autumn, die nun im Schatten eines Autos stand. Es schien wohl ein Kleinwagen gewesen zu sein, wie ihn Frank einmal zu einer Werbeagentur gefahren hatte, für die er zweifelhafte Werbetexte für fettfreie Süßigkeiten geschrieben hatte, der nun aber ausgeschlachtet worden war. Beim Gedanken an Schokolade lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Gott, wie lange war es her, dass er Schokolade gegessen hatte?

»Hast du je einen toten gesehen?«, fragte Caitlin Chia.

Im Gesicht des alten Mannes vertieften sich die Falten, als er schmerzlich lächelte und sich die feuchten, grauen Strähnen von der Stirn schüttelte. »Noch nie, Mäuschen. Nur davon gehört, Bilder gesehen, aber von echten toten haben wir uns immer ferngehalten.« Chia hörte sich an, als bedauere er, dass es dieses Mal anders gekommen war, doch sie hatten nicht selbst entscheiden können, weil …

Nun ja, dieses Thema jetzt aufzurollen ist unnötig, dachte Frank. Sie waren acht Männer und Frauen, kauerten hinter einer Reihe defekter, ramponierter PKWs und warteten darauf, dass der Morgen graute, um sich am albtraumhaften Anblick eines toten Riesen zu ergötzen. »Es ist eben, wie es ist. Jetzt lasst euch alle einfach nieder und tut so, als würdet ihr sonntags in der Kirche auf einer Bank sitzen. Mensch, vielleicht ist ja heute sogar Sonntag.«

Nachdem sie Chias Worte gehört hatte, schien Caitlin nicht mehr ganz so versessen darauf zu sein, einen echten Toten zu sehen. Es gab eine Zeit, da hätte die 19-Jährige wahrscheinlich auf ein Smartphone gestarrt und sich so der schrecklichen Anspannung und Neugierde entzogen, welche die Gruppe nun ergriffen hatte. Mann, Frank wäre es nicht anderes gegangen. Sosehr er auch stets angeprangert hatte, wie Handys die Menschen voneinander entfremdeten, war er jener kleinen Blase der Isolation selbst nicht gerade selten verfallen, besonders in Wartezimmern, Fahrstühlen, Bussen oder an Thanksgiving. Diese Erfindung gab es jetzt, soweit er wusste, nicht mehr. Die einzigen Neuigkeiten und Informationen erhielt man nur noch durch hautnahes Erleben oder Berichte anderer Nomaden, denen man im Dunkeln begegnete. Letztere waren jedoch so vertrauenswürdig wie Franks Anzeigenslogans damals. Cheeseburger aus der Mikrowelle, der Ihnen beim Erreichen Ihrer Bikinifigur hilft: zu schön, um wahr zu sein? Falsch gedacht!

Seinerzeit war er ein professioneller Lügner gewesen. Heute spielten jedoch andere Dinge eine Rolle. So etwas wie leichtes Flunkern gab es nicht mehr, ja nicht einmal Märchen, sondern nur noch harte Tatsachen. Denn die Drachen waren jetzt da.

Über dem Horizont im Osten sah es aus, als blute der Himmel dunkelblaue Wundflüssigkeit. Ehe sie wussten, wie ihnen geschah, würde der Morgen hereinbrechen. Laut Plan hatten sie dann vor, die Stelle zu bestimmen, an der das Monster angeblich gestürzt war, und es auf ihrem weiteren Weg nach Osten in einem großzügigen Bogen zu umgehen. Und hinterher? Nach Süden vielleicht, denn Süden verhieß normalerweise etwas Gutes, auch weil sie sich gerade im Mittleren Westen aufhielten, wo fast jede Richtung gut war, solange sie nur woanders hinführte. Sie reisten gerade durch Missouri, um genau zu sein. Frank war sich ziemlich sicher, dass der Trümmerhaufen, in dem sie momentan hockten, einmal die Stadt Independence gewesen war. Was für ein Gedanke, dass sie so weit in eine der heißesten Zonen überhaupt vorgestoßen waren, und zwar allein auf Grundlage dessen, was jemand ganz dreist eine schlichte Lügengeschichte genannt hatte … Wie auch immer, dies war kein geeigneter Zeitpunkt zum Grübeln, denn das Blau breitete sich am Himmel aus, und bald würden sie etwas sehen.

Frank saß mit dem Hintern auf der Straße und schaute an Chia vorbei, der praktisch ihr Anführer war und danach zu den beiden neuesten Mitgliedern ihrer Gruppe. Es war noch zu früh, um voraussehen zu können, ob sie dauerhaft dabeibleiben oder irgendwann abdriften würden. Frank tippte auf Ersteres. Der Junge, ein 17-Jähriger, den sie Duckie nannten, war eindeutig behindert. Zwar deutete nichts an seinem Erscheinungsbild darauf hin – er sah genauso gebrechlich und zerlumpt aus wie der Rest von ihnen –, doch sein überschwängliches Plärren, als er zu ihnen gelaufen war, hatte es bewiesen. »Wir haben einen Little One gefunden, der tot ist! Er liegt gleich dort vorn und er lebt nicht mehr!«

Dies war am vorangegangenen Abend passiert. Der Junge hatte ein zerfallenes Autohaus verlassen, gerade als die Gruppe vorbeigegangen war, und Gott, wie laut er gerufen hatte … es schien so, als sei es das Tollste auf der Welt für ihn, dass nur wenige Meilen entfernt ein Little One lag.

Quebra trug als Einziger in der Gruppe eine Waffe und hatte damit sofort auf ihn angelegt. Der Junge war augenblicklich erstarrt und sein Gesicht erschlafft, fassungslos und vielleicht auch erschrocken in Anbetracht der Reaktion. Die anderen in der Gruppe, Frank eingeschlossen, hatten das Ganze nur beobachtet.

»Du bist mir ein wenig zu ausgelassen, Sohn«, hatte Quebra mit seiner gleichbleibenden, gebieterischen Stimme gesagt. Steif dastehend hatte er Duckie im Fadenkreuz behalten, während der Junge aschfahl hin und her geschwankt war.

»Bist du krank?«, hatte Quebra schließlich gerufen. Dies schien für ihn die einzige Erklärung dafür zu sein, dass jemand so blindlings auf eine Gruppe Fremder zulief, und das auch noch lauthals schreiend. Der Kerl musste einfach infiziert sein.

Duckie hatte »Ja« gesagt, fast beschämt und dabei seine Arme hängenlassen.

Frank erinnerte sich daran, dass er auf die angespannten Unterarme des Mannes geschaut hatte, seine einzigen Körperteile, die nicht mit Flecktarn bedeckt waren. Er wusste noch, wie er sich gefragt hatte, ob der Soldat den Jungen jetzt einfach so auf der Stelle hinrichten würde, ganz geschäftsmäßig ohne Gnade, und ob das richtig sei.

Dann hatte plötzlich eine Frau aus der Richtung des Autohauses etwas gerufen. Sie war durch ein zerbrochenes Schaufenster getreten und hatte schrill geschrien: »Er ist nicht krank, nicht auf diese Art!« Sie war in den mittleren Jahren und hatte unordentlich vom Kopf abstehende, graue Haare (mindestens ein paar davon besaßen auch alle anderen in der Gruppe mittlerweile). Mit flehentlich ausgestreckten Armen war sie auf die Straße zugegangen.

»Wir sind nicht krank«, hatte sie gesagt, dabei hatte sie die Ärmel ihres schmuddeligen Strickpullovers hochgezogen und das Haar von ihrem Hals weggeschoben. »Duckie«, hatte sie leise gerufen, »zieh dein Shirt hoch und zeig ihnen deinen Oberkörper. Ganz langsam.« Und zu Quebra fügte sie hinzu: »Er hat keine Waffe, er ist doch noch ein Kind.«

Quebra war währenddessen reglos und auch eine Antwort schuldig geblieben. Sein Schweigen hatte alles ausgedrückt, was er dachte. Ob er ein Kind ist, hat nichts zu sagen, ob er bewaffnet oder infiziert ist, darauf kommt es an.

Nicht, dass Frank den Soldaten für einen kaltherzigen Menschen hielt, er war nur jemand, der das erledigte, wovor sich alle anderen fürchteten – Dinge, die einfach getan werden mussten.

Duckie hatte fast komisch zaghaft, so als mache er sich über die Aufforderung der Frau lustig, sein marineblaues Sweatshirt bis über die Brustmuskeln hochgezogen und sich danach langsam im Kreis gedreht, um seinen nackten Oberkörper von allen Seiten zu zeigen. Er war tatsächlich frei von Läsionen. Quebra hatte sein Gewehr daraufhin ein klein wenig gesenkt.

»Er ist geistig behindert«, hatte die Frau ihnen erklärt. Ihr Tonfall war in keiner Weise empört gewesen – kein angedeutetes Wieso ist dir das denn nicht aufgefallen?Wie kannst du es wagen? –, aber Frank hatte eine gewisse Mattigkeit herausgehört, die Erschöpfung einer Person, die eine bindende, liebevolle Verpflichtung eingegangen war und davon langsam aber sicher ausgezehrt wurde. Er wusste noch, dass er deshalb vermutet hatte, sie sei Duckies Mutter.

O’Brien war jedoch, wie sich herausgestellt hatte, seine Sonderschullehrerin, beziehungsweise sie war gewesen. Sie hatte ihnen erzählt, dass seine Familie tot sei, genauso wie ihre eigene, und seitdem führe sie ihn durch den Mittleren Westen. Sie war nun also keine bloße Erzieherin mehr, sondern Vollzeitbetreuerin, und Frank vermutete, dies sei so, weil weder ihr noch Duckie jemand anderes im Leben geblieben war. Er hatte gehofft, zwischen den beiden laufe nichts Anstößiges, wenngleich ihm dies nun in den frühen Morgenstunden lächerlich vorkam, als er dabei zusah, wie O’Brien Duckies schmutziges Gesicht mit einem Ärmel abwischte, den sie vorher mit Spucke befeuchtet hatte.

Nachdem sie ihn und seine Behüterin aufgenommen hatten, war die Gruppe bis zum Einbruch der Dunkelheit in dem Autohaus geblieben, um sich danach wieder auf den Weg zu machen, der sie angeblich zu einem der toten Riesen bringen würde. Sie hatten allerdings nur quälend langsam Fortschritte gemacht und oft angehalten, weshalb sie erst jetzt auf diesem mit Fahrzeugen verstopften Straßenabschnitt an dem zerstörten Splitterschutzwall hockten und darauf warteten, die Kreatur endlich sehen zu können ... den Little One, wie Duckie und so viele andere sie nannten. Der Junge tat dies allerdings ohne jedwede Ironie, und zwar deshalb, weil es, obwohl die Little Ones rund dreihundert Fuß hoch waren, noch einen viel Größeren gab, der weiter nördlich stand.

Es ist, wie es ist.

Hier saßen sie nun, während die Sonne und der Nachthimmel Schisshase spielten. Frank, ein ehemaliger Werbetexter mit einem Lungenleiden und Gelenken, die wehtaten, sobald er sich auch nur bewegte; Chapperino, ein alter Sack und ursprünglich aus Queens, der fast übermenschliche Geduld – er hatte während Quebras Konfrontation mit Duckie nichts gesagt – und unglaubliches Mitgefühl gegenüber anderen Menschen an den Tag legte. Der Junge selbst, der eigentlich in Ordnung, wenn auch bisweilen ein wenig laut war, weshalb man ihn wiederholt daran erinnern musste, dass es menschliche Monster gab, vor denen man sich in Acht nehmen musste, und O’Brien die in jeder Hinsicht die typische Ersatzmutter verkörperte, und ungefähr so alt wie Frank zu sein schien, also über vierzig, obwohl sie genauso verhärmt und verlebt aussah, wie sie alle.

Auch Caitlin und ihre Schwester Autumn zählten zu den neuesten Zuwächsen der Gruppe. Erstere hatte langes, ungewöhnlich schwarzes Haar, vielleicht weil es so lange nicht gewaschen worden war, obwohl es noch sehr gesund wirkte. Aus diesem Grund fiel es Frank auch so oft ins Auge. Sicher, das Mädchen war attraktiv, doch Franks Gehirn verarbeitete den Anblick einer jungen Frau nicht einmal mehr in seinen primitivsten Niederungen auf solch eine Weise. Jene müßigen, oft schmutzigen Gedanken, die einem Mann wie es schien ungeachtet der Umstände, regelmäßig in den Sinn kamen, hatten deutlich nachgelassen, als alles vor die Hunde gegangen war, und hatten wesentlicheren Instinkten die Führung überlassen. Autumn war ebenfalls hübsch, und ihr glattes Haar machte einen gepflegten Eindruck, auch wenn es wohl schon einen Monat her war, seit ihnen zuletzt genügend sauberes Wasser zur Verfügung gestanden hatte, um irgendetwas zu waschen. Ihr Haar war rot; als sie noch allein mit ihrer Stiefschwester unterwegs gewesen war, hatte sie sich irgendwann die Zeit genommen, um in eine Drogerie einzubrechen, und hatte sie in einem kräftigen Rotton gefärbt. Sie sah wie knapp dreißig aus, und »Cate« war jünger als sie. Wenn Frank an sie dachte, dann eigentlich immer nur im Zusammenhang mit Caitlin, weil Autumn bisher stets darauf geachtet hatte, kein bisschen von ihrer Persönlichkeit preiszugeben, sie war nahezu verbissen zugeknöpft. Caitlin war zwar offener, doch die Ältere hielt sie an der kurzen Leine, und wie straff diese gespannt war, wurde zu manch seltenem Anlass recht offensichtlich.

Dann kam Quebra, der stets für einen Scherz zu haben war, außer er wurde »scharfgemacht«. So umschrieb es Chia, wenn bei ihm die Ausbildung des Soldaten durchbrach, sodass er sich merklich versteifte. Frank hatte sich bei diesem Vergleich an einen Jagdhund erinnert gefühlt, aber nichts weiter dazu gesagt. Wenn Quebra nicht »scharf« war, konnte er gut und gern eine Stunde lang mit Chia an einem Feuer sitzen und ein Pointenfeuerwerk abfackeln, bis niemand mehr an sich halten konnte und aus voller Kehle lachen musste. Das war gut, wenn auch ein wenig unsicher, doch Frank vertrat die Meinung, sie wären nie so weit gekommen, wenn es nicht hin und wieder auch mal etwas zu Lachen gegeben hätte. Quebra, ihr abgerichteter Killer, wusste dies eventuell sogar noch besser als jeder andere.

Blieb noch das letzte Mitglied ihres Oktetts, Ethan Dodgman – oder auch Dodger, wie er am liebsten genannt wurde. Sechsundzwanzig, Sohn eines Gouverneurs, Neffe eines US-Senators und wohlhabend: Dies waren jene Informationen, die jeder über ihn wissen sollte. Dinge, die allerdings in der jetzigen Welt keine Relevanz mehr besaßen. Für Frank gab es keinen Grund, Dodgers Behauptungen anzuzweifeln, aber sie waren ihm genauso wie auch allen anderen egal. Das einzig Zwingende an Dodgers Geschichte war seine Verbannung aus dem mit allen Schikanen ausgestatteten Atombunker der Familie, nachdem er den kürzesten Strohhalm gezogen hatte. »Bedauere, Sohnemann, wir haben einfach nicht genug Platz für alle zwölf von uns, aber du bist ja noch jung. Du hast bessere Chancen, dich da draußen allein zu behaupten, als dein alter Herr. Amerika braucht deinen Vater, Sohnemann, sie brauchen ihn hier unten in der Einsatzzentrale.«

Frank stellte sich vor, wie Dodgers Erzeuger diese eiskalte Abschiedsrede mit einem Glas Scotch in der Hand geschwungen hatte. Ein wahnsinniger Aristokrat, der glaubte, die US-Regierung existiere noch, und es gebe weiterhin einen Machtsitz mit seinem Namen darauf. Andererseits schien auch der Sohn dieser Annahme zu sein. Denn obwohl er die Scheiße hier draußen schon gut drei Jahre mitmachte und erlebt hatte, wie ziviles Aufbegehren zu einem Bürgerkrieg geworden war, bis keine Bürger mehr übriggeblieben waren, redete er nach wie vor wie Mr. Jahrgangssprecher, der sich bei einem Kongressabgeordneten um eine Praktikumsstelle bewarb.

Sie alle warteten darauf, einen toten Riesen zu sehen.

Es ist, wie es ist.

***

Als es hell genug war, um den Feldstecher benutzen zu können, stand Quebra auf, stützte die Ellbogen auf das Dach einer auseinandergenommenen Limousine und schaute hindurch.

»Da ist er«, raunte er ehrfürchtig und verkrampfte dabei seinen ganzen Körper. »Gleich dort drüben liegt er, compadres.«

Dodger fuhr sofort hoch. »Lass sehen.«

Ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen, entgegnete Quebra: »Tu dir keinen Zwang an.«

Alle erhoben und näherten sich ihm langsam von hinten, als könne er sie beschützen, falls das Wesen plötzlich wieder zum Leben erwachte und sie entdeckte. Dass so etwas passieren konnte, hatte Frank zwar noch nie gehört, nicht einmal in den verrücktesten Räuberpistolen anderer Nomaden, aber er rechnete insgeheim trotzdem halb damit. Seine Knie knackten und knirschten, als er sich von seinem Platz auf der Straße aufraffte und neben den Soldaten stellte.

Großer Gott, er war nur noch hundert Yards entfernt. Der riesige, fürchterliche Kopf lag in einem Asphaltkrater auf dem Parkplatz eines Schnellimbisses. Er war tatsächlich gleich dort drüben.

So nahe war Frank einem von ihnen, noch nie gewesen, und als die Sonne endlich aufging, sah er den sogenannten Little One in all seinen abscheulichen, erschreckenden Einzelheiten so deutlich vor sich, dass er fast zusammenzuckte. Es war so, als bemerke man, dass man schlafwandelte, kurz bevor man eine Hand auf eine glühend heiße Herdplatte legte. Dodger und Autumn fuhren in ähnlicher Weise zusammen, wobei sich Letztere fest an Caitlins Oberarm klammerte.

Der Kopf des Little Ones war lang und schmal, insgesamt schnabelförmig und abstoßend scharfkantig. Er erinnerte an eine Pinzette mit Zähnen, allerdings aus glattem, knochenartigen Material, eine Art Panzer oder Exoskelett, wie Frank annahm. Sie waren im Fernsehen gezeigt worden, als man noch gesendet hatte, und er kannte sie von Fotos aus der Zeit, als es noch Fotografie gegeben hatte. Manche Menschen nannten sie Beingiganten, doch jetzt aus unmittelbarer Nähe sah er, dass die Beschaffenheit der Kreatur eher versteinertem Holz als Knochen glich. Entlang der spitzen Schnauze, die sich zu Greifhaken verjüngte, konnte er eine feine Körnung erkennen. Das Maul war geschlossen, doch Frank hatte schon Aufnahmen des offenen Schlunds gesehen. Statt schnappender Ober- und Unterkiefer spreizten sich bei ihnen vier Mandibeln und zuckten in der Luft herum wie die Finger einer gierigen Hand. In deren Innenfläche hatte Frank einen Blick auf ein nasses Loch wie eine Wunde erhascht, den eigentlichen Rachen. Sie hatten Menschen gefressen, das war eine Tatsache. Allem Anschein nach mussten sie das nicht; allem Anschein nach lebten sie von nichts außer ihrem Hang zu mutwilliger Zerstörung. Lange stachelige Arme mit wulstigen Fäusten zerschlugen Fahrzeuge und Gebäude. Frank hatte sich den Film angesehen. Ihre eigentümlich gebeugten Beine pflügten dabei unumwunden durch Brücken, als ob die Bauwerke kein Recht besäßen, dort zu stehen, und die Brücken stürzten einfach ein: mit Autos, Stahltrossen und Menschen. So etwas taten die Little Ones, wenn sie lebten. Dieser hier lag allerdings vollkommen bewegungslos da, und sein blutroter Augapfel wurde von etwas geschlossen gehalten, das aussah wie eine Knochenscheibe. Er erweckte den Eindruck, so tot zu sein, wie man es sich nur vorstellen konnte, zumindest insoweit, wie Frank ihn sehen konnte. Denn der Rest des Körpers unterhalb der Schultern lag verborgen hinter einem Einkaufszentrum, das von einem längst ausgebrannten Feuer verrußt war.

»Wie lang ist er?«, wollte Caitlin wissen. Die Frage war an Chia gerichtet.

Er antwortete: »Größer als ein paar Hundert Fuß werden sie nie, soweit ich weiß.« Dreihundert Fuß aber entsprach zum Beispiel fünfzig Menschen übereinander oder auch der Höhe eines Bürohochhauses, es bedeutete verdammt nochmal Ende im Gelände, wenn er auf dich trat. Aber er gab bei allem Schrecken, den er erregte, ein wirklich atemberaubendes Bild ab. Man versetze sich nur einmal in jenen Augenblick, als er hier niedergegangen war … wie die Erde gebebt, und wie jedes noch intakte Fenster in der Umgebung zerbrochen sein musste ... wie aufgegebene Fahrzeuge gesprungen und die Schutzwälle eingestürzt sein mochten! Wenn sich ein Little One bewusst und mit Absicht bewegte, war es noch schlimmer, wie Frank wusste. Er wollte kein solches Monster mehr lebendig sehen, nicht nach dem Letzten.

»Wenn das ein Little One ist«, fragte Caitlin, »wie groß ist denn dann ein Big One?«

In Augenblicken wie diesem wandte sich anscheinend jeder an Frank. Gerne hätte er ihnen bei solchen Fragen entgegnet, dass er Werbetexter war, kein Dichter und schon gar kein Journalist, doch sie wollten, dass er es ihnen erzählte. Er hatte es zwar lediglich in den Nachrichten gesehen – der Rest der Gruppe auch, soweit er wusste –, doch sie erachteten ihn trotzdem als ihren Fachmann im Umgang mit Worten. Caitlin folgte den Blicken der anderen, wobei ihre fragenden Augen funkelndes Sonnenlicht auf ihn warfen. Er wandte sich kurz von ihr ab und räusperte sich, bevor er sprach: »Ein Big One ist … Bist du jemals mit einem Flugzeug gereist, Cate?«

»Als Baby«, erwiderte sie. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da sie neunzehn war, musste sie auf die Welt gekommen sein, kurz, nachdem das alles begonnen hatte und bald darauf hatten kommerzielle Fluggesellschaften den Betrieb wohl nach und nach eingestellt. Frank überlegte ein paar Sekunden lang. »Also, Flugzeuge wie sie dich und mich damals befördert haben, stiegen für gewöhnlich dreißigtausend bis fünfunddreißigtausend Fuß hoch, bis in die Wolken also. Manchmal ist man über ihnen geflogen und konnte von den Fenstersitzen aus auf sie hinunterschauen, das war schon ziemlich fantastisch.« Es stimmte wirklich. Der Mensch hatte zu jener Zeit den Himmel und darüber hinaus noch weitaus mehr beherrscht, die ganze Exosphäre mit ihrem unvorstellbaren Wust aus Satelliten und Schrott. Doch in diesem Fall ging es um den Big One, der jetzt in Chicago stand, bereits seit Jahren schlafend. Was schlafend bedeutete, war dahingestellt. Die meisten Menschen ließen es geflissentlich darauf beruhen, damit ihre wiederkehrenden Albträume nicht noch schlimmer wurden.

»Der Big One«, fuhr Frank fort, »ist ungefähr sieben Meilen hoch. Das sind annähernd siebenunddreißigtausend Fuß. Er schwebt also nicht nur sprichwörtlich mit dem Kopf über den Wolken.« Caitlin nahm diese Redewendung nicht zur Kenntnis, und so sprach er einfach weiter: »Der höchste Berg auf der Erde ist der Mount Everest, und der Big One überragt ihn noch einmal um achttausend Fuß. Man hat nie herausgefunden, wie so etwas Hohes und Schweres überhaupt laufen kann.«

»Die meisten Leute nennen ihn übrigens gar nicht Big One«, warf Quebra ein, der immer noch durch seinen Feldstecher schaute. »Sie sprechen von dem Drachen und dergleichen. So sieht er aber gar nicht aus, besonders jetzt nicht. An etwas, das so groß ist, einzelne Merkmale auszumachen, ist schwierig. Er war schon immer eher wie ein sehr hoher Berg.«

»Mir hat es der Ausdruck Höllengänger angetan«, meinte Chia leise. Er schaute die anderen an. »Sehr theatralisch ... wie aus der Bibel, finde ich, aber wenn mir je etwas von biblischem Ausmaß untergekommen ist, dann dieses Ding.«

Andere nannten es einfach das Tier, und es gab je nach Sprachraum und Religionszugehörigkeit noch weitere Variationen, doch Chia hatte recht: Höllengänger brachte es durchaus treffend auf den Punkt, nur dass die Kreatur nicht mehr ging und es – so Gott existierte – auch nie wieder tun würde.

Außer natürlich, er selbst hatte sie gesandt.

Autumn zeigte auf den Little One, der auf dem Parkplatz lag. »Wir haben schon einmal einen gesehen. Dabei waren wir zwar nicht ganz so nahe dran wie jetzt, aber …« Ihre Stimme verklang, und sie drückte Caitlin fest an sich. Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, etwas Persönliches zu äußern und eine Vorgeschichte preiszugeben.

Caitlin tat es dann tatsächlich: »Ich erinnere mich. Weil ich hinten im Van unter einem Haufen Zeug lag, bekam ich nichts davon mit, aber es muss zu der Zeit gewesen sein, als wir noch im Tornadogürtel gewesen sind. Ich habe drei Windhosen, die hinter uns hergejagt sind, gesehen, bevor mein Kopf unter ein paar Gepäckstücke geschoben wurde.« Sie schaute Autumn aus den Augenwinkeln an, um anzudeuten, dass ihre große Schwester dies getan hatte. »Wir sind dort aufgewachsen. Es heißt, die Stürme seien wegen der Monster nur noch heftiger geworden. So sind auch Mom und Dad gestorben.«

»Caitlin!«, herrschte Autumn sie an.

»Stimmt doch! Und wir versuchten dann, diese drei Tornados mit den Gundersons zusammen in deren Van abzuhängen. Dann erblickte Autumn aber einen Little One hinter den Windhosen und drückte mich runter, bevor ich ihn auch sehen konnte. Sie meinte, sie könne ihn ganz deutlich erkennen, und er würde laufen!«

Frank sagte nichts dazu, sondern vollzog nur den Stimmungswandel zwischen den Geschwistern mit, aber Duckie meldete sich zu Wort: »Er rannte vor den Wirbelwinden weg? So heißen Tornados nämlich auch: Wirbelwinde.«

»Richtig«, bestätigte Caitlin mit abwesendem Blick, »aber nein, er ist hinter uns hergelaufen.«

»Sie haben es also doch auf Menschen abgesehen«, sagte Quebra. »Das erkannten auch wir schon früh. Deswegen orientierten sich die meisten auch an Städten, selbst solche wie den hier, die es umgehauen hat. Immerhin tauchen ja immer wieder neue Menschen auf.«

»Menschen wie wir«, knurrte Chia. »Aber wir wurden gelinkt, ansonsten wären wir nie hergekommen.«

»Dann hättet ihr aber Duckie und mich auch nicht gerettet«, gab O’Brien zu bedenken. Dem setzte niemand etwas entgegen.

»Ja, ihr habt uns wirklich gerettet«, betonte sie wieder, »und wir würden uns euch gern anschließen. Ich weiß, wir kommen euch vielleicht wie ein Klotz am Bein vor, aber wir können auch mit anpacken. Duckie ist viel, viel stärker, als er aussieht.«

»Bin ich«, bekräftigte der Junge. »Viel, viel, viel.«

»Na ja«, erwiderte Chia, »nicht dass wir abstimmen würden oder so etwas, aber ich schätze, es sollte formell beschlossen werden: Hat irgendwer ein Problem mit diesen beiden netten Personen?«

Dodgers Schweigen war bedrückend – als hätte er auch jemals nur die Hälfte seines eigenen Gewichts tragen müssen –, aber wenigstens bewies er jetzt Anstand und hielt seine dumme, verzogene Klappe.

Es schien so, als habe der Little One, der tot auf der anderen Straßenseite lag, jeglichen Reiz des Neuen eingebüßt.

Schon seltsam, wie ein Moment unverfälschter Menschlichkeit so etwas schaffen kann, dachte Frank.

Dann fiel ihm plötzlich auf, dass es, obwohl der Wind gerade aus der Richtung des Toten wehte, nicht nach Verwesung stank. Im Grunde lag überhaupt kein bemerkenswerter Geruch in der Luft. Er tippte Quebra auf die Schulter.

»Ja, Boss?«, murrte der Soldat.

»Können wir irgendwie sichergehen, ich meine zu hundert Prozent, dass das Ding da tot ist?«

»Es liegt schon mindestens eine Woche dort«, sagte O’Brien daraufhin.

Dodger schob seine Hände in die Hosentaschen und begann, auf und ab zu gehen. »Stimmt. Vielleicht sollten wir uns zurückziehen. Außerdem ist da ja auch noch die Krankheit und ich würde gern vermeiden, dass sich jemand von uns infiziert.«

»Wir rühren ihn nicht an, Dodgman«, versicherte ihm Quebra.

»Wer weiß, was er selbst angerührt hat«, blaffte Dodger zurück. »Ihr wisst doch, dass sie die Krankheit verbreiten! Was, wenn er diesen ganzen Ort schon mit Blut, Rotz oder Scheiße versaut hat, bevor er verreckt ist?«

»Ist ja gut, ist ja gut«, beschwichtigte ihn Chia. »Unser Freund hat nicht ganz Unrecht. Ich finde, wir haben genug gesehen. Belassen wir es dabei und ziehen weiter.«

Als etwas leise und tief dröhnte – es klang wie ein Furz –, musste Duckie plötzlich lachen. Franks Blick fiel auf den Little One, und eine Sekunde lang war er sich sicher, sogar zu zweihundert Prozent, dass sich die Kreatur bewegt hatte. O’Brien kniff den Jungen, damit er schwieg, ehe sie alle auf den Riesen starrten.

Man hatte die Little Ones im Zuge zahlreicher Raketenangriffe niedergestreckt, und das bereits vor langer Zeit. Frank hatte noch nie erlebt, dass etwas weniger Aufwändiges funktionierte. Dieses scheinbar unberührte Wesen … War es vielleicht tatsächlich an Altersschwäche gestorben? Könnte ein solches Wunder möglich sein, und all dies würde einfach so zu Ende gehen, infolge des Alterns und durch Überlastung? Womöglich hatte sich dieser auch nur eine ganz gewöhnliche Erkältung eingefangen, so wie in Krieg der Welten.

Vielleicht war er aber auch gar nicht tot.

Vielleicht hatte er sich bewegt.

Frank bemerkte, dass wieder alle die Luft angehalten hatten. Da seine Lunge brannte, atmete er stoßartig und viel zu laut aus. Quebra warf ihm einen finsteren Blick zu.

Die Pupillen des Soldaten veränderten sich, dann zeigte er mit dem Fernglas über Franks Schulter. »Scheiße!«

Kapitel 2

Indem Quebra zwei Schritte nach vorn machte, zwang er die Gruppe zum Auseinandergehen und riss dabei sein Sturmgewehr hoch. »Mills!«, brüllte er und gab zwei Schüsse ab.

Caitlin zuckte zusammen und Duckie hielt sich die Ohren zu. Frank drehte sich um und folgte Quebras Schusslinie zu einem Parkhaus neben der Ruine eines Krankenhauses auf der anderen Straßenseite. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannte er einen Schatten, der auf dem Dach des Gebäudes kauerte. Von der Straße aus und im frühmorgendlichen Licht tat sich Frank schwer damit, die Gestalt als Mills zu identifizieren, aber er verließ sich auf Quebra, zumal es ihn auch nicht im Geringsten überraschte.

Sie waren Mills weniger als einen Monat zuvor begegnet, nicht lange nach Autumn und Caitlin. Die Frau hatte ihnen erzählt, sie habe einmal für die Seuchenschutzbehörde gearbeitet, und in einem Bunker vor Kansas City lagere ein regelrechter Schatz an Impfstoffen, Antibiotika sowie anderer medizinischer Versorgungsgüter. Die Gruppe hatte ihr geglaubt und war deshalb hier. Sie hatten sich darauf eingelassen, weil es unmöglich und in niemandes Urteilsvermögen, einen böswilligen Grund dafür geben konnte, so etwas fälschlicherweise zu behaupten. Warum sonst sollte man sich nach Illinois und damit zu einem Höllengänger wagen, sich also einer Großstadt nähern, die sehr wahrscheinlich weiterhin ein Ziel der Little Ones war? Warum eine Geschichte von Arzneimitteln erfinden, wenn dabei weder Obdach noch materielle Bereicherung in Aussicht stand? Ein solches Unterfangen war selbstmörderisch. Sechs Menschen durch ein solches Fegefeuer schicken und kurz vor dem Ziel zugeben, es sei nur ein Märchen gewesen.

Was das anging, hatten sie Mills schlecht gekannt. Falls es irgendwie hilfreich gewesen war, dann als kalte, harte und eindrückliche Lehre über menschliche Monster. Mills hatte sie belogen, weil sie verrückt war und sich, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen, gelangweilt habe.

Als sie ihnen schließlich reinen Wein eingeschenkt hatte, dastehend auf einem verheerten Freeway am Stadtrand von Kansas City, war sie ganz sachlich geblieben. Nicht einmal niederträchtig gelächelt hatte sie, sondern einfach nur gemeint: »Vielleicht hätte ich euch gleich sagen sollen, dass ich in Wirklichkeit niemals für den Seuchenschutz gearbeitet habe.«

Mills war mittleren Alters und sah … na ja ... normal aus. Frank glaubte, sie auf so eine Art und Weise einzuschätzen, verrate ein gewisses Vorurteil, dem er selbst aufsaß, doch feststand: Er hatte sie für eine normale Person gehalten, die unmöglich psychopathisch sein konnte, sie alle hatten das getan. Dahinter steckte mehr als der Wunsch, ihre Aussagen glauben zu wollen, nämlich die Annahme, dass eine weiße Frau über vierzig einfach keine gemeingefährliche Irre sein konnte.

Tja, Lektion gelernt.

Es war ja auch nicht so, dass jemand von ihnen an einer Krankheit gelitten hätte, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Das sagenumwobene Lager des Seuchenschutzes zu erreichen war nicht wirklich dringend notwendig für sie. Bei Franks Leiden handelte es sich um eine genetisch bedingte Bindegewebsschwäche, und einige in der Gruppe wussten noch nicht einmal davon. Was die übrigen Mitglieder betraf, so wirkten sie zumindest gesund. Es bedurfte ja auch einer aktiven Gruppe, um so weit kommen zu können. Sie hatten ein gutes stabiles Verhältnis zueinander, und auch wenn sich ihre höchsten Ziele darauf beliefen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, schöpften sie Sinn aus einer Welt, in der nichts mehr Sinn ergab.

Aber Mills war einfach nur gelangweilt gewesen und hatte sie deshalb betrogen. Sie hatte ihnen gesagt, sie wundere sich darüber, dass sie ihr tatsächlich so verflucht weit bis nach Kansas City gefolgt seien, und dann hatte sie versucht, Chia mit einem spitzen Stein zu erschlagen, als er ihr zu nahe gekommen war.

Quebra hatte sein AR-15 genommen und ihr den Griff auf den Schädel geschlagen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte Mills feststellen müssen, dass sie mit einem Seil aus seinem Rucksack gefesselt worden war.

Chia war derjenige gewesen, der sie schließlich angesprochen hatte. »Wir haben darüber diskutiert«, so seine Worte, simpel wie jene, die auch Mills selbst gebraucht hatte. »Wir lassen dich hier so zurück. Du darfst weiterleben, weil wir uns nicht auf deine Stufe stellen wollen, bleibst aber gefesselt. Und …« Seine Züge waren düsterer geworden, wie sich Frank entsann, und seine Falten tiefer. Chia hatte das alles nur schwerlich über die Lippen bringen können, es aber letztlich doch geschafft. »Wer auch immer dich findet, wird schnell erkennen, was du bist. Nie wieder sollst du jemandem so schaden, wie du uns geschadet hast.«

Mills hatte ihn begriffsstutzig angesehen und gefragt: »Was meinst du damit? Habt ihr mich etwa gebrandmarkt?« Dann war sie unruhig geworden. Die Vorstellung, gezeichnet worden zu sein, musste ihre Sinne geschärft haben, weshalb ihr nun auch aufgefallen war, dass ihr Rücken brannte. Auf dieser Welt litten die Menschen ständig in irgendeiner Weise körperlich, doch sie hatte einen neuen Schmerz empfunden und sich im Knien aufgerichtet, ihre zusammengebundenen Hände verrenkt und dabei mit den Zehen Halbkreise im Sand hinterlassend. »Was habt ihr getan? WELCHES WORT IST ES?«

Es war kein Brandmal, Quebra hatte ihr mit seinem Messer das Wort »LÜGNERIN« ins Kreuz geritzt.

Dann hatte er sich neben sie gekniet und ihr dieselbe Klinge ins weiche Fleisch hinter dem Wangenknochen gedrückt, woraufhin sie sofort still geworden war. »Du wolltest mit uns spielen«, hatte er gesagt. »Jetzt spielen wir mit dir.«

So war sie alleingelassen worden, und die Gruppe hatte sich weit entfernen müssen, bis Mills’ Schwall von Flüchen verklungen waren.

Das Ganze hatte sich erst vor ein paar Tagen zugetragen. Frank war sogar schon dazu übergegangen, sie zu vergessen, Quebra offensichtlich nicht. Er hatte sich eine doppelt so lange Nachtwache auferlegt, bisweilen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen dagesessen, ohne von jemandem abgelöst zu werden, und außerdem noch Autumn im Gebrauch verschiedener Schusswaffen unterwiesen, die er mit sich führte. Obwohl der Mann zuverlässig mit seinem kleinen Arsenal umzugehen wusste, hatte er Chia, Frank und nun auch Autumn das Schießen beigebracht. Dodgers Bitten hingegen, es auch lernen zu dürfen, wurden von ihm stets ignoriert.

Er selbst war nicht lange nach Autumn und Caitlin beziehungsweise kurz vor Mills zur Gruppe gestoßen. Es schien solche Wellen zu geben, dass mehrere Personen jeweils zur gleichen Zeit starben oder in Erscheinung traten. Im vergangenen Monat hatte sich das Karussell allerdings besonders schnell gedreht, und so würde es voraussichtlich noch eine ganze Weile weitergehen.

Auf dem Parkdeck streckte Mills ihre Arme gerade frei in die Luft, bevor sie sich wieder hinter der Betonbrüstung des Dachs versteckte.

Quebras Doppelschuss war eine Warnung gewesen, doch nun folgte er ihren Bewegungen aufmerksam. Er wandte sich zu Chia und fragte ihn: »Was denkst du, Boss?«

»Sie wird uns nicht in Ruhe lassen«, meinte Autumn hinter ihm.

»Wer ist sie denn überhaupt? Und was hat sie getan?«, wollte O’Brien wissen.

»Sie bedeutet Ärger«, antwortete Chia leise. »Nichts als Ärger, und wir haben ihr trotzdem ihre Chance gegeben.«

»Sie ist diejenige, der wir auf den Leim gegangen und der wir hierher gefolgt sind«, erklärte Frank O’Brien. »Es stimmt, wir hätten euch beide gar nicht gefunden, wenn das nicht passiert wäre, aber sie ist verrückt, und damit meine ich wirklich geistesgestört. Ihretwegen kommen wir noch alle ums Leben.«

Quebra nickte beipflichtend. Frank wusste, er hatte Mills eigentlich sofort töten wollen, sich aber dann doch Chia und dessen Verständnis von Nachsicht gefügt. Damit war es jetzt allerdings vorbei.

»Glaubst du, sie ist allein?«, fragte Frank den Soldaten. »Und immer noch unbewaffnet?«

»Hoffen wir es«, entgegnete Quebra. Er kniff die Augen zusammen. »Da oben ist sie auf jeden Fall nicht mehr.« Er begann, seinen Blick durch das Visier am Parkhaus entlang schweifen zu lassen. »Das Miststück wollte uns nur wissen lassen, das es sich noch dort draußen herumtreibt. Hätte sie damals einfach umlegen sollen. Fuck.«

Frank fühlte sich jetzt unwohl und empfand genauso. Alles würde sich fortan darum drehen, dass Mills ihnen nachstellte, solange sie die Sache mit ihr nicht klärten. Sie einfach so auf dem Freeway unschädlich zu machen wäre wirklich besser gewesen. Frank hätte zwar nicht den Schneid dazu besessen – hatte er auch jetzt noch nicht –, doch andererseits … so konnte es nicht weitergehen, wenn sie in jedem Schatten jedes Gebäudes mit dem Schreckgespenst Mills rechnen mussten. Das Angstgefühl in Franks zusammengezogenem Magen verwandelte sich nun in Wut. Er schaute hinüber zu Chia, um zu sehen, ob sich der alte Mann im Herzen genauso umbesonnen hatte, entdeckte aber nur Kummer.

»Mach dir keine Vorwürfe«, schob Frank schnell hinterher.

»Kann ja sonst niemandem die Schuld dafür geben«, murrte Chia.

»Also«, hob Dodger an, während er das Parkhaus im Auge behielt. »Ich schlage vor, wir suchen uns einen höheren Fluchtpunkt.« Entweder taten sie dies oder sie mussten verschwinden, doch man schien wortlos darin übereinzukommen, in der Stadt zu bleiben und dieses Problem zu beheben, bevor sie aufbrachen. Wie zur Bestätigung nickte Chia.

»Ich werde das Gebäude an der Westseite des Krankenhauses auskundschaften«, beschloss Quebra. Er streifte seinen nicht gerade leichten Rucksack ab und wühlte darin herum. Nachdem er zwei Pistolen herausgefischt hatte, gab er sie Chia beziehungsweise Frank.

Diesem bereitete das Gewicht der Waffe Unbehagen, und er blickte verhalten zu Autumn. »Willst du zufällig Ausguck spielen?«

»Heute nicht«, entgegnete sie. Frank verzog sein Gesicht und steckte sich die Pistole in den Hosenbund.

Dann drehte er sich wieder zu dem Little One um, dessen beeindruckender Anblick abermals wegen menschlichen Theaters in Vergessenheit geraten war. Er lag nach wie vor im selben Krater aus Asphalt, mit geschlossenem Auge, doch sie mussten von ihm fort, ob er tot war oder nicht. Frank fand es ironisch, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob der Begriff in diesem Zusammenhang wirklich passend war, dass ein erlogener Arzneimittelbestand sie zu diesem gefallenen Ungeheuer geführt hatte, das eine grässliche, unheilbare Krankheit in sich barg. Diese war dem Planeten Erde fremd, eine bakterielle Infektion von irgendeinem fernen Stern, aus einer anderen Dimension oder woher auch immer diese Riesen ursprünglich stammten. Sie äußerte sich zunächst in roten Läsionen groß wie Untertassen. Die Haut wurde erst straff, hart und tat weh. Dann brach sie auf, sodass blutende Löcher klafften und letztendlich, falls das Opfer lange genug durchhielt, wie Frank zu Ohren gekommen war, zu erbärmlich trockenen Scharten wurden, woraufhin bald der Tod einsetzte. Er hatte Infizierte im ersten und zweiten Stadium gesehen, aber noch keine im Endstadium, jenem Schweizer-Käse-Grauen. Diese, so hieß es, verloren letztendlich ihren Verstand. Wem ginge es nicht so?

Die Gruppe ließ sich im Schatten zwischen den ausgeweideten Autos nieder. Auf den Gehsteig umzuziehen und die Karosserien als Deckung vor Mills zu verwenden würde gleichzeitig bedeuten, dem Little One näherzukommen. Während er dabei zusah, wie Quebra die Straße hinunterschlich und schließlich verschwand, fragte Frank: »Warum steigen wir nicht in eins der Autos?« Er zeigte auf einen langen Chevy-Familienbus, der ein paar Fahrzeuge weiter in der Schlange stand. »Da würden wir alle hineinpassen.«

»Sieh nach«, erwiderte Chia. Er wirkte geknickt und haderte immer noch mit sich selbst wegen der Entscheidung, Mills am Leben zu lassen. Frank klopfte ihm im Vorbeigehen aufmunternd auf die Schulter.

Der Wagen war leer, weder verdreckt noch vermüllt, und die Seitentür ließ sich mit ein wenig Mühe öffnen, wobei sie allerdings metallisch ächzte. Frank ließ die anderen zuerst einsteigen.

Alle Fensterscheiben fehlten natürlich, und unter der Haube befand sich bestimmt auch nichts mehr, aber das tat nichts zur Sache, wenn Benzin nur noch in der Erinnerung existierte, und drinnen war es gefühlt kälter als draußen. Caitlin zitterte, während sie sich an ihre Schwester schmiegte. »Ich halte dich warm«, sagte Autumn. »Unsere Körper sind noch erhitzt genug. Kennt jemand vielleicht ein paar gute Witze?«

Dodger neigte den Kopf zu der Seite, wo der Little One lag. »Ha.« Dann deutete er in die Gegenrichtung, wo er die irre Lügnerin wähnte, und ließ ein »Hee« folgen.

»Stell dir vor, wir seien deine Wähler, wie wär’s?«, schlug Chia vor. »Muntere uns doch ein bisschen auf, Dodger.«

Der jüngere Mann schwieg und schmollte. Er war nie zu irgendetwas gewählt worden. Seine eigene Familie hatte ihn ins kalte Wasser springen lassen. Chias Scherz war möglicherweise boshafter rübergekommen als beabsichtigt, doch darum schien sich niemand zu kümmern, denn Dodger hielt endlich mal den Rand.

»Seid ihr alle Freunde?«, fragte Duckie. Er war auch still gewesen; solange, dass sie ihn fast schon vergessen hatten.

Frank, der hinterm Steuer neben Chia saß, drehte sich nach ihm um. »Ich denke, das kann man mehr oder weniger so sagen. Denn heutzutage braucht man Freunde.«

»Dr. O... « Duckie schien sich selbst zurückzupfeifen und ballte seine Hände dabei zu Fäusten. »Miss O’Brien ist meine beste Freundin.«

Die Erwähnte lächelte. »Ich versuche weiterhin, ihm beizubringen, dass er die Förmlichkeiten bleibenlässt. Er weiß, er darf mich Mary nennen, wenn er möchte.«

»Erst wenn du mich Greg nennst«, gab Duckie zurück.

»Aber ich dachte, Duckie gefällt dir besser.«

»Tut es auch.« Er lächelte; ihm fehlten recht viele Zähne. Frank tastete die Lücken in seinem eigenen Gebiss mit der Zunge ab. Es waren zum Glück bis jetzt nur wenige, aber vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis er Beeren mümmeln musste, um sich zu ernähren.

»Wie lange seid ihr alle denn schon unterwegs?«, fragte O’Brien.

Chia setzte sich gerade hin und dachte nach. »Also, ich glaube, es ist erst vier oder fünf Wochen her, dass die Mädchen und Dodger dazugekommen sind.« Er klopfte Frank auf den Arm. »Wir zwei schlagen uns allerdings schon vier Jahre durch.«

Es waren eher dreieinhalb, doch Frank wies ihn nicht darauf hin. Ebenso gut konnte es auch schon ein Jahrzehnt sein. Zahlen waren unerheblich, wenn man sich in guter Gesellschaft befand.

Frank zeigte mit einem Daumen auf Chia, der durch die zerbrochene Windschutzscheibe Ausschau hielt, während er selbst erzählte: »Wir haben uns direkt nach dem Zusammenbruch kennengelernt. Als die Regierung zerfiel und alles im Chaos versank.«

»Ich war damals mit meiner Frau und meinem Jungen unterwegs«, fügte Chia mit geübter Distanziertheit hinzu. »Josie und Bryan. Leben beide nicht mehr.«

Duckie sah verwirrt aus, als er das hörte. Er suchte O’Briens Blick, die ihm verständnisvoll zunickte, und dann fiel schließlich der Groschen bei ihm. Dodger in der Mitte zwischen ihnen starrte währenddessen angeödet aus dem Fenster.

»Wir trafen Quebra …Das ist jetzt über ein Jahr her, nicht wahr? Ihn und Kotz.« Chia schaute Frank an, der halb mit den Achseln zuckte und halb nickte. Der Alte fuhr fort: »Kotz … das arme Schwein. Er tappte in eine alte Biberfalle und verlor seinen Fuß, danach wurde er dann krank. Wir haben nie erfahren, ob die Falle noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch stammte und aus hehren Gründen aufgestellt worden war oder von irgendwelchen Verrückten.«

Quebra hatte seinem Soldatenkameraden daraufhin den Gnadenschuss versetzt.

Frank wusste noch, dass er selbst außerstande gewesen war, es mit anzusehen, wohingegen sich Chia dazu gezwungen hatte. Seiner Erklärung zufolge habe er lernen müssen, brutal zu sein. Der alte Mann brauchte, wie es schien, immer noch Unterricht darin, doch das störte Frank keinen Deut.

»Mittlerweile wissen wir also, dass Mary Lehrerin und Duckie ihr Schüler gewesen war«, rekapitulierte Frank. »Du warst ebenfalls Schülerin Caitlin. Autumn, was hast du vor alledem getrieben? Ich meine beruflich.« Den Nachsatz hängte er an, um nicht zu aufdringlich zu wirken.

»Ich war Kassiererin.« Mehr sagte sie nicht, was allerdings auch durchaus angemessen bei der Frage war, wie Frank fand.

»Fehlst nur noch du, Dodge«, fuhr er fort.

»Bin auch noch zur Schule gegangen«, antwortete Dodger, »und meinem werten Herrn Vater im Büro zur Hand gegangen. Für den Senator habe ich hin und wieder auch ein bisschen PC-Kram erledigt, ich galt nämlich als Computerwunderkind.« Frank hätte gern gewusst, ob Dodger über irgendwelche Interna bezüglich des Höllengängers und der Little Ones verfügte. Da der Mann jedoch nicht weiter darauf einging, widmete sich Frank nun seinem Freund.

»Chia hier ist ein Tausendsassa, so etwas wie ein Schweizer Armeemesser.«

»Das ist nur beschönigend für rastloser Rentner« Der Alte grinste zurückhaltend. »Ich habe immer gesagt, dass ich bis zu meinem Tod arbeiten möchte, und na ja, bin wohl auf dem besten Weg dorthin, nicht wahr? Das Leben an sich ist schließlich heute schon eine Plackerei.«

»Wie steht es mit dir, Frank?«, meinte Autumn. Er dachte, sie sei verärgert, weil er sie in Verlegenheit gebracht hatte, aber sie machte einen aufrichtig neugierigen Eindruck.

»Ich schrieb Texte für eine Werbeagentur«, gab er an. »Anzeigen in Zeitschriften größtenteils und überwiegend für Nahrungsmittel. Aufregend, ich weiß, ich war so begeistert davon, wie ihr jetzt alle ausseht, aber ich habe damit anständiges Geld verdient.«

»Hattest du eine Familie?«, bohrte Autumn weiter nach.

Er studierte ihre Züge, soweit dies in dem dunklen Bus möglich war. Versuchte sie vielleicht doch, ihm eins auszuwischen, damit er sich merkte, dass er nicht herumschnüffeln durfte, wenn es um sie und ihre Schwester ging? Er konnte es nicht genau sagen, doch niemand durfte dadurch Genugtuung erhalten, dass er dichtmachte, niemand sollte Franks Tragödie für etwas anderes halten als exakt das, was sie gewesen war.

»Ich lebte geschieden – eine Ehe ohne Kinder –, traf mich aber gerade regelmäßig mit einer Frau, als alles zur Hölle ging. Sie wurde überfahren. Die Unruhe im Volk, die wir alle miterlebt und ignoriert hatten, war zu Krieg ausgeartet, und … Ich kann nicht einmal nachvollziehen, wie man es als Krieg bezeichnen konnte, doch das tat man. Schätze, im Grunde genommen dauert er sogar weiter an, nur lassen sich anscheinend keine eindeutigen Parteien bestimmen, nicht seit die Regierung hinfällig geworden ist. Es handelt sich lediglich um Menschen, die aufgeben.

Wie dem auch sei: Auf den Straßen herrschte Panik. Es gab einen zwielichtigen Bericht, dem zufolge einer der Little Ones unterwegs zu uns war. Wir überquerten gerade eine Straße, sie stolperte, und ein Lastwagen rollte einfach über sie hinweg. Das war’ s.«