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Der Nazi und der Judenretter Unterschiedlicher könnten zwei Brüder nicht sein: Hermann Göring (geboren 1893) ist rebellisch und findet seine Bestimmung im Soldatentum. Albert (geboren 1895) dagegen ist wohlerzogen und musisch veranlagt. Während Hermann sich der Hitler-Bewegung anschließt und zu einem der größten Nazi-Verbrecher überhaupt wird, hilft Albert Juden bei der Flucht aus Deutschland und unterstützt die tschechische Widerstandsbewegung. Die Liste der vierunddreißig Personen, die Albert Göring gerettet haben soll, führt Jahrzehnte später den jungen Australier William Hastings Burke durch Deutschland, Europa und die USA. Er interviewt Zeitzeugen und Hinterbliebene der Menschen, die Albert Göring ihr Leben verdanken. Sein Buch beschreibt auf eindrucksvolle Weise das Leben und Wirken des bisher weitgehend unbekannten Bruders von Hermann Göring und zeichnet zugleich ein tiefenscharfes Porträt des Lebens in Deutschland, sechzig Jahre nach Kriegsende. Ein wunderbares Stück Literatur.“ Aliza Olmert
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Seitenzahl: 312
William Hastings Burke
Hermanns Bruder
Wer war Albert Göring?
Aus dem Englischenvon Gesine Schröder
Die Originalausgabe unter dem Titel
»Thirty four«
erschien 2009 bei Wolfgeist Limited, London.
ISBN 978-3-8412-0399-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© William Hastings Burke, 2009
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Inhaltsübersicht
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Impressum
1. Der Kompass
2. Nimmerland
3. Blaue Augen, braune Augen
4. Geburt
5. Ein Junge im Bücherschrank
6. Der Emigrant
7. Der König von Schweden
8. Baron von Mosch
9. Bredowstraße
10. »Grund der Verhaftung: Betreffender ist der Bruder des Reichsmarschalls Göring«
11. Schwarz, Rot und Gelb
12. Der zufriedene Paria
13. Wieder ein anderer
Anhang
Für Da
Die Liste der Geretteten1*
Ehepaar Dr. Alsegg
Alfred Barbasch
Ehepaar Benaroya
Ehepaar Benbassat
Prof. Dr. med. Bauer
Prof. Dr. med. Charvat
Prof. Dr. med. Diviš
Prokurist Gratien
Dr. jur. W. Grüss
Hohensinn
Vilem Hromadko
Joseph Ferdinand
Ing. Georg Kantor
Dr. med. L. Kovacs
Frau Franz Lehár
Fräulein M. Likar
Frau Direktor V. Maschek
Dr. med. Medvey
Frau de Montmollin
Dir. Jan Moravek
Frau Hans Moser
Familie Serge Otzop
Inspektor Pernkopf
Familien Pilzer
Familie Pollak
Mann von Henny Porten
Dr. Kurt v. Schuschnigg
Gen. Dir. Bruno Seletzky
Major Frank Short
Franz Šimonek
Hans Stahl
Gen. Dir. Karel Staller
Dr. Vilem Szekely
Dir. Franz Zrno
Der Name. Sein Name ist der Grund dafür, dass er in diesem finsteren Loch gelandet ist. Es ist Mai, man schreibt das Jahr 1945 – das genaue Datum kennt er nicht –, und er findet sich als Häftling der US Army im Seventh Army Interrogation Center (Verhörzentrum der 7. US-Armee) in Augsburg wieder. Das ehemalige Mietshaus im Stadtteil Bärenkeller wird jetzt von der jüngst inhaftierten NS-Elite bevölkert, die hier ihrem Prozess in Nürnberg entgegensieht. Zehn von ihnen werden ein Jahr darauf zum Tod durch den Strang verurteilt worden sein.
In einer der improvisierten Zellen macht er sich daran, seine Verteidigung vorzubereiten. Als er sich von der Pritsche erhebt, um sich an den Schreibtisch unter dem vergitterten Fenster zu setzen, durchzuckt ihn ein reißender Schmerz; ein Nierenleiden macht ihm zu schaffen, von dem seine Bewacher nichts bemerken. Seine Frau und die kleine Tochter, die nicht ahnen, wo er sich überhaupt befindet, warten daheim in Salzburg verzweifelt auf Nachricht von ihm.
Man hat ihn beschuldigt, ein Komplize des NS-Regimes zu sein – jenes Regimes, dem er sich mit all seiner Kraft entgegengestellt und das ihn nur fünf Monate zuvor der Subversion bezichtigt hat. Der Gestapo galt er als Staatsfeind, als Dorn im Fleisch des Volkskörpers. Juden und Nichtjuden, politische und apolitische Menschen, Arier wie Slawen, Reiche wie Arme hat er beschützt, hat sie aus Konzentrationslagern befreit oder ihnen zur Flucht über die Grenzen verholfen. Doch seine Bewacher wollen von alledem nichts wissen. Für sie zählt einzig und allein sein Name.
Denn es geht hier um den jüngeren Bruder eines weiteren Gefangenen: In Zelle fünf desselben Verhörzentrums sitzt der größte Fisch, der den Alliierten ins Netz gegangen ist, der ehemalige Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring. Albert Göring – so heißt der Mann, von dem in diesem Buch die Rede sein wird – hat sich gegen Ende des Krieges im amerikanischen Counter Intelligence Corps (der Spionageabwehr-Abteilung des Heeres) gemeldet und ist sofort verhaftet worden. Nun beginnt er, seine Geschichte zu erzählen, eine phantastische Geschichte voller Heldentaten, geheimer Missionen und unfassbarer Tollkühnheiten. Er erzählt, wie er auf die herrschaftlichen Privilegien einer Kaste verzichtete, die ihn seines Namens wegen jederzeit aufgenommen hätte, und behauptet, er habe seinen Status stattdessen genutzt, das Regime von innen her anzugreifen. Er unterhält die Befrager mit Anekdoten, in denen er nur knapp der Gestapo entgeht, sich in aller Öffentlichkeit schützend vor alte jüdische Damen stellt, einen Devisenschmuggel aufbaut oder für Flüchtlinge Papiere fälscht … und man glaubt ihm nicht. Einer der Amerikaner, Major Paul Kubala, kommt zu dem Schluss: »Das Ergebnis der Vernehmung von Albert GOERING, Bruder des REICHSMARSCHALLS Herman [sic], ist einer der plattesten Versuche der Reinwaschung und Ehrenrettung, die das SAIC [Seventh Army Interrogation Center] je erlebt hat. Albert GOERINGs Mangel an Raffinesse lässt sich allenfalls noch mit der Körpermasse seines fettleibigen Bruders vergleichen.«1
Deshalb trägt er jetzt in seiner Zelle auf fünf Seiten vierunddreißig Namen zusammen, die das Unglaubliche glaubhaft machen sollen. Als Titel wählt er »Menschen, denen ich bei eigener Gefahr (dreimal Gestapo-Haftbefehle!) Leben oder Existenz rettete«. Dann folgen, in alphabetischer Reihenfolge, die vierunddreißig Namen einer kleinen Auswahl von Menschen, denen er geholfen hat, der Verfolgung zu entgehen. Er fügt ihre Titel und Berufe, ihre früheren Adressen, die Staatsangehörigkeit, den Ort der letzten Begegnung, die aktuellen Adressen, die »Art der Hilfe« sowie die »Rasse« hinzu. Dann unterschreibt er und übergibt das Dokument seinen Bewachern. Sein Schicksal liegt nun in ihren Händen.
Sechzig Jahre später sitze ich in den National Archives in Washington und halte eben diese Liste in den Händen, die Albert damals zusammengestellt hat. Diese fünf unscheinbaren, fleckigen Seiten sind meine erste wahre Berührung mit Albert Göring.
Aber eins nach dem anderen. Besser beginne ich in meiner Heimatstadt Sydney in Australien, auf dem Campus der University of Sydney, bei meiner Abschlussfeier. Meine Eltern sind da und schlagen sich tapfer mit den Tücken ihrer Digitalkamera herum. Mein Betreuer schüttelt mir feierlich die Hand, wildfremde Menschen wünschen mir alles Gute. Und jetzt?, fragen sie alle. Eine Dissertation in Philosophie oder Finanzwissenschaft vielleicht? Nein, ich will mich weder mit dem Doktortitel noch mit dem Windsorknoten schmücken. Stattdessen erzähle ich ihnen von der Idee, die mich seit einiger Zeit beschäftigt, von einer Geschichte, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich einen Dokumentarfilm über den Bruder von Hermann Göring gesehen habe2*: Göring, diese Personifikation des Terrorregimes, hieß es da, hatte einen Bruder, der Widerstand leistete.
Die Vorstellung, jenes Monster, das wir aus dem Geschichtsunterricht kannten, hätte einen Oskar Schindler zum Bruder gehabt, schien mir geradezu unglaublich. Ein kurzer Besuch in der Stadtteilbibliothek, ein längerer in der Bibliothek meiner Universität und eine Konsultation der allwissenden Suchmaschine Google hatten wenig zutage befördert, das die Geschichte hätte bestätigen oder widerlegen können. Da musste doch mehr zu finden sein! War es denn möglich, dass die Leistungen eines Mannes durch die Persönlichkeit seines Bruders vollkommen ausgelöscht wurden? Der Name Göring wurde plötzlich so vielschichtig, dass ich an der Geschichtsschreibung zu zweifeln begann.
Einen Monat nach jener Abschlussfeier buchte ich ein Around-the-World-Ticket und verließ Sydney mit einem klaren Ziel vor Augen, jedoch ohne zu wissen, wie ich es erreichen sollte. Von außen betrachtet, sah alles nach einem typischen Backpacker-Abenteuertrip aus oder wie die pubertäre Weigerung, erwachsen zu werden. Doch ich hatte eine Mission: Ich wollte endlich die Spekulationen und Gerüchte von den Fakten trennen, bis Alberts wahre Geschichte zutage trat.
Und diese Mission beginnt hier, in den US National Archives, mit diesen fünf eselsohrigen Papierbögen in meiner Hand. Ich sitze in dem klinisch sauberen Lesesaal zwischen Tweedsakko- und Schnurrbartträgern und versuche mich in Albert hineinzuversetzen, der sie vor so vielen Jahren in seiner Zelle beschrieben hat. Ich frage mich, warum er aus den Hunderten von ihm geretteten Menschen gerade diese Namen wählte. Der Habsburger Erzherzog Joseph Ferdinand ist an zwölfter Stelle dabei und der glücklose österreichische Kanzler Dr. Kurt von Schuschnigg als Nummer siebenundzwanzig. Es sind alles Prominente, wird mir klar, Menschen, die man leicht finden und befragen kann, selbst heute noch.
In dem Moment beginne ich die Liste der Geretteten als Landkarte zu begreifen: als hätte Albert die gesamte Geschichte seiner Kriegsjahre in kondensierter Form in diese vierunddreißig Namen gelegt, als wäre die Liste ein Koordinatensystem. Meine Reise ins Ungewisse bekommt auf einmal eine Richtung. Die angestaubten Aktenstapel und papierenen Spuren, die ein Mensch hinterlässt, sind nur tote Überbleibsel. Doch diese Liste ist weit mehr als Papier. In ihr melden sich die Menschen zu Wort, die Albert Görings lebendiges Andenken wahren. Ihre Stimmen, das weiß ich jetzt, werden auf dieser Reise mein Kompass sein.
Von meinem Fenster blicke ich auf den Schwarzwald, den gerade dichter Nebel in eine märchenhafte Aura hüllt. Hier könnte jederzeit ein kleines Mädchen mit leuchtend roter Kappe vom Weg abkommen, und eine Prinzessin, weiß wie Schnee, könnte mit ihren kleinwüchsigen Verehrern hinter dem nächsten Hügel leben. Es ist das Reich der Brüder Grimm und seit neuestem mein Zuhause. Hier möchte ich meine Suche nach der wahren Geschichte der Göring-Brüder beginnen.
Ich lebe in einer Wohngemeinschaft in Wiehre, einem besonders pittoresken Viertel der Bilderbuchstadt Freiburg, nahe der französischen und der Schweizer Grenze. Wenn ich will, kann ich in Deutschland frühstücken, in der Schweiz zu Mittag essen und pünktlich zum Abendessen in Frankreich sein. Die Stadt ist eine Art Nimmerland für Hippies, Ökos, Punks, studentische Aktivisten in Palitüchern und allerhand Sonderlinge, die von der rauen Realität um sie herum nichts wissen wollen. Hier ist ihr Refugium, in dem sie sich selig treiben lassen und die Schlechtigkeiten und Verbindlichkeiten der Erwachsenenwelt getrost vergessen können.
Als ich beschloss, in diese altehrwürdige Universitätsstadt zu ziehen, malte ich mir aus, dass ich in ein geistiges Milieu eintauchen würde, aus dem der nächste Friedrich Nietzsche hervorgehen könnte, der nächste Günter Grass oder Karl Marx. Aber bis auf die andere Sprache und die Verbindungsfeten habe ich hier dieselbe bierselige Kumpanei vorgefunden wie in meiner letzten Studentenstadt: in »Happy Valley«, einem der Standorte der Pennsylvania State University, wo ich ein Austauschjahr zugebracht habe. Die europäische Kultiviertheit lässt also vorerst auf sich warten, doch Freiburg hat auch so einiges zu bieten. Jägermeister für unter einem Euro zum Beispiel.
Um meine Forschungen zu finanzieren, habe ich einen Job im hiesigen Irish Pub angenommen. Ein echter Traumjob mit nur einem Haken: Meine Chefin teilt mich immer nur für ein paar Schichten pro Woche ein. Seitdem bin ich unfreiwilliger Vegetarier. Mein Speiseplan besteht überwiegend aus Kohlenhydraten: Kartoffelpüree, selbstgemacht oder aus der Tüte, sowie Nudeln, Nudeln und Nudeln. Atkins und seine Low-Carb-Diät hin oder her – in den letzten sechs Monaten habe ich zehn Kilo abgenommen.
Doch diese finanzielle Unzulänglichkeit macht mein Job auf anderen Gebieten mehr als wett: mit endlosen Wortgefechten und Frotzeleien, Klatschgeschichten und einer Menge Spaß – oder craic, wie der Ire sagt. Die Stammbelegschaft und die Springer sind eine bunte Mischung von Expats: Iren, Kiwis, Schotten, Russen, Kanadier, Briten, Spanier, Walisen, Südafrikaner, Amis und Aussies. Alle haben sie ihre persönliche Auswanderergeschichte, sind vor einem tristen Leben geflohen, vor einer Exfrau, den dominanten Eltern oder sogar einem Haftbefehl. Dieser Irish Pub mitten in Nimmerland-City ist ihr inoffizielles Botschaftsgebäude, ihre Zuflucht in der Ferne und ihre Ersatzfamilie. Hier wärmen sie sich an dem, was sie gemeinsam haben: der provisorischen Existenz, der Sprache, der Tendenz zum Alkoholismus und vor allem ihrem Sinn für Humor. In der scheinbar humorfreien germanischen Kultur ist Letzterer besonders wichtig für die geistige Gesundheit – andererseits spielen sie alle, wenn sie genug deutsches Bier intus haben, völlig verrückt.
Das scheinen jedenfalls die entsetzten Gesichter der deutschen Gäste auszudrücken. Jeden Samstagabend fängt die Stammbelegschaft nach ihren ersten zehn Pints an, auf den Tischen zu tanzen, während die Deutschen wie erstarrt dasitzen, konsterniert die verrückten Ausländer beäugen und sich an ihrem warmen Kakao, ihrer Kiba oder ihrem Bananen-Weizen festklammern. Nach sechs Monaten in diesem Land kann ich es noch immer nicht fassen, dass ganze Horden junger Männer an einem Samstagabend in den Irish Pub einfallen, um dort heiße Schokolade zu bestellen … mit Sahne!
Nicht weit von meiner Wohnung ist die Goethestraße, und passend zu ihrem Namenspatron prunkt sie mit dem verwinkelten Backsteincharme der Romantik. Ein schlankes, malerisches Häuschen reiht sich an das nächste, Türmchen und Giebel zieren die Dächer, und pastellfarbene Fassaden mit ausladenden Balkonen werden von dunkelbraunen Ecksteinen gerahmt. Fehlen nur noch die goldbeschlagenen Kutschen und ihre vornehmen Passagiere in gepuderten Perücken. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen; keins dieser Gebäude ist wirklich alt.
Genaugenommen wurde im Zentrum von Freiburg außer dem Münster fast alles erst nach 1945 erbaut. Die Stadt hatte im Zweiten Weltkrieg zwei schwerwiegende militärische Fehler auszubaden. Zehnter Mai 1940: Dichter grauer Nebel verhüllte den Schwarzwald. Kinder tummelten sich auf den Spielplätzen, Bauern boten auf dem Münsterplatz ihre Waren feil, die Glocken der Herz-Jesu-Kirche in Stühlinger waren gerade verklungen, als ein Kruppstahlhagel auf die Umgebung des Hauptbahnhofs niederging. Kein Fliegeralarm hatte die Bevölkerung gewarnt, keine offizielle Verlautbarung, nicht einmal Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff. Wer hätte auch alarmiert sein sollen, wenn das beruhigende Grummeln von Heinkel He 111ern ertönte und durch die Wolken das schwarzweiße Balkenkreuz auf ihren Tragflächen zu erkennen war? Doch Balkenkreuz oder nicht, an diesem trüben Frühlingstag ließen 57 Freiburger ihr Leben, darunter 22 Kinder. Warum? Wegen der unterentwickelten Navigationstechnik und der schlechten Sicht. Übereifrige Piloten hatten den Führer durch einen Überraschungsangriff beeindrucken wollen und die Stadt für das französische Dijon gehalten. Manche besaßen damals die Dreistigkeit, die »verfluchten Tommys« für den Angriff verantwortlich zu machen – nicht zuletzt Propagandaminister Goebbels.
Gut vier Jahre später waren es tatsächlich die »verfluchten Tommys«, denen der zweite Fehler unterlief. In der fälschlichen Annahme, in Freiburg hielte sich eine größere Anzahl Truppen auf, luden über 300 Kampfflugzeuge der Royal Air Force knapp 2000 Tonnen Bomben auf Freiburgs Eisenbahnanlagen ab. Zur Definition von »Eisenbahnanlagen« gehörten offenbar auch Wohnhäuser und Kirchen, Buchläden, Restaurants, Bäckereien, Cafés und Parks, Universitäten und Schulen – das gesamte Stadtzentrum. Aber nur fast, denn Freiburgs höchstes Gebäude, das imposante Münster, blieb stehen und dominiert bis heute die Silhouette der Stadt. Nach dem Angriff ragte das Gotteshaus einsam und trotzig aus den rauchenden Trümmern hervor.
Anders als bei dem Bombenangriff von 1940 wurden die Bürger von Freiburg diesmal vorgewarnt. Es waren jedoch nicht die Luftschutzsirenen oder das Radio, das sie veranlasste, in die Bunker zu fliehen, sondern, so will es die Legende, ein Erpel. Ein ganz alltäglicher Vogel, wenn auch einer von ungewöhnlicher Voraussicht und Überzeugungskraft. Noch bevor – zumindest für die menschlichen Sinne – die ersten Bomber zu hören oder zu sehen gewesen wären, hatte – so die Legende – dieses Tier mit den Flügeln zu schlagen begonnen, hoch aufgerichtet seine Vorahnungen in die Welt hinausgekrächzt und sich so auffällig benommen, dass die beunruhigten Passanten in die Schutzräume flüchteten. Zahlreichen Freiburgern soll der tapfere Erpel so das Leben gerettet haben, während er selbst nach dem Angriff tot unter den Trümmern gefunden wurde.
Gleich jenseits der Altstadt, auf der anderen Seite des Leopoldrings, gibt es im Stadtgarten, in einem kleinen Teich hinter dem Freilufttheater und der Schienenbahn, eine kleine Statue, die jenen berühmten Erpel im entscheidenden Augenblick porträtiert: Den Schnabel himmelwärts gereckt, scheint er gerade seine verzweifelte Warnung auszustoßen. »Die Kreatur Gottes klagt, klagt an und mahnt«, ist in den Sockel eingraviert.
Diese Inschrift würde auch für eine Albert-Göring-Statue gut passen, wenn es sie denn gäbe. Wie jener Vogel besaß Albert einen sechsten Sinn für die heraufziehende Gefahr und sah sich verpflichtet, seine Zeitgenossen zu warnen. Er lebte in München, der Geburtsstadt des Nationalsozialismus. An der Universität teilte er den Vorlesungssaal mit Himmler und erkannte die ersten Vorzeichen der studentischen nationalistischen Bewegung. Er erlebte, wie sein Bruder sich mehr und mehr mit Hitler und seiner Clique einließ und wie seine Reden zu Hasstiraden verkamen. Kurz gesagt, ahnte er von Anfang an, wohin diese zukünftigen Staatenlenker Deutschland führen wollten. Also schlug er Alarm und mahnte seine Landsleute, sich vorzusehen. Doch im Gegensatz zu jenem prophetischen Erpel wurde Albert Göring von seinen Zeitgenossen ignoriert.
Vor meiner Zimmertür rumpelt und lärmt es. Offenbar haben meine Mitbewohner eine ihrer »Putzoffensiven« gestartet, wie sie es so schneidig nennen. Ich wohne mit vier deutschen Studenten in einer Dachgeschosswohnung: einem Punkrocker-Grundschullehrer, einem Linguisten, einem angehenden Opernregisseur und einem Violinisten. Eine eigenwillige Truppe, die es sich gleich auf die Fahnen geschrieben hat, mir Freiburg zu zeigen und mir im ewigen Kampf mit den städtischen Behörden Schützenhilfe zu leisten. Auf den ersten Blick sind sie ganz normale Männer Anfang zwanzig, wie sie überall in der westlichen Welt anzutreffen sind: trinkfest und immer für einen Spaß zu haben. Aber wenn es um Sauberkeit und Ordnung geht, können sie ihre Herkunft nicht verleugnen. Wie in den meisten deutschen WGs gibt es auch hier einen farbigen, tortenförmigen »Putzplan«, und immer wieder sonntags treten alle in Reih und Glied in der Küche an und stürzen sich in die Schlacht gegen Unordnung und Schmutz. Nur meiner gestrigen Ein-Mann-Mission im Badezimmer habe ich es zu verdanken, dass ich heute ausnahmsweise beurlaubt bin.
Da übertönt ein Klopfen das Geheul des Staubsaugers. »Vill?« – was nun? Habe ich nicht genug Ungeziefer vernichtet? Nein, der Linguist will mir nur einen Brief überreichen, den die Aufräumaktion zutage befördert hat. Er ist von Eckardt Pfeiffer, dem Lokalhistoriker und Herausgeber einer Regionalzeitung in Franken (der Region, in der Albert und Hermann Göring aufgewachsen sind), der in Fragen zur Familie Göring als Kapazität gilt. Vor über fünf Monaten hatte ich ihn angeschrieben in der Hoffnung, er könnte mir eine paar Anhaltspunkte liefern.
Der Brief ist formell, aber freundlich im Ton, inhaltlich jedoch wenig ergiebig. Alles, was Pfeiffer mitzuteilen hat, ist, dass Albert in Hersbruck zur Schule gegangen sei. Das Schreiben wirkt fast wie eine Kopie all der anderen Antworten, die ich seit Beginn meiner Forschungsbemühungen bekommen habe. Meist beginnen sie mit den Worten »lassen Sie mich Ihnen zunächst dazu gratulieren, dass Sie sich mit der Geschichte Albert Görings befassen wollen« und enden entweder auf »Leider sind die Informationen, die wir zu Ihrem Vorhaben beisteuern können, äußerst begrenzt« oder auf »Unglücklicherweise sind uns die gewünschten Informationen nicht mehr zugänglich, da unser/e [Name des Familienmitglieds] im Jahr [ Jahreszahl] verstorben ist und sein/ihr Wissen mit ins Grab genommen hat«. Ich befürchte allmählich, dass ich zwanzig Jahre zu spät gekommen bin.
Doch dann beschließe ich, die Strategie zu wechseln: Wenn die Informationen nicht zu mir kommen wollen, komme ich eben zu ihnen. Sofort rufe ich meine Chefin an und sage ihr, dass ich eine mehrwöchige Reise nach Franken plane. »Wann?«, fragt sie in ihrer typisch irischen, pragmatischen Art. – »Sobald Sie mir mehr Schichten zuteilen, damit ich das Geld dafür sparen kann.« Sie legt auf.
Es ist früh am Morgen und eiskalt. Ich warte auf Dustin, einen Amerikaner, der sich in seiner Heimat fremd fühlt und seit zehn Jahren im freiwilligen Exil in Europa lebt. Er kann besser Deutsch als ich und will mich als Assistent und Dolmetscher begleiten. Endlich biegt er um die Ecke, wir laden das Gepäck ein, werfen einen letzten Blick auf die Karte und machen uns auf den Weg zur Autobahn.
Bald darauf lassen wir das sonnige Baden-Württemberg hinter uns und erreichen das grau verhüllte Bayern. Die Autobahn verschwindet im dichten Nebel und mit ihr die sanft geschwungenen Hügel, die Kirchtürme und adretten Dörfchen, die Hängebrücken und die hartgefrorenen Ackerfurchen der Felder. Wir stecken in einem Pulk von BMWs und Mercedessen, die kurz davor scheinen vom Boden abzuheben. Die Autobahn schlängelt sich inzwischen durch die steilen Berge und Nadelwälder der Fränkischen Schweiz. Hier liegt der Veldensteiner Forst, benannt nach der Burg Veldenstein, unserer ersten Station auf der Reise in Alberts und Hermanns Kindheit.
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