Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Feuerwerk auf der Annakirmes in Düren. Eine mysteriöse Nachricht lockt den 88-jährigen Alexander Rütters in die Geisterbahn. Die Fahrt endet tödlich und der Aachener Kommissar Fett nimmt die Ermittlungen auf. Spuren führen zu einem Beinahe-GAU der Kernforschungsanlage Jülich und zu dubiosen Immobiliengeschäften um ein Wasserkraftwerk am Rursee. Oder wurde Rütters doch noch von seiner Kriegsvergangenheit eingeholt? Die geheimnisvolle Marie Utzerath weiß mehr. Und plötzlich kommt auch noch der belgische Geheimdienst ins Spiel. Viele Schatten - wenig Licht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 241
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Olaf Müller
Rurschatten
Kriminalroman
Das Grauen fließt mit Feuerwerk auf der Annakirmes in Düren. Eine mysteriöse Nachricht lockt den 88-jährigen Alexander Rütters in die Geisterbahn – doch die Fahrt endet tödlich. Die Aachener Kommissare Fett und Schmelzer nehmen die Ermittlungen auf. Der Papierfabrikant Rütters lebte in einer Seniorenresidenz, wo es zu Unregelmäßigkeiten kam. Andere Spuren führen zum Camp Vogelsang, zu einem Beinahe-GAU der Kernforschungsanlage Jülich und zu dubiosen Immobiliengeschäften um ein Wasserkraftwerk am Rursee. Oder wurde Rütters doch noch von seiner Kriegsvergangenheit eingeholt? Die geheimnisvolle Marie Utzerath weiß mehr. Sie ist die uneheliche Tochter einer flämischen Widerstandskämpferin, die im Krieg als Zwangsarbeiterin bei Rütters arbeitete. Und plötzlich kommt auch noch der belgische Geheimdienst ins Spiel. Die Kommissare Fett und Schmelzer können nur durch die Zusammenarbeit mit den Kollegen Didier und Kalumba in Lüttich den grenzüberschreitenden Fall entwirren. Die vier Ermittler stoßen auf Staatsgeheimnisse, nähern sich dem Mörder – und den Schatten der Vergangenheit.
Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien sowie Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Olaf Müller hält Vorträge u.a. zum Thema Heimat und Identität. Als Segelflieger kennt er die Eifel aus der Luft. „Allerseelenschlacht“ ist sein zweiter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag nach „Rurschatten“.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
An die Fliegerin Liesel Bach, geboren in Bonn, eine der erfolgreichsten Kunstfliegerinnen zwischen 1930 und 1970, wird in diesem Roman erinnert. Nachfahren konnten nicht ausfindig gemacht werden.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © fotofreakdgy / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5830-9
Für meinen Sohn Tadeusz, den ersten Zuhörer …
»Zacki, zacki, zacki, zacki! Neue Fahrt, neues Glück! Kommen Sie ran hier. Das macht Freude, das macht Spaß. Sie auch, junger Mann mit Basecap. Ran hier! Das geht ab. Heute auch ohne Viagra. Alsoooooooo! Jetzt geht’s loooooos hier! Ou-ou-ou-ou-ou-ou-ou. Schöne Maus im Morgenmantel – alles rodscha in Kambodscha? Let’s go, baby!«
Die Anheizer auf der Jaguarbahn und dem »Goldenen Looping« gaben an diesem Abend Vollgas.
Das Feuerwerk raste seinem Höhepunkt zu. Immer am Freitagabend der Annakirmes explodieren die Raketen und erleuchten den Himmel über Düren: Annaoktav, Annakirmes, Rummel. Eine Million Besucher. Und am Freitag kommen alle. Alle aus Düren, Kreuzau, Langerwehe, Heimbach, Merzenich und Nörvenich, Jakobwüllesheim und Jülich, aus Schlich und Weisweiler und manche auch aus Aachen und Köln.
Düren – Wirtschaftsgeografen, sogenannte Citymanager, alle, die irgendwas mit Marketing, Handel, Wandel zu tun haben, würden diese Stadt als ein Mittelzentrum bezeichnen, in der Mitte gelegen eben. In ihrem Englisch für Newcomer nennen sie es »In-between«. Düren liegt in der Mitte des Weges von Köln nach Aachen und umgekehrt. Diese Dürener Kirmes hat eine ziemlich große Geschichte, die etwas mit dem Diebstahl des Anna-Reliquiars im Jahre 1500 zu tun hat. In Mainz entwendet, gelangte die Reliquie nach Düren. Und zu Ehren des Annahauptes wurden ab 1510 jährliche Wallfahrten durchgeführt. Daraus ging die Kirmes hervor. Wer bei dieser Kirmes an Schießbude, Bierzelt und Kinderkarussell denkt, der liegt falsch. Manchmal dreht sich ein fünffach Looping, die Boxbude mit dem legendären Ostzonenmeister kam bis zum Fall der Mauer regelmäßig. »Steile Wand«, Geisterbahnen und »Hau-den-Lukas« tauchen immer auf.
Düren: Die Stadt wurde im November 1944 total ausradiert. Neben der Annakirmes ist Düren heute bekannt für ein ansehnliches Kunstmuseum, den Brandbomben knapp entkommen, ein Papiermuseum fürs Papier, das Erzeugnis, dem Düren den Wohlstand früherer Zeiten verdankt, einige bekannte Fußballspieler (Karl-Heinz Schnellinger und Schumacher Toni). Früher konnte man in Düren sogar in den D-Zug Paris-Moskau einsteigen. Heute halten nur noch Regionalzüge und die Bimmelbahn nach Heimbach und Linnich. Dies sind, kurz gesagt, die Besonderheiten. Vielleicht noch der Badesee. Düren, das Tor zur Eifel: Nur hat niemand dafür einen Schlüssel, und Hotels gibt es auch nur eins. Düren also ist bekannt durch die Annakirmes, das größte Volksfest dieser In-between-Region.
Im Polizeipräsidium in Aachen schob Kriminalhauptkommissar Michael Fett die Spätschicht der Mordkommission. Keine besonderen Vorkommnisse. Im Westen nichts Neues, dachte er beim Sortieren der Akten. Kein Spiel von »Alemannia«. Keine Rockerkriege, höchstens Beziehungstaten. Könnte ruhig werden. Könnte.
Aachen ist seit zehn Jahren für die Kriminalfälle in der Region zuständig. Tote Gyrosverkäufer, Mord unter Eheleuten, schlimm die Fälle mit Kindern. Daran konnte er sich nie gewöhnen.
In dem Dunst aus Autoscooter-Musik, heute war Oldie-Abend mit »See my Baby Jive«, knallendem »Hau-den-Lukas« und dem Hardcoresound der »Steilen Wand«, trabte das Dreierteam der Polizei Düren über den Annakirmesplatz. 22.15 Uhr. Freitag, 1. August 2008. Traben, na ja. Sie schoben sich freundlich durch die Menge. Für die Songs waren sie zu jung. Die Spritzer von Currywurst, Bier und Backfisch auf den neongelben Jacken kaum zu übersehen. »So ein Tag, so wunderschön wie heute« – grölende Jungmänner bei der »Schwarzwald-Christel«, Backfischmädchen an der Jaguarbahn. Sommerhitze, Alkohol, Fettgebäck, gebrannte Mandeln, Reibekuchen und Bratwurst, verschwitzte Gesichter und schrilles Schreien, dazwischen Sabine Höllerath, Kommissarin, Wolfgang Niebergall, Anwärter und Thomas Weidenpesch, Hauptkommissar. Sie waren von der Menge an diesem warmen Freitag Anfang August 2008 überrascht und schauten in schweißüberströmte Gesichter. Kindern tropfte Eis auf das Shirt, karierte Hemden, knappe Höschen, Tattoos oben, unten, kauende Münder, das Kreischen der Fahrgäste auf der Wildwasserbahn – alle warteten auf das Feuerwerk.
»Wow-wow-wow-wow-wow. Hereinspaziert, immer ran hier an die Bühne. Das geht ab hier, das macht Laune. Männer und Frauen ohne Furcht. Die ›Steile Wand‹. Das ist Spitze, das ist Spannung. Fahrt auf Leben und Tod. Kein Netz, keine doppelte Sicherung. Alles hautnah. Kommen Sie ran hier. Heute auf allen Plätzen drei Euro – Ermäßigung.«
»Bingo-Bingo-Bingo-Bingo-Bingo. Wieder ein Hauptgewinn hier. Wieder ein Original-Alf hier. Wieder 10.000 Punkte. Jetzt die Lose kaufen. Jetzt gewinnen. Mitmachen hier! Keine Nieten. Punkte sammeln. Bong-Bong-Bong. Wieder ein Alf für die süße Maus da vorne.«
Im Geisterschloss klappten die Bügel herunter. Neue Fahrt, neues Glück – eher Horror und Schreck. Das Geisterschloss kam seit 15 Jahren zur Annakirmes. Dauergast. Horror für vier Euro, Kinder bis zwölf die Hälfte. 22.20 Uhr. Die Raketen explodierten, zischten, knatterten: neueste Modelle aus China. Oh und ah. Die Schlangen an den Fahrgeschäften wurden kürzer. Alle schauten in den Himmel. 15 Minuten Feuerwerk. Menschen lieben Spektakel. Die drei Polizisten aus Düren checkten die Biertheken, schauten auf Umhängetaschen, flinke Jugendliche und torkelnde Männer: 22.23 Uhr.
Ruckelnd und zuckelnd kamen die Gondeln aus dem Geisterschloss mit ihren Horrorfratzen. Die meisten Insassen hielten die Hände vor das Gesicht. Für vier Euro Erschrecken. Kopfschütteln, Aufatmen. Weiterer Knall. 22.25 Uhr. Eine Monstergondel krachte durch die Exit-Tür des Geisterschlosses. Nur ein Mann drin. Er liegt schräg im Wagen. Blut im Gesicht. Blut auf dem Sitz. Als der Wagen zum Ausstieg vorfährt, bleibt der Fahrgast liegen. Der junge Mann zum Mitreisen, Mirco aus Rumänien, der schauen muss, ob niemand sich erbrochen hat, und der beim Ausstieg hilft, tippt ihn an die Schulter und springt zurück: »Chefe!«
Der Not-Stopp für die Bahn wurde um 22.26 Uhr gedrückt. Mehrere Passagiere beugten sich über die Gondel mit dem blutenden Passagier. Kurze Schreie. Draußen schoben sich die Massen immer weiter.
»Jemandem ist schlecht geworden. Geld bekommen Sie zurück.« Maria Losen, Inhaberin der Geisterbahn, schickte ihre rumänischen Helfer in die Bahn.
»Alle Lichter an. Störung. Sorry. Kommen Sie. Hier raus. Dort lang«, riefen die Helfer, und die Bahn leerte sich ziemlich schnell, während verspätete Raketen in den Himmel über Düren zischten.
Maria Losen rief die Hauptwache auf dem Kirmesplatz an. Die verständigte per Funk das Dreierteam. Schluss mit lustig. Noch immer knallten letzte Raketen, als um 22.30 Uhr die drei Polizisten an der Gondel auftauchten.
»Kein Puls, Rettungssanitäter kommt schon, nein, kein Puls, Blut am rechten Hinterkopf. Ein Unfall?«
»Nein«, sagte Thomas Weidenpesch, »sieht nicht so aus. Ruft mal in Aachen an.« Ruhig betrachtete er das schwarze Einschussloch am Hinterkopf des alten Mannes.
Um 22.35 Uhr klingelte das Telefon von Hauptkommissar Michael Fett.
»Düren, Annakirmes, toter Mann in einem Wagen der Geisterbahn, Schusswunde am Hinterkopf.«
»Wir kommen.« Fett winkte seinem Kollegen Schmelzer. Sie nahmen ihre Sakkos und liefen zum Dienstwagen. Von der Hubert-Wienen-Straße in Aachen bis zum Annakirmesplatz, fast zum Annakirmesplatz, schafften sie es in 20 Minuten. 180 auf der Autobahn A 4. Heat, dachte Fett. Mit Al Pacino und Robert de Niro. Abfahrt Düren, die Kläranlage stank.
»Düren riecht man immer«, murmelte Kollege Bernd Schmelzer und störte Fett wieder einmal in seinen Gedanken.
In Fetts Kopf lief das Standardprogramm ab. Konzentrier dich, pochte es in seinem Kopf: Annakirmes. Geisterbahn. Ein Mann, angeblich sehr alt, alleine im Wagen, tot, erschossen. Freitagabend. Feuerwerk, alles voll, laut. Warum sitzt ein alter Mann am Freitagabend allein in einer Geisterbahn? Warum nicht? Fett denkt, Kollege Schmelzer lenkt.
»Fahren Sie über die Eisenbahnstraße«, sagte Fett. »Ich kenne mich hier aus. Geht schneller.«
»Verdammt. Wie kommen wir dahin. Tausende Menschen.«
»Stellen Sie den Wagen an der Landwirtschaftsschule ab. Wir laufen. Sonst liegt einer mit gebrannten Mandeln auf der Kühlerhaube.«
22.55 Uhr. Die Geisterbahn ist abgesperrt.
»Wir leiten die Leute um«, sagte Weidenpesch, »bloß keine Panik, das fehlt uns noch.«
»Gut gemacht«, sagte Fett. »Keine Reporter? KTU schon drin?«
»Ja«, antwortete Weidenpesch lakonisch.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Mirco, 23, Rumäne, reist seit drei Jahren mit.«
»Wer ist der Tote?«
»Alexander Rütters, 88 Jahre, aus Düren. Ausweis und Portemonnaie. Er hatte ein Handy für Senioren. Liegt da in der Plastikhülle.«
»Todesursache?«
»Wohl ein Schuss in den rechten Hinterkopf. Was macht ein 88-Jähriger am Feuerwerksfreitag um 22.20 Uhr in der Geisterbahn?« Weidenpesch war irritiert.
»Habt ihr alles abgesucht, gesperrt?«
»Ja, so gut es ging. Hier sind geschätzt 20.000 Menschen unterwegs. Darunter auch der Täter.«
»Der oder die Täter müssen ihn irgendwo da drinnen erwischt haben. Die KTU soll die Stelle suchen, da muss Blut an der Bahn kleben«, sagte Fett leicht genervt von dieser Mischung aus Lärm, Schweiß, Discomusik, »also vor circa 35 Minuten ist es passiert?«
»Gegen 22.25 Uhr. Der wird ja nicht tot in den Wagen gesetzt worden sein. Außerdem ist hier alles voll Blut. Erschossen in der Geisterbahn.« Weidenpesch schüttelte den Kopf. »Lösen Sie eine Ringfahndung aus?«
»Wonach? Wollen Sie 20.000 Menschen kontrollieren? Achten Sie darauf, dass hier alles in Ruhe abläuft. Unfall. Verstanden? Wenn hier das Gerücht über einen Mörder auftaucht, dann rennen sich die Leute über den Haufen. Kein Blaulicht. Der Tote wird hinten raus abtransportiert. Verstanden, Weidenpesch?«
»Ja, Herr Fett.«
»Angehörige? Vermisst den Toten jemand?«
»Moment. Wache, gibt es Vermisstenmeldungen?« Weidenpesch horchte in sein Funkgerät und sprach das Ergebnis nach: »Alexander Rütters, 88, wird von seiner Tochter und dem Schwiegersohn vermisst. Seit 22.30 Uhr. Danke.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Fett.
»Noch auf der Wache.«
»Wir kommen. Danke.«
»Fett, guten Abend. Kripo Aachen. Sie sind die Eheleute Hoven?«
»Ja, meine Frau Anne und ich. Wieso Kripo? Wir vermissen unseren Vater, also meinen Schwiegervater.«
»Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«
»Wir waren so gegen 22.10 Uhr am Bierstand ›Brauweiler‹. Gemeinsam wollten wir das Feuerwerk anschauen. Was ist denn mit Vater?«
»Und dann?«
»Er schaute aufs Handy. Wohl wegen der Uhrzeit. Sagte, dass er kurz noch ein paar Reibekuchen holen wolle. Seitdem vermissen wir ihn. Oder, Anne?«
»Ja. Was ist denn nun?«
»Es tut mir sehr leid. Ihr Vater wurde tot in der Geisterbahn aufgefunden. Vor ungefähr 45 Minuten. Wir ermitteln noch die Ursache. Bitte kommen Sie mit nach nebenan.«
»Wie – tot? Was ist passiert? Das muss eine Verwechslung sein.«
Den Blick der Tochter würde Fett so schnell nicht vergessen. Er sammelte diese Blicke der nahen Verwandten, wenn er den schlimmsten Teil seines Jobs machen musste: den Angehörigen die Todesnachricht überbringen. Auch dann noch musste er sich voll konzentrieren. Gesichter sprechen, Augen sprechen, Gesten sprechen, der ganze Mensch spricht, so hatte es Fett gelernt. Und es stimmte. Hier sprach nur ungläubiges Entsetzen aus den Augen der Tochter. Mit dem Mord hat sie nichts zu tun. Fett war sich sofort sicher.
Fett schlief schlecht. Wenige Stunden nur. Die Kakofonie der Geräusche, die Bilder aus der Geisterbahn, all die Menschen, die Gesichter. Ein Albtraum. Die Spurensicherung hatte die Stelle in der Bahn eruiert, wo Alexander Rütters erschossen worden war. Mord. Kein Zweifel. Eine Patronenhülse wurde nicht gefunden. Der alte Mann saß in einem Wagen, wurde erschreckt von Skeletten, Piraten, Zombies, Vampiren und Hexen und auf einmal, rums. Die Pistole war nicht aufgetaucht. Keine Spuren. Kein Raubmord. Niemand hatte etwas gesehen. Als ob der Alte von einem Geist ermordet wurde. Aber Geister tragen keine Pistolen.
Kurzer Lauf über den Lousberg, Kaffee, Brötchen, Marmelade. Fett, der alte Junggeselle, brauchte nicht viel. Vor allem keinen Aufschnitt.
Samstag, 2. August, 9.00 Uhr.
»Hört mal zu.«
Fett sprach zu seinem Team.
»Was haben wir? Anne und Peter Hoven fahren gestern Abend gegen 21.20 Uhr mit ihrem Vater Alexander Rütters, 88, Vater von Anne, zur Annakirmes. Feuerwerk gucken. Nach einem Rundgang landen sie um 22.00 Uhr bei der ›Brauweiler-Kneipe‹. Circa 100 Meter vom Geisterschloss entfernt. Dort bekommt Alexander Rütters eine SMS, die er liest. Wir haben das Passwort des Handys geknackt, war nicht schwer, hieß ›Anne‹. Die Nachricht lautet: ›Rurschatten. 22.20 Uhr im Geisterschloss. Nimm einen Wagen.‹ Er nimmt einen Wagen. Und kommt um 22.25 Uhr erschossen raus. Erschossen mit einem Colt M1911, einer amerikanischen Pistole Kaliber 45. Die wurde im Zweiten Weltkrieg von Offizieren getragen. Das Besondere, so unsere Ballistiker, sie hatte einen Schalldämpfer. Die Waffe scheint nicht registriert zu sein. Keine weiteren Spuren. Die Kriminaltechnik hat die ganze Nacht dran gearbeitet, sonst hätten wir das jetzt noch nicht. Das Personal der Geisterbahn wurde überprüft. Alle aus Rumänien. Ordentlich angemeldet. Drei Mann. Zwei beim Einstieg und der Kartenkontrolle. Einer beim Ausstieg. Mirco. Der hat ihn auch gefunden. Kein Angestellter war in der Geisterbahn. Kein Erschrecker oder Zombie oder so. Zugang gibt es durch mehrere Türen von hinten, die auch für die Flucht optimal geeignet sind oder wenn die Bahn brennt. Nirgendwo Auffälligkeiten. Und der Abstand zwischen den Wagen beträgt ungefähr 25 Sekunden. Der vorausfahrende Wagen war leer, im folgenden Wagen ein Liebespaar, alle wollten das Feuerwerk sehen. Vielleicht saß der Mörder in einem Wagen vor Rütters. Dann muss er ihn abgepasst haben. Vermutlich ist er aber durch einen der ungesicherten Notausgänge in die Bahn gelangt. Die Geisterbahn hat keine Videoüberwachung. Erinnern kann sich Frau Losen nicht mehr, was bei dem Feuerwerk kein Wunder ist. Handyortung nicht möglich. Eine Prepaid-Gurke. Keine vergleichbaren Fälle auf den großen Jahrmärkten. Nichts weist auf einen Serientäter hin. Rütters wurde zum Mord in die Geisterbahn bestellt.«
»Alexander Rütters. Bitte, Schmelzer.« Fett gab seinem jüngeren Kollegen das Wort.
»Geboren 1920, Sohn des Papierfabrikanten Oskar Rütters. Hat 1938 Abitur gemacht. War in der NSDAP. Nicht Soldat, weil er die Papierfabrik ab 1942 leitete. Die war kriegswichtig. Der Vater, Oskar, war wohl nicht richtig linientreu. Die Nazis setzten Alexander ein. Nach dem Krieg entnazifiziert. Die Alliierten brauchten auch Papier. Wiederaufbau. Saß Ende der 70er-Jahre im Stadtrat von Düren. Verkaufte die Fabrik 1990 an japanische Investoren, alle Mitarbeiter wurden übernommen. Seit 2000 lebte er in dem exklusiven Seniorenstift Sankt Irmgardis. Seine Ehefrau starb sehr früh in den 80er-Jahren. Die gemeinsame Tochter ist Lehrerin, 1962 geboren, verheiratet mit Peter Hoven, Jahrgang 1957, Chemie-Ingenieur in Leverkusen. Beide wohnen in Merzenich bei Düren, keine Kinder. Regelmäßig besuchten sie Alexander Rütters im Seniorenstift. Zur Annakirmes fuhren sie jedes Jahr gemeinsam mit dem Alten. So was wie ein Ritual. Motiv: Fehlanzeige. Die Tochter steht noch unter Schock. Ihr Mann bestätigt den Ablauf des Abends. Sie ist das einzige Kind. Im Seniorenstift keine besonderen Vorkommnisse.«
Fett fasste den Stand zusammen:
»Wir haben die SMS. Jemand hat Alexander Rütters in die Geisterbahn gelockt. Ihm muss etwas so wichtig gewesen sein, dass er der Aufforderung nachkam. Der Täter duzte den Ermordeten. Da könnte es eine Vorgeschichte geben. Rurschatten, Rurschatten. Was heißt das? Fragt nach beim Wasserverband, Stadtarchiv, Angelverein. Irgendwas hat Rütters so gedrängt, dass er alleine zur Geisterbahn aufbrach. Durchsucht sein Zimmer im Seniorenstift. Die Unterlagen der Papierfabrik. Da gibt es einen Schatten. Noch ermitteln wir in alle Richtungen. Und, Kollegen, kein Wort zur Presse aus ermittlungstaktischen Gründen.«
»Die Geisterbahn fragt an, wann sie wieder fahren darf.« Schmelzer schaute zu Fett.
»Erst, wenn alles geprüft ist. Vielleicht ist der Täter irgendwo hängen geblieben und wir finden ein Stück von der Jacke oder die Patronenhülse in den Zähnen eines Skeletts, weiß der Teufel was. In der Dunkelheit kann der Täter die Hülse unmöglich sofort gefunden haben. Alles wird heute geprüft. Die Zombies haben eben Urlaub. Wir haben einen Toten.«
Nach der Lagebesprechung fuhren Fett und Schmelzer zum Seniorenluxusstift am Ortsrand von Gürzenich bei Düren, Südlage, Golfplatz in der Nähe. Sie trafen auf Helene Schulz-Weißenbach, die stellvertretende Leiterin des Domizils, wie sie mehrfach betonte. Ein Domizil für ältere Gäste. Der Leiter, Fred Strack-Zimmermann, komme erst in drei Wochen. Er sei auf Mallorca, wandern und so, Flucht vor der Annakirmes. Helene Schulz-Weißenbach führte Fett und Schmelzer durch das Domizil. Ja, Herr Rütters sei ein besonderer Mensch gewesen, sagte sie ohne erkennbare Regung. Der Tod sei hier ja quasi stets zu Gast und am Tisch. Sie versuchte, mit einer Portion Halbphilosophie das Domizil zu verklären, und kam dann zum An- und Abwesenheitsbuch. Herr Rütters habe am Freitag gegen 19.00 Uhr ausgecheckt. Er wollte zur Annakirmes, zu Tochter und Schwiegersohn. Alles wie in jedem Jahr. Nichts Ungewöhnliches. Er war sehr gut beisammen. Rüstig, durchtrainiert, ein Langstreckenwanderer. Da sei Strack-Zimmermann nicht mitgekommen, wenn sie das so sagen dürfe. Das Zimmer, ja dort, die Suite 103, geräumig, mit Blick auf die Eifel. Natürlich bleibt sie verschlossen. Wann wird sie wohl wieder vermietet werden können? Sie wissen, das Budget, die Kosten und so.
Helene Schulz-Weißenbach säuselte zu den beiden Kommissaren: »Bitte, sprechen Sie doch sehr sanft mit unseren Gästen. Sie sind leicht erregbar, ach, was sage ich, erschütterbar. Wir sind eine geborgene Gemeinschaft, da schafft so ein Verbrechen Unruhe und Aufregung. Wir brauchen doch alle unsere Mitte, unser Vertrauen, unseren inneren Klang, nicht wahr, Herr Kommissar.«
»Danke, wir schicken heute noch die Kriminaltechnik. Bestimmt in 14 Tagen, da kann wieder jemand ins Domizil.« Fett war kurz angebunden. Nun sagte er auch schon Domizil, bemerkte er selbstironisch. »Danke, und es kann sein, dass wir uns wieder melden. Wir werden Ihre Ruhe nicht unnötig stören. Es sei denn, einem Ihrer Bewohner fällt noch etwas Wichtiges ein.«
Nachmittags war die Kriminaltechnik bereits in der Suite. Sie stellten alles auf den Kopf, fanden aber nichts von Bedeutung. Gar nichts. Auch das war merkwürdig. Keine Erinnerungsstücke, Fotoalben. Viele Wanderbücher, Karten und Bücher über die Region. Alle Kreisjahrbücher seit 1960. Kaum Medikamente. Kein Hinweis, der sie weiterbrachte. Als ob Alexander Rütters geschichtslos dort gelebt hätte.
»Guten Tag, Frau Hoven. Wir haben da noch einige Fragen, auch wenn es bestimmt sehr schwer für Sie ist.« Fett hatte in Merzenich bei Rütters Tochter geklingelt, und Anne Hoven hatte mit Ringen unter den Augen die Tür geöffnet. Sie sagte nichts und ging langsam voraus zum Wohnzimmer des Bungalows aus den 80er-Jahren. Samstagnachmittag in der Siedlung am Rande des Dorfes, relativ neue Bauten, Mittelklassewagen, ab und an Oberklasse. Hier wohnt man preiswerter als in Köln oder Frechen, die Autobahn ist nahe, die Eisenbahn auch. Und doch ein Dorf. Einige Autos wurden gewaschen, auch wenn dieser samstägliche Nationalsport langsam ausstarb.
Peter Hoven kam aus dem Keller hoch, begrüßte mit einem stummen Nicken Fett und Schmelzer und bot Kaffee und Wasser an.
»Nein danke. Wir möchten nicht lange stören. Aber bitte, jetzt kann jeder Hinweis sehr wertvoll sein. Ist Ihnen etwas aufgefallen an Alexander Rütters, wurde er bedroht, gab es etwas Besonderes in letzter Zeit?« Fett blickte beide interessiert an.
Anne Hoven schaute zu ihrem Mann und beide antworteten fast zeitgleich: »Nein, nichts.«
»Wer tut so etwas, Herr Kommissar?« Anne Hoven erwartete wohl kaum eine Antwort, und Fett konnte auch keine geben.
»Frau Hoven, Herr Hoven, wir stehen am Beginn der Ermittlungen. Wir haben alles abgesucht, die Kameras auf der Annakirmes werden noch ausgewertet, wir sind am Anfang. Sagt Ihnen vielleicht das Wort Rurschatten etwas?«
Fett und Schmelzer schauten prüfend in die Gesichter. »Nein, nichts.« Wieder kam aus beiden Mündern zeitgleich die Antwort. Komischer Ehepaartick, dachte der Junggeselle Fett.
»Gab es irgendwas in der Vergangenheit Ihres Vaters, was wir wissen sollten?« Fett musterte Frau Hoven.
»Er war der beste Vater der Welt. Auch noch, als meine Mutter gestorben ist. Ich konnte immer auf ihn zählen.«
»Frau Hoven, gab es etwas in der Vergangenheit, als Sie noch nicht geboren waren? Hat Ihr Vater aus seiner Vergangenheit oder von Problemen im Betrieb oder mit Konkurrenten berichtet?«
»Mein Schwiegervater hat fast nie von der Vergangenheit erzählt. Er war froh, dass wir in Friedenszeiten leben, und wollte nicht an die Schrecken des Krieges und der Nazizeit erinnert werden.« Peter Hoven hatte konzentriert gesprochen. »So war es doch, nicht wahr, Anne?«
»Ja, Peter. So war es. Er war glücklich mit uns. Und auf die Annakirmes freute er sich wie ein kleines Kind. Nein, es gibt da keine Schatten. Fassen Sie den Mörder, bitte, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie mich.« Hastig ging sie in den hinteren Teil des Bungalows.
»Das war es auch schon. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt oder Ihrer Frau. Bitte nicht zögern. Rufen Sie uns an. Mich oder Herrn Schmelzer. Wir werden jede Spur verfolgen. Danke, Herr Hoven.«
»Ja, Herr Kommissar. Wir zählen auf Sie.«
Fett und Schmelzer standen auf und waren fünf Minuten nach Betreten des Hauses wieder im Freien.
»Mager«, stellte Schmelzer fest.
Fett nickte: »Komisch, alles schön, alles gut, nur ist der Herr Papa leider trotzdem ermordet worden.«
Fett kam nicht voran. Die Spurenauswertung, Obduktion, Befragung von Fahrgästen, Geisterbahnpersonal, Mitbewohner im Domizil – alle Untersuchungen verliefen im Sand. Die Mordwaffe blieb verschwunden.
Am Tag der Beerdigung von Alexander Rütters, wieder ein Freitag, 15. August, war halb Düren auf den Beinen. Fett stand auf dem Hauptfriedhof hinter einem der Gräber der Großindustriellen. Auch die Familie Rütters besaß ein Familiengrab. Seit Generationen lagen die Vorfahren des Ermordeten dort. Papiermagnaten. Papiermillionäre. Warum stehe ich hier?, dachte Fett. Die Trauer der Angehörigen ist echt. Die Worte der Honoratioren falsch. Alles Käse. Wir haben nichts. Die Geisterbahn ist auf den Kopf gestellt worden. Null. Niente. Nothing. Rurschatten. Wer hat dem Alten die SMS geschickt, warum ist er los zur Geisterbahn, was war im Vorfeld passiert? Eine Vorgeschichte gab es, da war sich Fett sicher.
War Rütters vielleicht in einer Verbindung, Freimaurer oder so was. Fett dachte nach. Dann ging er am Beerdigungscafé »Don Camillo« vorbei zu seinem Wagen.
Hatte Rütters im Altenheim Feinde? Gab es Feinde nach dem Verkauf der Papierfabrik? – Seine Kinder waren während des Mordes in der Kirmes-Kneipe geblieben, dafür gab es Zeugen.
Im Büro unterrichtete Fett den Kollegen Schmelzer. Der süppelte seinen Kaffee und wirkte müde. Er dachte sich sein Teil. Ein alter Toter. Der wäre eh bald gestorben. Warum so viel Aufwand. Rechtsstaat. Die Staatsanwaltschaft ruft an, der Polizeipräsident und was weiß ich wer noch. Schatten über der Annakirmes. Auch da Schatten.
Fast drei Wochen waren seit dem Mord vergangen. Fett stand mit leeren Händen da. Im Seniorenstift hatte es mal Krach im Bingoklub gegeben, aber Bingostreit als Mordmotiv? Ein Täter aus dieser Ecke kam nicht in Betracht, nicht bei dieser Form des Mordes. Die ehemaligen leitenden Angestellten der Papierfabrik waren gut abgefunden worden, keiner ins Bodenlose gefallen. Auch da kein Motiv. Rütters schien keine Feinde zu haben. War es eine Verwechslung? Ausgeschlossen. Alexander Rütters war gezielt in die Geisterbahn gelockt worden. Jemand hatte ihn dort erwartet. Im Wagen hinter ihm hatte ein Liebespaar gesessen, der Wagen vor ihm war leer. Also galt der Schuss mit dem Colt ihm. Ein stummes Paff, kein Lärm, die Waffe war fast aufgesetzt worden. Man könnte beinahe von einer Hinrichtung in der Geisterbahn sprechen. Fett war die Tour gefahren. Am Sonntag, dem letzten Tag der Annakirmes. Die kreischenden Zombies und Vampire hatten ihn tatsächlich erschreckt. An der Stelle, wo sich der Mörder positioniert haben musste, stand Schmelzer mit seiner ungeladenen Waffe. Paff. Ein Schuss, dann bog der Wagen um die Ecke und passierte noch einige Gespenster, ehe er ans Tageslicht kam. Das muss ein Profi gewesen sein, das schafft ein Rentner aus Sankt Irmgardis nicht. Wer war sich so sicher gewesen, dass der alte Mann einsteigen würde?
So ergebnislos wie die Ortsbesichtigung blieb Schmelzers Suche nach dem »Rurschatten«. Fett und Schmelzer saßen im Aachener Polizeipräsidium und kamen nicht voran.
Fett, der Junggeselle, addierte einen weiteren ungelösten Fall zu seiner Liste. Schmelzer, frisch verheiratet, kämpfte mit der Ratenzahlung für die Darlehen und mit den Handwerkern. Und dazwischen der Alte aus Düren. So ein Mist. Die Lokalmedien hatten zehn Tage wild spekuliert. Das alles war nicht gut: nicht für das Image der Annakirmes. Und nicht für das Image der Polizei.
Fett fuhr nach Düren. Dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Aus seiner Schulzeit kannte er noch einige, die mit ihm dort in den 70er-Jahren Abitur gemacht hatten. Sie gehörten nun zum Dürener Establishment. Vielleicht könnte ihm jemand helfen. Er musste neue Wege gehen. Wo war die Papierfabrik von Rütters? Er parkte am Dürener Bahnhof, lieh dort ein Fahrrad aus und fuhr die Rur entlang. Die Fabrik, die Rur, Schatten – die Begriffe tanzten in seinem Kopf. Die langsame Fahrt durch die Stadt und dann in Richtung Rur verschaffte ihm Luft und ließ ihn die Stadt etwas mehr spüren. Er sammelte die Eindrücke, die er später zu einem Mosaik zusammenfügen wollte. So ging er immer vor. Klar, manche Mosaiksteine musste er wegwerfen, manches Vorurteil beiseiteschieben.
An der Johannisbrücke bog er auf den linksseitigen Rurradweg flussaufwärts, dann ging es in Richtung Lendersdorf. Da standen die Papierfabriken. Direkt hinter dem Annakirmesgelände fing die Industriezone an. Sie erinnerte an bessere Zeiten. Düren war einst reich. Sehr reich. Dank des Papiers. Dank des milden Wassers der Rur. Schließlich erreichte er das Gelände der ehemaligen Fabrik Rütters. Hinter der alten Mauer standen moderne Hallen, kaum Arbeiter, alles automatisiert. Fett wusste nicht genau, warum er hier eigentlich radelte. Er kehrte um und fuhr zurück in Richtung Haltestelle Annakirmesplatz der Rurtalbahn. Er kam an Bauschutt und abgestorbenen Bäumen vorbei, eine Fußgängerbrücke führte auf die andere Rurseite, am Wegesrand stand ein zugewachsenes Metallkreuz. Er bemerkte einen leicht verwelkten Blumenstrauß davor.
Schmelzer recherchierte unterdessen und trug Material über Alexander Rütters zusammen.
Rütters hatte in Düren das Abitur gemacht, war 1938 gemustert worden, hatte dann die Freistellung erhalten, um in der Papierfabrik seines Vaters Oskar mitzuarbeiten. Der war wohl nicht linientreu genug gewesen, war nicht Parteimitglied, wurde irgendwann 1941/42 aus der Leitung der Fabrik entfernt und blieb danach fast nur noch in seinem Wohnhaus in der Goethestraße, wo er 1944 beim Bombenangriff mit seiner Ehefrau starb.
Die Rütters Papier AG lieferte ihr feines Büttenpapier an die Reichskanzlei. Auch Göring und Goebbels bezogen die edle Ware. Sie wurde gebraucht für Urkunden und Auszeichnungen, die man bei den Nazis reichlich verteilte. Seit 1939 wurde vom Eisernen Kreuz II aufwärts jede Urkunde auf Rütterspapier gedruckt: Führerstandard. Selbst nach dem Bombenhagel am 16.11.1944, der Düren ausradierte, konnte Rütters nach 14 Tagen wieder liefern. Die Nachfrage nach Urkunden und Auszeichnungen blieb unersättlich. Orden statt Brot. Dann das Ende. Rütters stellte den Betrieb auf Nachkriegsbedarf um; er produzierte Packpapier, Kartonagen und Klopapier. Die Alliierten kauften bei dem jungen Unternehmer das Toilettenpapier für die Besatzungstruppen. Qualität und Preis stimmten. Geliefert wurde an die Engländer nach Mönchengladbach und an die Belgier vor Ort. Der Betrieb lief wieder. Tochter Anne zeigte kein Interesse an der Fabrik. Sie wurde lieber Lehrerin. Deshalb entschied Rütters sich für den Verkauf. Schluss mit Rütterspapier aus Düren.
Fett kramte unterdessen in den Unterlagen, die Schmelzer zusammengetragen hatte, und fand die Adresse einer Haushälterin, die dem Alten einige Jahre im Haushalt geholfen hatte, bevor er im Jahr 2000 ins Altenheim umsiedelte. Marie Utzerath. Ob sie wohl noch lebt, überlegte er. Eine Haushälterin bekommt viel mit. Vielleicht kann sie weiterhelfen.
Marie Utzerath lebte tatsächlich noch in Düren, Dr.-Overhues-Allee, direkt an der Rur. Über das Melderegister gelangte Fett an ihre Adresse. Als Fett den Besuch ankündigte, da klang sie so, als ob sie es erwartet hätte. Eine interessante Stimme, dachte Fett. Er fuhr an einem Augustmorgen wieder nach Düren, wieder an die Rur und stand vor einem stattlichen Haus. Marie Utzerath öffnete ihm, bevor er die Eingangstüre erreichte.
»Was für ein Schicksal!«, seufzte sie dem Kommissar entgegen.
Marie Utzerath, 67, hatte Alexander Rütters das Haus von 1985 bis 2000 besorgt. Ihre Schönheit zu dieser Zeit konnte sich Fett lebhaft vorstellen. Sie hatte sprechende Augen, bewegte sich sehr dynamisch und schien bestens in Form zu sein. Jahrgang 1941, sie war 21 Jahre jünger als Rütters und hatte im Alter von 44 die Stellung angenommen. 15 schöne Jahre seien es gewesen. Er habe sie stets sehr gut behandelt. Sie beschrieb ihn als humorvollen Mann:
»Wir haben viel gelacht.«