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„Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Davon möchte ich erzählen.“ Was Frausein bedeutet, zeigt sich in jedem einzelnen Leben: Mely Kiyak erzählt von den Gesprächen über Weisheit und Nichtwissen, die sie als Mädchen mit dem Vater führte. Von den Cousinen, die vom Begehren erzählten. Vom Aufwachsen zwischen Ländern und Klassen, zwischen „Herkunftsgepäck“ und Neugier auf unbekannte Erfahrungen. Vom Alleinsein, von Selbsterkundung, von Familie. Was ist Weiblichkeit, wenn man den öffentlichen Blick überwindet und zurückbleibt mit sich selbst? Aufrichtig, lebenslustig, zärtlich und entwaffnend klug erinnert Mely Kiyak daran, dass es die Verhältnisse sind, die einem beibringen, wie man liebt und lebt.
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Seitenzahl: 143
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Zeit:3 Std. 37 min
»Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Davon möchte ich erzählen.« Was Frausein bedeutet, zeigt sich in jedem einzelnen Leben: Mely Kiyak erzählt von den Gesprächen über Weisheit und Nichtwissen, die sie als Mädchen mit dem Vater führte. Von den Cousinen, die vom Begehren erzählten. Vom Aufwachsen zwischen Ländern und Klassen, zwischen »Herkunftsgepäck« und Neugier auf unbekannte Erfahrungen. Vom Alleinsein, von Selbsterkundung, von Familie. Was ist Weiblichkeit, wenn man den öffentlichen Blick überwindet und zurückbleibt mit sich selbst? Aufrichtig, lebenslustig, zärtlich und entwaffnend klug erinnert Mely Kiyak daran, dass es die Verhältnisse sind, die einem beibringen, wie man liebt und lebt.
Mely Kiyak
Frausein
Carl Hanser Verlag
Eines Morgens wachte ich auf und sah die Welt verschwinden. Wie immer nach dem ersten Vogelzwitschern lag ich mit einem Kaffee und einem Buch im Bett. Ich las über Freiheit und Verzicht. Und während ich das tat, verließen mich meine Augen. Es dauerte bis zum späten Nachmittag — ich schaute der Welt beim Wenigerwerden regelrecht zu —, bis aus meinem Augenlicht allmählich Augendämmerung wurde. Und dann Dunkelheit.
Als sie mich abholen, sitze ich auf meinem Sessel. In den Stunden zuvor hatte ich geduscht und mich vorbereitet. Ich wollte sofort gefunden werden. Die Tür zur Wohnung hatte ich deshalb schon geöffnet. Davor eine Tasche gepackt, mich gekämmt. Und davor, bevor ich mich anzog, es versucht. Dieses Mal sollte es nicht nur Mutprobe sein, denn es war mir unangenehm und immer auch etwas peinlich. Sondern Abschied von mir selbst.
Ich wollte mich angucken.
Mit kaputter Sicht schaute ich auf den nackten Körper. Es galt, das nackte Ich auszuhalten. Obwohl ich fast nichts mehr sah, schämte ich mich. Scham vor dem Anblick der Brüste. Dem Dreieck zwischen den Beinen. Dieser gewaltigen Blöße mit all ihren Rundungen und Abstufungen. Oder dem, von dem ich vermutete, wo und was es war. Obwohl die, die im Spiegelbild gerade zerfloss, im Prinzip jedermann hätte sein können, hielt ich den Anblick nicht aus.
Der letzte Blick auf die im Augennebel verschwindende Frau blieb in jeder Hinsicht unvollständig.
Gegen Mittag begriff ich, dass das, was mit dem einen Auge passierte, auch im anderen Auge geschah. Ich ahnte, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Trotzdem wartete ich einige Stunden ab und rief erst dann um Hilfe. Weil man die ganze Zeit auch immer denkt: Das bilde ich mir bestimmt nur ein. Sicher kommt gleich das ganze Bild wieder. Von dem, was mir gerade passierte, hatte ich nie zuvor gehört. Ich misstraute meinen Empfindungen.
Um mir helfen zu lassen, benötigte ich mehrere Anläufe. Die Tasten des Telefons musste ich erfühlen. Anschließend setzte ich mich und hörte nur noch. Als es geschah, wohnte ich am Meer. Draußen schrien die Möwen im Meereswind. Drinnen verlor ich mein Augenlicht. In der einen Hand hielt ich meinen Ausweis und die Chipkarte meiner Krankenversicherung. Mit der anderen Hand umfasste ich die Sessellehne.
Ich wurde aufs Festland gebracht.
In der Notaufnahme hatte ich Schwierigkeiten, die Liege und das Gefühl meines Körpers darauf zu koordinieren. Man fühlt und fühlt doch nicht.
Ich wusste, ich muss mich retten. Ich sprach zu mir selbst. An diesen Worten hielt ich mich in den kommenden Stunden, Monaten und Jahren fest:
Ich akzeptiere alles. Ich akzeptiere alles.
*
Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Da ist kein Hadern. Kein Bedauern. Kein Mangel. Aber auch kein Überfluss. Davon möchte ich erzählen.
Ich beginne dafür an irgendeiner Stelle. Denn es gibt keine Anfänge. Es gibt nur den Blick zurück.
*
Meine Mutter putzte im Amtsgericht. Gegen 18 Uhr lief sie die paar Meter von unserer Wohnung in das schöne Gebäude hinüber und fing an zu fegen und zu wischen. Manchmal nahm sie mich mit. Die Zelle für die Untersuchungshaft öffnete sie mit einem sehr alten Schlüssel aus Eisen. Ein großer Schlüssel, wie man ihn aus tschechischen Märchenverfilmungen kennt. Ganz unwirklich und schwer. Tagsüber waren die Inhaftierten für ihre Verhandlungen aus der Justizvollzugsanstalt in die Zelle gebracht worden, wo sie bis zu ihrer Anhörung im Gerichtssaal zu warten hatten. Abends, wenn meine Mutter kam, war die Zelle längst wieder leer.
Der Amtsrichter mochte meine Mutter. Wenn er Überstunden machte und sie ein paar Minuten früher losging, trafen sie aufeinander. Gelegentlich half ich beim Putzen und sah ihn auch. Ein freundlicher, gut angezogener alter Herr, mit Weste und Taschenuhr. Er stand kurz vor der Pensionierung. Er ließ sein mit viel Butter und Teewurst bestrichenes Frühstücksbrötchen in seinem Büro liegen. Seine Frau bereitete es ihm zu, wickelte es in Alufolie und gab es ihm mit. Jahrelang tat er ihr gegenüber so, als hätte er es gegessen. Tatsächlich ließ er es im Schrank. »Für Ihre Kinder«, sagte er zu meiner Mutter und zeigte ihr das Versteck. Sie nahm das Brötchen mit nach Hause, wo sie uns Kinder zwang, es zu essen. Die Wurstbrötchen waren eine Herausforderung. Zu Hause teilten wir es in mehrere Stücke und verhandelten untereinander, wer wie viel davon zu bewältigen hatte.
Aus Respekt vor der Großzügigkeit und Güte des Amtsrichters sei das zu tun, sagte meine Mutter. Es sei unüblich, dass eine Autorität wie er sich für Leute wie uns interessiere. Wir waren zwar arm. Aber wir hatten genug zu essen. Diesen Widerspruch galt es mit runterzuschlucken. Sobald wir das Opfer für den niedersächsischen Amtsrichter gebracht hatten, bekamen wir unser eigentliches Abendessen.
Ich habe kein Gefühl dafür, inwieweit das eine lohnenswerte Erfahrung war. Es war eine Übung in Demut, so viel ist klar. Keine große Sache. Der Hintergrund war stets derselbe: Das Gegenüber durfte auf keinen Fall sein Gesicht verlieren. Nicht wegen etwas derart Lächerlichem wie einem Brötchen. Die Erinnerung soll nicht dafür herhalten, über Abhängigkeiten, Hierarchien, den Blick des Anderen, Klassenunterschiede und so weiter zu referieren. Unterordnung bis hin zur Unterwerfung waren Stufen einer üblichen Erziehung. Ich mag darin auch im Nachhinein keinen Skandal erkennen. Es gibt ein anderes Detail, das mich interessiert. Nämlich, dass eine Frau — die Mutter — darauf verzichtet, ein Bild über sich, ihre Familie und die Verhältnisse geradezurücken. Sie blieb in den Augen des Amtsrichters lieber bedürftig, als sein schräges Bild über unsere Armut zu korrigieren. Vielleicht glaubte sie, dass er sie nur als arme und hungrige Frau mögen würde.
So wurde ich darauf konditioniert, mich zu fügen. Mit diesen Übungen. Schweigen, nicht protestieren. Keinen Ärger machen. Jede Interpretation und Deutung über uns unkommentiert zur Kenntnis nehmen. Aufessen. Der Umwelt nicht durch Befindlichkeiten, sondern durch Leistungen auffallen. Eine Weile klappte das ganz gut.
Erst spät fing ich an, mich aufzulehnen. Wie kann man das Auflehnen beschreiben? Es war etwas Physisches. Mehr tierlich als menschlich. Ich spannte meine Oberschenkel und Waden an, ging auf die Zehenspitzen, kniff Stirn und Augen zusammen und schrie los. Mein Auflehnen war ein mühsamer, kraftvoller Akt. Wenn dich jemand gegen deinen Willen mitnehmen will, dann schrei laut Nein! und lauf, so schnell du kannst. So lautete der Ratschlag, den ich früh bekam, um mich vor Verbrechen zu schützen. Das war natürlich zum Selbstschutz gemeint, vor Räubern und Mördern, vor Fremden. Ich aber wendete das in meinem Umfeld an. In der Flucht und im Schreien machte ich mich für die Dauer einiger Sekunden als Person kenntlich. Danach fiel ich stumm in mich zusammen. Und bereute. Und war geknickt. Und unfähig, dem etwas hinzuzufügen.
Der Handlungsspielraum vor der Eskalation war mir nicht geläufig. Ich hatte keine andere Idee von Widerstand. Wenn ich etwas nicht wollte, hielt ich es aus, bis es nicht mehr ging. Dann auflehnen, schreien und weglaufen, statt mich zu erklären. In mir war wilde Verzweiflung. Es war ein reagierender, kein sprechender Körper.
Von außen wirkte mein mit ganzer Kraft herausgeschrienes Nein wie ein impulsiver Akt. In meinem Inneren aber hatte jedes Nein einen langen Weg hinter sich. Keines meiner Neins brachte Erfolg oder Erleichterung. Jedes Nein verursachte Verstörung bei dem, den es betraf. Nach dem Nein kam schließlich nichts mehr. Ich verließ das Terrain und ging weiter. Ich war unfähig, mich auf eine gesunde, erwachsene, vernünftige Art zu wehren. Mit jedem Protest verausgabte ich mich bis zum Äußersten.
Dann — endlich — nach Jahrzehnten, die Unruhezeiten lagen längst hinter mir, gerate ich aus dem Gleichgewicht. Ich hatte meine Augen ohnehin im Verdacht, eines Tages echten Ärger zu machen. Und genauso ist es gekommen. Mitten in meinem Frieden.
Eines Morgens löst sich das Bild auf. Die Welt verlässt mich. Ich werde zum Nichts und schwebe im Nirgendwo.
In den Jahren meiner Genesung begreife ich, dass alles, womit man es zu tun hat, Bilder sind. Auch die Erfahrungen. Was ich sehe, was ich erlebe, woran ich denke, woran ich mich erinnere, das alles ist nicht das Bild. Sondern die Folge davon, dass ich mir ein Bild mache. Ein Bild über mich, ein Bild über die Dinge. Selbst das Bild, das ich zu sehen meine, vom Tisch, vom Stuhl, beruht auf dem Bild, das ich mir von Tisch und Stuhl mache. Diese Erkenntnis gibt mir eine Ahnung davon, warum es Sehenden, die zu Blinden werden, überhaupt möglich ist, weiterzuleben. Sie haben weiterhin ein Bild von etwas. Vorstellungen werden zu Realitäten gemacht. Und umgekehrt. Sogar das eigene Spiegelbild wird durch ein eigenes Bild überlagert. Man schaut sich an und legt eine Vorstellung von sich auf das Gesehene. So ungefähr funktioniert das Sehen, wird mir immer und immer wieder erklärt. Das Gehirn, die Phantasie, die Vorstellungsgabe wissen, was sie zu sehen haben, und also sieht das Auge es auch.
*
Ich sitze auf dem Boden.
Ich bin ein kleines Mädchen. Mein Vater kommt von seiner Arbeitsschicht aus der Fabrik nach Hause. Er setzt sich zu mir.
Ich frage ihn: Wer bin ich?
Er fragt zurück: Wer bist du?
Ich frage mit Nachdruck: Wer bin ich?
Er: Wer bist du?
Papa, frage ich, weißt du es nicht?
Er antwortet: Weißt du es?
Ich sage: Ich weiß es nicht.
Er sagt: Ich weiß es auch nicht.
Zwei Sufis sitzen auf dem Boden und unterhalten sich. Der große Sufi macht sich wahrscheinlich über den kleinen Sufi etwas lustig. Der kleine Sufi ist sich sicher, dass der große Sufi nicht der hellste ist.
*
Ich schreibe. Das ist alles, was ich tue.
Ich wollte keine Frau sein, die Kinder hat und schreibt. Keine, die eine Ehe führt und schreibt. Keine, die eine andere Tätigkeit ausübt und auch schreibt. Ich wollte nicht von allem etwas, sondern von dieser einen Sache alles. Wenn mich jemand fragt, was machst du, wollte ich antworten: Ich schreibe.
Es war keine bewusste Entscheidung. Es ergab sich. Als mir bewusst war, dass es darauf hinauslief, entschied ich, entweder mache ich nur das, oder ich mache es gar nicht.
Ich bin allein. Hier ist nichts als Stille. Wochenlang. Monatelang. Das Ziel ist höchste innere Anwesenheit durch äußere Abwesenheit. Das Telefon ist abgeschaltet. Zu Hochzeiten und Geburtstagen schicke ich Grüße. Vor die Wahl gestellt, jemanden zu treffen oder allein zu sein, entscheide ich mich für mich. Ich kann mich von meinem Schreiben, Lesen und Spazierengehen nicht trennen. Nehme ich eine Einladung zu einer Verabredung an, bekomme ich Lampenfieber. Nach dem Aufwachen werde ich bereits nervös.
Das hermetische Abriegeln ist keine Pause vom Alltag sondern der Alltag selbst. Mein Gott, du lebst ja wie im Paradies! Das höre ich manchmal. Weltabgewandtheit als Voraussetzung, um sich der Welt zuzuwenden, ist aber kein Paradies. Sie erfordert Durchhaltevermögen. Es ist, als ob ich auf einem Hauch balanciere und zu fallen drohe.
Das Alleinsein konfrontiert mich mit mir selbst. Oft habe ich mich unbekümmerter in Erinnerung, als ich bin. An guten Tagen bin ich mir sympathisch und angenehm. An schlechten Tagen bin ich mir selbst ein tiefer, dunkler Abgrund. In der Klausur entstehen seltsame Eindrücke. Jedes Geräusch bekommt Bedeutung. An manchen Tagen raschelt sogar das Papier zu laut und seltsame Stimmung liegt über allem.
Trotzdem, es ist alles selbst gewählt. Ich kann nur so.
Mein Schreiben begann autonom, ohne äußere Einflüsse. Nicht in der Bibliothek der Eltern, nicht als Wunsch, eines Tages im elterlichen Bücherregal zwischen zwei Buchdeckeln zu landen. Es gab gar kein Buchregal. Zwar wurde gelesen, aber die Bücher schafften es an keinen sichtbaren Ort, in kein Möbel. Sie verschwanden wieder. Vor allem waren es »verbotene« Bücher, die vom türkisch-kurdischen Bürgerkrieg berichteten. Sie handelten von der Frage, wer für die politische Misere Verantwortung trug. Es gab in meiner Familie auch keine Konzertbesuche, ausgenommen die Solidaritätskonzerte für die politischen Gefangenen. Keine Theatergänge (ausgenommen solche Theaterabende, bei denen etwa das qualvolle Sterben der Giftgasopfer in Halabdscha nachgestellt wurde. Das dargestellte Ereignis beschrieb großes Elend, die Performances aber waren es auch). Kurzum: Es existierte keine Brücke in jene Welt, in der Kultur auf wundersame Weise ritualisiert ist und um ihrer selbst willen veranstaltet wird.
Ich mochte das Fernsehtheater. Heidi Kabel spielte auf einer Hamburger Bühne, der Norddeutsche Rundfunk übertrug die Stücke oft. Willy Millowitsch tat das gleiche in Köln, gesendet vom Westdeutschen Rundfunk. Ich schaute das gerne an. Tür auf, Tür zu, Verkleidung, Verwechslung, Dialekt. Lustige, harmlose Ohnsorg-Welt. Auf der anderen Seite waren die Stimmen, die von der Bühne irgendeiner Mehrzweckhalle irgendwo in Deutschland das Kapital, die Holdings, die Waffenindustrie verdammten. Im Fernsehtheater wurde gelacht, in der Stadthalle sammelten wir Geld für die Folteropfer oder Angehörigen von »Verschwundenen«. Beklemmung im Bus zurück nach Hause. Das war die andere Welt, die wirkliche Welt, wie zu Hause behauptet wurde. Unsere Welt.
Ich wusste nicht, dass Kultur etwas ist, zu dem ich mich hinbewegen oder bei dem ich mitmachen könnte. Ich empfand keinen Konjunktiv. Kein »ich könnte im Ohnsorg-Theater landen«. Alles schien manifest und undurchlässig. Als wäre man eingemauert. Da, wo ich herkam, ging man automatisch davon aus, dass die Verheißungen des Lebens für die anderen bestimmt sind. Verzicht war der Normalzustand.
Was es über uns zu berichten gab, wurde fremderzählt. Es war nicht einer von uns, der das Leben unserer Väter beschrieb, auch keiner der Väter selbst, sondern Günter Wallraff. Als Türke Ali verkleidet lebte und arbeitete er zu Forschungszwecken ein stinknormales Ali-Leben in Deutschland nach. Er beschrieb die normalen Verhältnisse der Gastarbeiter. Obwohl Wallraff selbst aus kleinen Verhältnissen kam, entsetzten ihn die erlebten Erniedrigungen derart, dass er sein Buch nicht unten, halbunten oder mittelunten nannte, sondern: Ganz unten. Wir wurden am niedrigsten Punkt verortet. Jemand hatte sich als »wir« verkleidet, unser Leben simuliert und mitgeteilt. Von uns hatte sich offenbar niemand gefunden, der es selbst hätte mitteilen können. Oder sollen. Oder dürfen. Jahrzehnte vorher und Jahrzehnte später gab es keine andere Erzählung, die diese Perspektive ergänzte. Für die Gastarbeiter und in den Gewerkschaften war Wallraff ein Held.
Das Buch lag auf Türkisch übersetzt kostenlos zum Mitnehmen in einer Kiste unter der Stempeluhr der Fabrik meines Vaters. Es sprach zu zwei Seiten. Zu denen, die die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter nicht kannten. Und zu denen, von denen es handelte. Man las, staunte und hatte zu verdauen: Ich bin eine dieser Ali-Töchter. Das unbedeutende Kind unbedeutender Eltern.
Die Eltern unterstützten uns, so gut sie konnten. Vor allem der Vater. Jedem von uns Kindern sagte er: Du kannst werden, was du willst. Der Bruder interessierte sich für Musik. Wo immer er auf ein Instrument traf, nahm er es in die Hand, probierte etwas darauf herum und fing an zu spielen. Er wünschte sich ein Klavier. Ein Klavier wurde angeschafft. Der Klavierstimmer allerdings konnte nicht bezahlt werden und irgendwann auch nicht mehr die Klavierstunden, und so übte der Bruder auf einem verstimmten Klavier und gewann trotzdem alle Wettbewerbe. Die Zeitungen berichteten über ihn. Auch seine Lehrer waren von seiner Musikalität beeindruckt, und also versuchte der Vater, seinen Sohn zu überreden, Pianist zu werden. Glaube mir, Sohn, sagte unser Vater, die meisten Kinder bekommen zu hören, dass sie etwas anderes lernen sollen, mit dem sie ihre Familien versorgen können. Ich aber bitte dich, der Musik eine Chance zu geben. Der Sohn studierte — vielleicht aus Gründen der Emanzipation vom bittenden und bettelnden Vater — Jura. Unvergessen seine Begründung: Irgendwer muss mit diesem Mistleben Schluss machen. Dabei waren wir erst die zweite Generation.
Es sagt sich leicht, dass man seine Träume leben soll. Abstrakt träumt es sich aber schlecht. Das »Traut euch« des Vaters sollte eine Ermutigung sein, klang aber bedrohlich. Nach großer Anstrengung. Du kannst die Welt verändern — der Vater redete selten, das hier aber war sein absolutes Lieblingsthema. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Er stand auf, er dozierte jetzt nicht nur, er hielt eine wichtige Rede. Hinter mir standen Hunderttausende von Ichs, die ihm zujubelten. Die anderen sind nicht besser und klüger als du, seine weiche, leise Stimme überschlug sich fast. Sie sehen aus wie du, sie reden wie du, sie sind wie du. Du lachst? Du bist ein Teil von allem. Das musst du mir glauben. Das musst du mir glauben. Jede Silbe wurde energisch mit dem Zeigefinger in die Sofalehne gedrückt: Du bist stark und kannst alles erreichen!