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1804 folgt Sophie Mereau (1770-1806) ihrem jungen Ehemann Clemens Brentano nach Heidelberg. Sie ist acht Jahre älter als er und schreibt mit großem Erfolg Gedichte und Romane. Ihre erste Ehe ist geschieden. Brentano träumt davon, gemeinsam mit ihr eine poetische Existenz als Vater vieler Kinder zu leben. Obwohl Sophie in dichter Folge drei Kinder zur Welt bringt, wächst die kleine Familie nicht. Nur der Freundeskreis um Sophie und Clemens vergrößert sich stetig. Sophie versucht, den Ansprüchen ihres ziellos umtriebigen Mannes gerecht zu werden. Der Heidelberger Freundeskreis wird Zeuge mancher Krise in dieser Ehe. Schließlich kommt es zur Katastrophe.-
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Seitenzahl: 577
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Roman über diedeutsche Romantik
Saga
»Komm nach Hause!« In seinem besten Frack stand Karl vor Sophie, den Hut vor den Bauch haltend, weil er sonst mit seinen Händen nicht gewusst hätte, wohin. »So geht das nicht weiter. Komm nach Hause.« Er war es leid, bei den Tisch- und Abendgesellschaften allein die Honneurs des Hauses machen zu müssen. Die Studenten, die trotz Sophies Abwesenheit noch immer regelmäßig zum Mittagessen kamen, fragten viel zu oft, wann die Seele des Hauses denn wieder da sei.
Sophie vermied es, Karl anzusehen, obwohl sein Frack tadellos sauber war und die Haare ordentlich gekämmt, keineswegs selbstverständlich bei ihrem etwas grobschlächtigen Ehemann. Sein fleischig-schlaffes Gesicht ließ nichts von dem Jähzorn ahnen, mit dem er sie in den vergangenen fünf Jahren, selten zwar, doch stets unvermutet, verstört hatte. Sie sah zu Gisela hinunter, die mitten im Zimmer auf dem Teppich saß und mit bunten Klötzchen spielte. Das Licht der Nachmittagssonne, das durchs Fenster fiel, ließ das feine Kinderhaar fast weiß erscheinen. Auf dem runden Tisch daneben stand eine Vase mit Schneeglöckchen aus dem Garten.
»Ich brauche dich. Jeder fragt nach dir, will dich endlich wiedersehen. Was tust du überhaupt hier? Verwandtenbesuche, gut. Aber nicht wochenlang. Monate. Langweilst du dich hier nicht?« Karl schnaubte verächtlich.
Nach dem Tod des kleinen Gustav Anfang Januar hatte Sophie bei ihrer Schwester und dem Schwager Zuflucht gefunden. Hier fühlte sie sich geborgen, doch Karl traf ins Schwarze mit seinem Verdacht der Langeweile. Das Leben in Camburg verlief sehr ruhig, genau das Richtige für überspannte Nerven. In Jena war das Leben aufregend. Es gab Bälle, lebhafte Gespräche in Salons, Theater. Seitdem Sophie im Haus ihrer Schwester und des Schwagers lebte, hatte sie kaum etwas anderes getan, als zu lesen. Sie las die Römischen Elegien und die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in den Horen, worin auch ein paar Briefe und Gedichte von ihr selber abgedruckt waren, und nahm sich den Wilhelm Meister vor. Alle vier Bände hatte sie gelesen und sich Gedanken dazu gemacht. So musste ein Roman sein. Eine Figur, die sich verändert, eine Vielzahl von Ereignissen und ferne Gegenden. In Jena könnte sie mit ihren Freunden darüber reden. So intelligent und witzig wie Fritz war keiner und niemand so voller Phantasie wie Clemens.
»Ich werde kommen. Aber jetzt noch nicht. Ich brauche noch etwas Zeit.« Hoffentlich sagte Karl jetzt nicht, dass sie sich zusammenreißen solle. Erst vor knapp drei Monaten war Gustav gestorben. Wenn sie Karl auch nicht die Schuld daran geben mochte, so tun, als wäre alles wie vorher, konnte sie nicht. »Bitte geh jetzt. Gisela ist zu empfindlich für eine Reise in dieser Kälte. Wir bleiben hier. Mindestens bis Ostern.«
Mitte April saß Sophie in der Kutsche mit Gisela auf dem Schoß. Die Bäume entlang der Straße zeigten erstes Grün. Büsche und Zweige blühten weiß und gelb. Die Saale glitzerte im Sonnenlicht. In einiger Entfernung erhoben sich die kahlen Felsen und Weinberge, wo seit Jahrhunderten Wein angebaut wurde. Bei Gründung der Universität hatten die Studenten durchgesetzt, ein eigenes Gasthaus zu bekommen. Noch immer behaupteten die Bürger von Jena eigenwillig ihre Rechte und achteten nicht groß auf den Willen der verschiedenen Herzöge, die hier das Sagen hatten, vier zugleich und darum keiner wirklich.
Die Unruhen, die noch vor fünf Jahren unter den Studenten tobten, hatten sich mittlerweile gelegt. Fenster wurden keine mehr eingeschlagen. Leider hatte Professor Fichte die Universität verlassen. Sophie wäre gerne weiterhin in seine Vorlesungen gegangen, an denen sie als einzige Frau teilnahm. Sie würde ihn vermissen, zumal auch Professor Schiller mit seiner Familie im Dezember weggezogen war. Historiker war er nur in zweiter Linie, man kannte ihn vor allem als Dichter und Dramatiker. Und für Sophie war er Freund und Förderer. Auch ihn würde sie vermissen. Zum Glück war der Weg nach Weimar nicht allzu weit. Sophie liebte es, mit ihm über Poetik und die Freiheit zu diskutieren. Mit Karl, Juraprofessor ohne Humor und Esprit, konnte sie das nicht.
Die Kutsche erreichte das Stadttor. Sophie fand die Straßen öde, die Fassaden der Häuser abweisend und das Haus, in dem sie mit Karl lebte, hohl und kalt. Mit dem Ende des letzten Jahres hatte nicht nur ein Jahrhundert sein Ende gefunden. Eine Welt war untergegangen. Gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts ihren kleinen Sohn verloren zu haben schmerzte viel mehr als jeder andere Verlust. Aber Kinder starben, das war normal. Jede Familie kannte das.
Beim Neujahrsball hatte Sophie ausgelassen getanzt. Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Clemens gab Karl die Schuld. Aber hätte sie nicht bei dem kranken Kind bleiben müssen, anstatt sich mit Clemens und den anderen zu amüsieren?
Sophie und Gisela wurden herzlich empfangen. Jette, ihre ältere Schwester, freute sich und umarmte sie beide. Karl rieb sich vor Zufriedenheit immer wieder leise brummend die Hände. Das Hausmädchen und die Köchin hatten sich extra frische Schürzen umgebunden und strahlten.
Am nächsten Tag saß Sophie genau wie im letzten Jahr am Tisch zwischen Karl und Jette zusammen mit den Studenten und täglichen Mittagsgästen. Anders als im letzten Jahr jedoch sprach Sophie fast gar nicht und nur selten lächelte sie. Clemens, bezaubert vom Nimbus aus Trauer und Entsagung, der sie umgab, wandte seinen Blick keine Minute von ihr. In den Augen des jungen Medizinstudenten schien ein dunkles Feuer zu brennen. Wenn Fritz dieses Leuchten in seinen Augen bemerkte, witzelte er: »Seht mal, er brennt, brennt an, wenn er nur nicht abbrennt.« Solche durchaus eine Spur boshaft gemeinten Spielereien mit seinem Familiennamen parierte Clemens meist geschickt und einfallsreich.
»Der junge Herr Brentano scheint in ein Traumbild versunken und wirkt gleich selbst wie eines«, flüsterte Jette Sophie zu, laut genug, dass es jeder am Tisch hörte. Sophie schaute Clemens an. Schwarze Locken umspielten seine helle Stirn und in seinem Schweigen kam er ihr wie die Statue eines griechischen Jünglings vor. Neben ihm saß Stefan. Er stieß Clemens an: »Steif wie ein Ölgötze sitzt du da. Sag mal was. Lernen wir nachher zusammen noch ein bisschen Physiologie?« Stefan studierte wie Clemens Medizin. Er dachte ans Examen, Clemens dagegen mied zum Ärger seiner Familie in Frankfurt den Anatomiesaal und besuchte kaum eine Vorlesung. »Physiologie?« Er verzog das Gesicht. »Poesie, mein Lieber, Poesie macht das Leben aus, nicht Physiologie.« Damit war das Stichwort gefallen. Mit Gesprächen über Dichtkunst und Romane verbrachten die Freunde ihre Zeit am liebsten. »Fritz behauptet, moderne Poesie muss alles umfassen und sich mit Philosophie und Rhetorik berühren«, meinte Stefan, »vielfältig und bunt soll ein Roman sein, ein großartiges Bild aus verschiedensten Teilen und allen Gattungen gemischt.« »Schade, dass er nicht hier ist«, sagte Sophie. Clemens’ Augen erglühten wie zwei Kohlen in heißer Asche. Ob aus Eifersucht oder Überraschung, weil sie ihr Schweigen brach, konnte Sophie nicht deuten. »Schweifende Willkür, Verirrung im Labyrinth der Gefühle«, rief Clemens, »meinetwegen auch Philosophie, wie du behauptest. Das kann bestimmt nicht schaden. Aber ohne Ironie geht es gar nicht.« »Meinst du?«, fragte Stefan. »Ja. Ironie im Bewusstsein des unendlichen Chaos, Agilität im permanenten, allumfassenden Wandel.« Er breitete die Arme aus und stieß dabei an Stefans Schulter. Dieser zog skeptisch die Augenbrauen hoch: »Das hört sich nach einem größeren Programm an, oder ist das Ironie?« Jette lachte auf und Sophie musste lächeln. Sie erwähnte Wilhelm Meister, den langen Roman, über den sie schon längst gerne mit jemanden hier gesprochen hätte. Das Gespräch darüber ging nicht tief und irgendwie geriet man aufs Gebiet der Natur und auf Rousseau. »Bei diesem Rousseau muss man vorsichtig sein«, meinte Stefan, »einer, der behauptet, dass Frauen zu echter Begeisterung und hoher Kunst völlig unfähig sind, ist doch einfach nicht glaubwürdig. Ich finde, Fritz hat recht. Wie sagt er doch? Die griechischen Dichterinnen hätten Lesbos zum schönsten Garten der Musik gemacht, oder so ähnlich.« Sophie holte Luft und wollte dazu etwas sagen, doch Clemens rief unvermittelt dazwischen: »Das ist es. Genau so mach ich es, bunt und vielfältig, so wie ein Roman sein soll.« Im Begriff aufzuspringen warf er die Serviette neben den Teller, blieb aber sitzen, als er verdutzte Blicke von Stefan und Sophie auffing. »Du meinst, du schreibst einen Roman?« »Und was soll darin passieren, worüber willst du schreiben?« »Ja, das ist doch aber völlig klar. Ich schreibe einen Roman, wie er sein soll, über eine Frau, wie sie sein soll.« »Eine Frau, wie sie sein soll. Gibt es so ein Buch nicht schon?« »Nicht so, wie ich es machen werde.« Stefan mahnte ihn, sich lieber mit Anatomie oder Physiologie zu befassen und sich nicht in so ein großes Vorhaben zu stürzen. Sophie schloss für einen Moment die Augen. Was hatte Clemens vor? »Du redest wie meine Brüder«, rief er zornig, lenkte nach einem Blick auf Sophie aber sofort ein. »Ich weiß, du meinst es nur gut, Stefan. Aber verschone mich mit solchen Mahnungen.«
Wenn Sophie nach dem Essen keinen Spaziergang machte oder Bekannte besuchte, saß sie am liebsten in ihrem Zimmer an dem kleinen Schreibtisch oder dem Pianino. Hier, wo sie in Ruhe arbeiten und schreiben konnte, empfing sie ihren Besuch. An den Fenstern des geräumigen Zimmers hingen lindgrüne Vorhänge, was die Augen angenehm erfrischte. Mit dem gleichen lindgrünen Stoff war auch das Sofa bespannt. Sie saß am Klavier und präludierte, wobei sie über die Tischrunde und ihren Mann nachdachte. Sie liebte ihn nicht und war nie in ihn verliebt gewesen. Es war ein Fehler, ihn zu heiraten, auch wenn es eine vernünftige Entscheidung gewesen sein mochte. Eine Entscheidung, die sie lange hinausgezögert hatte, bis sie letztlich doch einwilligte, damals vor sieben Jahren. Sophie durfte sich nicht länger weigern, diesen Freund von Friedrich zu heiraten, denn Friedrich hatte als Ältester die Verantwortung für die jüngeren Geschwister. Er trug alle Kosten. Und was sprach dagegen, einen Freund des Bruders zum Mann zu nehmen, noch dazu einen, der Sophie ein abwechslungsreiches Leben in Jena versprach? Karl kannte Schiller und hatte ihm ihre Gedichte gezeigt. Durch ihn hatte sie all die anderen dichtenden und diskutierenden Männer und Frauen dieser Stadt kennengelernt und durfte an den Tischrunden, Gartenfesten, Bällen und sommerlichen Ausflügen teilnehmen. Als Karls Frau konnte sie interessante Vorträge hören, zu Theateraufführungen gehen oder selber Theater spielen. Das Leben in Jena entschädigte sie dafür, nicht mehr frei zu sein und ihr geliebtes Altenburg verlassen zu haben. Es gab eine Bibliothek, botanische Sammlungen und Gärten und immer wieder Gespräche und Plaudereien. Auch als Ehefrau sah sie mit ihren blonden Locken und den weißen Kleidern, die sie nach der neuesten Mode trug, wie ein junges Mädchen aus. Karl war sichtlich stolz, sie eingefangen zu haben, und genoss den Neid der anderen Männer. Aus Vernunft hatte sie ihn geheiratet, so wie es üblich war, Gefühle waren dabei nebensächlich. Doch ohne Liebe fühlte sie sich in seinem Haus wie in einem Käfig, trotz aller Geselligkeit, und obwohl Karl ihr viel Zeit für die Arbeit am Schreibtisch ließ.
Vor vier Wochen hatte sie bei ihrer Schwester in Camburg mit der Familie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Auch einige Freunde waren zum Feiern aus Jena gekommen, Stefan, Clemens und Fritz mit Thea, die ihren Sohn mitbrachte. Der Junge schloss sofort Freundschaft mit den Kindern von Sophies Schwester. An Geist und Redelust war Thea ihrem Geliebten völlig ebenbürtig, was fast unmöglich schien, denn Fritz steckte voller Ideen. Sophie mochte ihn, so wie auch den ruhigen Stefan, der sicher mal ein guter Arzt werden würde. Bei Clemens hielt sie das für weniger wahrscheinlich. Er schien ihr rätselhaft, leidenschaftlich, flatterhaft, manchmal auch ein wenig grüblerisch und düster. Er hatte bereits Verschiedenes studiert, probierte es in Jena nun mit Medizin, aber eigentlich wollte er dichten und das Leben als Kunstwerk gestalten. Er war zweiundzwanzig, Sohn einer reichen Familie, verwöhnt und phantasievoll. Er konnte über alles reden, hatte die unterschiedlichsten Einfälle, aber ihm fehlte es an Ausdauer und seine Stimmungen wechselten wie an einem Apriltag das Wetter. Langweilig war es mit ihm nie. Er sei wie ein Blütenzweig im Wind, hatte Sophie ihm einmal gesagt, voll schönster Ideen, doch hin und her getrieben ohne Ziel. Halt fand er in seiner Familie wie der Zweig am Stamm, aber gleichzeitig strebte er fort. Halt gab ihm auch der Mittagstisch bei Karl und Sophie, aber er scheute sich nicht, über den tapsigen Gastgeber zu spotten. Auch Fritz hielt sich mit Witzen auf Karls Kosten nicht zurück.
Manchmal sehnte Sophie sich nach Camburg zurück, wo sie weder ihren Mann sehen noch gehässige Bemerkungen über ihn hören musste. Bemerkte sie bei Tisch, dass wieder mal sein Ärmel in den Teller geriet oder Wein tropfen auf seinem Hemd landeten, konnte sie immer weniger verstehen, dass sie seine Frau geworden war. Ihre Abneigung gegen seine ungeschickten Grobheiten wuchs, ohne dass sie daran etwas ändern konnte. Sollte sie mit Jette darüber reden? Ihre Schwester war ein Jahr älter als sie und äußerte ihre Meinungen unverblümt, wenn man sie fragte. Sie sah zwar nett aus, war aber keine vollendete Schönheit wie Sophie, und kleidete sich äußerst bescheiden. Nach ihr drehte sich niemand um, während Sophie, zierlich wie eine Figur aus Meissener Porzellan, kaum mit einem Mann allein in einem Zimmer sein konnte, ohne sich gegen Umarmungen wehren zu müssen.
Jette und Sophie hatten beide eine gute Ausbildung erhalten. Beide sprachen Französisch und Italienisch, spielten Klavier und hatten beim Singen eine angenehme Stimme. Sie fanden sich mit Leichtigkeit auf dem Globus in der Bibliothek und in Kartenwerken zurecht und beteiligten sich an philosophischen und politischen Gesprächen. Die Ereignisse in Frankreich hatten sie als junge Mädchen voller Spannung verfolgt. Noch immer redete Sophie über nichts so gerne wie über Freiheit und Gleichheit. Mit Jette stritt sie oft darüber, ob Freiheit für Frauen möglich war. Jette bezweifelte das. Hätte es nach der Revolution nicht die Terrorjahre gegeben, meinte sie, gäbe es nicht dort wie hier und überall das Bedürfnis nach strikter Ordnung, dann wäre eine größere Freiheit vielleicht auch für Frauen möglich. Aber eine Frau sei die Seele, die ein Mann in seinem Haus installiere, indem er sie heirate. Sonst nichts. Werde sie nicht geheiratet, sei sie höchstens geduldet. In Jettes Stimme lag weniger Spott als Bitterkeit, während sie das sagte.
Sophie saß mit ihrer Freundin Lotte und Jette bei geöffneten Fenstern in ihrem Zimmer. Durch die halb geschlossenen Vorhänge drang die Nachmittagssonne, und der Duft blühender Gärten erfüllte die Luft. Jette stickte, die Freundin blätterte im Journal des Luxus und der Moden. Das Hausmädchen brachte Kaffee und Sophie schenkte ein. »Falsch ist es natürlich nicht«, wandte Sophie sich an ihre Schwester, »was du über verheiratete Frauen sagst. Aber liegt das nicht vor allem daran, dass die meisten Ehen von den Familien arrangiert werden? Wenn statt Vernunft die Liebe zur Grundlage der Ehe wird, wenn freier Wille und Gefühl Mann und Frau zusammenbringen, dann wird die Ehefrau nicht willenlos und unfrei in den engsten Kreis gebannt. Sie könnte frei sein wie ihr Mann.«
Lotte, die Freundin, hörte auf zu blättern und sah Sophie abwartend an. Sophie redete weiter. »Ich gebe zu, dass es heute weniger als vor zehn oder fünfzehn Jahren so aussieht, dass ein freies Leben möglich ist. Für alle, und für Frauen erst recht. Zum Teil liegt es am Geld. Jede Frau sollte eigenes Geld haben. Das Wichtigste aber ist, das Leben zu lieben und für die Liebe zu leben, in festem Glauben an die Menschheit. Ohne Liebe ist alles nichts. Ohne sie ist man wie in Fesseln, rollt Steine bergauf wie Sisyphos. Freiheit und Liebe gehören zusammen, wie ein Paar Flügel. Mit Flügeln steigt die Lerche auf ins Blaue, dank seiner beiden Flügel zieht der Adler hoch in den Lüften seine Kreise.« Obwohl Jette sie belustigt ansah, ließ Sophie sich nicht irremachen. »Du glaubst nicht, dass Freiheit und Liebe zusammengehören? Vielleicht sind sie nicht wie ein Paar, sondern eher wie die beiden Seiten einer Münze oder eines Blattes. Beide gehören untrennbar zusammen, sind eins. Freiheit ohne Liebe gibt es nicht, und Liebe ohne Freiheit auch nicht.«
Sophie versuchte an den Gesichtern von Lotte und Jette abzulesen, ob sie verstanden, was sie meinte. Ihre Schwester lächelte unbestimmt, während Lotte verwundert schwieg. »Bei einem Blatt oder einer Münze«, wandte Jette ein, »liegt normalerweise eine Seite oben und die andere ist nicht zu sehen. Würde das nicht bedeuten, dass es entweder Freiheit gibt oder Liebe? Nimm deine Ehe als Beispiel. Du liebst Karl nicht, aber du hast ziemlich viele Freiheiten.« Sophie verzog das Gesicht und holte Luft. Wollte Jette sie absichtlich missverstehen? Ehe sie etwas sagen konnte, ergriff Lotte das Wort: »Oft gibt es zwischen Mann und Frau wohl auch weder Freiheit noch Liebe.«
Lotte war mit einem Grafen verheiratet, der ein großes Gut bei Eckernförde in Holstein besaß. Sie stammte aus der Nähe von Weimar und war einige Wochen vor der Geburt ihres zweiten Kindes zu ihrer Familie zurückgekehrt. Sie litt unter den Launen und groben Scherzen des Grafen und hasste das ungemütliche Gutshaus. »Freiheit oder gar Liebe fühle ich in dem kalten Gemäuer nicht ein bisschen«, klagte sie. In Weimar fühlte sie sich wohl und wollte erst im Herbst nach Norddeutschland zurückkehren. Sie jammerte über ihr Dasein als Ehefrau, nur selten bekam sie Besuch, die einzige Unterhaltung waren Fahrten nach Eckernförde, wo der Graf Bekannte hatte und man die großen Segelschiffe im Hafen sehen konnte. »Wenn man wie du mit einem Grafen verheiratet ist, mag es vorkommen, dass man sich langweilt«, sagte Sophie, »das Problem der meisten Frauen ist aber doch, dass sie wegen vielerlei häuslicher Pflichten nichts länger Andauerndes, was sie interessiert und belebt, anfangen und zu Ende bringen können. Immer muss etwas im Haus bedacht, besprochen, entschieden, getan werden. Auf ein fernes Ziel k önnen sie nicht zustreben. Aber genau das, ein Punkt in der Ferne, ist es, was Menschen beflügelt, so dass sie sich frei fühlen. Die tausend kleinen Dinge des Alltags stören dabei. So leben die meisten ziellos und von Tag zu Tag.«
Sophie glaubte fest an eine Zukunft, in der jede Frau selber entscheiden würde, was getan werden musste und was reine Zeitverschwendung war. Es gab so viele Aufgaben, die einen von Wichtigerem abhielten. Noch konnten die meisten Frauen sich kein weitgestecktes Ziel setzen, aber Sophie wollte es für sich versuchen. Und in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft sollte das auch für alle anderen möglich sein. Mehr Menschen als je zuvor lasen Bücher, wer welche schrieb, ging mit der Zeit. Vieles konnten und durften Frauen nicht, aber schreiben war eine Möglichkeit, und so manche Frau nutzte sie, wenn auch unter falschem Namen. Sophie schrieb seit Jahren Gedichte, Geschichten und Aufsätze, in denen sie über Literatur und Gesellschaft nachdachte. Einen Roman hatte sie ebenfalls veröffentlicht, und immer unter ihrem wahren Namen. »Lotte, da fällt mir ein. Könntest du mir ein paar Gedichte überlassen? Ich möchte eine kleine Anthologie herausgeben, vielleicht wird daraus sogar eine Reihe. Was meinst du?« Lotte schrieb gut und hatte auch schon einen Roman veröffentlicht, unter einem Pseudonym, so wie die Großmutter von Clemens vor dreißig Jahren, als wäre die Entwicklung seitdem nicht weitergegangen. »Du hast bestimmt etwas in der Schublade, das sich dafür eignet.« »Was für eine Textsammlung soll das denn werden?« »Am liebsten wären mir Texte nur von Frauen. Sie müssten ihren Namen nicht nennen, denn das tun sie ja nicht gerne. Mein Name als Herausgeberin des Ganzen wäre genug. Wie ist es, möchtest du etwas beisteuern?« »Ein reizvolles Vorhaben. Ich muss darüber nachdenken. Sicher bekommst du viele Gedichte und Texte von Personen zugeschickt, die schreiben und deine Meinung dazu wissen wollen.«
Das stimmte, aber das meiste war nicht so, dass Sophie es drucken lassen wollte. Einen Namen für die Anthologie wusste sie schon. Kalathiskos sollte sie heißen. Wie in einem Körbchen bis zum Rand gefüllt mit Früchten sollten darin verschiedenste Texte gesammelt werden.
Clemens stürzte sich in seinen Roman. Das Schreiben forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Fürs Studium blieb ihm keine Zeit. Nur gelegentliche Ausflüge mit Sophie und den Freunden lockten ihn vom Schreibtisch fort. Auf die Ausflüge zu Fuß oder in offenen Leiterwagen nahm er seine Gitarre mit. Er sang gerne und die anderen stimmten ein, wenn sie den Text kannten.
Eines Tages überraschte er Sophie mit einer Erzählung. »Dies muss unbedingt in Kalathiskos.« »Aber das geht nicht. Da hinein kommen nur Texte von Frauen. Es wird später wahrscheinlich auch nur von Frauen gelesen.« Clemens lachte: »Was für eine Stoffsammlung ist das denn? Lies erst mal. Meine Geschichte ist gut.«
Er bedrängte sie und am Ende gab sie nach. Sie konnte ihm das nicht abschlagen, doch der Text musste umgeschrieben werden. Er wirkte viel zu zerfahren. Zusammen arbeiteten sie daran. Clemens feilte an jedem Satz, bis die Geschichte sich las wie mit leichter Hand beiläufig zu Papier gebracht. Die Stellen, wo es um Bedeutung und Kraft der Liebe ging, schrieb Sophie, und auch die Schilderungen von Himmel, Wolken, Pflanzen und Erde. Clemens’ Idee, dass der Held der Geschichte in die weite Welt geschickt werden musste, war wie geschaffen dafür, über die Schönheit der Landschaft zu schreiben. Seine Ansicht, dass der Mensch unbedingt in die Welt hinausziehen und dauernd auf Reisen sein müsse, teilte sie jedoch nicht. »Doch hinaus muss er, er muss hinaus.« Clemens, der bei der letzten Durchsicht des Manuskripts neben Sophie am Schreibtisch in ihrem Zimmer saß, sprang auf und lief zum Fenster auf der anderen Seite des Raumes. »Geht’s jetzt gleich hinaus?« Den Spott in Sophies Lächeln bemerkte er nicht. Er setzte sich wieder zu ihr und sie erklärte: »Mensch sein verlangt nicht, dauernd auf Reisen zu sein. Um in Bewegung zu bleiben, um sich als Mensch zu fühlen, ist es nur wichtig, tätig zu sein, sich eine Aufgabe zu suchen und sie zielstrebig zu erfüllen. Man kann auch im kleinen Kreis wirken, es muss nicht gleich der ganze Weltkreis sein.« Wieder drehte Clemens eine Runde durch den Raum. »Er muss hinaus in die Welt. Der Mann ist Kraft, die Männlichkeit muss in eine weit herumschweifende Begierde, die Weiblichkeit in eine drückende Sehnsucht verfallen. Die Frau ist Stoff. Beide vereinigt bilden die Menschheit.« Von der Tür erklang Lachen. Jette schaute ins Zimmer, die Hand noch auf der Klinke. »Ich wollte mal nachsehen, wer hier so laut herumtrampelt. Da scheint ja echter Kraftstoff zu entstehen. Kraft und Stoff, ach du lieber Himmel.« Lachend schloss sie die Tür wieder. Clemens machte eine Bewegung, als wollte er ihr etwas nachwerfen.
Als er am nächsten Tag kam, saß Sophie am Pianino und spielte Variationen von Mozart, kurze fröhliche Stücke. »Ich bitte dich, du musst jetzt unbedingt zuhören«, sagte er »hör auf mit dem Klavier.« Er hatte die ersten sechzig Seiten seines Romans fertig und kam, um sie Sophie vorzulesen. Sophie hob ihre Hände von den Tasten. »Ich schreibe das doch alles nur für dich. Tag und Nacht denke ich an dich.« Sophie stand auf und ging zum Sofa hinüber. Mit einem leisen Seufzen nahm sie Platz. Vielleicht ließ sich dieser Hitzkopf, dieses glühende Herz ein wenig abkühlen, wenn sie zuhörte. Doch bevor er anfing, versuchte sie ihm das Versprechen abzunehmen, dass er zukünftig beim Schreiben weniger an sie denken werde. »Ich kann dir nicht verbieten, an mich zu denken, aber wie wäre es, wenn du für ein paar Wochen oder Monate bei meinem Bruder in Altenburg wohnen würdest. Friedrich ist ein bekannter Arzt und Altenburg eine ansehnliche Stadt. In der Familie meines Bruders wirst du sicher herzlich aufgenommen und du kannst den Alltag eines Arztes kennenlernen. Das wäre nicht so trocken wie das Studium.« »Ich habe nichts davon, wenn ich den Alltag eines Arztes kennenlerne. Wenn ich von hier wegfahre, dann nach Italien. Willst du nicht mitkommen?« »Das geht nicht. Ich kann Gisela nicht mitnehmen. Und hier lassen kann ich sie auch nicht.« »Aber, ... nach Italien ..., Verona, Genua, Rom, egal. Jedenfalls auf die andere Seite der Alpen. Lockt dich denn das Leben in Orangen- und Zitronenhainen unter südlicher Sonne bei Menschen, die so sind wie wir, überhaupt nicht?« Sophie wollte wissen, was an den Menschen dort im Vergleich zu denen in Jena anders wäre. »Sie sind voller Temperament und Begeisterung. Sie verstehen zu leben, sind ohne Verstellung, herzlich ohne falsche Freundlichkeit, weniger grob.« »Wer ist denn hier falsch? Wenn du grob sagst, meinst du wohl meinen Mann.« Clemens beschrieb und imitierte Karl, indem er mit krummem Rücken und hängenden Armen durchs Zimmer trottete und an Möbel stieß, über seine eigenen Füße stolperte und sich absichtlich so auf die Kante eines Stuhles setzte, dass er auf den Boden plumpste. Sophie gab sich keine Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Clemens stand wieder auf, ging breitbeinig mit Monsterschritten durch den Raum, ruderte mit den Armen und griff sich schließlich etwas Unsichtbares aus der Luft, schüttelte es, ließ es los, schüttelte es wieder. Plötzlich begriff Sophie, dass das Unsichtbare der kleine Gustav sein musste. Sophie durchfuhr ein eisiger Blitz. »Das geht zu weit. Gib Karl nicht die Schuld an Gustavs Tod. Hör sofort auf. Sofort.« Wie konnte er das wagen? Sie stritten. Clemens rannte schließlich wütend davon, erschien aber am nächsten Tag wieder zum Mittagstisch.
Sophie sprach beim Essen von Schiller und seinem neuesten Drama. Sie überlegte, nach Weimar zu fahren, wo es zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Sie kannte Teile des Textes und hatte mit ihm darüber geredet, als er daran arbeitete. »Die Jagemann spielt die Elisabeth. Ich will sie unbedingt sehen, schon weil sie sich anfangs so sehr dagegen gesträubt hat. Schiller musste sie lange überreden.« »So, musste er das?«, brummte Karl. Er lehnte eine Fahrt nach Weimar ab. Bloß wegen eines Dramas um eine Königin, die am Ende geköpft wurde, wollte er nicht die halbe Nacht durch die Gegend kutschieren. »Du solltest es ebenfalls nicht wollen. Diese nächtlichen Kutschfahrten sind ...«, er wusste nicht weiter. Er war einfach dagegen, ein gutes Argument fiel ihm aber nicht ein. »Bedenke doch, es ist Juni und die Nächte mild«, sagte Sophie, »gegen eine Fahrt durch die Nacht ist nichts einzuwenden. Zumal es ja auch nicht sehr weit ist. Wenn Schnee läge, würde ich dir recht geben, Karl, aber es ist Sommer. Nächste Woche haben wir den längsten Tag im Jahr. Schon kurz nach vier wird es hell. Lass mich diese Aufführung besuchen«, bat Sophie. Stefan und Clemens schauten auf ihre Teller, und versuchten so zu tun, als seien sie gar nicht anwesend. »Du fährst nicht. Du willst dich bloß wieder mit irgendeinem heimlichen Liebhaber vergnügen.«
Sophie entgegnete so freundlich und sanft wie nur möglich: »Ich möchte mir dieses Stück ansehen und würde mich freuen, wenn du mich begleitest. Eine Bekannte kommt auch mit. Wenn du wirklich nicht mitkommen willst, werde ich mir jemand anderen zu meiner Begleitung suchen müssen. Clemens wird gerne mitkommen und uns beschützen.« Sie sah in die Runde. »Oder Stefan. Oder vielleicht haben Fritz und Thea Lust mitzufahren.« »Ich will, dass du hier bleibst«, grollte Karl. Sie stritten weiter, doch Sophie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Clemens und Stefan saßen wortlos dabei und warteten ab, wie der Streit ausgehen würde. Hin und wieder lächelte Clemens Sophie aufmunternd zu oder nickte bekräftigend zu ihren Worten. Er würde sie begleiten, wenn er durfte. Egal ob ihm das Stück gefiel oder nicht, die Fahrt würde ihm gefallen, eine ganze Nacht mit Sophie – wenn auch nur eine kurze Nacht und nicht allein.
Drei Tage nach der Theateraufführung saß Sophie über den Papieren, die sie für den ersten Band von Kalathiskos ordnete, als das Hausmädchen den Besuch von Fritz meldete, der auch sofort ins Zimmer trat. Er musste dem Mädchen gefolgt sein, ohne abzuwarten, ob Sophie ihn empfangen wollte. Sophie begrüßte ihn – freundlich, obwohl sie eigentlich niemanden sehen, sondern arbeiten wollte.
Fritz lebte noch nicht lange in Jena. Im Haus seines Bruders, wo man sich in einem Salon traf, der die Ausmaße eines Saales hatte, wohnte Fritz in einer Mansarde, seine Freundin Thea im Parterre. Sie war mit ihm aus Berlin gekommen, eine geschiedene Frau, die ihren jüngsten Sohn bei sich hatte. Ganz Jena tuschelte darüber. Dass es Scheidungen in Frankreich gab, wusste man. Besonders viele in den letzten zehn Jahren. Aber in keinem der sächsischen Länder war auch nur ein einziger Fall bekannt. Mit Verwunderung nahm man zur Kenntnis, dass es in Berlin, woher Thea kam, offenbar möglich war.
Fritz fragte gar nicht erst, wie Sophie das Drama in Weimar gefallen habe. Er hatte das Stück zwar noch nicht gesehen, dafür aber eine klare Meinung. Alles von Schiller fand er urkomisch, egal wie ernst der Inhalt und wie kraftvoll die Sprache war. »Über diesen Enthusiasmus kann man nur lachen, diese Leidenschaft ist nicht auszuhalten:
Ruhmvolle Königin! Du krönest heut
Die heißen Wünsche deines Volks. Nun erst
Erfreun wir uns der segenvollen Tage,
Die du uns schenkst, da wir nicht zitternd mehr
In eine stürmevolle Zukunft schauen.«
Er klappte das Büchlein zu, aus dem er deklamiert hatte, und hielt es wie ein Trophäe hoch. Mit getragener Stimme und unterdrücktem Lachen setzte er fort:
»Rum-voller Dichterling du tönest laut
von heißen Würstchen deines Jahrmarktstandes
und schwelgst uns vor von wunderbarer Größe
des Glases voll mit Lebenselixier
zum Rausch an arg verzagten Zittertagen.«
Obwohl Sophie das Drama gefallen hatte, brach sie in Lachen aus. Fritz fuhr fort mit Szenen, die Schiller geschrieben haben könnte, aber wandte alles ins Komische. »Du bist ungerecht, das Schicksal der Königin und die Sprache im Drama sind doch eigentlich ergreifend«, rief Sophie atemlos vor Lachen. Sie verteidigte Schiller, doch Fritz fand: »Er wird maßlos überschätzt.«
Das Mädchen meldete Clemens. »Lassen wir ihn rein«, rief Fritz übermütig, »dann höre ich vielleicht, was er von diesem großartigen Königinnen-Drama hält. Er war doch mit von der Partie?« Lauernd beobachtete er Sophies Gesicht. »Ja«, sagte sie. Was dachte Fritz sich eigentlich? Wahrscheinlich dasselbe, was Karl befürchtete. Sollten sie denken, was sie wollten. In der Kutsche war nichts geschehen, was die Bekannte, die Clemens und Sophie gegenübersaß, hätte erröten lassen müssen.
Clemens kam herein und Fritz begrüßte ihn, indem er ihm seine Hand auf die Schulter legte und ihn hinderte, auf Sophie zuzugehen. »Ich beneide dich um die Fahrt nach Weimar, mein Lieber, und vor allem um die Fahrt zurück, mit aufgewühlten Gefühlen, erschüttert vom königlichen Schicksal, rhythmisch gewiegt und gerüttelt im Wagen durch die Nacht.« Dabei richtete Fritz einen betont schmelzendem Blick auf Sophie. Sophie ärgerte sich über ihn und erwähnte kühl, dass ihre Bekannte mitgefahren sei. »Vielleicht hast du Lust, sie ebenfalls nach ihrer Meinung zum königlichen Schicksal zu fragen. Ich denke, sie kommt heute noch. Gegen Abend.« »Sogar mit zwei Frauen war unser Clemens nachts allein in der Kutsche. Unter diesen Umständen hätte mir dieses Schiller-Drama auch gefallen. Nicht wahr, es war ein Erlebnis?« Mit einem auffordernden Klaps auf Clemens’ Schulter wartete er auf eine Antwort. Die fiel so schlagfertig aus, dass Fritz es vorzog, sich zu verabschieden. Er verbeugte sich gespielt galant und schritt zur Tür, nicht ohne in Aussicht zu stellen, Sophie bald wieder zu besuchen. »Ein amüsanter Mensch«, sagte Sophie. »Ja, mag sein. Jedenfalls einer mit einer klaren Meinung, das ist immerhin was wert. Nicht jeder hat so was.« Sophie schob die Papierbögen auf ihrem Schreibtisch zusammen. Hatte sie bei der Ankündigung von Fritz noch gedacht, bald wieder an die Arbeit gehen zu können, wusste sie, da Clemens gekommen war, dass sie heute nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Clemens brannte darauf, ihr von seinem Roman zu erzählen. Inzwischen hatte er Hunderte von Seiten geschrieben, aber ein Ende war noch nicht abzusehen. »Weißt du, was mir am besten dabei gefällt?«, fragte er. Ohne ihre Antwort abzuwarten, begann er mit Erklärungen, warum er den Roman überhaupt schreibe. Er schaffe sich damit eine Welt ganz nach seinem Geschmack. »Und ich erfinde eine Frau, wie sie sein soll.« »Ich weiß, das war dein Plan.« »Sie ist dir ganz ähnlich.« Überrascht fragte Sophie, ob sie denn eine Frau sei, wie sie sein solle. »Du bist schön, voller Leben, dabei zart wie eine Elfe. Stark und sanft bist du, und du kannst lustig sein, auch wenn du mir fast noch besser gefällst, wenn du melancholisch bist, in diesem geheimnisvollen Leiden an der Welt seit Gustavs Tod.« Sophie ging zum Fenster und sah hinaus. Was redete er bloß? »Leider bist du natürlich doch nicht ganz die Frau, wie sie sein soll. Darum muss ich diese Frau im Roman entstehen lassen.« Sophie drehte sich wieder zu Clemens um und wollte wissen, woran es ihr denn seiner Ansicht nach fehle. Er dachte einen Moment nach. »Du bist nicht fürsorglich zum Beispiel, du opferst dich nicht auf. Du trauerst, das ist wahr, um Gustav, und du hast, ich schwöre es bei Maria, keine Schuld daran, dass er gestorben ist. Du bist liebevoll, ich kenne keine Frau, die so voller Liebe ist, aber du bist zu frei, flatterst herum wie ein Schmetterling oder Vogel. Du bleibst nie, wo du bist, keiner kann dich fassen und halten.« Sophie bereute, ihn gefragt zu haben. »Ich werde deinen Roman lesen, wenn er fertig ist. Vielleicht gelingt es mir, nicht fortzuflattern, ehe ich mich in deinem Roman wiedergefunden habe.« »Ganz sicher wirst du dich darin wiederfinden. Ich verwende Sätze aus Briefen, die du mir geschrieben hast. Ich will ein Gewebe herstellen, das ganz mit dir verflochten ist.«
Sophie und Jette fuhren nach Weimar, um Bekannte zu treffen. Sie schauten kurz bei Lotte vorbei, die sich nach der Geburt des zweiten Sohnes noch zu schwach fühlte, um auszugehen. Obwohl Weimar eine Residenzstadt war, wirkte es ländlicher als Jena. Es gab mehr Ackerbürger und die Häuser waren niedriger. Außer Pferdeställen gab es welche für Schweine und Kühe. Die meisten Straßen waren nicht gepflastert. Nah am Fluss lag die große Baustelle, wo das Schloss neu entstand. Vor über zwanzig Jahren war es abgebrannt, doch sollte es jetzt bald fertig sein, in ein oder zwei Jahren.
Lotte erzählte, das Clemens sie vor kurzem besucht und dabei eine Vorführung gegeben habe, über die sie jetzt noch lachen müsse. Als er auf dem Teppich in ihrem Zimmer hin und her ging, habe er plötzlich bemerkt, dass in den floralen Schlingen und Schnörkeln des Teppichmusters Vögel, Gazellen, Füchse und andere Tiere versteckt waren. »Stellt euch vor. Er fiel auf die Knie und begann sich bei den kleinen Kreaturen dafür zu entschuldigen, dass er auf sie getreten sei. Je mehr mich das amüsierte, umso eindringlicher wurde sein Flehen, die Tierchen möchten ihm verzeihen.« Jette verzog das Gesicht. Sie hatte keinen Sinn für solch einen verstiegenen Humor. Sophie lächelte belustigt. »Du musst ihn verstehen. Er liebt solche Kindereien. Er kann unmöglich schon jetzt so ernst und gesetzt sein, wie er es in zwanzig Jahren, wenn er erst Arzt ist, sein wird.« Lotte nickte zustimmend. »Er ist so jung, da kann sich noch viel ändern.« »Manche Leute bleiben versponnene Kindsköpfe, und wenn sie fünfzig Jahre alt werden«, murmelte Jette und meinte, sie kenne Clemens nicht gut genug, um ihn richtig einzuschätzen. »Man weiß nie, welcher verrückte Einfall ihm als Nächstes kommt.« Sophie verteidigte ihn. »Du hättest ruhig mit uns ins Theater fahren können.« »Lieber nicht. Außerdem muss ich sparen. Als arme Verwandte habe ich kein Geld für unnötige Kutschfahrten übrig.« Sophie schwieg dazu. Sie unterstützte ihre Schwester mit dem, was sie durch ihre Bücher und Beiträge in Zeitschriften verdiente. Vor zwei, drei Jahren hatte Schiller ihr vorgerechnet, wie viel sie mit Schreiben verdienen könnte. Für Übersetzungen gab es fünf bis zehn Taler pro Druckbogen, für selbstverfasste Texte doppelt so viel, wenn man Glück hatte.
Karl billigte es, dass Jette in seinem Haus wohnte und versorgt wurde. Friedrich, der große Bruder in Altenburg, kam für alles auf, was sie an Kleidung brauchte. Jette lebte sparsam und machte sich nützlich. Ihr einziges Vergnügen waren englische und französische Romane. Obwohl sie gern ins Theater ging und Konzerte besuchte, fand sie es in ihrer Lage angemessen, darauf zu verzichten, vor allem, wenn auch noch Kutschfahrten dazu nötig waren. Zum Glück gab es in Jena einen Theaterkreis, der Stücke einübte und aufführte. Auch Sophie und Jette gehörten diesem Kreis an, waren seit Gustavs Tod aber nicht mehr dabei. »Wir sollten uns diesem Kreis wieder anschließen«, schlug Sophie vor, »es ist immer befreiend, wenn man in eine andere Rolle schlüpft und für eine Weile eine ganz andere Person ist, sich verhalten und sagen darf, was man sonst nie sagen würde.«
Obwohl sie selber spielte, hatte sie noch nie ein Stück für die Bühne geschrieben. Gedichte und Aufsätze, in denen sie ihren Gedanken nachhängen konnte, lagen ihr mehr. Auch in ihre Erzählungen flocht sie viel Nachdenkliches ein. Dialoge lagen ihr weniger, und darum war ihr wohl auch nie der Gedanke gekommen, ein Stück für die Bühne zu verfassen.
Lotte fragte Sophie, ob die Arbeiten an Kalathiskos vorankämen. »So etwas ist doch eigentlich eine große Aufgabe. Und noch dazu für eine Frau. Als Herausgeberin kannst du dich doch kaum mit einem Pseudonym schützen. Ich bewundere deinen Mut.« »Ich verheimliche meinen Namen nicht. Eine muss es wagen, damit andere es nicht müssen, wenn sie nicht wollen. Mein Name steht vorne im Einband und alles kann namenlos in meinen Fruchtkorb gelegt werden.« »Ist es nicht eigenartig«, bemerkte Jette, »Frauen treten als Schauspielerinnen und Sängerinnen öffentlich in Erscheinung. Malerinnen signieren ihre Bilder. Nur wenn Frauen schreiben, verstecken sie sich hinter einer Maske.« »Ja, nicht jede ist wie Thea und sagt frei heraus die eigenwilligsten Dinge.« »Stimmt, sie ist ein wenig eigen«, sagte Lotte, »ohne ihre Schwägerin, die sie freundlich aufgenommen und in die Gesellschaft eingeführt hat, wäre sie sicher eine Außenseiterin geblieben.« »Aber sie passt gut zu Fritz«, meinte Jette, »er ist ja sehr spitzzüngig. Leider ist man darüber nicht immer glücklich.«
Im Sommer spazierten Sophie und die Freunde nachmittags gern außerhalb der Stadtmauern am Fluss entlang. Von Karls Haus, das nahe bei einem der Stadttore lag, kam man schnell ins Grüne. Clemens nahm meist seine Gitarre mit. Er spielte und die anderen sangen. An besonders warmen Tagen saßen sie beim Picknick bis in die Nacht zusammen unter einem großen Baum oder lagerten unter dem freien Sternenhimmel.
Bei schlechtem Wetter blieb man nach dem Essen noch ein wenig in Sophies Zimmer zusammen, las sich gegenseitig etwas vor oder musizierte. Als an einem regnerischen Nachmittag außer Clemens schon alle gegangen waren und er nur für Sophie ein paar Melodien auf seiner Gitarre spielte, legte er das Instrument plötzlich aus der Hand: »Ach, es ist alles nichts.« Das Studium gefiel ihm nicht, die Freunde passten ihm nicht, Sophie war nicht, wie sie sein sollte, am meisten ging ihm sein Roman auf die Nerven. Er hatte begonnen, den Text sauber abzuschreiben, damit er das Manuskript gut leserlich an einen Verlag schicken konnte. Ein Ende hatte er noch nicht, aber das würde sich finden. »Er ist verwildert, dieser Roman. Fritz liegt falsch, wenn er meint, das ganze Chaos der Welt müsste irgendwie hinein, auch formal. Schweifende Willkür, nie wieder. Ich will das nicht alles noch mal abschreiben, bloß damit irgendein Verleger es leichter hat. Das hat mit Dichten und Phantasie nichts zu tun.«
Er war reizbar und begann leicht Streit, manchmal auch mit Sophie. Über Stefan ärgerte er sich, weil der nichts als sein Examen im Kopf hatte. Clemens überlegte hingegen, sein Studium ganz abzubrechen. Mit Stefan konnte er nichts mehr anfangen. Sophie warf er vor, dass sie zu wenig Anteil an ihm nehme. Umgekehrt warf Sophie ihm vor, er fordere von anderen stets zu viel und von sich selbst zu wenig. Sie fragte ihn, warum er sein Studium nicht wie Stefan zu Ende bringen wolle und ob er vielleicht einfach jede Verantwortung scheue. »Kann ich mir Verantwortung anmaßen, in dieser Welt, unvollkommen wie sie ist? Nur poetisch lässt sich eine vollkommene Welt denken und entwerfen. Die Wirklichkeit ist Stümperei. Doch was sind die Ursachen für all das Unvollkommene, Mangelhafte, Krankhafte? Ich will es wissen. Ich werde Philosophie studieren. Philosophie ist der Schlüssel zu allem. Was soll ich mit Medizin? Damit kuriert man nur an Symptomen herum.« Sophie bezweifelte, ob er wirklich meinte, was er sagte. Daraufhin warf er ihr vor, sie wolle ihn einfach nicht verstehen. »Du redest wie meine Brüder. Aber was soll ich machen in dieser Welt, die keiner versteht. Ich kann doch nicht einfach drauflosarbeiten, ohne zu wissen, was wichtig ist und wie alles zusammenhängt.« »Du machst es dir zu schwer, du irrst herum. Such dir doch einen Halt, einen Beruf. Mach weiter und werde Arzt wie Stefan.« »Du kannst mein Halt sein. Aber nur, wenn ich dich ganz für mich habe. Trenn dich von deinem Mann. Deine Ehe ... Jeder sieht, wie sie dich bedrückt, und ich fühle mich beinahe selber niedergedrückt, wenn ich dich mit ihm sehe, diesem Tanzbären. Karl passt nicht zu dir. Sophie, willst du nicht endlich einsehen, dass wir füreinander gemacht sind, du für mich?« Sophie seufzte. Was sollte sie tun? Clemens hatte nicht ganz unrecht, aber recht schien ihr, was er wollte, auch nicht.
Clemens zog ein kleines Bild aus der Brusttasche. Die Miniatur zeigte einen Frauenkopf. Das Gesicht sah Sophie ähnlich. »Wer ist das?«, fragte sie. »Verwahre es für mich. Bei dir ist es am besten aufgehoben«, bat Clemens, »es ist das Bild meiner Mutter.« Sophie wusste, dass Clemens’ Mutter schon vor Jahren gestorben war, und ahnte, welchen Wert das kleine Bild für ihn haben musste. Er nahm Sophies Hand und legte die Miniatur hinein. »Du darfst sie nie verlieren«, beschwor er Sophie, »du gleichst ihr.«
Wenn er in den nächsten Tagen vorbeikam, fragte er jedes Mal, ob die Miniatur auch sicher aufgehoben sei.
Immer wieder drängte er Sophie, Karl zu verlassen. Doch obwohl das Leben mit Karl trostlos war, wollte sie nichts davon hören, und bat Clemens, sie in Ruhe zu lassen. Genau das werde er tun, schrie er schließlich wütend. Am nächsten Tag stieg er in die Kutsche und reiste nach Göttingen ab. Jena, Sophie, die Medizin – alles wollte er abschütteln. Seinen Roman jedoch nahm er mit. Ein brauchbares Ende würde ihm, wenn sich alles um ihn herum verändert und erneuert hätte, sicher einfallen.
Sophie war froh, nicht mehr jeden Tag hören zu müssen, wie grob und tölpelhaft ihr Mann sei und dass sie unmöglich bei ihm bleiben könne. Doch nicht nur Clemens, auch andere warfen Karl abschätzige Blicke nach oder machten eine spöttische Miene, wenn sie seinen Namen erwähnten. »Gefesselt an einen Rohling«, hörte Sophie bei einem Gartenfest tuscheln. Karl, ein Klotz ohne jeden Schliff und Glanz. Sah man ihn so? Sophie verlor immer mehr die Lust daran, neben ihm zu leben. Bei leichter Konversation in geselliger Runde brachte er nur Übellauniges hervor, nicht anders als bei ernsthaften Gesprächen über Themen der Zeit und darüber, wie es in Europa weitergehen würde. Niemand interessierte sich für das, was er sagte, keiner hatte Lust, sich mit ihm auf ein Gespräch einzulassen. Oft kam es zu Streit, so dass Sophie beschloss, wieder nach Camburg zu ihrer Schwester zu ziehen. Gisela freute sich. Die Streitereien zwischen den Eltern verstörten sie, mehr noch aber sehnte sie sich nach den Cousins und Cousinen. Bis Weihnachten, beschloss Sophie, wollte sie in Camburg bleiben, vielleicht auch etwas länger. Allerdings war Camburg eher ein Dorf als eine Stadt und gesellschaftliches Leben gab es so gut wie gar nicht, höchstens ein bisschen Hausmusik.
Im Haus ihrer Schwester bezog Sophie mit Gisela ein geräumiges Zimmer, in dem sogar ein kleines Klavier stand, wie zu Hause in Jena. Die Bäume im Garten färbten sich herbstlich. Überall im Haus roch es nach den Äpfeln, die in der Küche und im Keller lagerten. Im Garten blühten Astern und Dahlien, die letzten Rosen trotzten dem kälter werdenden Wind.
Wie schon im vergangenen Winter kamen immer wieder Freunde aus Weimar und Jena zu Besuch. Manchmal kam auch Karl, der nicht müde wurde zu beteuern, dass er Sophie jede Freiheit lassen werde, wenn sie nur wieder zurückkäme. Sie dürfe schreiben und veröffentlichen, so viel sie wolle. Im Haus müsse sie gar nichts tun, er werde ein weiteres Hausmädchen anstellen. Aber Sophie wollte, zumindest vorerst, bei ihrer Schwester bleiben. Sie erklärte Karl, Gisela habe hier mehr Spielkameraden als in Jena, und da sie nun drei Jahre alt sei, brauche sie andere Kinder um sich. Außerdem sei das ländliche Leben in Camburg für Gisela auch viel passender.
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