6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Ein heiterer Frauenroman »Ach, Hendrikje. Ein Bild des Jammers, eine, die sich selbst die Schuld gibt und nicht weiß, wie stark sie ist. So stark, flott, jung und liebenswert wie dieses Buch.« Tiroler Tageszeitung Hendrikje Schmidt ist eine Pechvogelin. Und jetzt sitzt sie auch noch im Gefängnis und erzählt der spröden Psychologin Frau Dr. Palmenberg ihre Geschichte. Denn eigentlich hatte Hendrikje ihr Leben mal ganz gut im Griff. Tagsüber arbeitet sie als Bedienung in einem Café, nachts malt sie Bilder. Doch an Weihnachten schlägt das Schicksal knüppeldick zu: Von einem Tag auf den anderen ist Hendrikje bis über beide Ohren verschuldet, allein und todunglücklich. Und weil ihr Selbstmordversuch kläglich misslingt, wollen ihre Freunde ihr beim zweiten Mal helfen. Bloß, dass am Ende nicht Hendrikje, sondern zwei ihrer Freunde tot sind. ›Hendrikje‹ ist ein origineller Roman in der Tradition des ›Simplicius Simplicissimus‹, der das ganze Elend, aber auch die moralische Stärke eines ebenso einfältigen wie aufrechten Menschen in die heutige Zeit überträgt. Man kann lachen und weinen mit dieser Hendrikje, und am Ende fragt man sich, ob man sie nicht schon längst kennt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2009
Ulrike Purschke
Hendrikje, vorübergehend erschossen
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© 2006 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
eBook ISBN 978-3-423-40047-3 (epub)
www.dtv.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Nachwort
»Störe ich?«
»Nein, nein, kommen Sie rein.«
Hendrikje kommt rein, und vorsichtig, als wollte sie gar kein Geräusch machen, schließt sie die schwere Tür hinter sich, ganz leise.
»Ich verstehe Ihre Frage gar nicht. Das ist doch unsere verabredete Zeit.«
»Ja.«
Der Behandlungsraum für Psychotherapie also. Hendrikje sieht verlegen auf den grauen Industrieteppichboden und auf die grauen Waschbetonwände, vor denen auf einem Glasbord fünf weiße Orchideen prangen, echt edel.
»Setzen Sie sich.«
Hendrikje setzt sich in einen bequemen Sessel gegenüber von Frau Doktor Palmenberg, die in einer Art Fernsehliege thront, mit hochgelegten Füßen. Sofort beginnt Doktor Palmenberg, im großen Schreibblock, den sie auf dem Schoß liegen hat, die ersten Eindrücke von ihrer neuen Patientin zu notieren: schüchtern-verhuscht/gefasst/klein/mager/blass/zu große Männercordhose + schlabbriger Pulli/ungepflegte Kurzhaarfrisur Typ Straßenköter/sieht aus wie 15.
Hendrikje ihrerseits betrachtet die Palmenberg, die mehr liegt als sitzt. Die Schuhe hat sie abgestreift und ist barfuß. Sie hat lackierte Zehennägel, was auf ein, so denkt sich Hendrikje, ausgefülltes Sexualleben hinweist. Völlig lässig, Grandezza gratis. Dezenter schwarzer Hosenanzug, der weich fällt und sicher ein Vermögen gekostet hat, weil die Dame darin so unverkrampft bleibt. Ein Anzug, in dem du immer gut aussiehst, egal wie du dich hinfläzt.
Frau Doktor Palmenberg ermuntert Hendrikje. »Wir springen gleich rein. Ohne große Vorrede. Nur so viel: Alles ist hier erlaubt. Erzählen Sie mir, was immer Sie für wichtig halten. Alles. Kein Tabu. Ihr Name ist Hendrikje Schmidt, stimmt das?«
Hendrikje nickt.
»Warum sind Sie hier?«
»Ich habe einen Menschen getötet.«
Doktor Palmenberg schlägt ungerührt das Patientenblatt auf.
»Ja, das lese ich hier.«
»Streng genommen sogar zwei, das lässt sich so genau nicht sagen.«
»Zwei?«
»Ja. Es war Notwehr, das eine Mal. Das andere Mal, da, wo ich mir halt nicht so sicher bin, das war einfach irrsinnig dumm gelaufen. Ganz, ganz furchtbar blöd.«
»Und wie geht es Ihnen damit?«
»Furchtbar. Schrecklich. Ich weiß nicht, wie ich damit leben soll.«
»Gut. Lassen Sie uns beim Anfang bleiben. Sie sind wie alt?«
»34.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Malerin.«
»Malerin?!« Doktor Palmenberg klingt anerkennend.
»Ja. Und Kellnerin.«
»Ah-ha.« Doktor Palmenberg klingt abschätzend.
»Ja nee, ich bin wirklich Malerin, nicht nur so hobbymäßig. Als Kellnerin verdien’ ich mir nur mein Geld. Die Leute kaufen zur Zeit nicht so viele Bilder, wir haben eine Rezession.«
Doktor Palmenberg nickt.
»Gut. Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit als Kellnerin?«
»Prima. Macht Spaß.«
Doktor Palmenberg guckt Hendrikje an, ruhig und forschend.
»Ich hasse es.«
Doktor Palmenberg nickt.
»Also, wenn man nur Gast im Café ist, kann man sich das nicht vorstellen. Aber die Welt von hinterm Tresen aus gesehen ist so was wie der Vorhof zur Hölle. Ich komme um 9Uhr morgens ins Café und mache belegte Brote und lege sie in die Vitrine, ich hole die Torten aus dem Kühlhaus, fülle die Kaffeemaschinen auf und verteile frische Aschenbecher. Ich gebe den Blumen frisches Wasser. Um 10 mache ich auf und ab da brummt das Frühstücksgeschäft. Dann gibt’s zum Beispiel Zeugnisse, dann hab ich plötzlich ’ne ganze Schulklasse im Laden. Das heißt: 18Cappuccini müssen gleichzeitig fertig sein, aber mit so festem Schaum, dass der Löffel drin steht, dann sind die belegten Brote aufgegessen, ehe die Stammgäste kommen, und ich muss neue schmieren, hab dafür aber gar keine Zeit, weil eine Oma Mohnstrudel haben will, den ich in der Mikrowelle warm machen muss, aber in der taut gerade das Gratin für mittags auf. Ein Gast bringt seine Cola zurück, weil da angeblich die Kohlensäure drin fehlt, dann rauscht Goebbels rein, also das ist meine Chefin, und räumt in ihrem Führerhauptquartier erst mal auf und schreit mich an, weil keine belegten Brote mehr da sind und dass ich solche Kuchengabeln mit solchen Wasserflecken unmöglich den Gästen hinlegen kann, aber wann hätte ich die polieren sollen? Genau in dem Augenblick beschwert sich die Oma, wo denn ihr Mohnstrudel bleibt, und meine Chefin macht mich zur Schnecke, dabei will sie, dass das Gratin auftaut. Dann zerrt sie das Gratin aus der Mikrowelle raus und haut einen Mohnstrudel rein. Die Oma ruft noch: ›Ohne Sahne!‹, und meine Chefin hat das auch gehört, will aber trotzdem Sahne draufknallen, weil sie dann 30Cent mehr nehmen kann. Ich kenn das schon, sie sagt dann der Oma, dass sie das nicht gehört hat, dass sie keine Sahne wollte, und dass aber doch die Sahne zum Mohnstrudel gehört wie die Elbe zu Hamburg, und dann lacht die Oma und Goebbels schmunzelt die Oma komplizenhaft an und sagt: ›Sie können sich das doch leisten!‹ Und die Oma fühlt sich geschmeichelt und zahlt die Sahne. Also. Goebbels will Sahne auf den nun endlich aus der Mikrowelle gekommenen Strudel machen und merkt, dass die Sahnemaschine leer ist. Weil ich vergessen habe, sie aufzufüllen. Riesentheater. Zeter und Mordio. In der Zwischenzeit hab ich drei Milchkaffee fertig gemacht und zwei Kännchen Tee, hab die Schulklasse abkassiert, wodurch es erforderlich wurde, mal eben schnell rüber zur Bank zu flitzen um Wechselgeld zu holen, denn die haben alle mit großen Scheinen bezahlt. Die Gäste, die in der Zwischenzeit neu dazugekommen sind, sind immer noch nicht bedient worden und werden langsam knatschig, und meine Chefin steht hinterm Tresen und raucht und sagt kopfschüttelnd: ›Mein Personal ist ein bissel überfordert…‹ Ich renne also an die neuen Tische und nehme die neuen Bestellungen auf, und meine Chefin poliert die Kuchengabeln mit einem feuchten Handtuch und sagt bei jeder einzelnen: ›Hier, Picasso! So muss das aussehen!‹ Und ich gucke und sage: ›In Ordnung! Denk ich in Zukunft dran‹, während ich schon die neuen Bestellungen mache: also wieder Mohnstrudel in die Mikrowelle und ein paar Cappuccini, und wenn Goebbels merkt, dass der Schaum nicht ›steif wie der Knochen von Banderas‹ ist – sagen Sie bitte: ist das nicht dégoutant? – dann gießt sie die fertigen Cappuccini in den Ausguss, macht neue und stellt mir die weggegossenen Cappuccini in Rechnung. Zieht sie mir einfach vom Trinkgeld ab. Während ich also Bauklötze staunend daneben stehe und gucke, wie sie den Schaum – also bitte, wenn’s denn sein muss – so steif wie den Knochen von Banderas macht, renne ich mal eben an Tisch 8 bis 13, um den Saustall abzuräumen, den die Schulklasse hinterlassen hat, und trage das Geschirr zur Spülmaschine, die aber voll ist. Voll mit schmutzigem Geschirr, das die Kollegin vom Vortag hinterlassen hat. Dafür schreit Goebbels dann mich an, und ich verteidige die Kollegin vom Vortag, denn die Geschirrspülmaschine ist nur zu ungefähr sieben Achteln voll, und sie, Goebbels, predigt doch ewig, dass wir die Geschirrspülmaschine erst dann anschmeißen sollen, wenn sie zu neun Achteln voll ist, weil das Geschirrspülmittel für diese besonderen Gastronomiemaschinen, die eben besonders schnell arbeiten, so wahnsinnig teuer ist. Ich mache also die Maschine voll und stelle das schmutzige Geschirr von der Schulklasse oben drauf ab, und das führt dazu, dass wir plötzlich kein sauberes Geschirr mehr haben. Jetzt hat Goebbels festen Schaum, aber keine Tassen. Die neuen Gäste stehen auf und gehen. Ich bin ehrlich gesagt froh darüber, das gibt uns Gelegenheit, erst mal ein bisschen Grund in die Sache zu kriegen und neue belegte Brote zu schmieren, aber Goebbels meint, ich sollte jetzt mal den Kühlschrank auswaschen, den unteren, den verquasten, wo die Bierkästen stehen. Und da hab ich dann aber einmal Nein gesagt. Da hab ich ihr eiskalt ins Gesicht gesagt: ›Nee, jetzt schmiere ich belegte Brote, so ’ne günstige Gelegenheit kriege ich nie wieder.‹ Und da war sie still. Da hat sie nichts mehr gesagt. Und ich bin völlig seelenruhig zum Kühlschrank, hab mir meinen Käse und meinen Schnittlauch und meinen Parmaschinken rausgeholt und hab neue Brote belegt, weil gleich würden ja die Stammgäste kommen.
Goebbels hat ganz schön blöd geguckt bei so ’ner Befehlsverweigerung, aber sie musste natürlich das letzte Wort haben und meinte, den Bierkühlschrank sollte ich dann eben nach Feierabend auswaschen, als Gegenleistung schenkt sie mir die weggeschütteten Cappuccini und dann ist sie raus, weil sie sich Augenbrauen tätowieren lassen musste.
Ich hatte meine Brote fertig, es war ein bisschen ruhiger jetzt, nur die Oma saß noch friedlich an ihrem Tisch, und ich dachte, ich könnte mir jetzt endlich die Zeitung schnappen. Das ist mein schönster Augenblick am ganzen Tag, wenn das Frühstücksgeschäft vorbei ist, die Geschirrspülmaschine summt und die Mittagsgäste noch nicht da sind, dann lese ich die Zeitung. Das heißt, eigentlich nur das Horoskop und die Kolumne von Sugar Brown.«
Doktor Palmenberg kennt offenbar die Kolumne und lacht auf: »Sugar Brown, ja!«
»Sagen Sie, ist dieser Mann nicht unheimlich geistreich und witzig?«
»Ja, und auch sehr klug.«
»Also das finde ich auch. Sugar Brown ist an solchen Tagen mein einziger Lichtblick. Ich will mir also gerade die Zeitung schnappen, als der erste Stammgast hereinkommt. Der doofe Bruno.«
»Haben Sie für ihn die Brote belegt?«
»Nee! Bruno hat noch nie was bei uns gegessen. Bruno kommt um halb zwölf und hält sich eine Stunde an einem Espresso fest.«
»Und Bruno schnappt Ihnen Ihre Zeitung weg, und Sie können nichts dagegen machen, weil es die Zeitung für die Gäste ist.«
»So ist es. Das ist einfach ein Scheiß-Timing mit Bruno. Er kommt immer genau um halb zwölf, und das ist der Zeitpunkt, wo ich mal eine Viertelstunde Zeit habe. Man kann die Uhr danach stellen: Ich lese die Schlagzeile, blättere weiter und überfliege die Seite 3, und noch ehe ich überhaupt zum Feuilleton komme, setzt Bruno sich an den Tresen und stiert auf mich und die Zeitung wie ein Biafra-Kind auf ein Schüsselchen Reis. Dann klappe ich die Zeitung zu und schiebe sie ihm wortlos hin. Er bestellt schon gar nicht mehr, ich weiß ja sowieso, was er will. Ich mache ihm seinen blöden Espresso und stelle ihm den wieder ohne ein überflüssiges Wort hin, und Bruno nuschelt sich so was wie ein ›Danke‹ in seinen Bart. Und dann braucht er geschlagene fünfundvierzig Minuten, bis er das Käseblättchen durch hat, also wenn er damit durch ist, dann ist der Laden voller Stammgäste, und bis die weg sind und bis ich alles aufgeräumt habe, da wird es Nachmittag drüber, und nur wenn das Nachmittagsgeschäft ruhig ist, habe ich überhaupt noch Gelegenheit, Sugar Browns Kolumne zu lesen.«
»Und wenn Sie diese Lektüre versäumen, ist Ihnen der Tag verdorben.«
»Machen Sie Witze? Ich versäume die Kolumne nie. Ich hab sie dann eben nach Feierabend gelesen. Aber das ist mir irgendwann zu blöd geworden und ich hab mir gedacht, also Sparsamkeit muss ja nicht in Geiz ausarten, und hab mir ein Abonnement geleistet. Jetzt kommt die Zeitung nachts, und wenn ich morgens aus dem Haus gehe, dann liegt sie auf der Matte, und dann stecke ich sie ein und nehme sie mit ins Café, aber ich lege sie natürlich nicht für die Gäste aus. Ich sorge dafür, dass um Punkt halb zwölf kein anderer die Gästezeitung hat, und lege sie Bruno gleich an den Platz, damit dieses Blicke-Theater gar nicht erst losgeht. Gott, war Bruno gebauchpinselt, als die Zeitung zum ersten Mal an seinem Platz lag, als würde sie auf ihn warten. Er hat sich hingesetzt und geschmunzelt, und ich dachte: Wie blöd von mir, jetzt bildet der sich noch was drauf ein.«
»Was ist falsch an Bruno?«
»Alles. Er ist so uncharmant und so mundfaul. Ich meine, wir leben doch in menschlicher Gesellschaft, ist es denn zu viel verlangt, ›Guten Morgen‹ und ›Guten Tag‹ zu sagen? Oder mal zu fragen, wie’s geht? Aber nein, unser Bruno schwebt über solchen Konventionen. Ich finde nicht, dass er sich das leisten kann. Also wenn er jetzt besonders toll aussehen würde, dann könnte ich begreifen, dass einer einfach arrogant ist, aber Bruno? Bruno ist direkt eine Beleidigung fürs Auge, ehrlich. Ich kann mich nur wiederholen, wir leben doch in menschlicher Gesellschaft, kann man sich nicht so zurechtmachen, dass es nicht wehtut, jemanden anzugucken? Aber nö, nicht mit Bruno, der schwebt da drüber, Bruno trägt gelbe Frotteesöckchen in offenen Sandalen, schlabberige Hosen, schlabberige Pullis…«
Doktor Palmenberg schaut stumm an Hendrikje herunter, deren Äußeres der Aufmachung von Bruno erstaunlich nahe kommt. Hendrikje merkt das und ist peinlich berührt. Sie räuspert sich.
»Ja, und er hat einen Bart wie ein Weihnachtsmann, ein Biotop, fürchte ich, und er trägt eine Brille mit den reinsten Glasbausteinen von Gläsern, hinter denen seine Augen nur noch als stecknadelkopfgroße Pünktchen auszumachen sind. Und dann raucht er dieses Stinkezeug, also irgendwelche billigen Zigarillos, die mir das ganze Café verpesten. Widerlich, wirklich.«
Doktor Palmenberg schweigt.
»Naja, an diesem Tag kam Holger ins Café, kurz nachdem Bruno aufgekreuzt war. Bruno saß bei mir am Tresen und las die Gästezeitung, und ich stand hinter dem Tresen und las meine eigene Zeitung, Sugar Browns Kolumne. Da kam Holger und weil ich gerade ein bisschen Zeit hatte, habe ich für jeden von uns einen Eisbecher gemacht, einen für Holger, und einen für mich. Dann habe ich beide Eisbecher auf den Tresen gestellt, und Holger hat angefangen, seinen zu essen. Ich habe meinen Eisbecher erst einmal stehen lassen, weil ich Holger die Kolumne vorgelesen habe.«
»Gut«, sagt Doktor Palmenberg, »unsere Zeit ist für heute gleich um, ich habe ein paar Fragen. Wer ist Holger?«
»Holger ist ein sehr guter Freund von mir. Wir sind zusammen aufs Gymnasium gegangen, er ist Übersetzer geworden, er liebt Literatur, er hat eine Neuübersetzung von Tolstois Krieg und Frieden gemacht, die ihm aber kein Verlag abkauft, er übersetzt jetzt erst mal die Beipackzettel von ausländischen Medikamenten.«
»Wenn Sie die Arbeit im Café mit dieser wohl eher unangenehmen Chefin so fürchterlich finden, Sie schildern das ja sehr plastisch, warum haben Sie nie an einen Wechsel gedacht?«
»Ja glauben Sie denn, dass es woanders besser ist? Ich habe schon in ganz anderen Etablissements gearbeitet, also ich kann Ihnen sagen, dagegen ist es bei Goebbels das Paradies.«
»Sie haben mir einen Tag geschildert, an dem ungewöhnlich viel zu tun war, weil es Zeugnisse gegeben hatte. Zeugnisse gibt es aber nur zwei Mal im Jahr. Kann ich davon ausgehen, dass der von Ihnen geschilderte Stress-Vormittag eher die Ausnahme darstellt?«
»Nein! Ja, glauben Sie mir denn nicht? Irgendwas ist doch immer! Sommerschlussverkauf, Winterschlussverkauf, Großreinemachen, böses Wetter, das die Leute ins Café treibt… verunglückte Busse, Demonstrationen, Bombendrohungen, Touristen! Und wenn mal ein Morgen wirklich flau ist, dann hab ich weder Umsatz noch Trinkgeld! Das ist doch in Ihrem Beruf wahrscheinlich nicht viel anders, es ist doch eine Psychose so schlimm wie die andere?!«
»Nein, nicht unbedingt«, gibt Doktor Palmenberg zu bedenken, »es gibt einfache und schwierige Patienten.«
Hendrikje schweigt.
»Unsere Zeit ist um«, lächelt Doktor Palmenberg.
Hendrikje nickt, steht auf, zieht leise die Tür zu und geht schweigend hinaus in den hellgrauen Betonflur. Was für eine Unverschämtheit, solche Haare zu haben wie die Palmenberg, denkt sie. In kastanienbraunen, weichen Wellen fällt es über die Schultern mit einem Glanz… ein Glanz wie eine gut im Futter stehende, frisch gestriegelte Stute. Lieber Gott, was bitte muss man essen, um einen solchen Glanz in die Haare zu kriegen, fragt sich Hendrikje. Was muss man essen?
Was hätten Sie lieber? Zahnschmerzen oder Liebeskummer? Sie denken bestimmt: Liebeskummer natürlich. Denn mit Liebeskummer kann man viele schöne Sachen machen und mit Zahnschmerzen nicht. Mit Liebeskummer kann man in den Urlaub fahren, Eis essen und dem Opa einen Brief schreiben, aber nicht mit Zahnschmerzen. Man kann ins Kino gehen mit Liebeskummer, eine neue Hose kaufen, eine Pizza bestellen, aber nicht mit Zahnschmerzen, denn mit Zahnschmerzen kann man gar nichts tun. Genau deshalb hab ich mich für Liebeskummer entschieden, als ich dran war und gefragt wurde, und ich kann Ihnen sagen, ich bereue meine Wahl. Nichts kann man in Wirklichkeit, lieber Leser, rein gar nichts kann man mit Liebeskummer tun. Ich zum Beispiel kann nichts mehr essen und nur noch Zigaretten rauchen, ich schlafe nachts nicht mehr und mache meine Arbeit schlecht, seit ich Liebeskummer habe, und es ist ein zu beklagender Misstand, dass man die Verursacher von Liebeskummer nicht wegen Körperverletzung verklagen kann. Schließlich ist der Zustand teuer: Die regelmäßige Einnahme magensäurebindender Mittel, die Alkoholvorräte, die täglich neu angeschafft werden wollen, die Verzweiflungskäufe von Anzügen, die nie getragen werden, der nutzlose Fleurop-Service. Nur das Telefonieren ist entschieden billiger geworden, weil alle meine Freunde es einfach nicht mehr hören können und sofort auflegen, wenn ich mich nur melde.
Wer uns und warum auf diesen Planeten gestellt hat, wollen die sich nicht einmal fragen. Natürlich, denn sie wissen es. Sie sind hier, um sich, wenn ihnen der Planet auf die Nerven fällt, gemeinsam mit der von ihnen angebeteten Person die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, und sie tun es. Als wär’s nichts. Und die Schöpfung grinst blöde auf sie herab, macht ihre Stimmen weich und ihren Gang leicht, während ich bleifüßig herumstolpere. Ich habe den Liebeskummer nicht erst seit gestern, ich weiß also, wovon ich schreibe. Ich habe ihn seit 25Monaten, und er wird jeden Tag ein bisschen schlimmer. Zahnschmerzen wären längst weg und ich hätte eine Partyanekdote mehr. Ich wäre einfach zum Zahnarzt gegangen und hätte mir den Terroristen ziehen lassen. Aber was lasse ich mir bei Liebeskummer ziehen? Das Herz?! Je suis un homme mal baisé, auf Partys werde ich nicht mal mehr eingeladen, ich bin gefürchtet, als hätte ich die Pest. Das ist es, was man hat, wenn man Liebeskummer hat: die Pest. Wenn also Sie, lieber Leser, gerade an Zahnschmerzen leiden und jemanden zum Tauschen suchen – meine Adresse ist leicht in der Redaktion zu erfragen.
Ihr von allen guten Geistern verlassener
Sugar Brown
»Das war die Kolumne, die ich Holger an diesem Tag vorgelesen habe, als er bei mir am Tresen sein Eis aß«, sagt Hendrikje und faltet das ausgeschnittene Zeitungsblatt sorgfältig zusammen.
»Wir haben gelacht, Holger und ich, aber der doofe Bruno hatte alles mitangehört und raunte übel gelaunt über den Tresen: ›Der Typ schreibt den Scheiß nur für Geld!‹ Na hören Sie mal, da hab ich den aber zurechtgewiesen. Ich hab ihm ins Gesicht gelacht und gesagt: ›Michelangelo hat die Sixtinische Kapelle für Geld gemalt!‹ Da war er still, der doofe Bruno.
Er ist gegangen, und die Mittagsgäste kamen herein, ich musste also weiterarbeiten und hatte keine Zeit, das Eis zu essen, das ich mir hingestellt hatte. Es stand genau vor Holger, der sein eigenes Eis schon aufgegessen hatte, naja, und da schaut er mich fragend an, und ich lächle und nicke, und Holger freut sich und sagt: ›Ja, aber dann ist dein Eis weg!‹ und ich habe noch mal gelächelt und noch mal genickt und dann hat Holger sich erbarmt und auch noch meinen Becher gegessen.«
Hendrikje schweigt betreten und Doktor Palmenberg sieht sie unverhohlen gelangweilt an.
»Ja, hören Sie, das war eine verhängnisvoll schlechte Angewohnheit von Holger, bei Eis nicht aufhören zu können. Ich bleibe jetzt einfach mal in der Chronologie, wenn Sie erlauben«, sagt Hendrikje spitz. »Aber dieses Detail wird später noch sehr wichtig werden. Es war der Anfang der Katastrophe.«
Doktor Palmenbergs Züge entspannen sich wieder und nehmen einen nicht uninteressierten Ausdruck an.
Hendrikje fährt leidenschaftlich fort: »Ich meine, der Mann hat Krieg und Frieden neu übersetzt!«
»Gut«, sagt Frau Doktor Palmenberg und atmet schwer, »Holger hatte also zwei Eisbecher gegessen, seinen und Ihren.«
»Ja, genau.«
»Gab es an diesem Arbeitstag noch irgendwelche anderen besonderen Vorkommnisse?«
»Nein.«
»Wie sieht denn Ihr Feierabend aus? Was tun Sie für sich nach so einem Tag, wie entspannen Sie sich?«
»Ich bin schnell nach Hause und hab meiner Omi den Kasten Heilwasser gebracht.«
»Ihrer Omi?«
»Ja. Ich hab doch mit meiner Omi zusammengewohnt. Immer schon.«
»Wie ist es denn dazu gekommen? Das ist ja ein bisschen ungewöhnlich.«
»Ja. Meine Mutter hat irgendwann einen neuen Mann kennengelernt, einen Amerikaner. Er wollte sie mit nach Amerika nehmen und mit ihr eine Familie gründen – seine Familie, hat meine Omi gesagt. Die Bälger fremder Leute wollte er nicht noch großziehen. Irgendwie hat er meiner Mutter wohl ziemlich die Pistole auf die Brust gesetzt, jedenfalls ist sie mit ihm nach Florida gezogen und ich bin bei der Omi geblieben. Ich sollte nachkommen, wenn erst mal eigene Kinder da wären, wenn der Mann sich also beruhigt haben würde, aber wir haben dann den Kontakt verloren. Wir schrieben Weihnachtskarten und die kamen zurück, Empfänger unbekannt verzogen, und so ist meine Mutter mir einfach irgendwie verschütt gegangen.«
»Und Ihr Vater?«
Hendrikje lächelt. »Den kenne ich gar nicht. Aber ich glaube, dass er Holländer ist und ich deswegen Hendrikje heiße.«
»Glauben Sie?«
»Ja, ich glaube, dass meine Mutter mal irgend so was erwähnt hat, aber ich war noch klein, ich war eben fünf geworden, als sie nach Amerika ging.«
Doktor Palmenberg schüttelt sich eine Strähne ihres glänzenden Haares aus dem Gesicht und kritzelt eifrig in ihren Block.
»Also, ich bin heim und hab der Omi das Heilwasser gebracht und einen Teller Suppe gegessen, den mir die Omi gemacht hat. Es war ja schon Dezember und kalt, und da hat die Omi immer heiße Suppe parat gehabt. Es war auch schon dunkel, aber ich bin trotzdem noch ins Atelier gefahren, mit meinem schönen Rennrad. Mein schönes knallrotes Rennrad. Mein Atelier war in Altona, in einer stillgelegten Fabrik, also nur ein kleiner Verschlag, nichts Dolles, auch nicht das Wahnsinnslicht, aber irgendwie besser als nichts, schon brauchbar. Die meisten meiner Bilder standen dort, zu Hause hatte ich nur wenige, weil meine Omi sie nicht sehen mag. Sie sind ihr zu wild und zu nackt und zu sexy, das mag sie nicht. Das verstehe ich auch, sie kommt halt aus einer ganz anderen Generation. Also, auf dem Weg ins Atelier hab ich Paula getroffen. Das passiert oft. Paula ist so’n kleines Punkmädchen, sie hat immer so einen riesigen Hirtenhund dabei, und der Hund heißt auch Paula, obwohl er ein Rüde ist. Also Paula haut mich jedesmal an und fragt: ›Haste mal ’n paar Euro?‹, und je nachdem wie mein Trinkgeld ist, gebe ich ihr manchmal was. An dem Tag war das Trinkgeld gut, diese Schüler vom Vormittag waren echt nicht geizig gewesen, und da hab ich ihr zwei Euro gegeben. Und da hat Paula sich gefreut, hat sich bedankt und ist abgezischt. Ich war dann vielleicht zwei Stunden im Atelier.«
»Nach einem so anstrengenden Arbeitstag gehen Sie noch ins Atelier und malen? Bei Kunstlicht?«
»Nein. Ich setze mich hin, koche mir auf dem Gaskocher einen Kaffee und schaue meine Bilder an und genieße die Ruhe. Nichts hören, keinen Menschen sehen, ganz alleine sein. Das ist schön, dabei erhole ich mich. Dann sehe ich Fehler in meinen Bildern und weiß, was ich am nächsten Tag, den ich ganz im Atelier sein kann, korrigieren will. Ich bekomme neue Ideen, manchmal mache ich eine grobe Skizze. Dann bin ich wieder nach Hause gefahren auf meinem schönen roten Rennrad. Die Omi war vor dem Fernseher eingeschlafen, ich hab sie geweckt und sie ging schlafen, und ich bin dann auch schlafen gegangen. Ich war schon fest eingeschlafen, als Ernst mich wieder rausgeklingelt hat, und da hab ich mich gefreut, dass er noch vorbeikam.«
»Ernst?«
»Ja. Ernst. Mein Freund. Wobei man dazu sagen muss, dass Ernst Wert darauf legte, nicht mein Freund zu sein, also eher mein Nicht-Freund. Er hat immer gesagt, er wär nicht mein Freund, sondern mein Geliebter, und ich wär nicht seine Freundin, sondern seine Geliebte. Naja, ich hab zu ihm gesagt, dass ich das komisch finde, wo er doch seit einem Jahr an fünf Abenden in der Woche regelmäßig zu mir kommt und mit mir schläft und über Nacht bleibt, das ist ein bisschen viel für nur einen Geliebten. Da hat Ernst ganz klar gesagt, wenn ich damit nicht zurechtkomme, können wir es sofort lassen und ihn würde es sowieso völlig abturnen, dass ihn jedesmal, wenn er bei uns aufs Klo geht, das Gebiss von meiner Omi im Glas auf der Waschmaschine anlacht und dass er dann jedesmal fürchtet, nie wieder einen hochzukriegen, und also hab ich gesagt: ›Nee nee, ich komme sehr gut damit klar.‹«
»Ehe unsere Stunde zu Ende geht, habe ich einige Fragen.«
»Ja.«
»Was für ein Liebhaber war Ernst? War die Sexualität zwischen Ihnen so bemerkenswert, dass es die Demütigung wert war?«
»Demütigung?! Also, wenn man kein Familienmitglied ist, dann ist so ein Gebiss auf der Waschmaschine… also… nein… er hat sich Mühe gegeben. Er kommt immer erst am späten Abend, er hat einen eigenen Copyshop, der um acht zu macht, und dann macht er noch bis um zehn die Tagesabrechnung, und dann besucht er mich. Wenn er kommt, schimpft er erst mal, weil er wirklich sehr, sehr nervtötende Tage hat, dann regt er sich über den Türken auf, der nebenan im Gemüseladen ein Kopiergerät zwischen den Zwiebeln aufgestellt hat und seine Preise unterbietet, und über eine Rechtslage, die so was nicht verbietet, und dann hole ich Wein und gebe ihm ein Glas und sage: Wenn der Planet dir auf die Nerven fällt, gibt es doch immer noch mich. Und gemeinsam können wir uns doch die Bettdecke über’n Kopf ziehen. Da hat Ernst mich ganz komisch angeguckt, ein bisschen so, als hätte ich sie nicht mehr alle, und dann hat er gesagt: ›Na, dann komm her, du Tier.‹ Und dann… uii… Er hat, wenn er mit mir geschlafen hat und wenn dann ein bestimmter Punkt erreicht war, immer innegehalten und wollte auf mich warten. Er hielt inne und sagte: ›Na los, komm, du zuerst! Lass dich fallen! Du zuerst!‹ Aber bei mir geht das nicht so schnell. ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹ Und dann hab ich meistens den Kopf geschüttelt und musste passen und Ernst ließ sich fallen.«
»Haben Sie jemals einen Orgasmus bei Ernst gehabt?«
»Nein.«
»Haben Sie Ernst geliebt?«
»Ja.«
»Warum genau, denken Sie, wollte Ihre Großmutter Ihre Bilder nicht im Haus haben?«
»Ich habe einige Akte, einige Paare, Liebesszenen, nicht pornografisch, aber schon deutlich.«
»Aber Ihren Geliebten, Ihren Nicht-Freund Ernst wollte Ihre Großmutter im Haus haben?«
»Es hatte sich so eingespielt, dass die beiden sich so gut wie nie begegnet sind. Ernsts Arbeitszeiten kamen mir da sehr entgegen.«
»Was heißt das?«
»Naja, die Omi ist nie wirklich begeistert gewesen, wenn ich Herrenbesuch hatte, sozusagen.«
»Erzählen Sie mir das bitte ein bisschen genauer.«
»Naja, als ich zum Beispiel noch auf der Kunsthochschule studiert habe, da hatte ich einen richtigen Freund. Adrian aus der Filmklasse, naja, das wurde dann schnell schwierig.«
»?«
»Ja, Adrian wollte irgendwann mit mir zusammenziehen, und ich habe Nein gesagt, ich konnte doch die Omi nicht allein lassen, sie war damals schon Ende 80, und unsere gemeinsame Wohnung ist im dritten Stock, es war ja klar, dass ich die Omi in ihren letzten Jahren nicht allein lassen würde. Sie hat sich schließlich mein ganzes Leben lang um mich gekümmert.«
»Wären Sie gern mit Adrian zusammengezogen?«
»Die Frage stellte sich für mich gar nicht, es ging einfach nicht.«
»Und das hat Adrian nicht eingesehen?«
»Doch. Adrian hat das eingesehen.«
»Und?«
»Adrian hat mich oft besucht. Uns besucht.«
»Und Adrian und Ihre Großmutter, die haben sich nicht gut verstanden?«
Hendrikje schweigt lange. Überlegt. Denkt nach und beißt auf ihrer Unterlippe herum.
»Ach, es ging irgendwie nicht. Ich hab mich geschämt, weil ich da irgendwie nicht einfach so frei von der Leber weg entscheiden konnte. Ich wäre gerne mit Adrian zusammengezogen. Er war sehr lieb und immer lustig. Er kam an Markttagen mit Körben voll frischem Gemüse zu uns, mit Käse und Fleisch, er strahlte vor Freude über seine Beute, knallte alles der Omi auf den Küchentisch und sagte: ›Frau Schmidt, nun gucken Sie mal, was ich Ihnen hier mitgebracht habe!‹ Er dachte, er macht uns eine Freude, und er hat das ganze Gemüse bewusst der Omi auf den Tisch geknallt und nicht mir, um sie ganz bewusst mit einzubeziehen. Er dachte, die Omi kocht uns was und dann essen wir alles zusammen auf, er fand das irgendwie richtig gut, dass ich bei der Omi geblieben war und zu ihr stand, aber die Omi war beleidigt, sie sagte ihm ins Gesicht: ›Wir brauchen Ihre Almosen nicht!‹ und rauschte beleidigt aus der Küche raus, und der arme Adrian verstand die Welt nicht mehr. Wenn Adrian dann gegangen war und ich mit der Omi allein war, hat sie sich aufgeregt, sie ließe sich von so einem reichen Schnösel in ihrem Alter doch nicht mehr demütigen, er solle bloß nicht so angeben mit seinem Geld und seinen Möglichkeiten. Adrian hat wirklich reiche Eltern, die ihm sein Studium und reichlich Taschengeld bezahlt haben, er musste zum Beispiel nicht nebenher arbeiten und er hatte ein Auto und alles war bezahlt, aber er hat nie, nie angegeben oder sich wie ein Großkotz verhalten, aber er war nicht die Sache meiner Omi, ehrlich nicht. Er war ein rotes Tuch für sie, das mit dem Geld, das war ihr nicht geheuer. ›Der spielt nur mit dir‹, sagte sie immer, ›so’n reicher Kerl hat dich doch gar nicht nötig.‹ Wenn ich ihr versucht habe zu erklären, dass es Adrian und mir überhaupt nicht darum ging, dann hat sie das nicht geglaubt. Naja. Ich konnte nur extrem selten über Nacht mal weg und bei Adrian bleiben, und aus verständlichen Gründen wollte er immer seltener bei uns übernachten, und so war’s dann irgendwann mit Adrian vorbei.«
»Ihre Großmutter hat ihn also rausgeekelt.«
»Waaas? Nein!« Hendrikje ist ganz Empörung und Unverständnis. »Sie hat ihn doch nicht rausgeekelt, sie machte sich Sorgen!«
»Ja natürlich, sie machte sich Sorgen, Sie an Adrian zu verlieren.«
»Nein, nein! So doof war meine Omi nicht! Sie glaubte ernsthaft, Adrian würde mit mir spielen!«
»Darum wollte Adrian ja auch so unehrenhaft mit Ihnen zusammenziehen.«
Hendrikje starrt die Palmenberg mit offenem Mund an. Aussichtslos, der Psychotussie was erklären zu wollen. Massive Unterstellungen gegen die Omi. Hendrikjes Blick schweift ab über den grauen Industrieteppichboden; schockierend das. Nach einer längeren Weile fängt sie an, mit Daumen und Zeigefinger ihre Unterlippe zu zwirbeln. Für eine noch längere Weile.
Leise räuspert sich die Palmenberg.
»Neben den Akten, also neben Darstellungen von Sexualität in der einen oder anderen Form in Ihren Bildern, gab es keine anderen Motive?«
»Doch. Porträts und sehr viele Stadtansichten. Eisenbahnbrücken, Türme, Häuserschluchten, Höfe.«
»Und was mochte Ihre Großmutter daran nicht?«
»Sie sagte, meine Eisenbahnbrücken erinnerten sie an den Krieg.«
»Ihre Eisenbahnbrücken erinnern mich an den Krieg«, waren dann auch genau die Worte, die der Galerist Rothwein benutzte, bei dem ich am nächsten Morgen einen Termin hatte. Ich bin mit einer Mappe Dias zu ihm in seine Galerie, ich hatte mehrere Jahre gebraucht, um diese Mappe voll zu kriegen und mich dann auch noch zu ausgerechnet Rothwein damit zu trauen. Aber Rothwein war, das war schöner als im Märchen und übertraf meine Erwartungen bei weitem, völlig begeistert. ›Ja‹, sagte er, ›Sie sehen den Krieg in allen Gestalten‹, und damit meinte er jetzt die Liebespaare, die sich umarmen. Und er schwärmte, wie ambivalent diese Liebesakte seien, zart und brutal, hingebend und gleichzeitig tötend… und ich war froh, dass das endlich mal einer merkte, was ich da malte. Genau so waren meine Bilder gemeint, aber ich selbst war schon völlig betriebsblind und konnte gar nicht mehr einschätzen, ob das, was ich malen wollte, dann auch tatsächlich auf den Bildern zu sehen war. Das ist übrigens immer noch so.
Also Rothwein machte sofort einen Termin für eine Ausstellung klar, ohne die Originale, die im Atelier standen, auch nur gesehen zu haben. Es war Dezember, und im März sollte die Ausstellung sein. Eine Verkaufsausstellung, und Rothwein war sich sicher, dass die Bilder weggehen würden wie geschnitten Brot. Er sprach auch von einem befreundeten Galeristen in Zürich, mit dem er mich bekannt machen wollte, nur für den Fall, dass nach der Hamburger Ausstellung überhaupt noch ein einziges Bild übrig wäre.
›Wollen Sie denn nicht wenigstens einen Blick auf die Originale werfen?‹, hab ich ihn gefragt, und Rothwein sagte, das wär überhaupt nicht nötig, er wüsste, wie ein Bild aussieht, wenn er das Dia gesehen hat, aber wenn er’s schafft, dann kommt er mal im Atelier vorbei, einfach so, um Guten Tag zu sagen. Also Rothwein holte wirklich seinen riesigen Büffellederkalender raus und gab mir drei Wochen im März.«
»Das muss für Sie doch eine große Anerkennung gewesen sein.«
»Das will ich meinen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe. Ich weiß noch, dass ich mich halb tot freute und dachte: Hendrikje, du wirst dich nie wieder in deinem ganzen Leben so freuen wie heute! Das ist nicht mehr zu toppen! Ich bin auf meinem schönen roten Rennrad nach Hause gefahren und habe auf der Kennedybrücke einen Handstand gemacht.«
»Sie sind vom Fahrrad abgestiegen, um einen Handstand auf der Kennedybrücke zu machen?«, fragt Doktor Palmenberg amüsiert, und Hendrikje antwortet ernst: »Nein, ich habe auf dem Fahrrad einen Handstand gemacht, als ich gerade über die Kennedybrücke rollte, auf dem Lenker!«
Die Palmenberg schaut Hendrikje an und weiß nicht, ob sie so was glauben soll. »…Aha…… Und dann?«
»Dann bin ich in Ernsts Copyshop, der wie immer ziemlich voll war. Ernst half Sophie gerade, Farbkopien zu machen. Ich sah, wie sie beide ganz dicht am Kopiergerät standen und an den Farbeinstellungen rummachten, und ich weiß noch, dass ich dachte, die stehen aber nah beieinander und sie sehen mich gar nicht, und ich weiß, dass ich fand,