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Ein Toter auf dem Krawutschketurm in der Eifel und ein Mord in Düren! Die Aachener Kommissare Fett und Schmelzer stehen vor einem Rätsel. Gibt es Zusammenhänge zwischen den Fällen? Spuren führen die Ermittler nach Jülich, Arnoldsweiler, Frankreich und zu Haus 5, dem Altbau der Forensik in der Landesklinik Düren. Doch wer mordet so kaltblütig? Und wo liegt das Motiv? Als sich die Ereignisse überschlagen, ordnet die Polizei den Belagerungszustand in Simonskall bei Vossenack an …
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Seitenzahl: 289
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Olaf Müller
Herr über Leben und Tod bist du
Eifel-Krimi
Es wird kommen der Tag Auf dem Krawutschketurm bei Bergstein wird ein Toter gefunden. Rentner Eugen Kaltenbach wurde offensichtlich ermordet – mit einem US-Karabiner aus dem Zweiten Weltkrieg. Wenige Tage später wird Gundula Borsche, die Schwester der ehemaligen Direktorin der Landesklinik Düren, tot aufgefunden. Ebenfalls kaltblütig ermordet. Hängen die Fälle miteinander zusammen? Kommissar Fett, Kollege Schmelzer und die neue Kommissarin Daniela Conti verfolgen mehrere Spuren in Jülich, Arnoldsweiler und Frankreich. In Düren stoßen sie schließlich auf ein Geheimnis in der Landesklinik. Das berüchtigte »Haus 5« war die forensische Abteilung, in der bis in die 1970er Jahre katastrophale Zustände herrschten. Während in Aachen auf dem Weihnachtsmarkt das Geschäft brummt, überschlagen sich die Ereignisse. In Simonskall bei Vossenack kommt es schließlich zum Showdown …
Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien, Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Als Segelflieger kennt er die Eifel aus der Luft, als Wanderer vom Boden. „Herr über Leben und Tod bist du“ ist nach „Tote Biber schlafen nicht“, „Allerseelenschlacht“, „Rurschatten“ und „Die Macht am Rhein“ (gemeinsam mit Maren Friedlaender) sein fünfter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © SiRo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6918-3
Von der obersten Plattform des Krawutschketurms auf dem Burgberg in Bergstein tropfte Blut. Krähen flatterten krächzend über den Turm, von dem sich bei klarem Wetter ein weiter Blick über die Nordeifel bot: im Westen das Hohe Venn, etwas nördlicher Aachen und die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Weisweiler; im Nordosten, fast so, als ob man hineinspringen könnte, der Stausee von Obermaubach. Burg Nideggen grüßte auf Augenhöhe im Osten, die Rur schlängelte sich von Blens über Abenden und Zerkall durch das grüne Tal. An diesem Morgen war ein Schuss gefallen. Gedämpft durch einen Schalldämpfer. Er war längst verklungen. Vor 75 Jahren war es anders. Damals folgte Einschlag auf Einschlag. Das Geknatter der Maschinengewehre, Karabiner und Pistolen nahm am Tag und in der Nacht kein Ende, Handgranaten explodierten, der Burgberg schien zu explodieren.
Scheu trippelte ein Fuchs durch das nasse Gras zum Aufschlagpunkt der Blutstropfen auf den Pflastersteinen, leckte kurz, schaute sich suchend um, blickte hoch zu dem Treppengewirr, schlich davon. Mäuse rasten durch das dornenreiche Gestrüpp. Spatzen hüpften von Busch zu Busch. Stumm, fast etwas arrogant, blickte ein Bussard abwartend von einem Fichtenast auf den Krawutschketurm und die Reste der Bunker. Die Zeit des Bussards war noch nicht gekommen. Am Boden bildete sich eine dünne Blutlache und suchte einen Weg zwischen den betongrauen Steinen. Verkrümmt lag die Leiche auf der obersten Aussichtsplattform. Keiner hatte sie bisher entdeckt. War es zu früh für Spaziergänger und Wanderer an diesem Montagmorgen, dem 9. Dezember 2019? Im Osten, am Rhein, kroch das Morgenrot hinter Wolken empor. Gegen 8.15 Uhr würde die Sonne aufgehen. Der Tag begann windig, kalt, grau, dunkel, nass. Nieselregen benetzte Blätter und Nadeln der Bäume. Das feuchte Laub war dreckig, braun, angefault. Pfützen hier und da. Die von den Herbststürmen abgebrochenen Äste hingen leblos an den Bäumen, schaukelten im Wind. Es roch nach Fäulnis, Moder, Tod.
Bergstein war still, nur einige Schulkinder auf dem Weg zum Unterricht. Brandenberg, Kleinhau, Großhau, Hürtgen, Vossenack und Nideggen schienen wie ausgestorben. Die Berufspendler waren längst aufgebrochen. Die Bauern mit ihren kleinen Parzellen und dem wenigen Vieh hatten die Tiere versorgt, die Nüstern der Kühe und Pferde dampften, längst war gemolken, Futter und Stroh verteilt, Mist aus den Ställen gekarrt. Nun fuhren die Nebenerwerbslandwirte zum Sägewerk nach Vossenack, zur Papierfabrik nach Düren, zum Ferienpark nach Heimbach. Von Landwirtschaft allein konnte niemand mehr leben. Die Bauern mussten früh raus, gingen spät ins Bett.
Ein grauer und düsterer Tag. Grau auch das Stahlgestänge des Turms, die Reste der Bunkeranlagen auf Hill 400, wie ihn die Amerikaner im Dezember 1944 genannt hatten, weil er mit seiner Höhe von 400 Metern die Region überragte. Von hier aus wurde das verheerende Artilleriefeuer der Wehrmacht auf die vorrückenden US-Einheiten bei Vossenack, Schmidt, Kommerscheidt und Simonskall geleitet. Wer Hill 400 beherrschte, der kontrollierte die Rur und die Talsperren. Am 7. Dezember 1944 hatte das 2nd Ranger Battalion unter großen Verlusten den Burgberg angegriffen. Ein Sturmangriff mit aufgepflanztem Bajonett aus den Ruinen von Bergstein heraus, über den Friedhof und hinauf auf den Berg. Mann gegen Mann. Es waren dieselben Ranger, die bei der Invasion in der Normandie am Pointe du Hoc mit Strickleitern an den Klippen hochgeklettert waren, um die deutschen Gefechtsstände auszuschalten. Hill 400 war genauso blutig wie Pointe du Hoc. Für viele US-Soldaten war die Einnahme des Burgbergs in Bergstein der längste Tag, länger als der Tag der Invasion. Davon wurde nichts erzählt auf der Informationstafel am Fuß des Krawutschketurms, benannt nach dem Eifelwanderer Franz Krawutschke, der 1940 gestorben war. Er hatte die ersten Wanderwege markiert. Darum wurde der Turm nach ihm benannt. Auf der Infotafel stand die Geschichte der Burg, des Burgbergs und des Turms. Kein Wort über das Grauen kurz nach Nikolaus im Dezember 1944.
Schlaff hingen die ockerfarbenen Blätter der wenigen Eichen an den graubraunen Ästen. Der Herbst war vorbei, nun würde in wenigen Tagen der Winter einziehen. Schnee, der auf Fichten fällt, auf den Friedhof von Bergstein, auf den Sportplatz, das Segelfluggelände, die Kirche und die wenigen Straßen. Von jetzt an sollte man Brennholz, Heizöl oder Gas zur Hand haben. Diese Sorgen hatte der Tote auf der Plattform nicht mehr.
Krähen flogen auf die Holzbrüstung des Turms, schauten suchend in alle Richtungen. Plötzlich sprang die erste auf den Rücken des Toten und stakste auf dem Lodenfrey-Mantel hin und her. Rasch hüpfte eine zweite Krähe hinzu, die dritte folgte. Der Mantel war dick. Der Kopf lag frei. Sie näherten sich dem Ohr des Toten.
»Rocky, kommst du hier!« Rocky hörte nicht. Rocky hatte Blut gerochen und wollte Blut lecken. Der Dobermann lief mit gesenkter Schnauze und feuchten Lefzen auf die kleine Blutpfütze zu. Dann bellte Rocky. Die Krähen am Ohr des Toten erschraken, flatterten hoch, flogen im Sturzflug auf die nächsten Äste der Tannen und ärgerten sich über Rocky, dessen Bellen sie jeden Morgen störte, wenn sie in den Resten der Bunker eine Maus zerfetzten.
»Rocky!« Keuchend erreichte Norbert Jörres seinen Hund. Die Morgenrunde endete stets am Krawutschketurm mit einem Schluck aus dem Flachmann. Papas Little Helper nannte er seine prozenthaltige Verpflegung, die Schwung in den Tag des Frührentners brachte. 40 Jahre Privatkundengeschäft in der Sparkassenfiliale von Kleinhau. Schützenverein, Modellbauverein, verantwortlich für die Weckmänner beim Martinszug, veranstaltet von der Besenbinderzunft 1970 Kleinhau e.V.
Norbert Jörres nahm einen kräftigen Zug. Sofort wurde ihm warm in der Kehle. Rocky schaute bellend hinauf zu Herrchen. Er kannte das Ritual. Die Stimme von Herrchen war nach mehreren Schlucken lauter, und manchmal wankte er den Abstieg hinunter. Diesmal bellte Rocky länger als sonst. Er hob die Schnauze Richtung Turm und bewegte den Körper, als ob er unbedingt hinaufwollte.
»Rocky! Jetzt ist aber gut!« Noch ein Schluck. Flachmänner sind Handschmeichler. Norbert Jörres mochte das Edelmetall, den Schraubverschluss und vor allem den Inhalt. Er dachte an all die alten Damen, die er beraten hatte. Abends, daheim bei einem Eierlikörchen und Schnittchen mit Cornichons. Die Witwen – auch in der Nordeifel sterben die Männer früher – saßen hilflos vor ihm mit ihren Wiesen, Feldern, Äckern. Er empfahl Verkauf. Man müsse loslassen, Ballast abwerfen wie die Ballonfahrer. Die Damen staunten. Norbert Jörres hatte die Nummer mit dem Ballon entwickelt. Er erzielte phänomenale Ergebnisse und wurde mehrfach Kollege des Jahres mit einer Urkunde vom Sparkassenvorstand der Kreissparkasse Düren. Damals gab es noch die Kreissparkasse. Norbert Jörres tröstete zudem manche Kundin auf seine ganz persönliche Art. Danach nannten sie ihn Nobbi. Von diesen Trostbesuchen kehrte er etwas später und müde heim. Kurze Zeit danach erfolgte von der getrösteten Kundin eine Überweisung auf sein Konto oder er wurde testamentarisch bedacht.
»Rocky, halt die Schnauze!« Es platzte aus ihm heraus. Norbert Jörres spazierte jeden Morgen mit Rocky zum Burgberg. Bei Waffen-Schumacher in Norddüren hatte er den Flachmann, Qualitätsjägerstiefel und einen Taschenwärmer gekauft. So zog es ihn täglich zum Turm, wo er im Sommer den Sonnenaufgang genoss und an den Bunkern benutzte Kondome mit einem Fußtritt Richtung Abhang beförderte.
»Aus! Rocky! Aus!« Er beugte sich zu dem kläffenden Vierbeiner und blickte auf die Blutspur. Norbert Jörres richtete sich auf, sein Blick folgte dem Blut. Langsam drang das unaufhörliche Krächzen der Krähen in seine Synapsen. Er nahm einen großen Schluck und die erste Stufe der Treppe hinauf auf den Turm. Dann kehrte er um, band Rocky am Treppengeländer fest. »Aus! Aus! Braver Hund.«
Norbert Jörres folgte den Blutstropfen. Ihm wurde mulmig. Auf halber Höhe, bei der mittleren Plattform, nahm er den letzten Schluck. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die Beinmuskeln drohten zu versagen. Rocky saß unten und starrte mit aufgerissenen Augen hinauf zu Herrchen. Herrchen starrte auf die nächste Stufe. Auf der übernächsten wieder Blutstropfen. Norbert schleppte sich auf die oberste Plattform. Trotz seiner trüben Augen entdeckte er den Körper sofort.
»Leggesamarsch!«, formte die schwere Zunge den mundartlich gefärbten Ausdruck des Erstaunens. Weitergehen, runtergehen, Polizei anrufen, Flachmann, Fahne, Wodka, Rocky, Puls, Puls fühlen, verdächtig, bin ich verdächtig? Alkohol, Rocky, Marlene, was wird Marlene sagen? Schmorbraten, Polizeipräsidium, Verhör, getrunken, ich habe getrunken. All das schoss schneller, als man es sagen konnte, durch Norberts Gehirn und führte fast zu einem Kurzschluss, einem Nervenzusammenbruch oder Schock. Mechanisch bewegte er seine Füße in den Premiumjägerstiefeln, stupste vorsichtig einen Arm des vor ihm liegenden Mannes. Keine Reaktion. Norbert kniete nieder. Der Mann lag in merkwürdig verkrümmter Haltung auf dem Bauch. Norbert fasste eine Hand, suchte nach dem Puls, fand keinen Puls, schaute auf den blutigen und zerfetzten Hinterkopf und beschloss, mit seinem neuen Handy die 110 zu wählen. Mit zittrigen Beinen wankte er die Treppenstufen hinunter. Rocky tänzelte unruhig am Fuß des Turms.
»Mann, Rocky. So ein Scheiß.« Norbert Jörres setzte sich auf die unterste Stufe. Er lallte in sein Handy. Die Wache in Kreuzau hatte Mühe, ihn bei diesem instabilen Netz überhaupt zu verstehen. Toter Mann, Krawutschketurm, Bergstein, Blut und sein Name. Er sei Rocky Jörres, ähm, Norbert Jörres, Rocky sei der Hund, der da die ganze Zeit bellt. Oberkommissar Heinen, Wachleiter in Kreuzau, runzelte die Stirn. Schließlich schickte er Kommissarin Holz und Hauptwachtmeister Dillinger hinauf nach Bergstein. Mal nachsehen, wie er sagte.
Was wird aus meinem Leben? Kriminalkommissar Fett stellte sich diese Frage gegen 5.30 Uhr an diesem Montagmorgen. Wie sieht meine Bilanz aus? Soll und Haben? Mörder gefasst, Sicherheit geleistet, Dienst an der Gesellschaft. Er blinzelte durch die Jalousien in Richtung Osten. Alles dunkel. Aachen schlief noch. Er sprang aus dem Bett. Ab in die Dusche. Weg mit den ewigen Fragen. Eine neue Woche. Noch 15 Tage bis Heiligabend. Zeit, um die Akten zu sortieren. So kurz vor Weihnachten passierten rein statistisch kaum noch Kapitalverbrechen. Eher an Weihnachten und kurz danach, wenn sich die Familien zu nahekommen. Es sollte anders kommen. Doch noch ahnte Kommissar Michael Fett nichts davon.
Draußen nieselte der Regen auf die Gebäude der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen gegenüber seiner Wohnung am Templergraben in Aachen. Ein grauer Dezembermorgen. Um 6 Uhr telefonierte er mit Iska Sonntag. Seine entfernte Freundin, Leiterin eines SEK-Teams, war nach Auflösung der Einheit in Bonn mit ihren Männern nach Köln versetzt worden. Drei Spezialeinsatzkommandos und zwei Mobile Einsatzkommandos waren in Köln konzentriert. Sie mussten sowohl nach Bonn als auch nach Aachen zu besonderen Einsätzen. Schießtraining stand heute auf ihrem Programm. Sie würde mit ihrem Team zunächst im Kino und danach auf dem Stand trainieren. Heute keine Clans, keine Aktivisten in Hambach, keine Reichsbürger mit Waffensammlung, schwerbewaffnete Rockerbanden oder messerstechende Folterknechte. Einfach nur Schießtraining.
»Müsste auch mal wieder«, sagte Michael Fett.
»Komm rüber. Ich zeig dir, wie du triffst. Mit der Waffe.«
»Herzschuss. Hast du ja erreicht bei mir. Zum Glück hab’ ich überlebt. Ganz neu in der Polizeigeschichte.«
»Die müssen gepflegt werden, die Herzschüsse.«
»I know.«
»Deine Mörder haben Vorrang.«
»Ich bin nun mal der weiße Ritter von Aachen.«
»Gab es den? Oder spielst du Karl den Großen?«
»An den kommt keiner ran. Fünf Frauen und 20 Gespielinnen, genannt Friedelfrauen.«
»Na bitte. Männer denken zuerst an die Erfolgsgeschichte beim schönen Geschlecht.«
»So war das nicht gemeint.«
»Komm, komm. Ihr seid in dem Oche alle neidisch auf Karl. Friedelfrauen. Woher hast du den Begriff?«
»Erwähnte der Historiker Professor Kerner in einem Vortrag über Karl. Das waren Geliebte, aber mit mehr Rechten als eine Küchenmagd, die sich der Karl am Grill geschnappt hat.«
»Scheint dich ja mächtig zu interessieren.«
»Der Karl. Ja klar. Ich schau aus der Küche auf die Spitze des Rathauses, dahinter der Dom. In Bonn kannst du ja über die Loreley nachdenken. Wo du auftauchst, entstehen Auffahrunfälle.«
»Na, na, Kommissar Fett. Kommt jetzt der Themenwechsel von MeToo-Karl zum Werbeblock?«
»Ist eben so. Bei jedem Treffen mit SEK-Kollegen schwärmen sie von der Kölner Amazone, und manche kennen dich aus Bonner Zeiten. Den Rest verrate ich nicht, sonst steigt es dir zu Kopf.«
»Mehr davon, mein Lieber. Das sind die reinsten Herztreffer.«
»Deine Klugheit und deinen Witz loben sie. Du seist jedoch eine harte Nummer.«
»Bin halt keine Friedelfrau oder Kebse.«
»Kebse, du kennst dich aus. – Mein Kaffee wird kalt.«
»Lenk nicht ab. Sag mir was Schönes für den Tag.«
»Du bist ein Augenstern. Ein Geschenk der germanischen Götter an den Vater Rhein. Der Schatz der Nibelungen.«
»You make my day, Monsieur Fett. Auf zum Kaffee, sonst hast du schlechte Laune. Und lass uns bald mal das Weihnachtsprogramm besprechen.«
»Du kennst mich, immer auf den letzten Moment. Ciao, Bella. Wir telefonieren.« Fett legte auf und dachte an Theresa Rosenthal, Mordkommission Köln, mit der er einen Fall gemeinsam gelöst hatte, an das gemeinsame Lachen. Er atmete tief ein, schaute in den Spiegel, prüfte die Rasur, die grauen Haarsträhnen und verdrängte die Grübeleien. In der Küche füllte er frisches Wasser in die Kaffeemaschine. Marmelade, Vollkornbrot, Mineralwasser. Die Kaffeemaschine mahlte drauf los. Heute kein Befehl zum Entkalken, Reinigen, Schale Leeren. Er hasste die Befehle der Kaffeemaschine und sehnte sich nach der alten Filterkaffeemaschine zurück. Fluch der Technik.
Um 7.30 Uhr war Fett im neuen Präsidium in Aachen-Brand, dicht bei der Automeile und der Autobahnauffahrt auf die A44. Lagebesprechung, neueste Infos vom Innenministerium. Rüschendonk, Leitender Kriminaldirektor, wollte alle Kommissariate gemeinsam betanken. Im Besprechungsraum traf Fett auf die Kollegen. Er setzte sich in die letzte Reihe. Schmelzer war wieder zu spät. Vom Steppenberg nach Aachen-Brand musste er über den Außenring fahren. Der war morgens zu. Oder er hatte einen Termin bei der Klassenlehrerin von Sohn Justus, der gerade auf dem Kaiser-Karls-Gymnasium eingeschult worden war. Wieder war Schmelzer bei der Lehrerin an eine überzeugte Veganerin geraten, humorlos und mit Lastenfahrrad. Die Chemie würde er nie hinbekommen.
»Morgen, Kolleginnen und Kollegen«, rief Rüschendonk in die Runde. Alle murmelten etwas, das nach »Morgen« oder »Moin« klang.
Rüschendonk klopfte auf das Mikro, die Gespräche verstummten. Mit hartem Blick fixierte er die Frauen und Männer vor sich. Er war bekannt für knackige Ansagen. »Vom Innenministerium Bund und Innenministerium Land über BKA und LKA kommt folgende Lageeinschätzung zu mehreren Gefährdungspunkten. Vertraulich. Brauche ich nicht zu erwähnen. Für uns gibt es Aspekte, die mit Blick auf Aachen bedeutsam sind. Erstens sind wir eine Grenzstadt. Offene Grenzen zu Belgien und den Niederlanden. Zweitens sind wir Universitätsstadt. Knotenpunkt für Strömungen des linken und partiell identitären Lagers. Drittens haben wir mit rechtsradikalen Gruppierungen Erfahrungen. Denken Sie an die Wiking-Jugend bei Stolberg. Viertens sind wir verantwortlich für Hambach. Fünftens haben wir im April 2019 die erste europaweite Fridays for Future-Demo abgewickelt. Sechstens. Wir widmen uns ungelösten Fällen mit neuen Methoden. Die ungeklärten Morde können durch neue Methoden bei der DNA-Analyse geklärt werden.« Er schaute auf seine Kollegen und fuhr fort. »Nun zu den einzelnen Punkten, die ich Ihnen vortrage, damit sie bei aktuellen Fällen diese Folie drüberlegen können. Wir beobachten neue Flüchtlingsrouten. Die Lage in den Camps in Griechenland und auf den Inseln ist katastrophal. Zum Winter erreicht uns eine erste Welle, im Frühjahr steigt die Zahl. Es werden nicht nur Flüchtlinge eintreffen. Auch Terroristen, Folterknechte, Personen, die keine Ahnung vom Grundgesetz, Deutschland, Bildung haben. Minderjährige und solche, die sich als Minderjährige ausgeben. Wir müssen außerdem die regionale Salafistenszene im Blick behalten, das sind die mit den kurzen Hosen und langen Bärten. Zum Teil im Umfeld der Hochschule.« Er wechselte das Blatt und kam zum nächsten Punkt.
»Zweitens. Im Unispektrum tummeln sich identitäre und linksextreme Gruppen. Die Identitären haben Kontakt zu alten Nazis. Kollege Fett und Kollegin Ventzke vom Staatsschutz können ein Lied davon singen. Wir beobachten zunehmend Aktivitäten. Aggressives Auftreten in der Hooliganszene, Militanz gegen linke Gruppen, gezielte Provokationen gegen grüne und linke Politiker bis hin zu Listen mit deren Namen und Adressen. Die linksautonomen Gruppen verbünden sich zunehmend mit den Aktivisten in Hambach und suchen den Kontakt zu Fridays for Future. Als Trittbrettfahrer springen sie auf den Umwelt- und Klimazug auf, infiltrieren die Organisationen und drehen sie um. Ziel: Abschaffung unseres Systems, unserer Demokratie, Anarchie und irgendeine Form von Sozialismus, die keiner bis jetzt gesehen hat.« Manche Kollegen nickten zustimmend. Sie hatten Erfahrung mit Hambach und waren geschockt über die Gewalt und Brutalität. Rüschendonk fuhr fort: »Die Linksextremen nennen sich verniedlichend Aktivisten, sind ultrabrutal und gewaltbereit, vermischen sich mit den Klimaclowns, Extinction Rebellion, und legen es systematisch auf Rechtsbrüche an. Ziel: Störung des Rechtsempfindens der Bürger. Die Bürger sollen das Zutrauen in den Staat verlieren. Die Gesellschaft soll sich radikalisieren, über Klimaschutz, Klimaflüchtlinge und Kapitalismuskritik wollen sie den Systemwechsel erreichen. Medial stehen sie besser da als die Rechtsradikalen. Die Linken verfügen über Sympathisanten auf allen Ebenen. Der Kampf gegen rechte Gruppen verdeckt den Extremismus der Linksextremen. Das alles finden Sie im studentischen Umfeld mit Ausfransungen zu den Antifaschisten, die beim 9. November an die Reichspogromnacht erinnern und zugleich BDS unterstützen, diesen antisemitischen Verein, der Israel von der Landkarte verschwinden lassen möchte. BDS hat Kontakte in die Friedensszene und in die Kulturszene. Wir müssen bei Veranstaltungen dieser Organisation mit dem Verbrennen von Israelflaggen rechnen. Da schreiten wir sofort ein. Wir dulden keinen Antisemitismus, der unter dem Deckmantel der Israel-Kritik und der Meinungsfreiheit in die Öffentlichkeit drängt. Verstanden?« Die Leitungskräfte nickten.
Rüschendonk fuhr fort: »In Hambach erwarten wir im Frühjahr neue Aktivitäten. Die Linksextremen brauchen Öffentlichkeit wie Fische das Wasser. In der Politik ist vor dem Kohlekompromiss keine klare Linie zu erkennen. Das werden unsere Freunde ausnutzen. Sie werden auch auf die Dörfer bei Erkelenz ausweichen, falls Hambach nicht abgebaggert wird. Die Militanz wird zunehmen. Das Megathema Klima spielt ihnen in die Hände. Die Radikalität in der Berliner Szene wird in andere Städte überschwappen: Anschläge auf SUVs, Blockade von Kreuzungen und Flughäfen, militante Tierschützer, militante Baumschützer, militante Radfahrer. Für den Ausbau des Flugplatzes Aachen-Merzbrück erwarte ich Störungen aus der militanten Umweltszene. Sollte der Staatsschutz auf der Agenda haben. Und bei vielen Protestformen: Instrumentalisierung von Kindern nicht zu vergessen. Der Zweck heiligt die Mittel. Lückenlose Aufklärung und Beweisführung ist wichtig, sonst sitzen wir auf der Anklagebank.«
»Sitzen wir eh!« Ein Zwischenruf von Reinhard Fuchs, Leiter der Einsatzhundertschaft.
Rüschendonk griff das auf: »Kollege Fuchs, Ihren Frust kann ich verstehen. Habe selbst jahrelang eine Einsatzhundertschaft geführt. Wir vertreten das Recht und werden uns nicht provozieren lassen. Dokumentationstrupps immer dabei. Klare Ansagen, keine Gewalt, wir tragen die Damen und Herren Umweltschützer aus dem Wald, wenn es sein muss. Damit komme ich nochmal zu Fridays. Zurzeit sind die Demos friedlich. Das kann sich schnell ändern. Wir haben Informationen über die Verbindung zwischen Fridays, Schwarzem Block, Resten von Occupy Now, Extinction Rebellion und militanten Tierschützern. Erwarten Sie nicht Blumen bei den nächsten Demos. Je unzufriedener die Masse der Demonstranten mit den politischen Ergebnissen in Sachen Klimaschutz ist, desto schneller wächst das Aggressionspotenzial. Wenn Windradgegner als Taliban bezeichnet werden, lädt sich die Stimmung weiter auf. Und zum Schluss: Die Kolleginnen und Kollegen, die bisher mit Missbrauchsfällen beschäftigt sind, mit ungeklärten Morden, die bekommen Unterstützung. Nach bisherigen Erkenntnissen schwappt eine Welle von Missbrauchsfällen aus den gesellschaftlichen Großbereichen Sport, Karneval, Jugendfreizeit, Jugendheimen auf uns zu. Die Kirchen waren nur der Anfang. Auch bei den Pflegeeltern, den Waisenhäusern, den Erziehungsanstalten wird in die Akten geschaut. Da ist vieles verjährt, anderes nicht. Die Kommissariate werden dazu eine besondere Schulung bekommen. Wir haben Aussagen, dass gerade im Karneval und bei der Jugendbetreuung weggeschaut wurde. Auch in den Sportvereinen soll es in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren zu zahllosen Missbrauchsfällen gekommen sein. Niemand wollte den Kindern glauben. Trainer, Priester, Prinzen und Karnevalspräsidenten waren angesehene Autoritätspersonen. Die Kleingartenanlagen mit ihren gemauerten Wochenendhäusern sollen Unterschlupf geboten haben. Mit diesen dunklen Informationen entlasse ich Sie in den Montag. Fragen?«
Die Polizisten sprachen miteinander, wirkten nachdenklich.
»Fellhofer, Stichwort Intensivtäter. Unsere jugendliche Klientel reist weiterhin über die Schiene oder mit Bussen ein. Wann wird die Bundespolizei zwecks Grenzcheck die Sollstärke erreichen?«
»Keine Ahnung, Kollege. Momentan werden Kräfte in Bayern zusammengezogen, da dort über den Balkan mehr illegale Grenzübertritte vorkommen. Wir bleiben dran. Nächste Frage?«
Zugführer Danino von der Einsatzhundertschaft meldete sich: »Wann werden wir das Camp in Hambach aufsuchen? Der Gerichtsbeschluss ist eindeutig. Camp ist nichts rechtskonform.«
»Lieber Kollege, rufen Sie mal in der Staatskanzlei an. Die wissen mehr. Nächste Frage.« Die Polizisten lächelten resigniert. Seit Jahren Rechtsbrüche, verletzte Beamte, zunehmende Gewalt, reisende Täter. Und sie durften im Camp nicht einmal Personenfeststellungen durchführen.
Rüschendonk bat um Ruhe. »Ich komme zum Schluss. Wir unterstützen heute Mittag und heute Nacht mit der Einsatzhundertschaft die Bundespolizei am Hauptbahnhof. Fußballfans von Red Bull Salzburg reisen bis Hauptbahnhof und von Aachen aus mit Bussen weiter nach Genk, Belgien. Spiel um 21 Uhr. Im Anschluss voraussichtlich Rückkehr und Sonderzug von Aachen nach Salzburg in der Nacht. Fragen?« Rüschendonk blickte in die Runde.
Schmelzer schlich durch die Tür, suchte Fett, sah ihn leicht dösend und schlich zwischen den Kollegen zu seinem Chef.
»Ein Toter in Bergstein auf dem Krawutschketurm. Soll übel aussehen«, flüsterte Schmelzer ihm ins Ohr.
»Keine besseren Botschaften? Rüschendonk reicht mir schon«, maulte Fett.
»Der Tote trägt keine Schuld. Wir müssen hin. Kriminaltechnik ist bereits vor Ort. Der Medizinmann hat den Tod bestätigt.«
Rüschendonk beendete seinen Lagevortrag und entließ die Führungskräfte in einen kalten und grauen Montag, so grau wie der Himmel über dem Krawutschketurm.
Kurz vor 10 Uhr trafen Fett und Schmelzer an der Kirche in Bergstein ein. Sie fuhren zum Parkplatz, von dem man auf den Stausee von Obermaubach schaute. Der dunkelrote VW-Bully der Kriminaltechnik parkte kurz hinter der Schranke am Aufgang zum Burgberg. Ein Streifenwagen stand am Seitenrand. Fett zog die schwarze Dockermütze über die Ohren, Schmelzer war eingemummelt in seine Funktionsjacke.
»Was wissen wir, Schmelzer?«
Schmelzer schaute auf sein Handy und las die Nachricht der KTU: »Alter Mann auf der obersten Plattform des Krawutschketurms. Kopfschuss und Messerstiche. Eugen Kaltenbach, 75, alleinstehend, aus Bergstein. Besaß einen Bauernhof. Hatte alles verpachtet. Frau vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Vermutlich in der Früh umgebracht worden. Keine Kinder. Gefunden von einem Rentner aus Bergstein, der morgens hier seine Runde drehte.«
»Senile Bettflucht. Die können morgens nicht bis 8 Uhr abwarten.«
»Der Rentner hat einen Hund. Da muss man morgens raus. Der Hund hat den Toten gefunden.«
»Ja, oder vor der Alten flüchten.«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Auf die Alte und den Hund. Übrigens hat er eine Fahne.«
»Wer, der Hund? Trinken die jetzt auch?«
»Nicht der Hund, der Hundebesitzer, dieser, na, dieser Norbert Jörres.«
»Frühtrinker. Hatte bestimmt Stress mit seiner Frau. Oder Witwer?«
»Nein, kein Witwer. Nur kalt.«
»Kalter Witwer?«
»Er hat wegen der Kälte getrunken, Chef.«
»Stimmt. Ich auch. Allerdings Kaffee.«
»Wo müssen wir lang, Herr Fett?«
»Hier, den kurzen und steilen Weg. Kenne ich.«
»Woher?«
»Damals. Segelflug in Bergstein. Manchmal sind wir hier gewesen. Wenn das Wetter nicht passte oder um die Aussicht zu genießen oder nahe am Himmel zu sein.«
Sie stapften den mittleren Weg hinauf, der steil in Richtung Krawutschketurm führte. Das gefallene Laub roch vermodert. Überall Einbuchtungen im Boden, abgebrochene Äste. Sie passierten das Kreuz für einen gefallenen US-Soldaten. Aus den Augenwinkeln sah Fett, dass eine Kerze brannte. Schmelzer rutschte auf seinen Sommerschuhen ständig aus. »Anne hat mir die falschen Schuhe rausgestellt. Irgendwelche handgenähten Ökoschuhe aus Afrika. So ein Käse.«
»Bestimmt sie auch Ihre Schuhe? Ich dachte, nur das Essen«, grinste Fett.
»Das auch. Wahrscheinlich muss ich bald barfuß latschen, zur Abhärtung oder weil irgendein Jogi das so macht.« Schmelzer keuchte. Leberkäs- und Streuselbrötchen machten sich konditionell bemerkbar. Endlich erreichten sie die Höhe und begrüßten die Kollegen aus Kreuzau.
»Kennen wir uns nicht von dem Fall in Obermaubach?«, fragte Fett.
Holz antwortete kurz und bündig: »Moin, ne, das waren andere Kollegen. Mein Name ist Holz, und drüben steht Kollegin Dillinger bei Herrn Jörres. Der hat die Leiche gefunden. Das heißt, sein Hund Rocky, der Dobermann. Außerdem hat der ordentlich geschluckt am frühen Morgen.«
»Der Hund?«
»Das fehlte noch, nein, der Jörres. Glaube nicht, dass er der Täter war.«
»Fürs Glauben ist der liebe Gott zuständig. Vielleicht weiß der Hund mehr. Fett und Schmelzer aus Aachen«, sagte Fett mit Blick auf den Kollegen aus Kreuzau.
»Sie, mit dem Drops auf dem Kopf, sind Kommissar Fett?«
»Drops auf dem Kopf? Das ist eine Dockermütze von New Yorker Hafenarbeitern.«
»Passt zum Rursee. Ahoi, die Herren. Wir stehen hier, um die Massen fernzuhalten, die gleich den Krawutschketurm stürmen werden.«
Hatte Rocky auf das Stichwort gewartet? Er bellte los, als ob 1000 Hasen über den Burgberg flitzen würden.
»Aus, Rocky! Aus!«
Jörres verschaffte den Ermittlern eine kurze Rocky-Pause. Fett schaute hoch zum Turm. Er erspähte die in weiße Overalls gekleideten Kollegen von der Kriminaltechnik.
»Schmelzer, versuchen Sie es mit dem betrunkenen Dobermannbesitzer. Ich klettere auf den Turm. Es wird eng da oben. Sie können nach mir hoch. Oder auch nicht.«
Fett passierte die Markierung der Blutlache am Fuß der Treppe und stieg die Metallstufen empor. Weitere Fahnen kennzeichneten vereinzelte Tropfen. Er blieb auf der letzten Stufe stehen und schaute auf den Toten.
»Moin, Herr Fett. Schöne Aussicht hier oben. Nur nicht für den da. Kopfschuss von vorne in die Stirn über der Nasenwurzel. Hinten ausgetreten. War sofort tot. Die sieben Messerstiche in die Brust brauchte es nicht mehr.« Kollegin Elke Unsleber leitete an diesem Tag die Kriminaltechnik. Ihre Aussagen waren belastbar. Ihr trockener Humor ansteckend. Sie engagierte sich im Umweltschutz, kam mit dem Rad zum Polizeipräsidium. Ohne Akku natürlich. Kurze braune Haare, trainierter Körper, grüne Augen, fester Gang, selbstbewusst. Fett musste sich konzentrieren.
»Todeszeitpunkt?«
»In der Früh. Heute Morgen.«
»Hell oder dunkel?«
»Der Schuss? Ich vermute vor Sonnenaufgang.«
»Nähe?«
»Nicht aufgesetzt. Keine Schmauchspuren und keine Kampfspuren. Nichts. Der muss von unten erwischt worden sein.«
»Tödlicher Schuss aus der Umgebung. Danach steigt der Täter, wenn es nur einer war, auf den Turm und versetzt ihm etliche Stiche?«
»Ja. Zuerst der Schuss, im Anschluss die Stiche. Sonst hätten wir nicht die Blutspritzer auf dem Geländer. Schuss, Täter klettert hoch, sieben Stiche, dreht ihn um, so sehen wir die Stiche nicht sofort. Und er ist nicht durch das Blut gelatscht wie der Frühtrinker da unten, denn der hat Blut an den Schuhen. Den können Sie vergessen. Der hat bestimmt 1,5 Promille.«
»Diese Early Bird Säufer sind mir die liebsten«, schwärmte Fett. »Sie reden so poetisch. Kann ich mir den Toten ansehen?«
»Noch eine Minute. Letzte Aufnahmen.«
Kommissarin Unsleber zeigte auf verschiedene Punkte, und eine Kollegin fotografierte. Kollege Sonanini sammelte das Besteck seines Tatortkoffers ein und nahm an Fett vorbei den Weg nach unten.
»Haben Sie seine Papiere gefunden?«, fragte Fett.
»Ja. Fast vergessen. Hatte der 75-Jährige dankenswerterweise dabei. Eugen Kaltenbach aus Bergstein. Geboren 1944.«
Unsleber reichte Fett den Personalausweis in einer Plastiktüte.
Fett betrachtete den Toten, das Einschussloch über der Nasenwurzel, die sieben Stiche durch den Mantel in die Brust. Eugen Kaltenbach starb mit 75 Jahren auf dem Krawutschketurm. Was soll das alles, dachte Fett.
»Können Sie grob sagen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen ist?«
»Wir werden es am Computer simulieren«, versprach Unsleber. »Augenscheinlich stand Kaltenbach hier, neben der Infotafel in Richtung Vossenack, mit Blick über Bergstein in Richtung Westen. Die Blutspritzer auf dem Geländer und der Aufschlagpunkt auf der Plattform deuten darauf hin. Der Schuss muss von schräg unten gekommen sein. Quasi voll auf die Zwölf, klingt makaber, ist aber so. Wir untersuchen den Bereich dort unten gleich genauer.« Sie zeigte auf einen Graben, der sich in westlicher Richtung von Bunkerresten nach Norden zog.
»In der Dunkelheit eine Meisterleistung, den Alten zu erwischen.«
»Guter Schütze oder Schützin. Wir sehen uns das gleich unten an. Vielleicht finden wir eine Patronenhülse. Dafür brauchen wir den Metalldetektor. Übrigens kein großes Kaliber, Jagdwaffe oder so. Die Kugel ist allerdings hinten raus. Die werden wir kaum hier oben finden. Die Kölner Rechtsmediziner sollen den Schusskanal untersuchen. Jedenfalls sind Fund- und Sterbeort identisch.«
Eugen Kaltenbach. Kein typischer Name für die Region, befand Fett. Unten am Turm waren die ständigen Begleiter der Mordkommission eingetroffen, die dunklen Sargträger des lokalen Beerdigungsinstituts Himmelsleiter. Sie würden den Toten in die Rechtsmedizin der Uni Köln schaffen. Aachen besaß keine Rechtsmedizin mehr.
Fett stieg nachdenklich die Stufen hinunter zu Schmelzer, Kaltenbach und Rocky. Auf den Hund hatte er keine Lust. Seit er vor über 40 Jahren von einem Rottweiler angefallen worden war, hielt er sie auf Distanz. Die Hunde merkten, dass Fett sie scheute, rochen seine Angst. Da konnte Herrchen noch so oft rufen »Der will nur spielen!«. Bei Fett endete das Spiel, und die Aggressivität der Kampfhunde brach durch.
»Leinen Sie den Hund an die Sitzbank. Wir müssen mit Ihnen reden«, befahl Fett.
Jörres band einen Behelfsknoten und Rocky setzte sich aufmerksam und mit offener Schnauze auf sein Hinterteil. Er ahnte, dass Herrchen nicht in bester Verfassung war, und würde ihm zur Not mit Leine und Holzlehne der Bank zur Hilfe eilen.
»Wann waren Sie heute Morgen hier am Turm?«
»So gegen 7.30 Uhr ungefähr. Das ist die Zeit für Rocky.«
»Wo wohnen Sie und von wo sind Sie gekommen?«
Zwei Fragen. Das wurde etwas schwieriger für Norbert Jörres. Der Inhalt seines Flachmanns lag im hochprozentigen Bereich. Er fuhr sich nervös und fahrig über die Stirn.
»Bergstein, da drüben und von dort, den gemütlichen Weg bin ich gekommen, nicht den steilen.« Er zeigte auf eine Lücke zwischen den Resten zweier Bunker.
»Haben Sie etwas gehört, ist Ihnen jemand aufgefallen?«
»Nee, nichts. Und Rocky bellt ja hinter jedem Kaninchen her.«
»Wie sind Sie auf den Toten aufmerksam geworden?«
»Rocky, der bellte mehr als sonst. Hat das Blut entdeckt und wollte unbedingt auf den Turm. Ich geh manchmal hoch, weil die Aussicht so schön ist. Dann sah ich die Bluttropfen. Könnten ja auch von einem Tier stammen. Hier sind viele Tiere, nicht nur ich und Rocky, ab und an Wildschweine und Rehe und Füchse …«
»Halten Sie keinen Vortrag über Rotwild.« Fett wurde ungeduldig mit dem sichtlich angetrunkenen Mann. »Was ist Ihnen aufgefallen? Reißen Sie sich zusammen, Mann. Sonst nehmen wir eine Blutprobe.«
Jörres zuckte. So hatte lange niemand mehr mit ihm geredet. Zuletzt sein Frühstücksdirektor, der einmal pro Woche von Düren zur Filiale nach Kleinhau gefahren kam.
»Sind Sie schwerhörig?«, ermahnte Fett.
»Nein, nein, nein. Nichts, ich habe nichts gesehen und gehört. Nur den Toten da oben, den habe ich gesehen. Dann habe ich angerufen, Herr Kommissar.«
»Wir müssen den Hund ins Tierheim geben. Alkoholiker dürfen keine Hunde halten.«
»Bitte, Herr Kommissar. Rocky ist alles, was ich habe. Mit wem soll ich denn sonst reden?«
»Mit mir und mit Frauchen.«
»Ich weiß nix. Ich geh hier rum, sehe den Toten und ruf die Polizei. Und kalt ist mir auch. Ist ja nicht verboten, was gegen die Kälte zu tun. Oder?« Norbert Jörres geriet trotz der Frische des Tages ins Schwitzen.
»Sagt Ihnen der Name Eugen Kaltenbach etwas?«
»Kaltenbach. Ja. Eugen Kaltenbach. Ein Stinkstiefel. Ist der das da oben?« Jörres hob das Kinn leicht in Richtung Turm.
»Warum ein Stinkstiefel?«
»Der hat Ärger gehabt und Ärger gemacht. Alle hassten ihn. Fragen Sie doch rum. Mehr sag ich nicht. Fragen Sie die anderen im Dorf.«
»Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Rocky auch. Und schlafen Sie Ihren Rausch aus.« Fett hatte genug von dem Alkoholiker.
»Rocky, komm!« Herr und Hund machten sich nachdenklich auf den Weg zurück nach Bergstein. Was der Hund dachte, wusste niemand. Norbert Jörres überlegte, dass er bei der nächsten Leiche einfach die Klappe halten würde. Er sehnte sich nach seinem Hobbykeller und der Flasche Wodka im Werkzeugschränkchen neben der Laubsäge.
»Schmelzer, gehen Sie mit Holz und Dillinger zu den Häusern am Ortsrand«, befahl Fett. »Vielleicht hat jemand was gehört oder gesehen. Ich bleib bei Frau Unsleber. Die prüft die möglichen Positionen, aus denen geschossen worden sein könnte.«
»Positionen prüfen. Na dann. Viel Vergnügen. Dafür hab’ ich eh nicht die richtigen Schuhe an.«
Kollegin Unsleber stakste bereits wie ein Storch im weißen Overall durch das Unterholz in einem Graben nahe des Krawutschketurms. Immer wieder blickte sie hoch zum Turm, wo ein Kriminaltechniker an der Brüstung stand. Sie legte an, als ob sie ein Gewehr halte, und zielte auf den Kollegen. Der warf die Spule mit einer dünnen roten Schnur zu ihr hinunter. Sie schritt vorsichtig damit weiter bergab bis zu einer Vertiefung. Dort aus der Kuhle, vielleicht ein Bomben- oder Granattrichter, von dort musste der Schuss erfolgt sein. Die Schnur war gespannt. Der Polizist auf dem Turm hielt sie in Höhe des Kopfs vom Toten an der Stelle auf dem Turm, wo er gestanden haben musste.
»Was gefunden?« Fett stand am Turm, um nicht Spuren zu zertreten,
»Der Täter muss von hier geschossen haben.« Sie zeigte in Richtung des Kollegen. »Keine brauchbaren Spuren.«
Super, dachte Fett. Ein toter Senior, ein betrunkener Senior, ein nüchterner Dobermann. Alles super an diesem Montagmorgen am Krawutschketurm. Frohe Weihnachten. Er betrachtete die Infotafel am Turmaufstieg, las die Geschichte, wartete auf Elke Unsleber.
»Wir prüfen alles. Es sieht nicht gut aus.« Elke Unsleber schwitzte unter dem Overall.
Ihre Sommersprossen mochte Fett. Er hatte sie häufig an Tatorten beobachtet. Sie behielt den Überblick und gab entscheidende Tipps. Nur heute war Essig.
»Sieben Stiche, Schuss in die Stirn, mitten zwischen die Augen. Muss ein guter Schütze gewesen sein.« Fett schaute die Kollegin fragend an.
»Bestimmt. Die Kriminalmedizin soll auf den Schusskanal achten. Sagte ich bereits. Kaliber neun Millimeter war es nicht.«