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"Das Vaterbuch ist ein Text über Krankheit, Verlust und Verzweiflung. Wie in ‚Frausein‘ geht es um Abschied. Und um den Witz als Widerstand." Mely Kiyak
Was bleibt, wenn einem der Vater durch die Finger rieselt? Herr Kiyak, ein fabelhafter Geschichtenerzähler, bekommt Krebs und will sterben. Aber er hat eine Tochter – und was für eine: Sie macht sein Schicksal zu ihrem und lässt ihn nicht ziehen. Immerhin hat man nur einen Vater. Mely Kiyak erzählt von einer Zeit, in der es um alles geht. Von Herrn Kiyaks Überlebenskampf in Berlin und seinen Cowboystorys aus Bingöl. Von unendlichem Schabernack und großem Kummer. Sie erzählt wahrhaftig, schön und eigensinnig von Vaterliebe und Tochterangst und davon, dass es die Geschichten sind, die bleiben. Und natürlich von seinen berühmten Zwei-Zeilen-Briefen: „Ich küsse dich mein Kind. Dein Vater.“ „Das Vaterbuch ist ein Text über Krankheit, Verlust und Verzweiflung. Wie in "Frausein" geht es um Abschied. Und um den Witz als Widerstand. "Frausein" und das Vaterbuch sind zwei Texte, aber ein Erzählkörper. Ein Leid, ein Lachen, ein Sterben.“ Mely Kiyak
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Seitenzahl: 259
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Was bleibt, wenn einem der Vater durch die Finger rieselt? Herr Kiyak, ein fabelhafter Geschichtenerzähler, bekommt Krebs und will sterben. Aber er hat eine Tochter — und was für eine: Sie macht sein Schicksal zu ihrem und lässt ihn nicht ziehen. Immerhin hat man nur einen Vater. Mely Kiyak erzählt von einer Zeit, in der es um alles geht. Von Herrn Kiyaks Überlebenskampf in Berlin und seinen Cowboystorys aus Bingöl. Von unendlichem Schabernack und großem Kummer. Sie erzählt wahrhaftig, schön und eigensinnig von Vaterliebe und Tochterangst und davon, dass es die Geschichten sind, die bleiben. Und natürlich von seinen berühmten Zwei-Zeilen-Briefen: »Ich küsse dich mein Kind. Dein Vater.« »Das Vaterbuch ist ein Text über Krankheit, Verlust und Verzweiflung. Wie in »Frausein« geht es um Abschied. Und um den Witz als Widerstand. »Frausein« und das Vaterbuch sind zwei Texte, aber ein Erzählkörper. Ein Leid, ein Lachen, ein Sterben.« Mely Kiyak
Mely Kiyak
Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an
Roman | Hanser
Man stirbt.
Man steht morgens auf, macht seine Arbeit und stirbt.
Man träumt, man stirbt.
Man gießt Blumen, geht einkaufen, schüttelt Decken aus und stirbt.
Man liest. Man liebt. Man stirbt.
Vögel zwitschern, Narzissen springen mit einem leisen Rascheln auf — was folgt, ist Sterben.
Zwecklos, sich damit anzulegen, man stirbt.
Man stirbt. Man stirbt.
Mein Vater geht wie eine betrunkene Ballerina. Weder trinkt er, noch kann er tanzen. Er versucht, beim Laufen einfach nicht umzukippen. Sorgfältig setzt er einen Fuß vor den nächsten und wedelt würdevoll mit den Armen, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er weiß, dass ich so über ihn denke. Er lacht ja selber darüber.
Manchmal begegnen wir uns zufällig auf der Straße. Das freut mich natürlich sehr. Auch er ist überrascht, mich zu sehen, hebt die Arme und winkt weit ausholend mit den Händen. Auch das sieht komisch aus. Als würde er um Hilfe rufen. Ich schreie dann theatralisch: Halte durch, ich bin gleich da!
Wir bleiben stehen, fragen: Wo kommst du her, wo gehst du hin? Manchmal halte ich ihn dabei etwas fest. Er ist so klein, so dünn, so braun. Papa, sage ich, nicht dass der Wind dich wegweht. Wir umarmen und küssen uns, und jeder geht weiter seiner Wege. Jedes Mal, wirklich jedes Mal denke ich, wie oft wird er mir auf dieser Straße noch begegnen? Mein Vater. Der immer lacht, der immer schwankt. Der mit dem längsten Sterben der Welt. Der lebendigste Tote, den es je gab. Der, dessen größtes Verdienst es ist, dass er trotz allem lebt. Der, auf dessen Tod ich mich gründlich, aber vergeblich vorbereitet hatte. Mein Vater. Der leise weint und sehr viel lacht. Der sehr oft schweigt. Und gern erzählt.
*
Was ich jetzt verraten werde, ist überhaupt nicht exklusiv. Mein Vater hat Krebs. In diesem Moment könnten sich Tausende von Menschen in meiner Stadt, Hunderttausende in Deutschland, Millionen auf der Welt dazu stellen und sagen: Das Gleiche ist uns passiert. Genauso viele würden sich melden, wenn ich erzählte, jemand aus unserer Familie hätte Mukoviszidose oder Herzprobleme oder Bluthochdruck. Denn immer hat irgendwer irgendwas. Mein Vater hat Krebs. Ich habe es auch. Vielleicht mache ich die Krankheit meines Vaters zu meiner Krankheit, sein Schicksal zu meinem, weil ich nur einen Vater habe. Ich bin co-krank mit Co-Krebs.
Der Krebs ist reich an Details. Der Krebs ist ein Karzinom. Er kann schnell wachsen oder langsam. Er ist gut eingegrenzt oder nicht. Seine Zellen sind groß oder klein. So sitzt man mit anderen Verbündeten in der Krankenhauscafeteria und stellt Fragen, indem man Begriffe hin und her wirft. Karzinom? Kleinzellig? Ach so. Oje. Schlecht differenzierbar? Ach Gott. Ja dann, alles Gute. Und bei Ihnen? Was, die zweite Drainage? Das hatte mein Vater auch. Na, du liebes bisschen! Jetzt auch noch das Herz? Na dann, wird hoffentlich wieder. Manches wird übrigens wirklich wieder. Die Kontrastflüssigkeit im Computertomographen warf einen ungünstigen Schatten auf Vaters Leber, wodurch sich die arme unschuldige Leber eines weiteren Tumors verdächtig machte. Manches erledigt sich von selbst, andere Verdachtsmomente aber erhärten sich, werden real, sind da und egal, wie die Sonne steht, ihr Schatten bleibt und rückt nicht weg. Vater hat Krebs. Ich bin sehr traurig.
*
Auf der Stirn meines Vaters klafft eine Wunde. Es ist der Tag seiner stationären Aufnahme. Wir kommen auf dem großen Krankenhausgelände an und verstehen nicht auf Anhieb, dass es sich um zwei Grundstücke handelt. Auf den ersten Blick sieht es wie ein weitläufiger Park aus. Gepflegte Wege, geschwungene Linien, alter Baumbestand. Wir laufen an kleinen Backsteingebäuden vorbei, bis wir zu einem großen Gebäude gelangen. Dort erfahren wir, dass wir im falschen Krankenhaus sind. Ich halte Vaters Röntgenbilder in der Hand, sie liegen in einem Umschlag aus robustem Papier. Während mein Vater sich bückt, um seine Reisetasche hochzuheben, halte ich den Umschlag so ungeschickt, dass die scharfe Kante der Pappe meinen Vater in die Stirn sticht, gerade als er sich aufrichten will. Es beginnt sofort zu bluten. Mein Vater hat spätestens jetzt alles über. Schon auf dem Weg hierher blieb er einfach stehen und sagte: Wir kehren um. Ich war vollkommen verblüfft. Umkehren im Sinne von kehrtmachen? Umdrehen und in die andere Richtung gehen? Ich sagte: Lass es uns doch erst hier entlang versuchen. Mein Vater stand auf dem Weg und sagte: Wir kehren um. Ich fliege zurück in die Türkei. Ich insistierte: Quatsch, wir ziehen das jetzt durch. Wir benehmen uns wie erwachsene Leute. Mein Vater trottete missmutig neben mir her. Als ich ihm aber aus Versehen seine Stirn blutig aufreiße, hat er wirklich genug. Ich entschuldige mich immer und immer wieder. Dass ich ihm helfe und die Stelle abtupfe, lässt er nicht zu, weil er es nicht ausstehen kann, dass man ihm zur Hand geht. Dann zieht mein Vater sich in seinen Kokon zurück. Er entrückt sich derart, dass sogar seine Augen nach innen rutschen. »Er rollt schon wieder mit den Augen, lasst ihn in Ruhe«, ist so ein Satz, den man über meinen Vater sagt.
Am Morgen hatte ich im türkischen Radiosender ein altes Lied gehört, in dem Wolken am Himmel spazieren, ein leichter Regen fiel und die Kamille blüht. Es ist März, ich bringe meinen Vater ins Krankenhaus. Er lässt sich seine Tasche nicht tragen und sein Blut nicht abwischen. So laufen Vater und Tochter die Alleen entlang und sind beide unglücklich. So fängt dieser Tag im Frühjahr an. So schwermütig, wo Schwermut nicht meine Sache ist. So einsam, obwohl mir das Einsame nicht liegt. So vergeblich, obwohl Aufgeben nicht zu mir passt.
Das also ist seine Sehnsucht, denke ich über meinen Vater. In seinen Hasenfußmomenten will er in die Türkei abhauen. Jahrzehnte hat er in Deutschland gelebt. Wir laufen und ich begreife, mein Vater und ich, das sind zwei Länder. Er dort und ich hier. Wo gibt es denn das? Dass Vater und Kind nicht dem gleichen Ort entspringen. Was ist das für eine Perversität, dass Menschen ihre Länder verlassen müssen. Das alles geht mir durch den Kopf und vereinzelt mich. Ich sehe die anderen Patienten, die mit ihren Angehörigen im Park spazieren. Wahrscheinlich ermuntern sie ihren Kranken, Kopf hoch, bald bist du wieder zu Hause, und meinen damit alle das gleiche Zuhause. Die Prignitz, das Sauerland, den Teutoburger Wald. Nur unsereins muss sagen: Kopf hoch, Papa, bald bist du wieder in deinem Land. Was für eine überflüssige Einrichtung, das Reisen, das Verlassen, das Gehen. Von einem Ort zum anderen wechseln. Alle sollen gefälligst da bleiben, wo sie geboren sind. Dann wäre an diesem Märztag alles einfacher. Genau genommen hatte ich die Fremdheit schon, als ich mit meinem Vater eine Stunde in den öffentlichen Verkehrsmitteln saß. Wir fuhren durch die märkische Landschaft, deren herausragendes Merkmal das Nichts ist, und ich versuchte, ihn für eine Gegend zu begeistern, die mich selbst nicht begeisterte. Weißt du, es gab vor über hundert Jahren einen verrückten Schriftsteller, der ganze Bände mit Reportagen über diese Steppe füllte, sprach ich wie eine Reiseführerin zu ihm. Er hieß Theodor Fontane, seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg stehen in meinem Regal, du hast es sicher gesehen. Mein Vater schaute durch die verschmutzte Scheibe der Bahn und sagte nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Dass es ihn gerade nicht interessiert? Dass er seinem Flugticket hinterhertrauert, das ich eine Woche zuvor gegen seinen Willen storniert hatte? Ich log und sagte, dass wir alles Geld erstattet bekämen und dass die freundliche Frau von der Fluggesellschaft meinem Vater gute Besserung wünsche. Natürlich wünscht einem niemand gute Besserung und Geld gab es auch nicht zurück. Ich räumte den gepackten Koffer aus dem Blickfeld und begleitete Vater unter Protest ins Krankenhaus. Er war untröstlich. Untröstlich in der Bahn. Am Informationsstand des falschen Krankenhauses. Auf den geschwungenen Wegen. Untröstlich gefangen in sich selbst. Mit einer Wunde an der Stirn, die ich ihm zugefügt hatte, unwissentlich, unwillentlich, freiwillig alle Schuld auf mich nehmend, weil mein Vater schon genug Schuld für alles empfand. Später lese ich in der Krankenakte meines Vaters, er hätte »keine Abwehrspannung«. Ich lebe seit über dreißig Jahren in der Funktion Tochter an Vaters Seite. Dass seine Abwehrspannung von geringer Bedeutung ist, weiß ich, seit er mich zeugte. Hätte Vater eine kräftige Abwehrspannung, hätte er sich sein Flugticket genommen und wäre gegen den Rat seiner Ärzte in die Türkei geflogen, wo seine Liebste auf ihn wartet. Wie sonst könnte man sein halbes Leben in einem fremden Land leben, ohne je Anerkennung dafür bekommen zu haben? Wie wäre das gegangen — mit Abwehr? Ein Mensch mit guter Abwehrspannung hätte den Dienst quittiert. Hätte gesagt: Hier steht ein Mensch vor euch, ihr aber seht nur den Arbeiter. Der Vater aber blieb und arbeitete weiter und bat seine Kinder: Macht mir keinen Kummer. Selbst wenn wir ihm Kummer gemacht hätten, was hätte er mit seiner geringen Fähigkeit zur Abwehr dem entgegensetzen können? Was haben wir Kinder über unseren Vater gelacht, wenn er sich aufregte. Richtig ineinandergekrallt vor Lachanfällen haben wir uns, während mein Vater vor uns stand und meinte, einen auf bedrohlich machen zu müssen, um recht bald zu kapitulieren. Wir sind dann in unser Zimmer gegangen und haben den Vater nachgespielt. Wie er aufgebracht vor uns stand und sich aufregte und wir ihn baten, seinen Missmut auf Deutsch zu artikulieren, weil wir vorgaben, ihn nicht zu verstehen. Immer stand er wackelig vor uns und tat uns den Gefallen und fiel über die Silben. Wir konnten kaum an uns halten und gaben vor, ihm zu helfen. Wenn er sagte, ihr habt meine Gefühl …, erwiderten wir: Was denn, Papa, was haben wir deine Gefühl, sag es doch! Kaputt, stolperte mein Vater die Worte ab. Was, wir haben deine Gefühle kaputt? Kaputt was? Papa, das ist doch kein Satz, ihr habt meine Gefühle kaputt, Papa, da fehlt doch das Verb. Papa, bitte nenn uns das Verb und wir werden dich demütigst um Verzeihung bitten.
Als wir endlich im richtigen Krankenhaus ankommen, sind wir irritiert. Denn was kann man von einem Krankenhaus erwarten, das aus drei Knusperhäuschen besteht? So sieht doch keine Spezialklinik aus! Wo die Aufnahmestation neben dem Krankenhausbistro liegt. Wo man freundlich begrüßt wird, als checkte man in einem Hotel ein. O Gott, bitte mach, dass hier Menschen arbeiten, die in Chicago, Tokio oder London studiert haben, murmele ich. Kann es ausgerechnet in der Mark Brandenburg international anerkannte Lungenspezialisten geben? Wieder spreche ich meinem Vater Mut zu: Schau mal, Papa, wie übersichtlich, und wie gemächlich und würdevoll der Arzt eben über den Rasen geschritten ist. Und innerlich denke ich, ein Arzt, der nicht rennt, ist doch kein Arzt. Das sind wahrscheinlich Ärzte aus dem Osten. Na ja, vielleicht hat man Glück und gerät an eine ungarische Koryphäe, hoffe ich. Die Frau in der Aufnahme fragt: Was haben Sie denn da an der Stirn? Nichts, sagt mein Vater. Soll ich mal schauen, ob ich ein Pflaster habe? Ach was, sagt mein Vater, hier gibt es sicher schlimmere Fälle als mich. Das hoffe ich sehr für Sie, sagt die Frau, und lächelt ihm freundlich zu. Hoffnung muss man immer haben, sagt mein Vater. Das sehe ich genauso, flirtet sie zurück. Sie bittet meinen Vater um eine Telefonnummer für »dringende Fälle«. Er diktiert ihr seine Telefonnummer. Ich mische mich ein und kläre ihn auf: Papa, sie meint das anders. Es geht darum, dass man jemanden aus deiner Familie erreichen kann, falls mal etwas sein sollte, du weißt schon. Ach so, sagt mein Vater und fällt wieder in sich zusammen. Der kurze Moment der Leichtigkeit ist verflogen, als ich meine Handynummer, meinen Namen und meinen Verwandtschaftsgrad angebe. Sollte mein Vater sterben, werde ich diesen Tag nicht vergessen, der Tag als ich ihn verletzte, nicht im Sinne von »Gefühl kaputt«, sondern in echt, mit Blut an der Stirn. Der Tag, als das Krankenhaus mich um meine Telefonnummer für dringende Fälle bat, wobei man sich den Plural hier sicher sparen kann, denn ein Mensch stirbt nur einmal im Leben. An diesem Märztag, der mit einem Lied über die Wolken begann, ging ich mit meinem Vater und seiner blutenden Stirn ins Krankenhaus. Dank seiner fehlenden Abwehrspannung erreichten wir unser Ziel.
*
Ich begleite meinen Vater in das erste Krankenzimmer seines Lebens. Seine Tasche trägt er selbst. Wir rechnen mit maximal drei Tagen Aufenthalt. Er solle sich, so befahl es die Krankenschwester, in seinem Zimmer aufhalten und den Arm freimachen, damit der Arzt gleich die Kanüle legen könne. Wir gehen davon aus, dass es sich um Minuten handelt. Wir beeilen uns. Mein Vater legt die Tasche neben das Bett, macht den Arm frei und setzt sich auf die Bettkante. Die erste Stunde, es ist noch Vormittag, sitzt er reglos da. Die zweite Stunde, ich habe ihm die ganze Zeit zugeredet, lehnt er seinen Kopf wenigstens aufs Kissen. Am Mittag sitzt er immer noch so da. Den Kopf am äußersten Zipfel des Kissens. Die Schuhe hat er immerhin ausgezogen, manchmal hebt er das Bein und legt es kurz auf dem Bett ab, um es sofort wieder von der Bettkante baumeln zu lassen. Es ist wie ein Wettkampf. Nicht liegen wollen. Nicht ankommen.
Gegen Nachmittag fängt mein Vater an zu husten. Er hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Als er nach Luft röchelt, sehe ich, dass aus seiner Faust rot gefärbtes Papier herausschaut. Er läuft zum Waschbecken und kann das gleichzeitige Husten mit dem Luftholen nicht koordinieren. Aus seinem Mund läuft eine Mischung aus Spucke und Auswurf. Alles rot. Ich laufe auf den Flur und schreie: Mein Vater erstickt! Mein Vater spuckt Blut! Ich schreie, so laut ich kann. Dann geht alles sehr schnell. Der Arzt kommt, die Krankenschwestern tupfen, Kanülen werden gelegt, Vater kriegt Sauerstoff durch die Nase, Plastikbecher werden unter seinen Mund gehalten, der Auswurf muss sofort ins Labor, und dann endlich, nach Stunden, legt mein Vater sich auf das Bett. Lang ausgestreckt. Die Arme über dem Bauch gefaltet. Aus kurzen Atemzügen werden lange Atemzüge. Innerhalb weniger Stunden ist aus meinem Vater, der eben noch laufen konnte, ein Blut spuckender, fiebriger, bettlägeriger Mann geworden. Seine Tablettenbox wird mit Pillen gefüllt. Das Abendfach quillt über. Auch im Nachtfach liegt eine Pille. Aus meinem Vater, der morgens unter vitalem Protest ins Krankenhaus begleitet wurde, aus meinem Vater, der seine eigene Tasche tragen konnte, ist ein Kranker geworden, der nicht einmal mehr nach seinem Wasserglas greifen kann. Und das nur, weil wir ein Krankenhaus betreten haben. Für meinen Vater ist es das erste Krankenzimmer seines Lebens. Ich gehe raus auf den Gang und sehe, mit wem wir es hier zu tun haben. Patienten, die nach zwei Schritten auf ihren Rollatoren zusammenbrechen. Menschen, die sich wie verrückt schwitzend an Handknäufen festhalten. Menschen, denen aus dem Kehlkopf Röhrchen und aus den Trainingshosen Zigarettenschachteln herausschauen und die beim Sprechen klingen, als würden sie durch Blechkannen sprechen. Ich gehe zurück ins Zimmer. Mein Vater liegt immer noch so, wie ich ihn verließ. Aus dem normal sprechenden Mann ist ein Flüstermann geworden.
Papa?
Geh nach Hause.
Ich bringe dir ein Kissen.
Geh nach Hause.
Ja, ich fahre nach Hause. In zwei Stunden bin ich zurück. Mit dem Kissen.
Geh nach Hause.
Ist gut. Ich fahre los.
*
Meine erste Erinnerung an meine Heimatstadt Kiği ist zwei Zentimeter lang und hier über meiner Augenbraue. Mit drei Jahren fiel ich vier Meter tief in den Fluss, als ich die Brücke über den Murat überquerte. Ich verlor viel Blut und musste genäht werden. Sie brachten mich zu einem Veterinär. Der hatte nur Faden für eine Kuh, nicht für ein Kind. Der Veterinär schickte uns zum Zahnarzt, der nähte mich dann zu. Willst du wissen, wie der Murat-Fluss klang? Wie der Maschinenraum der Fabrik, den ich zwanzig Jahre später in Deutschland betreten sollte, schschsch, schschsch, schschsch …
Im Frühjahr konnte man den Murat nicht überqueren — so viel Wasser war drin. Dann bauten sie den Staudamm in Elazığ und das Wasser wurde umgeleitet. Wenn sie es brauchten, öffneten sie die Klappen und ließen das Wasser zufließen. Zu deiner Zeit war es ein ausgetrockneter Fluss. Zu meiner Zeit floss das Wasser im Überfluss.
Du kennst doch diese kleinen Schildkröten, ich aber kenne noch große. So groß wie zwei Wassermelonen aus Diyarbakır. Wir teilten uns mit den Schildkröten den Murat. Während sie sich am Ufer sonnten, gingen wir ins Wasser. Wenn wir fertig waren, kamen die Schildkröten dran und schwammen eine Runde.
*
Zu Hause angekommen werfe ich alles ab. Schuhe, Tasche, Schlüssel. Ich laufe in mein Schlafzimmer. Nehme eines der Kissen, die mit Getreide gefüllt sind. Nehme einen dicken Leinenbezug, ohne Stickerei und Bordüren, damit es beim Schlafen nicht drückt. Beziehe das Kissen. Nehme den Marktkorb. Lege das Kissen rein. Gehe ins Badezimmer. Nehme alle Waschlappen auf einmal und halte meine Wange daran. Welche sind am weichsten?
Gehe in die Küche. Packe ein paar Oliven und eingelegte Peperoni ein. Setze Kaffee auf, lasse ihn durchlaufen, fülle ihn in die Thermoskanne um. Lege alles in den Korb. Gehe durch die Wohnung. Schaue mich um. Was könnte er brauchen? Was würde helfen? Ich ziehe meine Schuhe an, schaue in den Spiegel, lege Parfüm auf, ziehe meine Lippen nach. Sie sollen im Krankenhaus über uns sagen können, was sie wollen, aber nicht, dass wir uns gehenlassen.
Ich fahre los. Der Verkehr ist wie immer nervtötend um diese Zeit, ich denke, maximal drei Tage, so sagten sie im Krankenhaus, also merke ich mir keinen Strauch, keine Kurve, keinen Blitzer. Weshalb auch? Drei Tage. Maximal.
Ich stelle Oliven, Peperoni und Kaffee auf den Tisch im Krankenzimmer und lege das Kissen in Vaters Bett. Mein Vater und sein Bettnachbar Adam haben sich einander schon vorgestellt. Der ziemlich mollige Mann trägt einen Kaiser-Wilhelm-Bart, dessen geschwungene Bartspitzen Richtung Ohren zeigen. Seine Haut und seine Haare sind ganz weiß. Adam erzählt, dass er zu DDR-Zeiten Zirkuskoch war. Und zählt auf, was er für die Artisten gekocht hat. Gulaschsuppe. Bohnensuppe. Sauerkrautsuppe. Mein Vater kommentiert: Gulaschsuppe, kenn ich. Bohnensuppe, kenn ich. Sauerkrautsuppe, kenn ich. Alles, was Adam sagt, ergänzt mein Vater durch: Kenn ich.
Käsekuchen gibt es heutzutage keinen guten mehr, sagt Adam.
Meine Tochter macht guten Käsekuchen, sagt mein Vater.
Es gibt nur schlechten Käsekuchen, sagt Adam.
Schlechter Käsekuchen? Kenn ich.
Guten Käsekuchen gab es früher, bei uns.
Meine Tochter macht guten Käsekuchen.
Nee, guten Käsekuchen gibt es keinen mehr.
Komisch, denke ich, warum sprechen sie nicht über ihre Krankheiten? Mein Vater wäre eben fast abgenippelt und der andere sieht auch aus, als stürbe er gleich.
*
Gegen Abend kommt eine Ärztin und klärt meinen Vater auf. Sie werden eine Bronchoskopie durchführen. Dazu werden sie Vater eine örtliche Betäubung geben und mit einem Schlauch durch die Luftröhre eine Gewebeprobe aus seiner Lunge entnehmen. Diese Probe werden sie untersuchen, um herauszufinden, was es mit der hartnäckigen Lungenentzündung auf sich hat. Ich denke, es handelt sich um eine Entzündung, bekräftigt die Ärztin. Am gleichen Abend besorge ich Vater eine Chipkarte, mit der er in der Klinik Radio, Fernseher und Telefon benutzen kann. Ich habe die Wahl, seine Guthabenkarte mit zehn, zwanzig oder fünfzig Euro aufzufüllen. Ich nehme den mittleren Betrag. Maximal drei Tage. Bevor ich nach Hause fahre, gehe ich in den Supermarkt bei mir um die Ecke, der neuerdings bis Mitternacht geöffnet hat. Ich kaufe Eier, Quark, Zitrone. Ich backe einen Käsekuchen. Anschließend lege ich mich ins Bett. Hätte eigentlich einen Text schreiben müssen. Hätte meine Familienmitglieder anrufen und informieren können. Auf dem Anrufbeantworter bittet mich mein Lieblingsonkel, Papas jüngster Bruder Arif, ihm die Telefonnummer mitzuteilen, unter der er meinen Vater im Krankenhaus erreichen kann. Ich schlafe ein.
Am nächsten Morgen rufe ich meinen Vater an. Seine Stimme klingt, als hätte er eine Wäscheklammer auf der Nase. Er stammelt. Ich lege auf, ziehe mich sofort an und fahre los. Ich schaffe es, in dreißig Minuten anzukommen. Er liegt im Bett und ist erschöpft. Er sieht besser aus, als er klang. Ich begreife jetzt erst, dass es sich um eine Untersuchung handelt, die anspruchsvoller ist als eine Blutabnahme. Ich fülle für meinen Vater den Speiseplan aus. Ich weiß, dass er lieber Nudelsuppe als Pfannkuchen mit Kompott isst. Ich mache die Kreuzchen so, dass in den Menüs genügend Salat und Gemüse auftauchen. Einmal gibt es Bratwurst mit Kartoffelbrei und Sauerkraut. Da wird er sich freuen, denke ich. Für Frühstück und Abendessen kreuze ich alles an, was man ankreuzen kann. Butter, Schmelzkäse, Aufschnitt, Scheibenkäse, Graubrot. Im Frühling isst mein Vater Petersilie, Rucola und Frühlingszwiebeln zum Frühstück. Frische grüne Peperoni und Oliven. Im Herbst isst mein Vater Walnüsse und Pflaumenmarmelade. Wenn er in Deutschland ist, beginnt mein Vater seinen Tag gerne mit »Tamara Sauerkirsche«. Tamara ist Vaters deutsche Dauergeliebte. Es gibt sie nur im Aldi. Abends isst er warm. Auf Suppe folgt ein Hauptgericht. Immer gibt es auch einen Salat. Nach dem Essen einen frischen schwarzen Tee. Und dann eine Frucht. Im Sommer Melone. Im Winter Trockenfrüchte. So ist es der Vater gewöhnt. Wo kann man das ankreuzen?
*
Am Nachmittag komme ich wieder. Mein Vater und Adam trinken Kaffee und essen den Käsekuchen, den ich am Morgen mitgebracht habe.
Und, meine Herren, schmeckt es?
Schmeckt!
Schmeckt!
*
Ich will meinen Vater überreden, dass wir außerhalb des Krankenhausgeländes spazieren gehen.
Das darf ich nicht, gibt mein Vater zu bedenken.
Natürlich darfst du. Ich bringe dich wieder zurück.
Der Arzt kommt vielleicht.
Vielleicht gegen Abend, hat die Schwester gesagt.
Vielleicht kommt er früher.
Macht nichts. Dann bist du eben nicht da.
Ich soll Adam Zigaretten bringen. Ernte 23.
Was hat er?
Krebs. Hat überall ausgestreut.
Du meinst, er hat Metastasen?
Ja, überall.
Was meinst du mit »überall«?
Mein Vater zieht einen Kreis über seinen Bauch.
Welchen Krebs hat er?
Weiß ich nicht. Wahrscheinlich Lunge. Er ist eigentlich herzkrank. Der Arzt war heute früh da und hat gesagt, sie können nichts mehr machen.
Nichts?
Nichts.
Warum ist er dann da?
Weiß ich nicht. Der Arzt hat gefragt, ob er es seiner Frau erzählen will oder ob der Arzt es machen soll. Adam hat gesagt, bitte noch zwei Tage warten.
Warum zwei Tage?
Weiß ich nicht.
Lass das lieber mit den Zigaretten.
Nein, ich habe es versprochen. Heute früh hat er Weinbrand getrunken.
Wo gibt es so etwas?
In der Patientenkantine.
Hast du nicht gesagt, lass das mal lieber sein, Adam?
Doch, habe ich. Ich habe gesagt, warte, bis ich die Zigaretten bringe, dann schmeckt es besser.
Mensch, Papa, du bringst den Mann noch um. Komm, zieh dich an, wir gehen raus und du erzählst mir eine schöne Geschichte.
*
Meine Mutter stammt von den Lolans. Die Lolan-Sippe kam aus dem Norden Iraks. Meine Urahnen väterlicherseits hatten vier Söhne. Jeder von ihnen ließ sich auf einem anderen Hügel nieder. Sie gründeten Familien. Einer hieß Xeramen, die anderen Şırnan, Cafran und Hüsenler. Diese vier Männer waren grobe Leute. Augen schwarz wie Oliven, sie nahmen es mit jedem Bären auf. Was also taten die Dorfvorsteher, die Ağas, in diesen Dörfern? Sie sagten sich, wir haben die Wahl. Wir machen sie zu unseren Freunden oder wir kämpfen gegen sie. Sie entschieden sich dafür, den Kerlen ihre Töchter zu geben und Verwandtschaft untereinander zu knüpfen. Sie schlossen sich zusammen. So wie es die europäischen Königshäuser auch machten. So entstand die Xeramen-Sippe, die Cafran-Sippe, die Şırnan-Sippe und die Hüsenler-Sippe. Die Ağas benutzten die neuen Familienmitglieder als Kämpfer. Die starken Kerle waren skrupellos. Es hieß, wenn sie schießen, dann schießen sie, selbst wenn sich ihnen ihr eigener Vater in den Weg stellt. Kennst du diese mexikanischen Filme mit den Cowboys und ihren Hüten? Aus so einer Familie stammst du. Wir waren die Mexikaner Anatoliens, die Cowboys aus Bingöl und Umgebung.
In einem Dorf bei Karlıova spazierte eines Tages mein Großvater mit drei Kerlen aus seiner Sippe ein. Sie wollten gemütlich ein paar Ziegen, Kälber, Lämmer und Schafe rauben. Oberbefehlshaber der Truppe war mein Großvater, weil er der Älteste von ihnen war. Sie sahen die Hirten auf den Hügeln, hielten sie fest und banden die armen Jungs an einen Baum. Einer der Burschen wollte rasch das Vieh zusammentreiben. Nein, sagte mein Großvater, so nicht, sie einfach mitzunehmen wäre Diebstahl, das ist feige, so machen wir es nicht. Wir schicken einen der Hirten ins Dorf, der sagen soll: Die Xeramen sind da und nehmen das Vieh mit. Nein, das geht nicht, versuchten die Kumpel meines Großvaters, ihn umzustimmen. Was soll denn das bringen? Wir sind bloß zu viert, im Dorf leben mindestens zweihundert Menschen. Wir haben doch schon Mühe, die Tiere heimwärts zu treiben, wie sollen wir denn gleichzeitig schießen? Nein, sagte mein Großvater, es einfach mitzunehmen ist unmoralisch. Sie banden einen der Hirten los und trugen ihm auf, im Dorf die Kunde zu tun, die Xeramen sind da und nehmen die Tiere mit.
Die alarmierten Männer des Dorfes griffen ihre Waffen und rannten den Räubern hinterher. Die hatten mit den Ziegen und Schafen bereits den Rückweg angetreten und fingen an, sich ab und an umzudrehen und zu schießen. Die Frauen des Dorfes liefen mit Wassereimern ins Kriegsgelände, um die Krieger abzukühlen und ihre Wunden zu versorgen. Mein Großvater legte sich auf den Bauch ins Gras und schoss munter drauflos. Einer seiner Kumpane sagte: Stell dich doch wenigstens hinter einen Baumstamm, damit du vor den Kugeln geschützt bist! Halt die Klappe, rief mein Großvater und eine Kugel traf ihn. Nun hatten die anderen drei Burschen auch noch den zerschossenen Kerl am Hals. Einer nahm meinen Großvater auf den Rücken und die anderen hielten das Vieh zusammen. Hin und wieder zielte mein verwundeter Großvater auf gut Glück rückwärts und traf einen aus der Gegenpartei. Die Kriegsbeute gelangte bis auf den angeschossenen Räuber gesund über Karels Ländergrenzen. In Karel sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass die Xeramen das gesamte Vieh aus dem sunnitischen Dorf herausgeholt hatten. Natürlich machten sich alle über meinen verwundeten Großvater lustig: Mein Großvater verlangte nach Wasser. Sie gaben ihm das Wasser nicht. Du wirst sterben, wenn du das Wasser trinkst, sagten die Dorfbewohner. Gebt mir Wasser, sagte mein im Sterben liegender Großvater, der selbst in seiner letzten Stunde so furchteinflößend war, dass sich ihm niemand widersetzte. Er trank das Wasser, machte einen kräftigen Rülps, sagte »Goodbye« und starb.
Natürlich glaubst du mir wieder nicht, dass er »Goodbye« gesagt hat. Aber so war es!
*
Mein Vater spuckt kein Blut mehr. Offenbar hatte er sich so aufgeregt, dass er sich beim Husten die Schleimhäute verletzt hat und deshalb blutete. Das Essen schmeckt ihm. Meinen Käsekuchen hat er voller Stolz seinem Bettnachbarn präsentiert. Er hat jetzt mich und meinen Kuchen zum Angeben. Adam hat nach mehrmaligem Fragen zugegeben, dass ihm der Kuchen schmecke. Allerdings meinte er auch den Grund zu kennen. Weil drei Kilo Quark drin seien, damit sei es schließlich keine große Kunst, einen Käsekuchen zum Schmecken zu bringen. Mein Vater pflichtete kennerhaft bei: Ja, drei Kilo Quark. Ich wollte die beiden nicht durcheinanderbringen. Im Kuchen ist bloß ein Pfund Quark. Ich habe ein gutes Gefühl. Ich fahre nach Hause.
*
Vater ruft an.
Keine guten Nachrichten, Tochter.
Was denn, Papa?
Doktor Visite sagt Krebs.
Krebs?
Krebs.
Ganz ruhig, Papa. Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?
Karr-si-nomm.
Karzinom? Ist das Krebs?
Wann kommst du?
Jetzt. Ich komme jetzt sofort.
*
Auf der Station angekommen halte ich Ausschau nach einem Arzt. Ich klopfe an die Scheibe des Schwesternzimmers und bitte darum, mit einem Arzt sprechen zu dürfen. Die Schwester schaut irritiert. Was ich denn vom Arzt wolle. Ich erkläre ihr, dass ich die Tochter des Patienten im Zimmer gleich nebenan bin. Ja und?, fragt die Schwester. Mein Vater rief mich eben an und teilte mit, dass er Krebs habe. Ja, so ist der Befund, sagt die Schwester. Ja, so ist der Befund, sage ich. Ich möchte mit einem Arzt sprechen, bitte. Weshalb denn?, fragt sie erneut.
Ja, warum will ich mit einem Arzt sprechen? Warum will man wohl nach so einer Diagnose mit einem Arzt sprechen? Was antwortet man? Mir fällt keine Antwort ein. Ich bleibe weiter stehen. Sie greift zum Hörer und spricht hinein. Dann geht sie. Ich bleibe stehen. Von weitem sehe ich eine Ärztin in meine Richtung laufen. Sie hält mir ihre ausgestreckte Hand wie eine Waffe entgegen.
Ich sage: Ich bin seine Tochter. Könnten wir bitte zu dritt sprechen? Ja, das können wir, sagt die Ärztin. Er war verständlicherweise sehr durcheinander. Wir hatten nicht viel Zeit, ihm etwas zu erklären. Hören Sie, sage ich, Sie müssen meinem Vater Mut machen. Wir können nicht lügen, sagt die Ärztin. Ich sage: Zwischen Mut machen und lügen liegt doch wohl ein Unterschied. Es geht jetzt darum, keine Zeit zu verlieren, entgegnet sie mir. Mein Vater ist ein langsamer Typ, erkläre ich. Das mag sein, sagt sie. Mein Vater ist in einer anderen Sprache zu Hause, sage ich, da können Worte ungewollt falsch ankommen, verstehen Sie? Wenn Sie »keine Zeit verlieren« sagen, klingt es, als ginge es um Stunden. Na ja, sagt sie, ein paar Tage warten können wir schon. Aber dann muss er operiert werden. Weiß er das, frage ich. Ich denke ja, antwortet die Ärztin. Sie denken? Wissen Sie was, sagt die Ärztin, ich schlage vor, einen Psychologen zum Gespräch hinzuzuziehen. Ich traue mich nicht zu fragen, wer ihrer Meinung nach den Psychologen benötigt. Sie, ich oder mein Vater?
Er weint. Wenn er nicht weint, schaut er ins Leere. Manchmal blickt er mich an. Ganz kurz. Dann schaut er beschämt weg. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich spüre seine Verzweiflung und bin gleichzeitig enttäuscht. Wieso kann er nicht rational reagieren? Wieso kann er nicht so sein, wie er es uns beigebracht hat? Immer schön ruhig bleiben. Mein Vater kann nicht. Zu viele Worte im Raum. Chemotherapie, Operation, Verlegung. Vater will nicht.