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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 30
Siegfried Lenz
Herr und Frau S. in Erwartung ihrer Gäste
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
ANNE
Die Schnittchen, Henry… Schau dir nur an, wie die Schnittchen aussehen… nach zwei Stunden.
HENRY
Grau?
ANNE
Papsig… papsig und aufgeweicht.
HENRY
Der Salat war zu feucht, Anne, du hast ihn zu lange gewaschen.
ANNE
Vielleicht habe ich die Schnittchen zu früh gemacht.
HENRY
Alle Schnittchen werden zu früh gemacht… Aber sie werden nicht anders schmecken als die Schnittchen, die man uns überall vorsetzt.
ANNE
Du meinst, unsere Gäste werden sich heimisch fühlen?
HENRY
In jedem Fall können sie deine Salatblätter mitessen.
ANNE
Eben. Und eine Schildkröte wird hoffentlich dabeisein.
HENRY
Eine Schildkröte wird sich ein Salatblatt auf ein Schnittchen legen… und andere werden es ihr nachtun… Du wirst schon nicht darauf sitzenbleiben.
ANNE
Von mir aus könnten sie jetzt kommen.
HENRY
Es ist erst zwanzig nach sieben… und wir hatten ausgemacht: um acht.
ANNE
Soll ich sie gleich hinstellen? Die Schnittchen, meine ich.
HENRY
Ich werde uns was zu trinken machen, Anne.
ANNE
Du versprichst mir, gleich mitzuessen?
HENRY
Ich verspreche es… Wieviel Eisstückchen heute?
ANNE
Zwei bitte… Henry? Verstehst du das?
HENRY
Was?
ANNE
Wir erfinden soviel… Warum muß es ausgerechnet Schnittchen geben, wenn Menschen zusammenkommen? Könnten wir uns nicht auf etwas anderes einigen?
HENRY
Das wäre eine lohnende Aufgabe. Ein Lebenswerk.
ANNE
Ich meine es im Ernst.
HENRY
Hier, Anne, trinken wir auf deine Idee.
ANNE
Wieso meine Idee?
HENRY
Dieser Abend war deine Idee, oder? Du hattest doch vorgeschlagen, Unbekannte einzuladen.
ANNE
Du beginnst sehr früh, mir die Verantwortung zuzuschieben.
HENRY
Du hast den Vorschlag gemacht… Erinnere dich… Jeder sollte Leute einladen, die der andere nicht kennt… Stimmt’s?
ANNE
Nein, Henry, es war unsere Idee… am Hochzeitstag.
HENRY
An unserm achten Hochzeitstag, ich weiß…
ANNE
Du sagtest: jeder ist ein Eisberg.
HENRY
Ich sagte, was zu sehen ist, ist nicht alles… Jeder reicht in eine private Dunkelheit.
ANNE
Du hattest gerade Colins übersetzt – diesen modernen Schotten… Sind wir nicht überhaupt von ihm ausgegangen? Es war eine schwierige Übersetzung – »Die privaten Friedhöfe«.
HENRY
Ich weiß, Anne… Zuerst war es ein Übersetzungsproblem… aber dann hast du den Vorschlag gemacht.
ANNE
Gefragt, Henry… Ich habe zuerst nur gefragt, ob das zutrifft… Ob jeder seine – seine sechs unsichtbaren Siebtel hat wie der Eisberg… Ist es nicht so?
HENRY
Du wolltest es darauf ankommen lassen.
ANNE
Auch bei uns, an unserm achten Hochzeitstag.
HENRY
Und dann, Anne, dann hattest du die Idee, Unbekannte einzuladen.
ANNE
Das stimmt nicht… Es stimmt nicht ganz… Wir haben ein Abkommen geschlossen.
HENRY
Später… Das Abkommen haben wir erst später geschlossen… Zuerst war die Idee, jemanden einzuladen, den der andere nicht kennt, Leute, die man nie voreinander erwähnt hat, die aber dennoch eine Bedeutung hatten… entscheidende Bedeutung.
ANNE
Oh, Henry, wollen wir nicht erst trinken?
HENRY
Diese Idee ist von mir.
ANNE
Machst du dir Sorgen?
HENRY
Warum? Wir haben ein Abkommen geschlossen: wenn die Gäste fort sind, wird sich nichts geändert haben… Das genügt mir.
ANNE
Bist du sicher, daß sich nichts ändern wird?
HENRY
Nein, ich bin nicht sicher.
ANNE
Wie viele hast du eingeladen? Zwei?
HENRY
Es soll doch eine Überraschung sein, oder?
ANNE
Ein Ehepaar?
HENRY
Gewissermaßen.
ANNE
Was verstehst du unter: gewissermaßen?
HENRY
Sie leben zusammen. Wie ein Ehepaar.
ANNE
Und sind keins?
HENRY
Wenn du so weitermachst, Anne… du wirst dich noch selbst um die Überraschung bringen.
ANNE
Aber… Bist du denn nicht gespannt, wen ich eingeladen habe?
HENRY
Nein – das heißt natürlich, doch… Sogar sehr gespannt. Ich muß an mich halten, um keine Vermutungen anzustellen.
ANNE