Herzensbrecher - Anne B. Ragde - E-Book

Herzensbrecher E-Book

Anne B. Ragde

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Beschreibung

Jonetta sehnt sich nach Balance in ihrem Leben – doch ihr erwachsener Sohn wohnt noch im Kinderzimmer: Der neue große Roman der norwegischen SPIEGEL-Bestsellerautorin

Jonetta sehnt sich nach Gleichgewicht. Das Gleichgewicht, das sie spürt, wenn sie im Teich schwimmt oder wenn sie in der Außendusche den Wassertank öffnet und sich vom lauwarmen Wasser umspülen lässt. Sie sehnt sich nach der Ruhe beim Kreuzworträtsel, während im Hintergrund das Radio läuft. Das einfache Leben, in dem der Morgenkaffee so lange dauern kann, wie er will. Sie hat all das in ihrem Häuschen, aber sie hat dort auch Ragnar. Ein erwachsener Sohn ohne Job, mit Stapeln ungeöffneter Rechnungen im Kinderzimmer. Ein erwachsener Sohn, der mit seiner Mutter in den Urlaub fährt und sich das beste Schlafzimmer nimmt, entscheidet, was er im Fernsehen läuft, wenn überhaupt einsilbig antwortet, und seiner Mutter schmutzige Laken hinterlässt. Wo war ihr Junge geblieben, der sagte, dass er sie liebte, ohne zu wissen, was das Wort bedeutete? Wird Jonetta es schaffen, diesen großen, seltsamen, verschlossenen Mann zu erreichen? Während ein paar Ferienwochen lassen dramatische Ereignisse allen Groll hochkommen. Und die Frage: Wann reicht es?

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Seitenzahl: 358

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Zum Buch

Jonetta sehnt sich nach Gleichgewicht. Das Gleichgewicht, das sie spürt, wenn sie im Teich schwimmt oder wenn sie in der Außendusche den Wassertank öffnet und sich vom lauwarmen Wasser umspülen lässt. Sie sehnt sich nach der Ruhe beim Kreuzworträtsel, während im Hintergrund das Radio läuft. Das einfache Leben, in dem der Morgenkaffee so lange dauern kann, wie er will. Sie hat all das in ihrem Häuschen, aber sie hat dort auch Ragnar. Ein erwachsener Sohn ohne Job, mit Stapeln ungeöffneter Rechnungen im Kinderzimmer. Ein erwachsener Sohn, der mit seiner Mutter in den Urlaub fährt, sich das beste Schlafzimmer nimmt, entscheidet, was im Fernsehen läuft, einsilbig antwortet und seiner Mutter schmutzige Laken hinterlässt. Während ein paar Ferienwochen lassen dramatische Ereignisse allen Groll hochkommen. Und die Frage: Wann reicht es?

Zur Autorin

ANNE B. RAGDE wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt mit dem Norwegian Language Prize und dem Norwegischen Buchhandelspreis. Mit ihrem Roman »Das Lügenhaus« schrieb sie sich in die Herzen der Leserinnen und Leser, ihre Romane erreichten in Norwegen eine Millionenauflage. Die Autorin lebt heute in Trondheim.

Anne B. Ragde

Herzensbrecher

Roman

Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Hjerteknuseren« bei Strawberry Publishing, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2021 by Anne B. Ragde

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Forlaget Oktober AS, Oslo

Published by Agreement with Oslo Literary Agency

Covergestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf und unter Verwendung eines Motivs von Henriette Mørk

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29262-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Nachher

Da kam der Arzt, jetzt kam er, da war er, er musste es sein, in weißem Kittel und weißen Plastikholzschuhen, Crocs, so hießen die doch, und er hatte keine Blutflecken auf dem Kittel, das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder vielleicht nicht, sie hatten ihren Jungen wohl noch nicht operieren können, so viel Zeit war noch nicht vergangen. Außerdem hatten sie ja keine Möglichkeit, eine solche Operation durchzuführen, hier auf dem Dorf.

»Großer Gott, großer Gott, großer Gott«, flüsterte sie.

Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr zuzuhören, als sie gerufen hatte, sie müssten einen Hubschrauber kommen lassen, sie hatten sie einfach nur hin und her geschoben, hatten auf einen Stuhl gezeigt und waren wieder verschwunden. Der Arzt hielt so eine Platte in der Hand, mit einer Art Metallklammer oben, unter dieser Klammer waren mehrere Formulare befestigt.

Der Arzt starrte die Papiere an, runzelte energisch die Stirn, sodass sich in der Mitte eine tiefe Furche bildete, vielleicht brauchte er eine Brille, vom Alter her könnte das stimmen, vielleicht hatte er seine Brille irgendwo vergessen und sich nicht die Zeit zum Suchen genommen, bevor er zu ihr kam, der nächsten Angehörigen. Ihm war sicher klar, dass es eilte, er konnte nicht lange nach einer schnöden Brille suchen, ehe er sie darüber informierte, dass …

»Jonetta Hågsnes?«

Er schaute kurz hoch, dann fiel sein Blick wieder auf die Papiere.

»Ja …«, flüsterte sie.

Sie war vom Stuhl aufgesprungen, der durch die Wucht ihrer Absätze nach hinten gestoßen wurde, sodass sie im Bruchteil einer Sekunde begriff, weit hinter allen anderen Gedanken: Wenn sie wieder auf den Stuhl zurücksinken müsste, wenn der Arzt ihr jetzt den Tod mitteilte, ja, dann müsste sie versuchen, die Armlehnen hinter sich zu fassen zu bekommen, damit sie sich zurücksinken lassen könnte, und alles wäre vorbei, denn nichts würde danach mehr gehen, dann würde sie fallen, endgültig.

»Sie sind seine Mutter?«, fragte er. »Die Mutter von Ragnar Hågsnes?«

»Ja.«

Der Arzt war jetzt stehen geblieben, sein Körper federte auf und ab, er nickte und starrte einen Moment den Boden vor ihr an, holte Luft, sehr langsam, deshalb schrie sie laut, ganz plötzlich, ein schriller Tierschrei, und dabei fiel sie auf die Knie. Die Schmerzen jagten die Waden hoch und in die Oberschenkel und fühlten sich an wie ein Flammenring, der immer wieder um ihre Knie wirbelte, und sie musste sich aufrichten und an den Stuhl klammern, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Jetzt würde er es sagen, aber er schreckte davor zurück, natürlich tat er das; obwohl sie professionell waren, waren sie ja auch nur Menschen, deshalb hatte er so langsam Luft geholt.

»Sagen Sie es schon. SAGENSIE’S!«, schrie sie.

Warum dauerte alles so lange? Warum musste sie hier so vieles wahrnehmen, warum konnte er nicht einfach …?

»Was … was meinen Sie?«

Er hob langsam den Kopf und starrte sie an, jetzt überraschend interessiert.

»Was ist mit meinem Sohn? Er hatte einen Schlaganfall, oder nicht? Eine Hirnblutung oder so etwas.«

»Nein, er …«

Sie schaffte es kaum, auf die Antwort zu warten. Ragnar, ihr einziges Kind, ihr Sohn, war tot. Sie zog sich auf den Stuhl, seitlich, und kniff dabei die Augen ganz fest zu.

»Er hatte drei Komma eins Promille, aber Sie können ihn jetzt mit nach Hause nehmen«, sagte der Arzt.

Es gelang ihr, die Augen zu öffnen, sie zwang sich, den Blick des Arztes zu erwidern, und schluckte.

»Promille?«

»Ja, es war gut, dass Sie ihn hergebracht haben, damit wir ihm den Magen auspumpen konnten, aber natürlich war schon einiges in seinem Blut. Wir brauchen ihn jedenfalls nicht über Nacht hierzubehalten, er sitzt draußen und wartet auf Sie.«

Vorher

»Jetzt greif doch zu«, sagte sie, müde an ihren Teller gerichtet, während sie ein Stück Möhre und einen Fetzen Fischauflauf aufspießte.

Sie rechnete nicht mit einer Antwort.

Sie saßen einander gegenüber an dem Klapptisch in der kleinen Küche der Ferienhütte. Zwischen ihnen stand ein Topf mit geschälten Kartoffeln und Möhren. Daneben, auf einem Korkuntersetzer, eine Aluminiumschale mit Fischauflauf aus der Tiefkühltruhe. Sie hatte ein bisschen zusätzlichen Käse darüber gerieben, ehe sie die Form in den alten Backofen schob, der früher bei ihnen zu Hause gestanden hatte. Der winzig kleine Topf mit der zerlassenen Butter stand auf einem an der Ecke angesengten Topflappen. Die Butter war von einer Schaumschicht bedeckt. Schnittlauch hatte sie vergessen zu kaufen.

Früher einmal hatte sie ein großes Büschel Schnittlauch gehabt, das auf der Sonnenseite der Hütte wuchs, aber das war nun von irgendetwas anderem überwuchert, sie hatte keine Ahnung, wie das hieß. auch wenn um den Hochsommer herum hin und wieder kleine Schnittlauchbüschel auftauchten. Sie hatte eigentlich kein besonderes Interesse an Schnittlauch, abgesehen davon, dass sie die lila Blüten erkannte, die gegen Mittsommer auftauchten, und dass sie einen Topf kaufte, wenn sie gerade daran dachte. Wenn sie alles abgeschnitten hatte, stopfte sie den kleinen Wurzelballen mitten in das namenlose Gewächs, in der Hoffnung, dass es sich um einen besonders kräftigen Schnittlauchtyp handelte, der gedeihen und alles Unwillkommene verdrängen, der breit und stark heranwachsen würde.

Die Teller und Gläser auf dem Tisch passten nicht zueinander, eigentlich passte hier in der Hütte nichts zueinander.

Er war eben aus seinem Zimmer gekommen und hatte sich auf die Holzbank vor der Wand gesetzt, mit Boje auf den Fersen. Es war schon eine Weile her, dass sie gerufen hatte, das Essen sei fertig, deshalb war es jetzt wahrscheinlich auch nur noch lauwarm, und das Wasser im Glas vermutlich ebenso. Sie selbst war fast fertig mit ihrer Portion, nach dem Beerenpflücken war sie wunderbar hungrig gewesen.

Sie war viel weiter gegangen als sonst, oben über Langbuåsen und dann nach Norden, und ihre Arme waren müde, weil sie den Eimer getragen hatte. Dass sie auch nie lernte, einen Rucksack mitzunehmen, und mehrere kleinere Dosen für die Beeren, damit sich die nicht gegenseitig zerquetschten. Moltebeeren waren eine weiche, verletzliche Last. Aber sie wusste ja nie, wie viele sie finden würde. Boje hatte sie zu Hause gelassen, bei ihm im Zimmer, der Hund war alt, fast dreizehn Jahre alt. Ziemlich taub und träge und nicht mehr imstande zu langen Touren. Aber er hatte keine Schmerzen, und Appetit hatte er auch, deshalb durfte er leben.

Nach dem Essen wollte sie duschen. Draußen, vor der fensterlosen Wand; sie hatte den kleinen Wassertank so angebracht, dass die Sonne das Wasser wärmte. Am Vormittag hatte die Sonne ein bisschen geschienen, ganz hundekalt wäre das Wasser also wohl nicht, außerdem hatte es draußen mindestens zwanzig Grad.

Plötzlich fiel die Nachmittagssonne durch das kleine Fenster und blendete sie, sie musste die Augen zukneifen. Es tat gut, auf diese Weise von der Sonne gestört zu werden. Sie freute sich so ungeheuer auf die Dusche, darauf, danach in Pantoffeln und Bademantel zu schlüpfen und sich das Kreuzworträtsel aus der Zeitung vorzunehmen, das Einsendedatum war sicher längst überschritten, aber sie fand es beruhigend, mit einem Kreuzworträtsel dazusitzen, auszuradieren und ganz vorsichtig zu schreiben, wenn sie unsicher war, ein bisschen fester, wenn sie glaubte, das richtige Wort zu wissen. Und dass das möglich war! Einfach nach einer Dusche am Nachmittag den Bademantel anzuziehen. Dass es möglich war, das zu tun, so zu leben, das war so schön. Und dann redeten die Leute über Millionen von Kronen und alles, was man damit machen könnte, das sah sie im Fernsehen, sie las auch darüber, und dabei reichte es doch, einen guten Fischauflauf im Magen, Beeren im Eimer und ein Kreuzworträtsel vor der Nase zu haben, nach dem Duschen.

»Ich habe jede Menge Moltebeeren gefunden«, sagte sie, angestrengt enthusiastisch, obwohl sie ihn nicht ansah. »Ich hab sie ins Moor gelegt, und morgen kann ich sie dann im Laden in die Tiefkühltruhe stecken.«

Die Leute in dem alten Supermarkt, Coop, wie der jetzt wohl hieß, waren so hilfsbereit, sie konnte ihre Beeren dort im Kühlraum lagern, wenn das nötig war. Sie hätte sich natürlich eine kleine Tiefkühltruhe für die Hütte kaufen können, aber wo hätte die stehen sollen? Vielleicht draußen auf dem Gang, unter den Kleiderhaken, es spielte doch keine Rolle, wenn die Jacken über den Deckel schleiften. Das dachte sie jeden Herbst zur Beerenzeit, jeden einzelnen Herbst, aber sie kaufte keine.

Sie rechnete auch jetzt nicht mit einer Antwort von ihm. Ihm waren die Moltebeeren sicher so was von egal. Fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitslos, wohnte zu Hause. Was interessierten den schon Moltebeeren?

Sie schaute ihn rasch an, ohne dass er es merkte. Er schien bis jetzt geschlafen zu haben, jedenfalls hatte er im Bett gelegen, das verrieten seine Haare. Jetzt saß er nur da und starrte seinen leeren Teller an, machte keine Anstalten, zuzugreifen. Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr an der Wand. Halb vier. Vielleicht sollte sie das Radio einschalten, es war so still hier drinnen, sie konnte nur ihre eigenen Kiefer hören, die mühelos gekochte Kartoffeln und Fischstücke zermahlten.

»Schalt doch mal das Radio ein«, sagte sie. »Du sitzt näher dran.«

Sie sah, wie er den Kopf drehte und lange das Radio anschaute, ehe er sich wieder seinem leeren Teller zuwandte. Sie kaute. Dass er das aushielt. Aber sie hatten ja Ferien, alle beide. Dennoch. Dass er das aushielt! Sich einfach zu nichts aufzuraffen … Er hätte doch mit ihr kommen können, um ein paar Beeren zu pflücken. Sie hatte ihn sogar ganz automatisch gefragt, bevor sie gegangen war, hatte leise an seine Tür geklopft. »Ragnar! Kommst du mit Beeren pflücken?«

Aber dann war sie einfach aufgebrochen, konnte nicht darauf warten, dass er doch nicht antwortete. Sie wusste, dass nicht einmal Boje sie gehört hatte, sie schaffte es einfach nicht mehr, darauf zu warten, dass er nicht antwortete, sie wollte in ihrem eigenen lichten Universum sein. Ein teilweise sonniger Augusttag mit Moltebeeren, die wie orange Flecken unter zwitschernden Vögeln und trägen Mücken im Moor leuchteten, und ihre eigenen Finger, die saftige Beeren pflückten, eine nach der anderen. Sie hatte auch jede Menge Pilze gesehen, und wie immer ärgerte sie sich, weil sie die einzelnen Arten nicht unterscheiden konnte. Da standen sie und waren Gratiskost, aber sie traute sich nicht, irgendwelche Pilze zu sammeln, sie wagte nicht einmal, sie zu berühren. Sie müsste sich vielleicht zu einem Kurs anmelden, jetzt, da bald der Herbst beginnen würde. Jeden Herbst dachte sie dasselbe.

»Das Radio«, wiederholte sie. »Schalt das ein. Und greif jetzt endlich zu, ehe alles kalt wird und gerinnt.«

»Bäumchen, Bäumchen, wechsel dich. Die Glock hat zwölf geschlagen. Der Kaiser schickt seine Soldaten hinaus, so weiß wie Schnee, so schwarz wie …«

Sie fuhr zusammen, ihre Gabel fiel mit einem scheußlichen Klirren auf den Teller, sie hörte auf zu kauen, wagte kaum zu atmen, starrte ihn nur an.

»Wie ein … Feuer! Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tooood …«

Er grinste und schaute ihr ins Gesicht, sie sprang auf und ging die wenigen Schritte zur Anrichte, verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich um, war bereit, nachsichtig zu lächeln, wenn das hier ein plötzlicher Einfall von ihm wäre.

Dann sang er weiter. Mit einer Melodie. Er sang laut, und jedes Wort war fast angestrengt deutlich. Dabei starrte er ihr in die Augen. Starrte ihr geradewegs in die Augen. Das tat ausgerechnet er. Er, der immer wegschaute, wenn sie ihm in die Augen blickte, er schaute ihr nie in die Augen, das kam einfach nicht vor, bisher nie, und sein Blick war wütende Leere.

Wütend und leer.

»Wer zuletzt kommt, kommt in den schwarzen Tohohopf!«

Offenbar lief in seinem Gehirn etwas falsch.

»Hör auf!«, schrie sie. »Jetzt hör gefälligst auf!«

Etwas früher

»Komm, jetzt komm doch her, Ragnar. Du musst kommen, setz dich ins Auto, mein Junge.«

»Und eins für Vater und eins für Mutter und eins für Brüderchen und zwei für …«

Natürlich stimmte mit seinem Gehirn etwas nicht, da blutete etwas oder hatte einen Kurzschluss ausgelöst. Jetzt ging er hinüber und streichelte die eine Außenwand, die hätte im letzten oder vorletzten Jahr gestrichen werden müssen, die hätte er im vorigen oder vorvorigen Jahr streichen müssen, die Farbe stand in Plastikeimern im Schuppen, und nun murmelte er irgendetwas vor sich hin, oder er sang, sie war nicht sicher. Sie spürte, wie Schweiß aus ihren Achselhöhlen und an ihrem Körper hinunterlief, wie er auch ihre Schläfen kitzelte und wie sich die Tropfen auf der Kopfhaut bildeten und an ihrem Hals hinabrannen.

»Hör jetzt auf zu singen. Bitte. Nicht reden, nicht singen«, sagte sie und schaute weg, wollte nicht riskieren, noch einmal seinem Blick zu begegnen. »Versuch, ganz still zu sein, so still, wie du kannst. Verbrauch jetzt keine Kraft für … keine Kraft für das hier. Nicht mehr die Wand streicheln, komm her, sonst kriegst du noch Splitter in die Finger.«

Sie ging hinüber und trat vor ihn, aber er erwiderte ihren Blick nicht, jetzt nicht, jetzt plötzlich nicht mehr, aber es war klar, das Gehirn, man begriff ja gar nicht, wie das funktionierte, diese vielen Zellen, in einem graurosa Brei, niemand hatte so richtig eine Ahnung, wie das funktionierte, nicht einmal die, die so taten, als ob sie es wüssten.

So dachte sie, so schichtete sie eine Sekunde auf die andere, so versuchte sie, einen zusammenhängenden Augenblick zu erschaffen, der zu einer dauerhaften Wirklichkeit werden sollte. Dort drinnen stand sein Teller, noch immer leer, er hatte ja nichts gegessen. Fischauflauf, dachte sie, und Kartoffeln und Möhren. Die kriegt dann Boje, mit einem Klecks Butter, er aß Fisch lieber als Fleisch, dieser Hund, sicher war er deshalb noch so gelenkig, obwohl er alt war.

Sie zupfte vorsichtig an Ragnars Hemdsärmel, er trug das rote Hemd, das sie gestern sorgfältig gebügelt hatte, das er immer gern anzog, wenn sie in der Hütte waren, oder … sie wusste nicht, ob er es gern trug, aber er zog es gern hier in der Hütte an, ein rotes Flanellhemd, das ihn vielleicht an früher erinnerte, was wusste sie denn schon, es war ein Hemd aus der Zeit, als sein Vater noch gelebt hatte, das Hemd hatte dem Vater gehört und war uralt. Es war an den Ellbogen fadenscheinig, deshalb hatte sie vorsichtig gezupft, denn wenn es riss, dann wüsste sie nicht, nein, dann wüsste sie wirklich nicht, was passieren würde.

Und in der Sekunde, in der sie ihn am Hemdsärmel zupfte, hob er beide Hände und schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und sang: »Und das war der kleine Raaaagnaaar!«

Raaagnaaar!

Sie standen vor der Hütte, die Tür war offen, da standen sie nun. Da stand sie und blieb einfach stehen, mit hängenden Armen, sie spürte heiße Tropfen aus ihren Augen quellen, sie fühlte nicht, dass sie weinte, aber offenbar weinte sie doch, sie schaffte es nicht, die Tränen wegzuwischen, er würde ja doch nicht auf sie hören, und er war so viel größer als sie, und jünger, und stärker, und jetzt nieselte es, es war ziemlich warm, warm genug, dass es im Moor noch immer von kleinen Insekten wimmelte, auch wenn die Mücken verschwunden waren. Sie registrierte alles.

Alles. Obwohl sie das nicht wollte. Und sie spürte, wie warm es war, obwohl die Sonne jetzt hinter den Kiefern unterging. Wie gut, dass sie es nicht geschafft hatte zu duschen, dass sie noch ihre Kleider anhatte. Dem Himmel sei Dank dafür, wenigstens das.

Nun rieb sie sich endlich die Wangen, mit beiden Händen. Er war ihr einziges Kind, das dachte sie, und das murmelte sie: »Das ist mein einziges Kind.«

Dieser träge Fünfundzwanzigjährige, der fast nie mit ihr sprach und der jetzt lebensgefährlich krank war, er war der einzige Mensch auf der Welt, der ihr etwas bedeutete, aber sie bedeutete ihm nichts, das wusste sie ja, wo er es nie über sich brachte, ihr zu antworten, auf sie einzugehen. Aber er war doch sicher etwas ganz Besonderes. Das war er doch? Doch im Moment begriff er wahrscheinlich nicht, dass es wichtig war, vielleicht glaubte er, sie wolle ihn in irgendeine Richtung schieben.

Verhielt es sich etwa so? Sie hatte niemals etwas von ihm verlangt oder sich vorgestellt, was er werden würde, hatte nur darauf gewartet, dass er selbst den Weg finden würde, darauf gewartet, dass sie ihn loben könnte, ihn aufbauen, hatte darauf gewartet, ihn mit einer kleinen Blume oder einem originellen Becher in seiner ersten Wohnung zu besuchen, solche Dinge. Aber jetzt würde ihr Junge vermutlich sterben, jetzt war es kurz davor, jetzt konnte es nicht anders sein als kurz davor, der nächste Arzt wohnte im Dorf, zwei Kilometer von der Hütte entfernt. Deshalb registrierte sie selbst das kleinste Detail; worauf sie trat, sie hatte noch immer die Hausschuhe an, die sie nur in der Hütte trug, was sie dachte, wie sie ihn ins Auto schaffen sollte, und sein Blick, die ganze Zeit sein Blick, wie der ausgesehen hatte.

Wütend und leer. Leer und wütend.

Er hatte sie nicht erkannt. Hatte sie nicht erkannt. Nicht erkannt. Seine eigene Mutter nicht erkannt. Das war die einzige Erklärung für seinen Blick. Die einzige Erklärung. Sie war für ihn wie eine Unbekannte gewesen. Denn warum hätte er auf sie wütend sein sollen? Sie hatte ihm doch niemals etwas getan.

Als er gesungen hatte, er sei der kleine Ragnar, und als er ihr in die Augen geschaut hatte, hatte er nicht begriffen, dass sie seine Mutter war. Und nun spürte sie, wie eine Wimper an der darüber klebte, sicher kam das von der Wimperntusche, die zerlaufen war, sie bohrte sich den Finger ins Auge, rieb und rieb, ihr war es egal, dass sie die Wimperntusche in ihrem ganzen Gesicht verschmierte.

Sie öffnete die Augen wieder, und er war verschwunden.

Unmittelbar vorher

»Ragnar! RAGNAAR!«

Sie rannte zwischen den Häuschen herum, die »Hof« genannt wurden, obwohl es sich nur um eine Hütte, ein Plumpsklo und einen Schuppen handelte. Sie hatte die Hütte nach Sigvalds Tod für das Geld von der Lebensversicherung gekauft, als sie mit Ragnar ein neues Leben beginnen, die Tage wieder zusammenfegen wollte. Ragnar war sechzehn gewesen, als er seinen Vater verloren hatte, sechzehn sei das schlimmste Alter, hatte sie gelesen, ohne dass erklärt worden wäre, im Verhältnis wozu es das Schlimmste sei. Und jetzt rannte sie. Rannte und schrie.

»Ragnaaar! Hör jetzt auf deine Mama! Komm HER, komm schon … wenn du dich versteckt hast.«

Sie hielt Ausschau nach Boje, aber der lag noch immer unter dem Tisch, hatte von der ganzen Aufregung rein gar nichts mitbekommen. Sie hatte das Gefühl, sich in Zeitlupe zu bewegen, obwohl sie rannte, sie hatte das Gefühl, dass alles zusammenbrach, hinter ihren Augen, in ihren Ohren, es knackte heiß und lebensbedrohlich, und sie dachte, dass nun auch sie sterben könnte, ganz plötzlich, jeden Moment, denn das hier war wohl etwas, woran man sterben konnte, davon war sie zutiefst überzeugt, ein normales Gehirn konnte einen solchen Druck doch unmöglich aushalten, einen solchen Lärm, es war, als wollte ihr Gehirn ihr die Augen von innen aus dem Kopf schieben, sicher hatte sie deshalb geglaubt, die Wimperntusche habe ihr eines Auge zusammengeklebt.

Sie presste sich ein paar Finger auf jedes Auge, um die Augen festzuhalten, dennoch pochte es dahinter, wurde sie jetzt blind? Sie öffnete die Augen und sah rot, alles war rot. Und nun entdeckte sie Ragnar unten hinter dem Plumpsklo, er saß da, hatte die Arme um die Knie geschlungen und wiegte sich vor und zurück, die Nase zwischen die Knie geschoben, und sie konnte wieder normal sehen, denn jetzt sah sie, dass sein Hemd zwar rot war, das andere aber nicht. Das rote Hemd war an einigen Stellen nass, er war offenbar den Hang hinabgerollt. Er wiegte sich heftig vor und zurück, vor und zurück.

»Ragnar! Wir müssen zum Doktor! Jetzt musst du kommen!«, sagte sie. »Nun komm doch schon!«

Sie bohrte die Absätze ihrer Sandalen in den Schlamm, während sie nach unten ging, sie spürte die Kälte an den Knöcheln, sie hoffte, dass der Boden fest genug wäre, um nicht in den ganzen Matsch zu gleiten, damit nicht alles aufspritzte und stank. Es stank jetzt schon ziemlich arg, sie befanden sich nur noch wenige Meter von den Haufen mit Exkrementen entfernt.

»Ragnar, mein Junge … mein bester Junge …«

Er wiegte sich weiter vor und zurück, murmelte und sang, sie konnte die Wörter nicht mehr hören.

Sie beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und brüllte: »RAGNAR! JETZTKOMMSTDU!«

Er richtete sich langsam auf, den Blick vor sich auf den Boden geheftet. Sie rutschte die letzten Meter nach unten und packte seine eine Faust, er wehrte sich nicht, dann kroch er Schritt für Schritt hinter ihr den Hang hoch. Plumpsklos sollten immer oben an hohen Hängen stehen, zum Glück hatte er nicht mitten in der Kacke gesessen, aber es stank, großer Gott, wie es stank, wenn sie sich bewegten und den massiven, schweren Geruch aufwirbelten, der hier in aller Ruhe gelegen hatte, in aller Stille, lange.

Sie war jetzt verbissen, sie keuchte, zog ihn hinter sich her, sein gewaltiges Gewicht, er war wirklich nicht er selbst, aber sie wusste, was sie zu tun hatte. Nämlich ihn hinten ins Auto setzen, was er sich plötzlich gefallen ließ.

Sein Schädel unter ihrer Hand, damit er nicht gegen die Metallkante über der Tür stieß. Sie drückte ihn behutsam und zielsicher nach unten, er leistete ein wenig Widerstand, aber jetzt musste er tun, was sie wollte, jetzt reichte es, jetzt konnte sie nicht mehr, doch natürlich konnte sie noch, sie konnte alles, er war ihr Junge, natürlich kann ich noch, dachte sie, es gibt keine menschliche Grenze für das, was ich für meinen Jungen tun kann, wenn es wirklich sein muss.

Und sie würde nicht mehr weinen. Weinen kann dem Körper so schnell alle Kräfte entziehen, dann würde sie einfach nur mit dem Rücken an dem einen Hinterreifen nach unten sinken und aufgeben.

Aber eine Mutter durfte niemals aufgeben, und in den kurzen Sekunden, in denen sie die Hand um seinen warmen Schädel krümmte, wusste sie, dass sich ihre Finger jetzt nur wenige Millimeter oder Zentimeter von der Katastrophe entfernt befanden, wo sich das Blut durch die Venenwand gepresst hatte und in empfindlichem Hirngewebe Amok gelaufen war. Oder vielleicht war es eine Geschwulst, die just an diesem heißen Nachmittag in der Hütte so groß geworden war, dass alles in den Abgrund stürzen musste. Sie schaute blitzschnell zu ihm, er sah sie nicht an. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Es gab nichts, woran er den Kopf hätte lehnen können, der Sitz endete in Schulterhöhe, aber er ließ den Kopf trotzdem schlaff nach hinten hängen.

Der Sicherheitsgurt war ihr jetzt egal. Sie musste sich auf den Kopf konzentrieren, da drinnen war alles schiefgegangen, aber wie sollte sie das jetzt hinbekommen? Sie stand vor der offenen Autotür und atmete schwer und sah ihn an, war er eingeschlafen? Nun fiel es ihr ein, sie stürzte in die Hütte und holte vier Sofakissen, war gleich wieder da und legte sie um seinen Kopf.

Sie blieben liegen. Die Kissen blieben liegen. Jetzt mussten sie auch liegen bleiben, während sie fuhr.

Sie startete den alten Volvo, dankte dem Himmel für das warme Wetter, denn dann sprang der Motor immer an, sie nahm zugleich den Gestank ihrer Hausschuhe wahr, sie war wohl dichter an den Kackehaufen herangeraten, als sie gedacht hatte, vermutlich zog die Flüssigkeit dort in den Boden ein. Sie ließ das Gaspedal für einen Moment los, starrte vor sich hin, holte Luft, warf einen Blick in den Rückspiegel, er sah genauso aus wie vorher. Nein, sie hätte keine Zeit gehabt, die Schuhe zu wechseln, dann hätte sie sich außerdem die Füße waschen müssen, und ihr Junge hatte eine Gehirnblutung, sie trat wieder auf das Gaspedal.

Jetzt musste sie ganz schnell zu Leuten, die sich mit solchen Dingen auskannten.

Der Arzt im Dorf konnte doch eigentlich bei Gehirnblutungen nicht kompetent sein, vielleicht würde dort ein Hubschrauber gerufen werden, aber der Arzt musste wohl zuerst eine Diagnose stellen, um dann einen schweineteuren Rettungshubschrauber anfordern zu können. Sie war schon einmal dort gewesen, als eine Kreuzotter versucht hatte, sich in ihrer einen Wade zu verbeißen, sie wusste nicht mehr, wie man sie damals behandelt hatte, aber sie erinnerte sich an die altmodische Tür, wo ein schwacher Geruch nach alter Wohnstube sich mit dem Medizingeruch vermischte, und die Bänke im Wartezimmer waren hellgrün gestrichen, wie in einer Küche aus dem vorigen Jahrhundert. Oder aus dem davor. Sie lenkte den Wagen auf dem schmalen, unebenen Weg hinab zur Hauptstraße und murmelte vor sich hin: »Müsste ich? Hätte ich? Hätte ich anrufen sollen? Oder jetzt?«

Sollte sie selbst einen Hubschrauber bestellen? 113 wählen und sagen, es gehe um Leben und Tod?

Sie wusste wenig darüber, aber sie hatte im Netz etwas dazu gelesen, sie hatte zu Pfingsten und zu Ostern Berichte gesehen, wenn im Fernsehen nur Reportagen liefen. Man sollte Rücksicht nehmen auf Gehörgeschädigte und Menschen im Rollstuhl, an alle denken, die depressiv sind, und wenn jemand sich in Zuckungen auf dem Boden windet, dann etwas Weiches zwischen die Zähne schieben, da es sich vermutlich um einen epileptischen Anfall handelt, die Betroffenen könnten sich die Zunge abbeißen. Aber sich wirklich beeilen, das musste man bei Gehirnblutungen tun. So wie jetzt.

Nein.

Sie traute sich nicht. Traute sich nicht. Traute sich. Nicht.

»Nein«, flüsterte sie und merkte, dass sie sabberte. Jetzt hatte sie die Hauptstraße erreicht und bog vorsichtig nach links ab, während sie sich den Mund abwischte und ihn im Spiegel ansah. Er hatte noch immer die Augen geschlossen, und wie durch ein Wunder lagen die Kissen da, wo sie liegen sollten. War er vielleicht schon tot? War er das?

WAR er das? Sie wagte nicht, anzuhalten, um nachzusehen, wagte nicht, anzurufen, musste nur weiterfahren, sie trat fester auf das Gaspedal, jetzt, da die Straße schnurgerade vor ihr lag. Es hatte geheißen, die betroffene Person sei schief. Im Gesicht, oder sie habe einen lahmen Arm, verdammt aber auch, dass sie sich gerade nicht daran erinnern konnte. Musste man nach einem Schlaganfall immer schief aussehen? Er war jedenfalls nicht schief. Sie würde wie eine Vollidiotin wirken, wenn sie jetzt anrief, einige Kilometer von der Arztpraxis entfernt, vielleicht wäre sie sogar erstattungspflichtig, würde in den Zeitungen als hysterische Mutter hingestellt werden, obwohl das Kind fünfundzwanzig Jahre alt war. Alle Gedanken stießen seitlich gegeneinander, unlösbar, sie hatte beide Hände auf dem Lenkrad, sie spürte genau, wo in ihrer Tasche das Mobiltelefon lag, während ein heftiger Puls gegen ihren Kehlkopf und gegen ihre Rippen hämmerte, ein HEFTIGER Puls, es fühlte sich an, als ob ihre Ohrläppchen vom Kopf wegstrebten, aufgrund der Pulsschläge, die sich in die kleinen Perlenohrstecker fortpflanzten, die sie am selben Morgen eingesetzt hatte, war das wirklich am selben Morgen gewesen? Sie fuhr mit einer Hand an ihr Ohrläppchen, doch, da saß der Stecker. Es war eigentlich total unglaublich. Dass sie die Stecker am Morgen eingesetzt hatte, ohne die geringste Ahnung von allem, was später geschehen würde.

Hätte sie am selben Morgen nicht mit einer Tasse fürchterlichen Tees dagesessen, weil sie falsch eingekauft hatte, dann wäre der Tee nicht grün gewesen, sondern braun. Wenn man grünen Tee trank, dann, um gesund zu leben und sich zu entschlacken, mehr wusste sie nicht, sie hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was das für Schlacken sein mochten, die ein ganz normaler Körper anhäufen konnte, und man trank grünen Tee, um sich von ungesunden Gewohnheiten zu befreien, das hatte sie in Anzeigen gelesen, aber sie hatte keine ungesunden Gewohnheiten. Nicht eine einzige.

In der Schwangerschaft hatte sie nicht einmal Lebensmittel oder Süßigkeiten zu sich genommen, die E-Nummern enthielten, und natürlich nicht geraucht oder getrunken, was für eine Vorstellung! Als sie sechs Monate mit ihrem Jungen schwanger gewesen war, von dem sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass es ein Junge war, hatte sie sich in einem Geschenkeladen ein winziges T-Shirt für das Kind in ihrem Bauch gekauft – mit dem Aufdruck »Houston, we’ve got a problem«, weil sie gerade diesen Apollo-Film als Video gesehen hatte und sich vorstellte, wie der Embryo süß und niedlich im Fruchtwasser schwamm, und sie wusste ja, dass die Astronauten überlebt hatten. Dennoch war sie in dieser Nacht aufgewacht und hatte es für ein schlechtes Omen gehalten, jetzt würde sie vermutlich eine Fehlgeburt erleiden. Im sechsten Monat. Es würde furchtbar wehtun. Doch so war es nicht gekommen. Der Junge war geboren worden. Er lebte. Er wuchs zu einem gesunden jungen Mann heran. Aber jetzt würde er wohl sterben. Nein, sie wagte nicht, 113 anzurufen, sie musste machen, dass sie zum Arzt kam, die waren zwar medizinisch gesehen keine Spezialisten, aber in ihrer Kompetenz waren sie ihr doch himmelhoch überlegen. Würden sie sich trauen, einen Hubschrauber zu bestellen? Würden sie sich trauen, bei Verdacht auf das, wovon sie wusste, dass er daran litt? Sie waren doch mehrere Stunden von der Stadt entfernt.

Jedes Zähneputzen, jedes Wäschewäschen, jede Magengrippe, jede Umarmung von molligen weichen Armen mit heißem Jungenatem in ihrem Ohr, jede belanglose liebevolle Alltagsgeste, von der niemand wusste, unsichtbar zu Hause, in allen Häusern Norwegens, jeden einzelnen Tag, Mutter und Vater und Kind, die engen und dichten und unzerreißbaren Bänder, die nur der Tod kappen konnte, widerlich gleichgültig, wo der Tod einfach sagte: Das Leben wimmelt nur so von Zufällen, bilde dir bloß nicht ein, dass du DARÜBER erhaben bist, meine Liebe, die Zufälle regieren die Welt.

Gute Menschen sterben. Arschlöcher überleben. Logik? Nein. Warum sollte es irgendeine Logik geben? Die Welt ist Chaos. Ja, dachte sie, sie konnte sich später erinnern, dass sie das gedacht hatte, diese vier Wörter: Die Welt ist Chaos.

»Ich liebe dich, mein Junge.«

»Und ich dich auch.«

»Weißt du denn, was lieben bedeutet?«

»Nein.«

Da war er vier Jahre alt gewesen.

Dort

Vor der Arztpraxis trat sie instinktiv viel zu hart auf die Bremse, konnte sehen, wie sein Kopf nach vorn kippte und vor seiner Brust hängen blieb. Verdammte Pest! Sie sprang aus dem Auto und riss die hintere Tür auf, fasste ihn unter dem Kinn und hob seinen Kopf behutsam zurück auf die Kissen. Er machte die Augen nicht auf, sie zog seinen rechten Arm an sich, drückte die Finger auf sein Handgelenk, Puls, doch, er hatte Puls! Sie ließ ihn los und rannte zur Eingangstür, als gerade ein älterer Mann herauskam, sie stieß den Mann hart zur Seite und stürzte auf den Gang und rief: »Hilfe! HILFE! Jemand muss mir helfen!«

Sie waren sofort da. Zwei Frauen in weißen Ärztekitteln, waren das Ärztinnen?

»Seid ihr Ärztinnen?«, fragte sie und rannte zurück zum Auto.

»Nein, der Arzt kommt gleich«, antwortete die eine.

Die andere drehte sich um und lief zurück, die Sekunden waren lang wie Jahre, ehe sie wieder da war, mit einem Bett auf Rädern, so einem schmalen, wie sie in Rettungswagen verwendet wurden. Sie schoben es bis dicht vor die hintere Tür des Volvos, und sie presste sich beide Hände aufs Gesicht, vor die Augen. Sie merkte, wie ihre Hände stanken, Kloake, das musste von vorhin sein. Sie fragten nicht, ob sie helfen könnte, und sie wollte nichts sehen, sie ging zuerst in die Hocke, kippte dann auf den Hintern, hörte, wie die beiden atmeten und miteinander flüsterten.

»Hubschrauber!«, sagte sie durch ihre Finger. »HUBSCHRAUBER!«

Das Geräusch der Räder im Kies wurde leiser und verschwand, aber sie nahm die Hände nicht von den Augen, erst, als sie die Schritte zurückkommen hörte. Nun ließ sie die Hände zwischen ihre Oberschenkel fallen, sie merkte, dass ihr der Mund offen stand. Sie hob den Kopf, konnte eine der Weißgekleideten sehen, den untersten Teil ihres Kittels, die aufgenähte Tasche. Etwas steckte darin, sicher ein Kugelschreiber.

»Hallo, ich heiße Solveig, ich bin hier die Sprechstundenhilfe, jetzt ist der Arzt gleich da. Kommen Sie mit.«

»Aber … Hubschrauber«, flüsterte sie und wurde auf die Füße gezogen.

»Wir werden sehen. Stützen Sie sich einfach auf mich«, sagte Solveig.

Sie erfuhr, dass sie nun in einem Wartezimmer saß, ein Plastikbecher mit Kaffee wurde vor sie hingestellt, Solveig verschwand. Sie selbst blieb sitzen und sah den Plastikbecher an. Der hatte hellgrüne Streifen ringsum, dieser Plastikbecher, zuerst zwei Streifen oben, danach ein dicker hellgrüner, und schließlich ganz unten vier dünne. Irgendwer hatte sich dieses Muster ausgedacht, aber warum hörte sie keinen Hubschrauber?

Warum hörte sie keinen Hubschrauber?

Sie riss das Telefon aus der Tasche, starrte auf das Display. Niemand hatte angerufen, sie hatte auch niemanden angerufen, sie klickte irgendeine Onlinezeitung an, VG. Alles war wie immer, das war pervers. Sie entdeckte das Waschbecken in der Ecke und ging hinüber, darüber war ein Spiegel angebracht, ein altmodischer, mit einer gläsernen Ablage darunter, so einer, wie sie beide in der Hütte auch einen hatten. Sie beide. Vielleicht gab es jetzt nur noch sie in der Einzahl.

Sie fing an, sich zu waschen, neben dem Spiegel war an der Wand ein Karton mit Papierhandtüchern befestigt. Sie wusch alles, was sie erreichen konnte, das Papier rollte sich auf ihrer Haut zu dünnen Würstchen, die Würstchen fielen nach und nach auf den Boden, sie wagte nicht, sich auszuziehen, wagte auch nicht, ihre Hausschuhe abzustreifen, die waren braun, aber sie wusch alle Stellen, wo die Haut nackt war. Dann dachte sie an Boje, der war jetzt allein zu Hause, und alles stand offen, aber er würde nirgendwohin gehen, er würde sich einfach still verhalten und auf sie beide warten. Sie ließ sich wieder in den Sessel sinken. Sie merkte, wie schmutzig sie war, konnte es auch riechen. Schweiß unter der Kleidung, Kloake in den Schuhen. Sie hörte draußen Schritte, und da war der Arzt.

Zurück zur Hütte

Er grinste, sie konnte ihn im Rückspiegel sehen. Er grinste mit geschlossenen Augen, und er schien zu sabbern. Die Kissen, mit denen sie seinen Kopf gestützt hatte, waren verschwunden, sie waren nicht zu sehen, sie hätte die Kissen ohnehin weggeworfen, diese Kissen hatte sie noch nie leiden können. Sie hatte die Hütte mit Einrichtung und allem gekauft und kaum etwas verändert, die fremden Kissen würde sie nicht vermissen. Seine Schultern bewegten sich auf und ab, während er grinste. Seit neun Jahren gehörte ihr die Hütte nun schon, aber sie hatte niemals etwas verändert, nicht einmal die Farbe, die sie für die Außenwände gekauft hatte, hatte sie verwendet. Hatte er verwendet.

Und er war nicht tot.

Sie schaltete das Radio ein, wusste nicht, was sie sonst tun könnte, abgesehen davon, Auto und Sohn zurück zum Ausgangspunkt zu schaffen. Der Tag war offen und bleich und mattgrün, so, wie er es immer war, unmittelbar bevor die Herbstfarben sich ihren Weg bahnten, verlogen in ihrem bunten Farbenspiel. Und im Radio gab es nur Stimmen, Stimmen, denen man zuhören und über die man nachdenken konnte, sie konnte sich nicht aufraffen, sich zu irgendeiner Musik weiterzuklicken, sie schaltete das Radio aus, mit einem harten Ruck. Verdammt. Ihr fiel ein, dass sie eine Flasche Cognac im Küchenschrank hatte. Hatte er die ausgetrunken? Die Flasche war schon angebrochen gewesen, und sie wusste nicht, ob man von dem Rest drei Komma eins Promille bekommen konnte.

Drei Komma eins, das war wohl ziemlich viel? Wenn es so viel war, dass der Magen ausgepumpt werden musste, war es viel. Er lebte immerhin. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob es eine Erleichterung war, ihn grinsend auf der Rückbank zu haben. Lieber das als tot, dachte sie, natürlich. Natürlich! Lieber irritierend als tot, sie hatte ihn vor weniger als einer Stunde doch für tot gehalten! Trotzdem ärgerte sie sich jetzt darüber, dass er mit geschlossenen Augen grinste.

Sie selbst trank so gut wie nie, und sie tranken fast nie zusammen, nur am Heiligen Abend und zu Geburtstagen und am Nationalfeiertag im Mai und zu solchen Gelegenheiten, sie führte nicht Buch darüber, aber wie viel trank er nun eigentlich? Allein, oder ohne sie, zusammen mit anderen, sie wusste nicht, ob er viel Kontakt zu anderen hatte, auch wenn er ab und zu irgendwohin fuhr. Zu ihnen nach Hause kam jedenfalls niemand. Drei Komma eins, das klang sehr viel.

»Ich kann nicht begreifen, wie du …«

»Halt die Fresse«, sagte er.

Sie bog von der Hauptstraße ab und merkte, dass ihre Wangen starr waren, starr vom Salz der Tränen? Nein, sie hatte die Wangen doch gewaschen. Aber sie waren starr, ganz starr. Da war Boje, er kam so schnell auf das Auto zugerannt, dass sie auf die Bremse treten musste, und sie drehte in einer Bewegung den Motor aus, öffnete die Autotür und schwang die Beine hinaus.

»Boje …!«

Sie vergrub die Hände in seinem Nackenfell, schmiegte ihr Gesicht an seins, nahm den vertrauten fauligen Geruch aus seinem Mund wahr, küsste ihn hart auf die Seite der Schnauze, während sie hören konnte, wie Ragnar sich aus dem Auto manövrierte, wie er sofort umkippte, aber sie drehte sich nicht um. Boje wand sich aus ihrem Zugriff, als Ragnar mit der flachen Hand auf das Autodach schlug und brüllte:

»SCHEISSE!«

Sie richtete sich auf, ohne ihn anzusehen, knallte die Wagentür zu und ging zur Hütte. Die Tür stand sperrangelweit offen, in der Küche blieb sie stehen und sah ihre Gabel an, die mitten auf dem Teller lag, mit einem Rest Auflauf an den Zinken. Sie musterte den ganzen Tisch, diese Szene, die total alltäglich gewesen war, und fast ein bisschen langweilig, bis er angefangen hatte zu singen. Der Kochtopf mit Kartoffeln und Möhren, wo die Kartoffeln eingetrocknet waren und eine matte gelbe Haut bekommen hatten. Der Auflauf, der geschrumpft und nachgedunkelt war, die Butter, die sommertagswarm und doch erstarrt unten in dem Töpfchen klebte.

Sie konnte hinter sich seine Schritte hören, und Bojes Pfoten. Rasch hob sie Bojes Fressnapf vom Boden auf, sie brauchte sich nicht umzudrehen, der Napf stand gleich unter dem Tisch, sie merkte nur, dass der Raum dunkler wurde, da stand er also, füllte die Türöffnung aus, glotzte. Aber sie brachte es nicht über sich, etwas zu sagen, das Einzige, was sie wollte, war, einen Müllsack von der Rolle zu reißen und damit zum Auto zu gehen und die Sofakissen hineinzustopfen. Aber zuerst Boje, der musste sein Futter bekommen.

Alles landete im Hundenapf, sie konnte hören, wie Boje hechelte und wartete, sich freute. Die Butter verschmierte sie mit dem Messer auf den Auflaufresten.

Wenn sie nun einen Teelöffel aus der Schublade holte, würde sie ihn ansehen müssen. Sie nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, konnte seinen Arm hervorschießen sehen und krümmte sich zusammen, er wollte doch wohl nicht zuschlagen. Das hatte er noch nie getan. Nein, er schnappte sich sein Handy, das hatte auf der Anrichte gelegen.

Boje machte sich über den Napf her, als sie den in seine Ecke stellte, und sie rannte hinüber und nahm die Müllsackrolle aus der Schublade und hatte eine Sekunde später schon die Küche verlassen. Sie drehte sich auch nicht um, als sie zum Auto ging, das stand viel zu weit unten auf dem Weg, weil doch Boje angerannt gekommen war. Sie setzte sich hinein und fuhr es an die richtige Stelle, stieg aus, öffnete die Hintertür, noch immer ohne einen Blick in Richtung Hütte.

Da lagen die Kissen. Die sollten weg. Sie lagen auf dem Boden vor der Rückbank, das eine war plattgetrampelt, jetzt nahm sie wieder den Kloakengeruch wahr.

Irgendwer hatte Stunden und Tage, sicher auch Wochen, mit diesen Kissen verbracht.

Sie beugte sich über die Rückbank, musterte die Kissen, berührte sie sehr behutsam. Das eine war mit Kreuzstichen verziert, die drei anderen mit Plattstichen. Großer Gott, wie viele Stunden Arbeit das gekostet hatte.

Es waren symmetrische Muster, Muster, die sie in- und auswendig kannte, Muster, die einen Teil ihres Lebens bedeutet hatten, nicht zuletzt in den Handarbeitsstunden. Und später im Leben, als sie Kissenhüllen genäht hatte, als alle abends Kissenhüllen genäht hatten, weil verheiratete Frauen das nun eben taten, sie nähten und bestickten Kissen und fügten sie zusammen mit einem neutralen Stoff auf der Rückseite, dann füllten sie sie mit einem Innenkissen. Einige hatten einen Reißverschluss am Rand, andere nicht. Keins von diesen vieren hatte einen Reißverschluss, ergo waren sie nie gewaschen worden und würden das auch niemals werden. Sie stopfte sie mit wütender Kraft in den Müllsack.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er nicht mehr in der Tür zur Hütte stand.

Jetzt wollte sie duschen. Sie nahm den Müllsack mit.

In der Hütte

Sie warf ihre Schuhe in den Müllsack. Es waren braune Birkenstocks, höchstens drei, vier Jahre alt, aber die wollte sie nicht behalten. Nicht. Behalten. Unter gar keinen Umständen.

Shorts und T-Shirt nahmen denselben Weg, danach Unterhose und BH. Alles roch nach Kloake, fand sie. Blutkreislauf, dachte sie, ein Teil ist in den Blutkreislauf gelangt. Das Blut, das durch den fünfundzwanzig Jahre alten lebendigen Körper strömte. Wenn sie wieder in der Küche wäre, würde sie die Sache mit dem Cognac überprüfen. Sie hoffte, dass das, was in den Blutkreislauf gesickert war, ihn zum Schlafen bringen würde. Und dabei hatte sie geglaubt, er hätte vor dem Essen geschlafen. Während er im Bett gelegen und getrunken hatte.