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Castle Freeman ist zurück: „Charmanter, beinharter Country Noir, in dem alle immer sehr viel klüger sind, als sie tun.“ Simone Buchholz
Lucian Wing, der „Hinterwäldler mit Sheriffstern“, bekommt hohen Besuch. Männer in Nadelstreifenanzug und Seidenkrawatte sieht man in dem kleinen Nest in Vermont selten. Der vollmundige Anwalt aus New York behauptet auf der Suche nach der verschwundenen Tochter seines Auftraggebers zu sein. Gemeinsam mit seinem neuen Deputy, dem wortkargen Treat, nimmt Wing die Spur auf. Doch schon bald wünscht er sich, er hätte auf seinen Instinkt gehört. Denn urbaner Großschnäuzigkeit sollte man niemals trauen. Castle Freeman ist zurück mit einem modernen Western über das ländliche Amerika – für Fans von „Fargo“ und „Three Billboards“.
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Lucian Wing, der »Hinterwäldler mit Sheriffstern«, bekommt hohen Besuch. Männer in Nadelstreifenanzug und Seidenkrawatte sieht man in dem kleinen Nest in Vermont selten. Der vollmundige Anwalt aus New York behauptet auf der Suche nach der verschwundenen Tochter seines Auftraggebers zu sein. Gemeinsam mit seinem neuen Deputy, dem wortkargen Treat, nimmt Wing die Spur auf. Doch schon bald wünscht er sich, er hätte auf seinen Instinkt gehört. Denn urbaner Großschnäuzigkeit sollte man niemals trauen. Castle Freeman ist zurück mit einem modernen Western über das ländliche Amerika — für Fans von »Fargo« und »Three Billboards«.
Castle Freeman
Herren der Lage
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
Rhumbas Deeskalation
Quellen
White Horse
Seilhanf
Big John
Bei Humphrey
Romeo und Julia
Schwergewichte
Kind des Tals
Das Hideaway
Muskelschmalz
Die Wette
Kampfzone
Häuser im Wald
Busters Deeskalation
Drei Wochen in Philadelphia
Ein Haufen Asche
Kätzchen im Ofen
Epilog
Neun, nein, zehn Fahrzeuge standen vor dem Kruger-Haus, auf dem Rasen, auf der Straße, in der Zufahrt: zwei vom Sheriff Department, vier von der State Police, darunter eins, das als »Einsatzleitung« markiert war, zwei Rettungswagen, der zweitbeste Löschzug der Feuerwehr von Cardiff und ein Servicewagen der Telefongesellschaft. Die Ersten waren schon seit einer halben Stunde da. In der Zwischenzeit war nichts geschehen, alles war unverändert, und so warteten sie. Sie warteten darauf, dass sich irgendwas tat. Sie warteten auf mich.
Ich parkte meinen Pick-up an der Straße und ging zu ihnen, wobei ich darauf achtete, dass die Polizeiwagen sich zwischen mir und dem Haus befanden. Es war ein kleines Haus, das einen Anstrich brauchte. Genau genommen brauchte es einen Anstrich und einen reichen Besitzer, würde aber keins von beiden bekommen. Wir nannten es das Kruger-Haus, da es früher einem gewissen Kruger gehört hatte. Wem es jetzt gehörte, wusste ich nicht; es war vermietet. Eineinhalb Etagen, also schwer zu sehen, was oben passierte. Nicht gut. Vorn und hinten ein kleiner Garten, sonst nichts als Wald. Keine direkten Nachbarn. Gut.
Dwight Farrabaugh, Einsatzleiter und Captain der State Police, stand mit dem Feuerwehrhauptmann hinter dem Löschzug auf der Straße. Normalerweise würde sich ein Captain nicht zu einem Einsatz bei einem augenscheinlich ganz normalen häuslichen Streit herablassen, aber in diesem Fall waren angeblich Schusswaffen und minderjährige Kinder im Spiel. Bei Waffen in Verbindung mit Kindern werden alle sehr aufgeregt, einschließlich der Presse. Und darum beehrte uns Dwight mit seiner Anwesenheit.
Wingate war ebenfalls da. Offenbar war er aus dem Altersheim ausgebrochen und mit der Feuerwehr gekommen. Ich ging zu ihnen.
»Ah, da ist ja der Abreger«, sagte Farrabaugh. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
»Ich hab auf der faulen Haut gelegen«, sagte ich. »Wie du. Hallo, Chief. Wo ist der neue Löschzug?« Die Feuerwehr von Cardiff hatte kürzlich einen neuen Wagen angeschafft und benutzte ihn für die meisten Einsätze, damit die Bürger, die dafür tief in die Tasche gegriffen hatten, ihn auch zu sehen bekamen, aber heute war er wohl in der Feuerwache geblieben.
»Ich will keine Löcher in meinem nagelneuen Löschzug«, sagte der Chief. »Besonders nicht von einem Penner wie Rhumba.«
»Leuchtet mir ein«, sagte ich. Und dann zu Wingate: »Ich denke, du bist im Ruhestand.«
Er zuckte die Schultern. »Wie du siehst«, sagte er.
Ich blickte mich um. Drei von der State Police standen am Waldrand und beobachteten das Haus mit Ferngläsern. Die Deputys waren vermutlich auf der anderen Seite und taten dasselbe. »Also«, sagte ich, »um was geht’s? Wieder mal Rhumba, nehme ich an.«
»Genau der«, sagte Dwight.
»Rhumba und wer noch?«
»Seine Frau. Und drei von ihren Kindern, vielleicht auch mehr. Drei, von denen wir wissen: zwei kleine, ein mittelgroßes.«
»Und die sind oben?«
Dwight nickte.
»Wissen wir, wie’s da drinnen aussieht?«
»Klar. Seine Frau hat ein blaues Auge. Sie hat sich in eine Ecke verkrochen. Die Kinder sind unter dem Bett.«
»Schlaue Kinder«, sagte ich. »Und Rhumba?«
»Unten. Er hat das Sofa vor die Vordertür geschoben und ist dahinter oder zumindest in der Nähe. Er geht herum.«
»Hintertür?«
»Führt in die Küche. Wir können in zehn Sekunden drin sein. Aber natürlich nur mit dem vollen Programm.«
»Natürlich«, sagte ich. »Aber lass uns die Sache erst mal langsam angehen. Okay?«
»Immer dasselbe mit dir«, sagte Dwight.
»Erst mal«, sagte ich.
»›Erst mal‹ heißt kurz, stimmt’s?«
»Natürlich«, sagte ich. »Waffen?«
»Eine Schrotflinte«, sagte Dwight.
»Sagt er«, sagte Wingate.
»Habt ihr sie gesehen?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Dwight. »Aber letztes Mal hatte er eine. Wenn du dich erinnerst.«
»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Haben wir eine Verbindung?«
»Da drüben«, sagte Dwight und zeigte auf den Servicewagen der Telefongesellschaft.
»Na dann«, sagte ich.
Ich saß im Fahrerhaus des Servicewagens, wartete darauf, dass Rhumba abnahm, und trank lauwarmen Kaffee aus einem Pappbecher. Irgendwie hatte Wingate Kaffee aufgetrieben. Wenn man vierzig Jahre bei der Polizei ist, kriegt man zwar nicht jeden Verbrecher, aber immer einen Kaffee. Wingate saß neben mir und hörte mit.
»Hallo?«, ertönte Rhumbas Stimme.
»Earl?«, sagte ich. »Earl, hier ist Lucian Wing. Wie geht’s dir da drinnen?«
»Leck mich«, sagte Rhumba. Er mochte es nicht, wenn man ihn mit seinem richtigen Namen ansprach.
»Okay, Rhumba«, sagte ich. »Wer ist sonst noch da?«
»Alle«, sagte Rhumba. »Die Schlampe, die Bälger, die ganze Bande.«
»Drei Kinder also?« Ich sah Wingate an. Er trank seinen Kaffee.
»Das fragst du mich?«, sagte Rhumba. »Aus jedem Baum fällt einer von euren Affenärschen, die mich ausspionieren sollen. Sag du mir doch, wie viele hier sind.«
»Wir haben drei Kinder gesehen.«
»Haha«, sagte Rhumba, »es sind aber vier. Vier und die Schlampe — alles eine Pampe, haha.«
»Der war gut«, sagte ich. »Was hast du vor?«
»Was denkst du denn, was ich vorhab?« Rhumba schien sich zu räuspern.
Ich erhöhte den Druck. »Rhumba?«
Er machte ein kleines Geräusch — es hätte ein Husten sein können, vielleicht auch ein Schluchzen. »Ich bring sie alle um«, sagte er.
»Okay«, sagte ich. »Okay, Rhumba, das ist angekommen. Ich höre dich klar und deutlich. Aber wir sind doch nicht in Eile, oder? Lass uns ein bisschen langsamer machen und verschnaufen.«
»Dann verschnauf doch«, sagte Rhumba. »Ich hab’s dir gesagt: Diesmal mach ich ernst.«
»Ich weiß, dass du nicht willst, dass den Kindern was passiert«, sagte ich.
»Du hast nicht den Furz einer Ahnung, was ich will oder nicht will«, sagte er. »Du sagst zwar, du weißt es, aber das stimmt nicht. Du weißt es nicht.«
»Stimmt«, sagte ich. »Das weiß ich nicht.«
»Ich hab’s so satt«, fuhr Rhumba fort, »ich hab’s so scheißsatt.«
»Ich weiß, Rhumba«, sagte ich. »Wir alle wissen das. Was du durchgemacht hast … Jeder andere wäre durchgedreht.«
»Und jetzt drehe ich durch«, sagte Rhumba.
»Ich weiß, Rhumba. Wir alle wissen … äh, Moment mal, bleib dran.«
Ich deckte mit der Hand die Sprechmuschel ab und sah Wingate an. »Betrunken ist er nicht«, sagte ich. »Hört sich jedenfalls nicht so an.«
»Nein«, sagte Wingate.
»Ich wollte, ich wüsste, ob er da drinnen wirklich eine Waffe hat wie damals«, sagte ich.
»Ich wollte auch, du wüsstest es«, sagte Wingate. »Der junge Dwight wird bald unruhig werden. Nicht mehr lange, dann heißt es: raten und reingehen.«
»Raten und reingehen«, sagte ich.
»Soll ich mal raten?«, sagte Wingate. »Er hat keine.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht. Wenn ich’s wüsste, müsste ich nicht raten.«
»Tja«, sagte ich, »ich muss ihn auf einen anderen Kurs bringen.«
»Versuch’s mit einem neuen Spiel«, sagte Wingate.
»Könnte ich tun«, sagte ich. »Meinst du, es funktioniert?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, es rauszufinden.«
»Earl?«, sagte ich in den Hörer. »Earl? Bist du noch dran?«
»Leck mich.«
»Wir haben uns hier unterhalten und versucht, uns zu erinnern, wie das war mit dem Haus.«
»Haus? Was für’n Haus?«
»Dein Haus. In dem du jetzt gerade sitzt. Du hast es gemietet, stimmt’s?«
»Was?«
»Dein Haus. Das Haus, in dem du wohnst — du hast es gemietet, stimmt’s? Es gehört noch immer diesem Kruger, oder?«
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Rhumba. »Hast du mich nicht gehört? Ich hab gesagt … ich hab gesagt, ich bring sie alle um. Ich hab’s satt, und ich mein’s ernst.«
»Das hab ich verstanden, Earl«, sagte ich. »Aber ich hab dich nach dem Haus gefragt. Bist du Mieter? Und wer ist der Eigentümer? Noch immer Kruger?«
»Nein«, sagte Rhumba. »Der heißt Brown.«
»Brown?«, fragte ich ihn. »Der Brown, der am Diamond eine Jagdhütte hatte? Dessen Bruder in Vietnam gefallen ist? Wendell Brown?«
»Wer? Was?«
»Dein Vermieter, Earl«, sagte ich. »Hilf mir mal eben: Ist das nicht der, dessen Bruder gefallen ist? Die hatten eine Jagdhütte. Brad McKinnon hat da vor Jahren mal einen Zehnender erlegt.«
»Stimmt«, sagte Rhumba. »Mein Dad war dabei und hat gesagt, das war ein Mordshirsch. Aber er heißt nicht Wendell, sondern Wayne.«
»Wer?«, fragte ich ihn.
»Der Typ mit der Jagdhütte, wo KcKinnon —«
»Was für eine Jagdhütte?«
»Die Jagdhütte, von der wir gerade geredet haben«, sagte Rhumba. »Die am Diamond.«
»Ach so«, sagte ich, »die Jagdhütte.«
»Wie viele Jagdhütten gibt’s denn da?«
»Eine ganze Menge.«
»Ach, leck mich, Lucian«, sagte Rhumba.
»War bloß eine Frage«, sagte ich, »damit alles klar ist. Du kennst mich ja: Ich find’s gut, wenn alles klar ist.«
»Lucian?«, sagte Rhumba.
»Ja, Earl.«
»Das ist eigentlich eine ziemliche Scheißsituation hier.«
»Ich weiß.«
»Manchmal«, sagte Rhumba, »ist alles einfach Scheiße.«
»Stimmt«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn du jetzt rauskommst? Damit wir alles bereden können und sehen, was sich da machen lässt. Wenn du dich irgendwie unwohl fühlst, kannst du jederzeit wieder reingehen. Keine Tricks.«
»Einfach Scheiße«, sagte Rhumba. »Bis gleich, Lucian.« Er legte auf. Aus dem Haus war ein Rumpeln und Schleifen zu hören: Rhumba entfernte die Sofabarrikade an der Tür. Wingate schüttete den Rest seines Kaffees aus dem Fenster des Servicewagens. »Das war’s dann wohl«, sagte er. »Ich hab ihn übrigens auch gesehen. Den Hirsch. Das war wirklich ein Mordsvieh. Wo fährst du jetzt hin?«
»Zurück ins Büro«, sagte ich.
»Kannst du mich absetzen?«, fragte Wingate.
»Und wieder einmal hat der Abreger abgeregt«, sagte Dwight Farrabaugh. »Ein weiterer zufriedener Kunde.«
Rhumba saß auf dem Rücksitz eines Wagens der State Police und wurde befragt. Zwei Deputys hatten das Haus durchsucht: keine Flinte, auch keine anderen Schusswaffen. Gut. Zwei vom Jugendamt sprachen mit Mrs Rhumba und den Kindern. Es waren vier, wie Rhumba gesagt hatte, und alle sahen unversehrt aus. Auch das war gut.
Dwight packte zusammen. Er klopfte mir auf die Schulter. »Danke, Lucian«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie du das machst.«
»Ich hab eben ein Naturtalent für Improvisation«, sagte ich.
»Eher ein Naturtalent für Stuss«, sagte Dwight, ging zu seinem Einsatzleiterwagen und war weg.
Tja, da hat er wohl recht, der gute Dwight. Aber der Stuss ist nicht die Hauptsache. Er dient einem Zweck, und der Zweck ist: Langeweile. Ungeduld. Erschöpfung. Leute, die wie Rhumba mit dem Rücken zur Wand stehen, verbrauchen eine Menge Energie. Sie ermüden schnell. Sie wollen vor allem, dass was passiert, irgendwas. Sie sind bis zur Spitze des Fahnenmastes geklettert, und jetzt wissen sie nicht, wie es weitergeht. Sie wissen nicht, wohin. Sie wissen nur: Es muss was passieren. Sie wollen eine Entscheidung. Sie wollen ein Ereignis. Mein Job ist, dafür zu sorgen, dass sie keins kriegen. Stattdessen kriegen sie Stuss. Sie kriegen vollkommen unwichtigen Kram. Sie kriegen Gequatsche, und das wandert von irgendwo nach irgendwo und wieder zurück. Es dauert nicht lange, und der Bequatschte ist so gelangweilt, so benebelt von dieser Unmenge Stuss, dass er von dem Fahnenmast herunterkommt, nur damit es aufhört. Und er kommt friedlich. Es ist eine Methode. Sie ist nicht besonders spektakulär, aber oft funktioniert sie, und wenn sie funktioniert, gehen alle ruhig nach Hause.
Die Lehrer an den Polizeischulen nennen diese Methode »Deeskalation«. Dwight Farrabaugh und andere nennen sie »Abregen«. Wingate nennt sie gar nicht, aber er hat sie mir beigebracht. Wie man sieht, tut er das noch immer, und obwohl ich seinen Rat schätze, muss ich zugeben, dass ich mir manchmal wünsche, er würde sich raushalten. Wingate war vierzig Jahre lang Sheriff unseres Countys. Er hat mich als Deputy eingestellt, und als er sich vor zehn, zwölf Jahren zur Ruhe gesetzt hat, hab ich den Job von ihm übernommen. Ziemlich bald stellte ich fest, dass Wingate seine eigenen Vorstellungen von Ruhestand hat. Ruhestand ist keine Tatsache, sondern ein Gemütszustand, und zwar einer, in dem Wingate sich praktisch nie befindet. Wingate hat sich öfter zur Ruhe gesetzt als Frank Sinatra — kaum hat er es bekanntgegeben, schon ist er wieder da. Und wer soll ihm schon sagen, dass das nicht geht? Wenn Frank Sinatra nach Las Vegas fährt und sagt, er würde gern ein paar seiner alten Lieblingslieder singen — wird Las Vegas dann sagen, er soll sich schleichen? Frank hat Las Vegas aufgebaut. Die Stadt gehört ihm. Und dort singt er, wann immer er Lust dazu hat. Dasselbe gilt in unserem Tal für Wingate. Die Weigerung, sich zur Ruhe zu setzen, ist allerdings das Einzige, was Wingate mit Frank Sinatra gemeinsam hat. Jedenfalls fällt mir sonst nichts ein. Andererseits kenne ich Frank ja nicht. Vielleicht gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten.
Ich setzte Wingate vor dem Eingang des Steep Mountain House ab. Er stieg aus und blieb, die Hand an der Tür, stehen.
»Wie geht’s Clementine?«, fragte er.
»Prima«, sagte ich. »Ging ihr nie besser.«
»Mh-hm«, sagte er. »Schön sauber bleiben, mein Junge. Gut gemacht, das mit Rhumba. Bis dann.« Er drehte sich um und ging zum Haus. Er ging langsam, und ich sah, dass er seinen Stock benutzte. Wingate ist kein junger Hüpfer mehr.
Das Sheriff Department und damit auch mein Büro war kürzlich aus dem Gerichtsgebäude, wo es hingehörte, in die ehemalige Schule des Bezirks 4 in South Cardiff verlegt worden. Die Gemeinde hatte eine schöne neue Grundschule bauen lassen. Die alte war so klein und heruntergekommen und verstieß gegen so viele Bauvorschriften, dass es sich nicht lohnte, sie zu renovieren — also bekamen wir sie und dürfen sie benutzen, bis sie irgendwann einstürzt. Man hätte unsere Wache im Außenklo untergebracht, wenn es so was noch gäbe. In der Welt der Strafverfolgung sind Sheriffs, zumindest in unserem Staat, so was wie die armen Verwandten. Wenn Suppe ausgegeben wird, stehen wir ganz am Ende der Schlange, und wenn wir dann schließlich an der Reihe sind, schwimmen nur noch ein paar Knochen in der grauen, trüben Brühe.
Nachdem ich Rhumba deeskaliert und Wingate nach Hause gebracht hatte, fuhr ich zurück zum Department. Auf unserem kleinen Parkplatz stand eine lange schwarze Limousine, ein Schiff, das eigentlich auf der Fifth Avenue in zweiter Reihe hätte parken sollen anstatt vor einem baufälligen Sheriff Department in der Provinz. In dem Wagen saß ein Chauffeur: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, Schirmmütze. Als ich auf den Parkplatz fuhr, stieg er aus und öffnete eine der hinteren Türen, um seinen Passagier aussteigen zu lassen.
Der war ein hochgewachsener Mann in den Fünfzigern, stämmig und gut gekleidet. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug und eine rote Seidenkrawatte. Auch er hätte auf der Fifth Avenue in zweiter Reihe parken sollen. Als ich auf ihn zuging, sagte er: »Sind Sie der Sheriff?«
Ich nickte. »Lucian Wing«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. Aber ihm lag offenbar nichts an guten Manieren. Er reichte mir eine Visitenkarte.
Carl Armentrout
Assistent für besondere Aufgaben
LORD ENTERPRISES LTD.
New York Los Angeles London
»Mr Armentrout«, sagte ich, »Sie sind weit ab vom Schuss.«
»Gehen wir in Ihr Büro«, sagte Armentrout.
O-oh. Ganz geschäftsmäßig. Aber okay. Klar. Warum nicht?
Am Eingang ließ ich Carl Armentrout den Vortritt und führte ihn am Tresen vorbei, hinter dem Evelyn am Funktisch saß. Als sie Mr Armentrout sah, flogen ihre Augenbrauen wie zwei aufgescheuchte Rebhühner in Richtung Haaransatz. Leute von Armentrouts Kaliber kriegen wir in unserer bescheidenen Hütte nur selten zu sehen. Ich zwinkerte Evelyn zu und ging voraus durch den Flur und in mein Büro. Dort bot ich Armentrout den Besucherstuhl an und wollte mich an den Schreibtisch setzen, doch Armentrout sagte: »Moment, Sheriff — schließen Sie bitte die Tür.«
Okay. Gut. Ich ging zur Tür, machte sie zu und setzte mich. Armentrouts Visitenkarte legte ich auf die Schreibunterlage.
Armentrout wies mit dem Kinn auf die Karte. Er räusperte sich. »Sheriff«, sagte er, »ich vertrete Rex Lord aus New York. Sie kennen den Namen.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wer ist Rex Lord?«
»Kommen Sie schon, Sheriff. Lord Enterprises?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Lord Properties?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Das hier ist ziemlich tiefe Provinz, Mr Armentrout«, sagte ich. »Wir kriegen nicht alles mit.«
Armentrout lächelte dünn. »Ich wusste nicht, wie tief die Provinz sein kann.«
»Aber zum Glück können Sie mich aufklären«, sagte ich. »Wer ist Rex Lord?«
Armentrout wedelte ungeduldig mit der Hand. »Ich habe keine Zeit, das Who’s Who mit Ihnen durchzugehen, Sheriff«, sagte er. »Sagen wir einfach: Mr Lord ist ein sehr bedeutender Mann. Ein sehr mächtiger Mann. Und ein sehr besorgter Mann. Deswegen bin ich hier.«
»Was macht ihm denn Sorgen?«
»Seine Stieftochter Pamela.«
»Und warum macht er sich Sorgen um sie?«
»Sie ist verschwunden«, sagte Armentrout. »Niemand weiß, wo sie ist. Niemand hat von ihr gehört.«
»Wie alt ist sie?«, fragte ich ihn.
»Siebzehn.«
»Und seit wann wird sie vermisst?«
»Seit Dienstag.«
»Drei, vier Tage also«, sagte ich. »Siebzehn. Da kann man sich schon Sorgen machen. Und Sie glauben, sie ist hier in der Gegend?«
»Wir halten es für möglich.«
»Warum?«
»Wir haben unsere Quellen.«
Ich sah ihn an.
»Ihre Schule«, sagte Armentrout. »Sie ist auf einem Internat bei Boston — St. Bartholomew. Die Sommerferien haben vergangene Woche angefangen. Pamela sollte sie bei ihrem Stiefvater in New York verbringen. Mr Lords Chauffeur ist hingefahren, um das Mädchen und ihr Gepäck nach New York zu bringen, aber sie war nicht da. Nirgends zu finden, in der ganzen Schule nicht. Ihre Sachen waren in ihrem Zimmer, aber sie war weg.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ihre Freundinnen angerufen. St. Bartholomew ist eine Topschule, Sheriff. Die Schüler kommen aus dem ganzen Land. Zuerst dachten wir, sie wäre vielleicht mit ihrer Zimmergenossin nach L. A. geflogen. War sie aber nicht. Dann dachten wir, sie wäre bei einer Klassenkameradin in Dallas. Ich bin selbst hingeflogen. Aber da war sie auch nicht.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte ich. »Glauben Sie, sie ist entführt worden? Verletzt? Oder Schlimmeres?«
»Nein«, sagte Armentrout. »Wir glauben nicht, dass sie in Gefahr ist. Sie ist ausgerissen.«
»Vor ihrem Stiefvater?«
»Sie verstehen sich nicht sehr gut«, sagte Armentrout.
»Haben Sie mit der Polizei in Massachusetts gesprochen?«
»Nein«, sagte Armentrout. »Keine Polizei. Mr Lord wünscht Diskretion. Sie verstehen, Sheriff? Diskretion? Er will, dass die Polizei herausgehalten wird.«
»Aber ich bin die Polizei«, sagte ich.
Armentrout schenkte mir noch einmal sein kühles, dünnes Lächeln. »Bei Ihnen haben wir das Gefühl, es ist in Ordnung.«
»Weil ich ein kleiner Sheriff bin.«
»Das haben Sie gesagt, Sheriff, nicht ich.«
»Hat das verschwundene Mädchen auch eine Mutter?«
»Die hat mit dieser ganzen Sache nichts zu tun.«
»Woher wissen Sie das? Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Sie und Mr Lord sprechen nicht miteinander.«
»Sieht nach einem Muster aus«, sagte ich. »Die Tochter spricht nicht mit dem Vater. Der Vater spricht nicht mit der Mutter. Keiner von beiden spricht mit der Polizei. Da wird eine ganze Menge nicht gesprochen, finden Sie nicht?«
Jetzt war es an Mr Armentrout, mich anzusehen. Er schwieg.
»Na gut«, sagte ich, »aber ich habe noch nicht verstanden, warum Sie glauben, das Mädchen — wie heißt sie noch?«
»Pamela.«
»Warum Sie glauben, Pamela könnte hier oben sein.«
»Ein Schulfreund von ihr stammt von hier.«
»Wie heißt er?«
»March«, sagte Armentrout. »Duncan March.«
»Der Sohn von Buster March«, sagte ich.
»Sie kennen den Jungen?«
»Ich kenne seinen Vater. Aber Dunc natürlich auch, klar. Ein großer, starker Bursche. Footballspieler.«
»Und der Vater?«
»Buster.«
»Ja, Buster«, sagte Armentrout. »Ist der Junge bei seinem Vater?«
»Das möchte ich bezweifeln«, sagte ich. »Buster ist die meiste Zeit unterwegs. Man könnte sagen, als Vater ist er nicht so toll. Nein, Dunc ist in der Schule. Er ist auf einer Schule in einem anderen Bundesstaat.«
»Ich weiß, Sheriff«, sagte Armentrout. »Er ist ebenfalls in St. Bartholomew. Da gibt’s Footballstipendien.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich kenne die Schule.«
»Tatsächlich? St. Bartholomew? Das hätte ich nicht gedacht, Sheriff. Woher kennen Sie sie? Sie sind doch nicht etwa auch dort zur Schule gegangen?«
»Nein«, sagte ich.
»Woher also?«
»Wir haben unsere Quellen«, sagte ich.
Wir saßen eine Weile da. Manchmal habe ich beruflich mit Leuten wie Mr Armentrout und seinem Boss zu tun. Zu oft für meinen Geschmack. Wenn sie aus der Stadt hier raufkommen, denken sie, sie haben die Stadt mitgebracht. In der Stadt sind sie große Nummern, da haben sie alles Mögliche zu bestimmen, und sie denken, das heißt, dass sie hier oben auch was zu bestimmen haben. Warum auch nicht? Ihre Macht beruht auf Geld, oder? Und das Geld ist an beiden Orten dasselbe: amerikanische Dollar. Sie denken, wir sind Portiers, Oberkellner, Taxifahrer, Chauffeure, Kindermädchen, Hausmeister, Gärtner, Masseure, Hostessen, Butler, Barmänner, Schneider und so weiter, wie die Leute in der Stadt, die sie dafür bezahlen. Und in gewisser Weise haben sie damit wohl recht. Es ist tatsächlich dasselbe Geld, und sie sind diejenigen, die es haben. Außerdem sind sie freie Bürger, Wähler und Steuerzahler. Wir stehen ihnen zu Diensten. Das ist unser Job. Aber sie haben eben nur in gewisser Weise recht. Wir können sie nicht wegschicken, und wir können sie nicht ändern. Aber wir können sie warten lassen.
»Und was soll ich jetzt tun, Mr Armentrout?«, fragte ich ihn.
»Ich würde meinen, das ist offensichtlich, Sheriff«, sagte er. »Finden Sie das Mädchen. Hier oben ist alles Wildnis, nichts als Wald. Wir sind keine Indianer, Sheriff. In diesen Wäldern können wir sie nicht finden — Sie schon. Sie kennen sich hier aus. Wir wollen, dass Sie Pamela finden. Oder einen Beweis, dass sie nicht in dieser Gegend ist.«
»Nicht ganz einfach zu beweisen, dass etwas nicht da ist.«
Armentrout musterte mich mit zunehmender Ungeduld und Abneigung. »Hören Sie, Sheriff«, sagte er, »ich werde mich jetzt nicht auf eine spitzfindige philosophische Diskussion mit Ihnen einlassen. Sie wissen jetzt, was wir wollen. Und ich kann Ihnen versichern, dass Mr Lord in einer Position ist, die es ihm erlaubt, seiner Dankbarkeit angemessen Ausdruck zu verleihen.«
»Da bin ich sicher«, sagte ich.
»Ich meine: großzügig Ausdruck zu verleihen.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Überaus großzügig.«
»Das freut mich für ihn.«
»Also?« Armentrout machte Druck, aber ich hatte zu viel Spaß, um jetzt schon aufzuhören, und darum wandte ich mich wieder der Visitenkarte auf dem Schreibtisch vor mir zu.
»Hier steht: ›Assistent für besondere Aufgaben‹. Was heißt das? Gehören Sie zur Familie, sind Sie ein Verwandter? Ein Freund? Ein Privatdetektiv? Oder vielleicht Polizist?«
»Ich bin Anwalt«, sagte Armentrout.
»Anwalt?«, sagte ich. »Tatsächlich? Ehrlich gesagt hab ich mir das fast gedacht. Ich hatte so ein Gefühl, Sie könnten so was wie Anwalt sein. Mit einer Kanzlei in New York?«
»Nein«, sagte Armentrout. »Meine Dienste stehen ausschließlich Mr Lord zur Verfügung.«
»Wirklich? Ich wollte, ich würde auch ausschließlich für jemanden arbeiten. Möglichst jemand, der so großzügig ist wie Ihr Boss.«
»Sie sind nicht besonders witzig, Sheriff«, sagte Armentrout.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich kann’s nicht ändern. Okay, Mr Armentrout. Meine Deputys und ich werden nach dem Mädchen suchen, wir gehen zu ihren Freundinnen und schauen mal beim jungen March vorbei, wenn der nicht auch weg ist. Sie wollen, dass wir auf den Busch klopfen, und das werden wir tun. Wenn sie lebt und hier im Tal ist, werden wir sie wahrscheinlich ziemlich schnell finden. Ob Sie’s glauben oder nicht: Es ist nicht so leicht zu verschwinden, auch nicht im Wald. Was soll ich tun, wenn wir sie gefunden haben?«