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Eva entzieht sich dem engen Elternhaus und ihrem zudringlichen Stiefvater durch die Flucht. Mit dem Pass einer Toten in der Hand fährt sie nach Hamburg, in die "große weite Welt", von der sie Luxus, Glück und Liebe erwartet. Doch der Luxus ist Lüge, und mit Entsetzen stellt sie bald fest, dass sie Verbrechern in die Hand gefallen ist, für die sie anschaffen soll. Wieder gelingt ihr die Flucht und sie lernt Dirk kennen. Jetzt scheint sie Glück zu haben, denn Dirk bietet ihr an, ihn als Reisesekretärin zu begleiten. Doch noch einmal muss sie kämpfen – den entscheidenden Kampf. Denn an der französischen Mittelmeerküste wird sie wieder von der verbrecherischen Vergangenheit eingeholt. Jetzt muss sie alles auf eine Karte setzen, um endlich das Glück festhalten zu können.Der Band enthält zudem auch die Erzählung "Flotte Reisesekretärin gesucht": Die großen Ferien stehen vor der Tür, und Eva und Regine wollen zusammen in den Urlaub. Doch Regine ist schon drei Jahre älter als Eva, schlechter Umgang obendrein, das meint zumindest Evas Schwiegervater, den sie nicht ausstehen kann, und verbietet die Reise kurzerhand. Als Eva sich zur Lagebesprechung mit Regine im Remise trifft, bricht in der Disko ein Feuer aus und die Freundinnen verlieren sich aus den Augen. Doch Eva findet Reginas Pass. Was für ein glücklicher Zufall, dass die beiden Freundinnen sich auf dem Passbild zum Verwechseln ähnlich sehen! Eva ergreift die Gelegenheit beim Schopf und macht sich auf den Weg in ihren ersten Urlaub ganz allein, und der ist gespickt von Abenteuern wie der Begegnung mit dem zwielichtigen Charly, der ganz und gar nicht das ist, was er vorgibt zu sein. Es kommt immer schlimmer für Eva, doch auf ihrer ereignisreichen Reise durch Europa begegnet sie schließlich auch einem von den Guten ...Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 162
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Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Herzen in Aufruhr
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1977 by Verlag Buch und Welt, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718896
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Sehnsüchtig schaute Eva Krüger für einen Moment zum Himmel. Es war Ende Juni, zwei Tage vor den großen Ferien. Aber die Sonne schimmerte nur schwach durch den gelbgrauen Dunst, der über Düsseldorf lag.
Ihre Schulmappe schlenkernd lief sie zum Fabrikgelände der »FA-Werke«, wo ihre Freundin Regine Karlson als Stenotypistin arbeitete.
Die große Uhr am Eingang zeigte eine Minute vor 17 Uhr, und da kam auch schon Regine.
»Gina«, rief Eva.
»Nett, daß du mich abholst«, sagte Regine. Doch ihre Stimme klang frostig. »Ich hoffe nur, du kannst mir endlich einen klaren Bescheid geben.« Sie ging auf den Parkplatz zu.
Eva, drei Jahre jünger und einen halben Kopf kleiner, bemühte sich, Schritt zu halten. »Wie oft soll ich es dir noch sagen«, beteuerte sie, »ich komme mit … ganz bestimmt!«
Regine schloß ihr Auto, einen weißen sportlichen Zweisitzer, Baujahr 1963, auf. »Komm, Schätzchen, mach’ mir nichts vor! Deinen Eltern hast du doch noch keinen Pieps gesagt!«
»Ich, Mensch, versteh mich doch!« flehte Eva. »Ich hatte einfach keine Gelegenheit.«
»Ach was, du hast die Hosen voll!« Regine schlüpfte auf den Sitz hinter dem Steuer und öffnete die andere Tür.
Eva warf die Mappe nach hinten und stieg ebenfalls ein. »Du weißt doch, wie schwierig mein Stiefvater ist«, maulte sie.
»Schwierig! Daß ich nicht lache.« Sie startete und fuhr mit einer scharfen Rechtskurve los.
Als sie die Ausfahrt passiert hatten, sprach Regine im schulmeisterlichen Ton weiter: »Gerade, daß du einen Stiefvater hast, sollte die Angelegenheit doch erleichtern. Schließlich ist er ein Mann, und du bist ein hübsches Mädchen!«
»Bitte, Regine …«
Aber die Freundin fiel ihr ins Wort: »Glaub nicht, daß ich kein Verständnis für dich hätte. Aber das alles hängt mir allmählich zum Hals heraus. Bring mir endlich die Erlaubnis, daß du mitfahren darfst …«
»Aber die kriege ich doch, das ist doch gar kein Problem!«
Regine ließ nicht locker. »Bis spätestens heute abend!«
Eva seufzte. »Na, schön, ich spreche mit meinen Leuten.«
»Woll’n wir’s hoffen. Wenn du mich suchst, ich bin in der ›Remise‹.«
»Gut, ich komme und sag dir Bescheid.« Eva spürte selber, daß das nicht sehr überzeugend klang. Sie schlug die Sonnenblende herab, auf der an der Rückseite ein kleiner Spiegel war, und betrachtete mißvergnügt ihr kleines Gesicht mit der hellen Haut und den winzigen Sommersprossen auf Nase und Stirn. Der Mund war zu groß, die Nase zu stumpf, und der glatte schwarze Pagenkopf trug auch nicht dazu bei, sie interessanter zu machen.
Sie sah genauso alt aus, wie sie war: 15. Warum sollte ein Mädchen wie Regine Geduld mit ihr haben?
Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und klappte die Blende wieder hoch. »Ich bekomme die Erlaubnis, Gina, ganz bestimmt«, versprach sie, »wenn du wüßtest, wieviel mir daran liegt!«
»Mir doch auch, Kleines!« Regines Stimme klang plötzlich viel weicher als vorher. Sie brachte das Auto vor dem Wohnblock in Düsseldorf-Hamm, wo Eva wohnte, zum Stehen. »Also, mach’s gut. Bis heute abend!«
Aus dem Wohnzimmer plärrte der Fernseher. Am liebsten hätte Eva sich auf ihr Zimmer geschlichen, um mit ihren Gedanken allein zu sein. Aber das konnte sie sich heute nicht erlauben. Sie mußte eine Entscheidung erzwingen. So oder so.
Sie lehnte ihre Mappe gegen die Flurgarderobe und öffnete leise die Tür. Die Vorhänge waren zugezogen, über den Bildschirm flimmerte die Tagesschau. Davor stand nur der schwarze Ledersessel ihres Stiefvaters.
»Guten Abend, Vati«, sagte Eva so liebenswürdig, wie es ihr eben möglich war.
»Tag, Eva«, kam die Antwort aus der Tiefe des Sessels.
»Wo sind die anderen?«
»Bei Tante Anna. Sie hat Geburtstag.«
Zögernd trat Eva näher und schwang sich zu ihm auf die Sessellehne.
Sein Blick war unentwegt auf die Mattscheibe gerichtet.
»Vati …«, wollte Eva das Gespräch beginnen.
»Pssst!« machte er.
Mit Überwindung legte sie ihre Hand auf seine Schulter. »Vati, bitte, es ist wirklich sehr wichtig für mich!«
»Das kann ich mir schon vorstellen … wenn du mich bittest!«
Er streckte den Arm nach ihr aus und zog sie auf seinen Schoß.
»Du kannst alles von mir haben, wenn du nur ein bißchen nett zu mir bist …«
Sie hielt sich stocksteif. »Ja, Vati.«
»Also … was willst du? Ein neues Kleid? Eine neue Hose? Einen Mantel?«
»Nein, Vati, es ist etwas ganz, ganz anderes. Meine Freundin Regine und ich … Du weißt doch, Regine hat sich zu ihrem 18. Geburtstag ein Auto gekauft. Jedenfalls will sie in diesem Urlaub ein wenig wegfahren …, und mich will sie mitnehmen! Falls ihr es erlaubt, heißt das!«
»Na, und wohin soll denn die Reise gehen?« fragte er ganz sanft und streichelte ihr Knie.
»Über die Schweiz, Frankreich, Spanien, Tanger, Casablanca, Afrika«, platzte sie heraus.
»Was …? Da habt ihr euch aber allerhand vorgenommen!«
»Aber du erlaubst es doch, Vati?« fragte sie erregt.
»Mal überlegen.« Seine Hand kletterte an der Innenseite ihres Oberschenkels hoch, dabei lehnte er sein Gesicht an ihres.
Eva überlegte nicht, sie reagierte ganz instinktiv. Sie stieß den Kopf ihres Stiefvaters zurück und rutschte blitzschnell von seinem Schoß.
Herr Krüger sprang auf. »Du blöde Gans!« brüllte er. »Das wirst du mir büßen! Ich werde mich bei deiner Mutter beschweren!«
»Ja, tu’s nur! Tu’s nur!« rief sie zurück. »Aber vergiß nicht, ihr alles zu erzählen! Hörst du? Allesj« Dann stürzte Eva auf den Flur hinaus und in ihr Zimmer. Schluchzend warf sie sich über ihr Bett. Sie heulte vor Wut und Enttäuschung. So nahe hatte sie sich schon ihrem Ziel geglaubt, und dann das! Wenn sie ihren Stiefvater herumgekriegt hätte, wäre bestimmt auch ihre Mutter einverstanden gewesen, denn sie tat ja alles, was er wollte. Jetzt war alles verloren.
Während des Abendessens redeten Mutti und Evas jüngere Stiefgeschwister über Tante Annas Geburtstag.
Plötzlich wechselte Herr Krüger das Thema und sagte in gereiztem Ton: »Unsere Tochter hat mir heute einen reichlich verrückten Plan vorgetragen. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ganz und gar dagegen.«
»Ja, Eva?« fragte Evas Mutter sofort. »Was gibt’s denn?«
Eva hätte am liebsten nichts gesagt. Sie wußte ja, daß es sinnlos sein würde. Aber es lag ihr so viel an dieser seit langem geplanten Reise mit der Freundin, daß sie voller Verzweiflung einen neuen Anlauf nahm. »Regine und ich, wir wollten in ihrem Urlaub, das heißt in den großen Ferien, zusammen wegfahren.«
»Ausgerechnet mit Regine Karlson!?« gab Frau Krüger prompt zurück. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß sie nicht der richtige Umgang für dich ist! Sie war ja auch schon einmal verlobt …«
»Na und?« rief Eva aufgebracht. »Ist das etwa eine Schande?«
»Eine geplatzte Verlobung ist peinlich«, behauptete ihre Mutter, »egal aus welchem Grund es zum Bruch gekommen ist. Ich glaube dir ja gerne, daß sie nicht schuld daran war. Aber daß sie überhaupt verlobt war, zeigt, daß sie Erfahrungen hat, die sich für ein so junges Mädchen wie dich nicht gehören.«
»Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!« protestierte Eva.
»Daß du meinen Standpunkt nicht verstehen willst, beweist nur, wie recht ich habe. Ich sehe es schon ungern genug, wenn du hier in Düsseldorf mit ihr zusammenkommst. Ich denke ja nicht daran, dich mit ihr losziehen zu lassen. Das könnte ich einfach nicht verantworten.«
Eva starrte sie wütend über den Tisch hinweg an. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Wenn du meinst, ich würde durch sie mit irgendwelchen Typen schlafen, dann bist du völlig schief gewickelt! Mit Regine könnte ich mich auf den Mond schießen lassen, ohne daß was passieren würde!«
»Hört euch das an!« rief ihr Bruder Peter begeistert.
Die Schwester prustete los.
»Ihr habt gut lachen!« schrie Eva. »Ihr wißt ja nicht, was gespielt wird! Tatsache ist, es gibt nur einen Ort auf der Welt, an dem mir was passieren kann, und das ist in der eigenen Familie!«
Ihre Mutter wurde weiß um die Nase. »Was soll das heißen?«
»Du hast mich sehr gut verstanden!«
»Das ist unerhört!« Frau Krügers Stimme zitterte. »Du wagst es, deinen Vater zu verleumden … nein, das ist zuviel! Ich habe dich immer in Schutz genommen, aber … also wirklich …«
Es verschlug ihr die Sprache, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie weitersprechen konnte. »Geh sofort auf dein Zimmer! Du hast Hausarrest!«
»Nein!« Eva sprang auf. »Ihr könnt mich nicht einsperren … das dürft ihr nicht! Ich muß doch wenigstens Regine Bescheid sagen!«
»Regine wird schon ganz von selber merken, was die Glocke geschlagen hat«, sagte ihre Mutter energisch.
Eva verlegte sich aufs Bitten und Betteln. Aber es half nichts. Wenig später war sie auf ihrem Zimmer, und die Tür wurde von außen abgeschlossen.
Sie war viel zu zornig, um weinen zu können.
Als Eva sich einigermaßen beruhigt hatte, wusch sie sich erst einmal das Gesicht. Dann drehte sie ihr Transistorgerät an, und zwar in voller Lautstärke — die Eltern sollten sich bloß nicht einbilden, daß sie am Boden zerstört war.
Nach einer Weile aber wurde ihr klar, daß es wahrscheinlich klüger sein würde, wenn sie sich ruhig verhielt. Immerhin bestand eine gewisse Aussicht, daß die Eltern am Abend noch einmal zu Tante Anna fuhren, und wenn sie und die jüngeren Geschwister allein in der Wohnung blieben, würde sich vielleicht noch eine Chance für sie ergeben.
Also drehte sie den Apparat ab und lauschte auf die Geräusche in den anderen Zimmern. Eine gute Stunde ließ sich gar nichts Besonderes ausmachen, und sie war schon der Verzweiflung nahe. Dann wurden Schritte und Stimmen auf dem Flur laut, die Wohnungstür wurde geöffnet und fiel ins Schloß.
Eine Weile noch lauschte Eva atemlos und wagte nicht, ihrem Glück im Unglück zu trauen. Aber die Stille, die nun herrschte, konnte nur eines bedeuten — die Eltern waren weggegangen.
Eva klopfte SOS gegen die Wand — kurz, lang, kurz —, ein zwischen ihr und ihrem jüngeren Bruder Peter oft bewährtes Verständigungszeichen. Peter bumste zurück, und ein wenig später meldete er sich vor der Tür.
»Was ist los?«
»Ach, Peter«, flötete Eva zuckersüß, »bloß eine Frage … Interessierst du dich noch immer für meine Dynamo-Lampe?«
»Kann schon sein«, gab Peter nach kurzem Zögern zu.
»Willst du sie haben?«
Peter verstand sofort. »Wenn ich dich rauslasse, kriege ich einen Riesenkrach.«
»Unsinn. Sie müssen es ja nicht merken. Ich radle bloß mal schnell zur ›Remise‹ raus … und vor Mitternacht sind die doch nicht zurück.«
»Wenn du mir versprichst …«
»Alles, was du willst … nur schließ endlich die blöde Tür auf!«
Zehn Minuten später war Peter im Besitz der Taschenlampe, und Eva verließ in hellen Jeans, einem ärmellosen roten Pulli, Sandalen und einem Regenmantel die Wohnung. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Keller und strampelte los.
Die ›Remise‹ war eine erst vor kurzem eröffnete Diskothek in Düsseldorf-Hamm und zur Zeit der Knüller für junge Leute. Obwohl die Wände schalldicht waren, hörte Eva die Musik, als sie noch ein gutes Stück von dem Schuppen entfernt war.
Das Gebäude war früher Stall und Gerätehaus eines Gutshofes und stand ganz frei in der nächtlichen Landschaft. Vor dem Lokal war ein kleiner Parkplatz, auf dem hauptsächlich VW und kleine Sportflitzer standen. Eva schob ihr Rad um das Haus herum und lehnte es an die Hinterwand. Am Eingang zahlte sie die üblichen fünf Mark — für einen Schnaps, eine Cola und die Musik.
Ein irres Getöse schlug ihr entgegen. Wenn es draußen schon warm gewesen war, dann war es drinnen heiß wie in der Hölle. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in dem auf- und abblendenden Licht der grünen, blauen und roten Scheinwerfer einige bekannte Gesichter ausmachen konnte.
Regine entdeckte sie früher. Sie löste sich aus dem Knäuel der Tanzenden und ging ihrer Freundin entgegen.
»Alles im Eimer?« brüllte sie, um sich verständlich zu machen gegen den Lärm.
»Woher weißt du?« schrie Eva zurück.
»Man muß dich nur ansehen.«
Ein junger Mann, den Eva vom Sehen kannte, war Regine gefolgt.
»Na, komm schon«, drängte Regines Begleiter.
Eva hielt Regine zurück. »Was willst du nun machen?«
Regine warf dem jungen Mann einen koketten Blick zu. »Wer weiß … vielleicht nehme ich Harald mit!«
»Wohin, Süße?« brüllte der junge Mann in ihr Ohr.
Regine antwortete aber nicht. »Bleibst du noch?« fragte sie ihre Freundin Eva.
»Ein bißchen.«
»Dann paß auf meine Tasche auf!« Regine streifte den Riemen ihrer weißen Lackledertasche von der Schulter und gab die Tasche Eva. »Dort drüben sitzen wir … dritter Tisch links!«
Sekunden später war Regine wieder im Tanzgewühl verschwunden.
Eva gab einem Kellner ihren Bon und bestellte eine Cola mit Rum. Sie starrte in das bunte Treiben und fühlte sich unheimlich niedergeschlagen.
Regine würde nun mit diesem Harald loszwitschern oder mit sonst jemandem. Es war zum Kotzen. Der Alkohol tat überhaupt keine Wirkung. Oder doch? Als das weiße Licht aufleuchtete, bildete sie sich ein, eine Stichflamme zu sehen … und jetzt wieder! Die Dekoration aus Papier und Kunststoff schien in Flammen aufzugehen — entweder sie war doch beschwipst oder das war wahnsinnig geschickt gemacht.
Nein!
Eva sprang hoch, riß Regines Tasche und ihren Mantel an sich. Es brannte. »Regine!« schrie sie. »Regine!« Aber sie konnte die Musik nicht übertönen. »Feuer!«
Jetzt merkten es auch die anderen. Die Tanzenden stürzten in alle Richtungen auseinander. Tische und Bänke wurden umgeworfen. Alle schrien und brüllten in Todesangst. Der ganze Saal stand in Flammen …!
In diesem Flammenkessel verlor Eva ihre Freundin Regine aus den Augen und vergaß sie in den nächsten Sekunden vollkommen. Entsetzen hatte sie gepackt.
Von der Decke fielen brennende Dekorationsstücke herunter. Schmerzensschreie übertönten die dröhnende Musik, die gespenstischerweise immer noch aus der Stereoanlage drang.
Der Gestank nach verbrannter Dekoration, verbrannten Haaren mischte sich mit den dicken schwarzen Rauchschwaden.
Eva drehte sich blitzschnell um, glitt über einen Tisch und sprang über Bänke und Stühle dem Ausgang zu. Erst dort wurde ihre Flucht von einer Menschentraube, die sich durch den Gang gekämpft hatte, völlig blockiert.
Jetzt setzte die Stereoanlage schlagartig aus; Panische Schreie und das Knistern der Flammen wurden überlaut.
Ein harter Gegenstand traf Eva auf den Hinterkopf. Sie wäre zusammengebrochen, wenn nicht zwei starke Arme sie aufgefangen hätten.
»Laßt mich durch!« schrie eine schrille Mädchenstimme.
»Halt die Klappe, du blöde Gans!« sagte der junge Mann, der Eva noch immer festhielt, mit ungewöhnlicher Ruhe. »Wer will das nicht?«
Eva, halb betäubt von dem Schlag, den sie abbekommen hatte, nahm alles nur noch wie durch eine Nebelwand wahr. Verzweifelt riß sie die Augen auf, um klarer zu sehen. Gerade als sie dachte, jetzt ist alles aus, wurde sie von den Nachdrängenden weitergeschoben. Sie erreichten die weit geöffnete Tür. Mit einem fast explosionsartigen Druck wurden Eva und ihr Begleiter ins Freie geschleudert.
Eva stolperte und wäre zu Boden gefallen, wenn der junge Mann sie nicht immer noch gehalten hätte. Er zog sie mit sich und ließ sie erst einige Meter vor der brennenden ›Remise‹ frei. Für einen Moment sah sie in ein Paar ungewöhnlich tiefblaue Augen.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Ich glaube … ja«, erwiderte sie und mußte husten.
»Dann sieh zu, daß du nach Hause kommst!«
Ehe Eva ihrem Retter noch danken konnte, war er in der Nacht verschwunden. Unwillkürlich wich sie noch weiter zurück. Ihr Herz klopfte wie wild nach der ausgestandenen Angst, und ihr Mund war ausgetrocknet, ihre Stimme heiser.
Die Flammen schlugen schon aus dem Dach des einstöckigen Gebäudes. Im Lichterschein sah man dunkle Gestalten hin und her rasen und sich zu Gruppen ballen.
Eva hatte den Tod so nahe gesehen. Sie brauchte einige Minuten Zeit, um zu begreifen, daß sie noch einmal davongekommen war. Es war wie ein Wunder. Dann erst wurde ihr bewußt, daß sie Regines weiße Lackledertasche immer noch krampfhaft festhielt, und mit dieser Entdekkung kam die Erinnerung an ihre Freundin zurück.
»Regine!« schrie sie. »Gina!«
Sie rannte zum Eingang zurück. Aber da kam niemand mehr heraus. Alles war nur noch ein gierig loderndes Flammenmeer.
Eva lief um die ›Remise‹ herum. Aus dem Notausgang torkelten ein paar rauchgeschwärzte Gestalten. Regine war nicht darunter.
»Gina!« schrie Eva noch mal verzweifelt. Sie war nahe daran, sich den Weg zur Hölle zurückzubahnen.
Dann aber dachte sie vernünftig. Wenn Regine noch drinnen war, konnte sie niemand mehr retten. Aber wahrscheinlich hatte sie sich, wie die meisten anderen, ins Freie gekämpft.
Mit heulenden Martinshörnern fuhren Streifenwagen vor, Feuerwehrautos und Unfallautos folgten. Feuerwehrmänner bildeten eine Kette und drängten die Neugierigen zurück. Sanitäter betteten Bewußtlose und Verwundete auf Tragen. Ärzte vom Rettungsdienst leistetenmit Sauerstoffapparaten Erste Hilfe. Eva sah auch, wie verkohlte Gestalten in Zinksärge gelegt und in Leichenwagen fortgebracht wurden.
Sie flehte einen Polizisten, der ihr den Weg versperrte, an: »Bitte lassen Sie mich durch! Ich muß meine Freundin finden! Ich muß doch wissen …«
»Wahrscheinlich ist sie längst zu Hause und wartet auf dich!« sagte der Polizist beruhigend.
»Aber wenn sie nun tot ist?«
»Dann kannst du ihr auch nicht mehr helfen.«
Eva gab auf. Ihr war ein anderer Gedanke gekommen: Regines Auto.
Auf dem Parkplatz war es sehr dunkel. Nur noch wenige Autos standen dort.
Eva fand Regines Zweisitzer rasch. Sie hatte so gehofft, daß er nicht mehr dasein würde. Resigniert sank sie neben dem Wagen auf den Boden. Das Vorhandensein des Autos bedeutete, daß Regine bewußtlos, verletzt oder tot war.
Die Autöschlüssel! Vielleicht waren die Schlüssel in Regines Handtasche. Dann konnte sie ja gar nicht fahren.
Sie wühlte im Dunkeln in der Tasche herum. Aber die Schlüssel waren nicht drin. Regine hatte sie wohl in der Hosentasche gehabt. Sie hätte also abfahren können.
Mit einem tiefen Seufzer stand Eva auf. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Morgen würde sie weiter nach Regine forschen, jetzt mußte sie heim.
Aber dann dachte sie mit Schaudern an den Empfang, der sie dort erwarten würde. Sie war ausgebüxt, sie kam viel zu spät, und ihr Fahrrad war auch hin!
Ach, sie sollten ihr doch den Buckel runterrutschen. Nach dem, was sie heute so erlebt hatte, würde sie die elterliche Schimpfkanonade auch noch überstehen.
Der Anhänger der Linie 6 war fast leer. Eva verlangte einen Fahrschein bis Bilk und zahlte aus ihrem Portemonnaie. Die Schaffnerin sah sie sonderbar an, und Eva wurde klar, daß mit ihrem Aussehen etwas nicht in Ordnung war. Sie öffnete Regines Tasche und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt. Mit einigen Tempo-Tüchern und Eau de Cologne gelang es ihr, den gröbsten Schmutz zu entfernen. Sie warf die Tücher in den Papierkorb und wollte den Spiegel zurückstecken, als ihr einfiel, daß sie jetzt, im Hellen, noch einmal nach dem Autoschlüssel suchen könnte.
Sie fand ihn nicht, statt dessen fiel ihr Regines Paß in die Hände; in der gelben Hülle steckte der Führerschein. Ob Regine beides je noch brauchen würde …?
Eva blätterte im Paß. Auf dem Foto sah Regine erheblich jünger aus, als Eva sie kannte. Kein Wunder, der Ausweis war am 22. September 1967 ausgestellt worden. Damals war Regine drei Jahre jünger, ihr Gesicht war runder gewesen, und sie hatte die Haare kürzer und mit einem Pony getragen, genau wie Eva heute.