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Neues von den Neshovs
Blut ist dicker als Wasser. Das lässt sich zwischen Sonntagsbraten und Familienquerelen leicht aus den Augen verlieren. Bei den Neshovs ist das nicht anders. Einst auf einem Schweinezüchterhof in Trondheim zu Hause, lebt die Sippe inzwischen weit verstreut. Margido widmet sich mit fast religiöser Hingabe seinem Bestattungsunternehmen und tröstet sich mit Saunabesuchen über seine Personalprobleme hinweg. Sein Bruder Erlend, ein schwuler Schaufensterdekorateur, ist zwar seit Jahren glücklich in Kopenhagen verheiratet, aber ein wenig hysterisch, was problematisch wird, als sein stark übergewichtiger Lebensgefährte eines Tages zusammenbricht. Torunn wiederum, die Nichte der beiden, vergeudet ihre Zeit mit einem Mann, der Schlittenhunde züchtet – zu denen sie eine bessere Beziehung unterhält als zu ihm. Als Torunn jedoch an einem Sonntagmorgen beschließt, Margido einen Besuch abzustatten, setzt sie damit ganz erstaunliche Entwicklungen in Gang ...
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Seitenzahl: 438
Zum Buch
Blut ist dicker als Wasser. Das lässt sich zwischen Sonntagsbraten und Familienquerelen leicht aus den Augen verlieren. Bei den Neshovs ist das nicht anders. Einst auf einem Schweinezüchterhof in Trondheim zu Hause, lebt die Sippe inzwischen weit verstreut, man trifft sich nicht einmal mehr zu besonderen Anlässen. Margido etwa besucht den Vater im Altenheim nur ungern und widmet sich mit fast religiöser Hingabe seinem Bestattungsunternehmen. Sein Bruder Erlend, ein schwuler Schaufensterdekorateur, ist zwar seit Jahren glücklich in Kopenhagen, aber ein wenig hysterisch, was problematisch wird, als sein stark übergewichtiger Lebensgefährte eines Tages zusammenbricht. Torunn wiederum, die Nichte der beiden, vergeudet ihre Zeit mit einem Mann, der Schlittenhunde züchtet – zu denen sie eine bessere Beziehung unterhält als zu ihm. Als sie jedoch an einem Sonntagmorgen beschließt, Margido einen Besuch abzustatten, setzt sie damit ganz erstaunliche Entwicklungen in Gang …
Zur Autorin
ANNE B. RAGDE, wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren und lebt heute in Trondheim. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Mit der Trilogie »Das Lügenhaus«, »Einsiedlerkrebse« und »Hitzewelle« landete sie einen der größten norwegischen Bucherfolge aller Zeiten. Nachdem sie zunächst angekündigt hatte, die Serie nicht fortzusetzen, erhielt ihr Verlag 2016 plötzlich ein Manuskript zum vierten Teil. Anne B. Ragde hatte heimlich an der Familiensaga weitergeschrieben.
Anne B. Ragde
Sonntags in Trondheim
Roman
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
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Die norwegische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Alltid Tilgivelse« bei Forlaget Oktober A/S, Oslo.
Copyright © 2016 by Forlaget Oktober A/S, Oslo
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © plainpicture/Narratives/Emma Lee
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20799-1V005www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
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TEIL 1
Draußen auf dem Gang war es ganz still.
Er saß im Sessel, über das offene Buch auf seinen Knien gebeugt. Die Leselampe warf den scharfen Umriss des Lichtkegels auf die Buchseiten, und er war so vertieft in den Text, dass er zusammenzuckte, als es an der Tür klopfte. Trotzdem konnte er noch schnell den rechten Daumen auf die Zeile legen, bis zu der er gekommen war, mitten in einem Satz.
»Ja«, sagte er.
Eine junge Krankenschwester kam auf lautlosen Gummisohlen herein.
»Ich heiße Marthe«, sagte sie und nahm seine Hand.
Er schaute in sein Buch, bewegte den linken Daumen auf die Stelle, wo eben noch der rechte gelegen hatte, und reichte ihr die Hand, das war nicht so einfach, er musste den Daumen mit aller Gewalt auf die Zeile pressen, damit ihm das Buch nicht von den Knien rutschte, und er wechselte die Daumen, sobald Marthe seine Hand wieder losgelassen hatte.
»Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, sagte sie.
»Ja, nein … ich … ist schon gut.«
»Ich bin neu hier und wollte nur schnell guten Tag sagen«, sagte sie. »Das ist mein erster Nachtdienst. Und Sie sind Tormod Neshov?«
»Ja.«
»Auf der Liste sind keine Medikamente für Sie vermerkt.«
»Ja.«
»Nicht schlecht. Sie nehmen nicht einmal ein Schlafmittel?«
»Nein.«
»Frisch wie ein Fisch also«, sagte sie.
»Ich bin alt«, sagte er.
»So alt nun auch wieder nicht«, antwortete sie. »Noch keine fünfundachtzig. Wie lange sind Sie schon hier?«
»Im Sommer vier Jahre. Warum fragen Sie? Das ist doch mein Zuhause. Hier kann ich …«
»Natürlich ist das Ihr Zuhause, das war doch nur ein bisschen Geplauder zum Kennenlernen. Worüber lesen Sie denn heute Abend?«
»Terboven.«
»Ach? Was ist das?«
»Ein … ein Mann.«
»Na, dann will ich nicht länger stören, Sie machen sich selbst für die Nacht zurecht, Zähneputzen und so?«
»Ja.«
»Die anderen sind alle im Bett, es ist fast elf. Ich kann ja schon mal die Tagesdecke für Sie wegnehmen. Und die Vorhänge zuziehen.«
»Nein. Nicht die Vorhänge.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er in sein Buch, dann hob er den Blick wieder, nahm die Brille ab und blickte aus dem Fenster. Draußen war es dunkel, nichts zu sehen, aber am Morgen würde er weit über Byneslandet hinausschauen können, das sich in grauen und braunen Spätwinterfarben zur Mündung des Trondheimsfjords hinzog.
Er klappte sein Buch zu und schloss die Augen. Was hatte die Frau für Fragen gestellt! Reichte es denn nicht, alt zu sein, musste er noch dazu krank werden?
Nein. Margido hatte ihm immer wieder versichert, dass er hier jetzt einen festen Platz hatte. Sie war nur neugierig und jung und wusste nicht einmal, wer Terboven gewesen war, sie war keine Gefahr.
Langsam öffnete er das Buch wieder und suchte sich die richtige Seite. Das Licht der Leselampe zeigte ihm als Schatten die tiefe Kerbe, die sein Daumennagel geritzt hatte. Morgen würde sie keine Fragen mehr stellen, sie wusste jetzt alles, was sie über ihn wissen musste, und er konnte weiterlesen.
Das ist so grauenhaft, Krumme, dass mir die Worte fehlen! Sieh dir das bloß mal an! Sieh dir an, wie unbeschreiblich grauenhaft und entsetzlich das ist!«
Ein Stapel dicker Einrichtungszeitschriften lag auf dem Esstisch, Erlend hatte sie auf dem Heimweg von der Arbeit gekauft. Regelrecht zugeschlagen hatte er, das Geld bekam er ohnehin von der Firma zurück. Die Magazine sollten inspirieren und neue Design-Horizonte eröffnen, bewirkten in diesem Fall jedoch das genaue Gegenteil. Er schwenkte jetzt eines vor Krumme hin und her.
»Und was ist so grauenhaft?«, fragte Krumme, der ihm den Rücken gekehrt hatte.
Krumme stand vor dem Herd und war mit mehreren Kochtöpfen beschäftigt, wie immer um diese Zeit, denn sie wollten in aller Ruhe zu Abend essen, wenn die Kinder im Bett waren. Krumme drehte sich um und warf blitzschnell einen pflichtschuldigen Blick auf die Zeitschrift.
»Aber jetzt schau doch hin, Krumme!«
»Papa! Mehr Saft«, sagte Nora.
Krumme riskierte noch einen kurzen Blick.
»Ich sehe nur eine Menge schöner Muster, Erlend, wieso regst du dich so auf? Denk an dein Herz!«
»Du siehst Muster, ja, aber das Material, Krumme!«
»Mehr Saft, Papa!«
»Ich auch!«, sagte Ellen.
»Das ist Plastik! Das sind Plastikteppiche!«, sagte Erlend. »Plastikflickenteppiche! Stell dir vor, die werden jetzt wieder modern. Beim bloßen Gedanken, und sind die Muster noch so schön, kriege ich eine Gänsehaut. Ich drehe mich in meinem zukünftigen Grab um.«
»Vati! Papa hört nicht. Ich will Saft! Sofort«, rief Nora.
»Ich auch«, sagte Ellen.
Krumme nahm den Karton aus dem Getränkekühlschrank, wo sich Champagner, Bier und Sodawasser jetzt den Platz mit Saft, Milch und Fruchtsäften teilten.
»Aber ohne Wasser!«, sagte Nora.
»Natürlich muss da Wasser rein«, sagte Krumme und schüttelte die Safttüte energisch. »Sonst kriegst du zu viel Zucker ab, das weißt du doch, Schatz.«
»Ich liebe Zucker«, sagte Ellen.
»Ja, das war die Bombe des Tages«, sagte Krumme. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser laufen, dann holte er die Gläser der Kinder.
»Bombe? Wie im Fernsehen?«, fragte Leon, hob aber kaum sein Gesicht aus seinem Mickymausheft. Er konnte natürlich noch kein Wort lesen, und doch blätterte er langsam weiter, während er seine Nachmittagsmahlzeit verzehrte. Nora und Ellen saßen vor ihrem iPad und sahen bei sehr geringer Lautstärke »Die Eiskönigin« zum hundertsten Mal, zu Erlends großem Ärger. Aber er sagte nichts mehr, die Sache war durch, und er konnte ja immer noch die disneyfizierte Version durch die echte Geschichte von Hans Christian Andersen retten.
»Nicht doch, Leon, das ist nur so was, was die Erwachsenen sagen«, sagte Erlend. »Weißt du übrigens noch, wie Goofy auf Norwegisch heißt?«
»Ja! Langbein!«, sagte Leon und lachte. »Und dabei hat er doch ganz kurze Beine.«
»Plastikteppiche, Krumme! Das ist unerträglich. Weißt du, was ich vor mir sehe, wenn ich an Plastikteppiche denke?«
»Da gibt es nun wirklich viele Möglichkeiten, wie um alles in der Welt sollte ich da …«
»Rissige nackte Fersen in offenen Schuhen. Sie trug sogenannte Schlüpfschuhe, davon hat sie jedes Jahr ein Paar gekauft, aber ich kann dir sagen, an den Schuhen war rein gar nichts schlüpfrig. Die hatten so eine Haube über den Zehen, mit Löchern, um den Käsedampf rauszulassen, und diese Haube war zimtbraun, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Sie stand vor dem Küchentisch oder vor dem Herd, so, wie du jetzt stehst, und ich saß am Küchentisch und wartete darauf, dass sie ein Brot für mich schmierte, oder ich aß es gerade, und ich sah die ganze Zeit nur diese ungepflegten grauen Hacken mit den großen, teilweise blutigen Rissen. Und unter den Schlüpfschuhen: ein gestreifter Plastikflickenteppich. In Schwarzweißrot. Voller Flecken und Essensresten.«
»Ich nehme an, du redest über …«
»Meine abscheuliche Mutter. May she rest peaceless.«
»Was ist absseulich?«, fragte Leon.
»Aber Erlend. Die Kinder hören doch alles mit, wie oft soll ich dir das noch sagen, Mäuschen, die verstehen ja jeden Tag mehr. Das ist nur ein norwegisches Wort, Leon, ich weiß nicht, was es auf Dänisch heißt, vergiss es, Schatz.«
»Die hier hat sogar einen Designerpreis bekommen! Einen schwedischen, na, das erklärt natürlich fast alles, ein Stück Anna Becke, ein Designerpreis für Plastikteppiche! Man fasst es nicht! Das ist, als ob man den Bocuse d’Or für ein Gericht aus Kartoffelschalen bekäme.«
Krumme lachte laut.
»Du musst dich aber auch über jeden Scheiß aufregen, Erlend!«
»Vati hat Scheiß gesagt«, rief Leon.
»Ja, hat er!«, rief Nora, während Ellen nickte.
»Die Kinder hören doch alles mit, Krumme, und jetzt musst du dir den Mund mit Seife auswaschen.«
»Ja! Ja! Das muss er! Vati! Du musst dir den Mund waschen! Das hat Papa gesagt!«
»Euer Papa sagt viel, wenn der Tag lang ist.«
»DochVati! Das musst du!«
»Dann aber mit Milch!«, sagte Krumme.
»JAAAAAAA«, schrien die Kinder wild durcheinander.
»Akzeptiert«, sagte Erlend, da er wusste, dass Krumme Milch verabscheute, die sei nur für Kinder, Kälber und manche Soßen geeignet. Krumme holte sich einen Milchkarton und ein Glas, goss einen Schluck Milch hinein und kippte ihn sich in den Mund ohne zu schlucken. Dann fing er mit fest zusammengekniffenen Augen an, kräftig zu gurgeln. Die Kinder saßen mäuschenstill da und verfolgten jede Bewegung. Und Krumme enttäuschte sie nicht.
Nach vollendeter Tat rannte er, soweit ein kleiner kugelrunder Mann rennen kann, dachte Krumme, mit fuchtelnden Armen zum Spülbecken, brüllte laut und hielt den Mund seitlich unter den Wasserhahn.
»UÄÄÄÄÄÄÄHÄÄÄÄÄÄÄHH!«, rief er immer wieder zwischen den Wasserspülungen, und die Kinder lachten so sehr, dass sie von den Küchenstühlen rutschten und auf dem Boden landeten.
»Aber kalte Milch ist lecker! Die ist lecker!«, rief Nora.
»Ja!«, rief Ellen.
»Nein«, sagte Krumme. »Ist sie ver … flixt noch mal nicht.«
»Doch«, sagte Erlend. »Unsere süßen Mädchen kennen sich aus.«
»Aber nicht der Knabe«, sagte Leon, der auch keine Milch mochte. Dennoch ließ er sich überreden, wenn sie ihn aufforderten, ein Glas zu trinken, weil er wachsen und starke Knochen und Zähne bekommen sollte. Wie Krumme immer sagte, wenn Leon protestierte: Kleine Kinder haben Milchzähne, weil sie Milch trinken sollen. Von Saftzähnen hat noch nie ein Mensch gehört.
Erlend hatte darauf bestanden, dass Milch und belegte Brote gute und richtige Kost für Kinder seien. Nachmittags bekamen sie deshalb Bio-Vollkornbrot und dazu Saft oder Milch. Abends gab es Haferbrei mit Obst, auch, wenn sie bei ihren Müttern waren. Das war leicht zuzubereiten und gesund. Die Haferflocken stammten natürlich auch aus ökologischem Anbau.
Erlend hatte Jytte Brotbacken beigebracht. Jytte und Lizzi hatten sich bis zur Geburt nur von Weißbrot und halbgebackenen Brötchen ernährt, aber Essen für Kinder war nicht einfach Essen, erklärten Krumme und Erlend, es war der Baustein in der unendlich komplizierten Arbeit, einen erwachsenen Körper zu entwickeln. Drei erwachsene Körper.
»Und es soll an nichts fehlen!«, wie Krumme immer sagte, mit so großem Pathos, dass niemand auch nur einen Augenblick daran zweifelte, wie ernst es ihm war, und dass hinter dieser Aussage Geld und Tatkraft steckten.
Erlend fand es wunderbar, wenn Krumme so redete, er fühlte sich dann unendlich geborgen, als stehe er auf der Brücke eines riesigen Schiffes – Krumme Kapitän und er selbst erster Steuermann, beide in feschen Uniformen mit Goldlitzen, Knöpfen und Streifen und weißen Mützen, auf denen über dem leuchtend weißen Schirm ein mit Goldfaden aufgestickter Anker prangte.
Aber sie waren nicht hysterisch. Zwischen den Waren im Küchenschrank stand auch ein Glas Nutella, und wenn sie keinen Biokäse bekommen konnten, kauften sie eine ganz normale und vermutlich schädliche Variante, und das galt auch für Fleisch. Ein gesundes Gleichgewicht.
Wochentags aßen die Kinder mittags nicht zu Hause, da sie einen privaten Kindergarten besuchten, den Erlend als »Übelkeit erregend schweineteuer« bezeichnete. Sie bekamen nicht einmal Mengenrabatt, obwohl alle drei angemeldet waren. Aber das war kein Grund, sich aufzuregen, die Wartelisten waren endlos lang, und sie hatten die Plätze nur bekommen, weil die Leiterin und Gründerin ihre Familienkonstellation »ungeheuer interessant« und »faszinierend« fand und deshalb nach besten Kräften zu einer »funktionierenden Kindheit« für die Kleinen beitragen wollte. Krumme war ziemlich verärgert über diese Ausdrucksweise, schluckte seinen Zorn aber der Kinder wegen hinunter, wie er es später formulierte.
Der Kindergarten zog sein eigenes Gemüse im Garten hinter den Gebäuden, es gab Fisch und weißes Fleisch von freilaufenden Hühnern, und nur einmal in der Woche rotes. Neben hochqualifizierten Pädagogen verfügte der Kindergarten auch über einen eigenen Koch, und der Speiseplan war in Bezug auf Gesundheit und Vielfalt dem des durchschnittlichen dänischen Bürgers weit voraus.
An den Wochenenden aß die Großfamilie entweder bei Jytte und Lizzi oder zu Hause am Gråbrødretorv, am liebsten alle sieben gemeinsam, wenn niemandem etwas anderes dazwischenkam. Das Wochenende bedeutete gemeinsame Zeit, mit spannenden Ausflügen und guten langen Mahlzeiten, bei denen die Kinder zwischendurch hin und her laufen und das essen durften, was sie interessant fanden.
Wenn eines der Kinder Gefallen an einer Speise fand, wollten die beiden anderen sie auch unbedingt probieren. Die Mütter waren davon überzeugt, dass Freiwilligkeit am Esstisch das Lustprinzip beim Essen förderte, ein Gedanke, den Krumme aus ganzem Herzen teilte, während Erlend dies eher an totale gastronomische Anarchie erinnerte. Doch er sprach es nicht aus, er konzentrierte sich lieber auf seinen eigenen Teller, da die Anarchisten ohnehin in der Mehrzahl waren.
»Und nach dem Saft will ich auch Milch«, sagte Nora. »Tatsächlich«, fügte sie hinzu, da sie dieses Wort gerade erst gelernt hatte und es in allen möglichen Zusammenhängen anwandte, um etwas zu betonen.
»Wenn ich etwas Gutes über Norwegen sagen soll, dann, dass es dort die beste Milch der Welt gibt«, sagte Erlend.
»Da kann ich dir nicht widersprechen«, sagte Krumme, »da ich sie noch nie probiert habe.«
»Die beste auf der Welt. Ungelogen«, sagte Erlend. »Und zwar, weil die Rindviecher so gesund leben.«
»Was sind Rindviecher?«, fragte Leon.
»Kühe. Eine Kuh. So ein Tier, das Gras frisst und Hörner hat und Milch gibt«, sagte Erlend.
»Haben die Hörner?«, fragte Krumme. »Ich dachte, die hätten nur Stiere.«
Nun wurde auch Erlend unsicher.
»Was kochst du da eigentlich?«, fragte er. »In den Töpfen.«
»Linsensuppe mit geräuchertem Schweinespeck. Fenchel, Zwiebeln und Kräuter in einem kleinen Topf daneben, damit sie in der Suppe nicht zerkochen.«
»Mmmm. Das klingt fabelhaft! Aber jedenfalls, Kühe, Leon, stehen auf der Weide, atmen frische Luft und fressen sauberes grünes Gras, und in ihrem Magen machen die aus dem Gras köstliche Milch. Während sie hier in Dänemark im Stall stehen und ganz andere Dinge fressen müssen.«
»Ich hab sie gesehen«, sagte Ellen. »Die waren draußen.«
»Einige weiden sicher auch hier draußen, Schatz«, sagte Erlend. »Aber in Norwegen stehen sie oben im Gebirge, wo die Luft viel reiner ist als hier in Dänemark. Schmier den Kindern noch ein paar Brote, Krumme, die Suppe kann bestimmt für ein paar Sekunden auf sich selbst aufpassen. Was wollt ihr daraufhaben?«
»Käse.«
»Käse.«
»Nutella.«
»Nein. Ein Nutellabrot muss reichen, Leon. Dreimal Käse, Krumme. Und das Gras so hoch oben ist grüner und …«
»In Norwegen gibt es also Hochgebirgskühe mit Hörnern?«, fragte Krumme.
»Jetzt nerv doch nicht so wegen der Hörner!«
»Doch. Darüber sollten wir unbedingt einen Artikel bringen, das klingt doch total exotisch. Möchtest du auch einen Espresso, Mäuschen? Ich muss mir den Milchgeschmack aus dem Mund spülen.«
»Dann schmeckt der Espresso sicher nach Cappuccino. Jedenfalls ist es die beste Milch der Welt. Das ist doch wie in der Schweiz, Krumme, da sind die Kühe auch oben in den Bergen, die treiben sich nicht am Strand herum wie hier in Dänemark, wenn sie überhaupt je Tageslicht sehen. Jetzt hab ich zwar noch nie Schweizer Milch per se probiert, aber die machen eine fantastische Schokolade, und die machen sie auch in Norwegen, und das liegt alles nur an der Milch.«
»Belgische Schokolade ist auch sehr lecker, und Belgien kann wirklich nicht mit vielen Bergen protzen.«
»Bei belgischer Schokolade geht es doch nur um die Füllung, Krumme! Ich rede von der reinen Milchschokolade. Und da sind Norwegen und die Schweiz souverän. Sou-veee-rän!«
»Will Lade«, sagte Leon.
»Du hast gerade erst ein Nutellabrot gegessen«, sagte Erlend. »Darin ist doch Kakao. Für einen Werktag muss das reichen, Schatz. Oder … wir haben doch die achtzigprozentige Kochschokolade deines Vaters, die fast kohlschwarze, die er so gern isst. Möchtest du davon ein Stück, Leon?«
»Nein! Igitt …«
»Die ist cholesterindämpfend, ich glaube, ich nehme auch ein kleines Stück zum Kaffee. Haben Dreijährige Cholesterin, Krumme?«
»Ich hoffe doch, es ist ein wichtiger Bestandteil des Stoffwechsels. Bitte sehr. Jetzt hole ich uns die Cholesterinmedizin.«
Krumme gab Erlend einen Kuss auf die Stirn und stellte die winzige Espressotasse vor ihn hin. Krumme war kaum größer als Erlend, wenn Erlend saß und Krumme stand.
»Jetzt weiß ich plötzlich wieder, was ich dir erzählen wollte!«, sagte Erlend. »Was ich heute erfahren habe, und was mich die ganze Weltsituation mit neuen Augen sehen lässt.«
Krumme seufzte. »Was hast du für eine Energie, meine Ohren sind schon ganz erschöpft. Normal wäre es, wenn drei kleine Kinder einen Erwachsenen erschöpfen, aber hier bist du eher dafür zuständig.«
»Das wird dir gefallen. Du kannst so tun, als sei es anders, aber das hier wirst du sehr gern hören.«
»Du weißt, dass ich Klatsch nicht leiden kann.«
»Kein Klatsch«, sagte Erlend. »Wie sehr ich dieses Wort hasse. Klatsch. Eine widerliche Bezeichnung. Erinnert an Matsch. Wie du weißt, ziehe ich den Ausdruck informeller Informationsstrom vor. Aber das hier sind hard facts, mein Feinster.«
»Dann raus damit«, sagte Krumme und ließ sich an den Esstisch fallen, nachdem er das Gas zurückgedreht hatte.
»Putin«, sagte Erlend. »Jetzt verstehe ich alles. Warum er größenwahnsinnig ist. Warum er überall und sonstwo einmarschieren will. Warum er sich in all diesen peinlichen Macho-Posen abbilden lässt, in Tauchfahrzeugen oder hoch zu Ross mit bloßem Oberkörper. Warum er Völker und Länder schikaniert, nicht zuletzt seine eigenen Landsleute.«
»Und der Grund ist?«
»Er ist nur eins dreiundsechzig! Das erklärt alles! Er hat doch jede Menge Komplexe, das musst du ja wohl verstehen.«
»Tatsächlich? Meine Güte. Darüber muss ich ja wirklich mal schreiben. Unbedingt«, fügte er hinzu und streichelte Noras Haare, die herüberkam und sich auf seinen Schoß setzte.
»Nein! Tu das nicht! Das ist ein inoffizielles Geheimnis! Wenn ihr in BT darüber berichtet, leidet Dänemark und am nächsten Tag ist es dann russisch. Russischer Sekt schmeckt furchtbar, Krumme, das können wir nicht zulassen. Aber es erklärt eben alles. Ich dachte, du freust dich darüber, du bist doch selbst … eins zweiundsechzig.«
Im letzten Moment konnte er sich das »nur« verkneifen, das doch wirklich in diesen Satz gehört hätte.
»Ich möchte mich ehrlich gesagt lieber mit Tom Cruise und Dustin Hoffman vergleichen«, sagte Krumme und küsste Nora in den Nacken, nachdem er ihren dunkelbraunen Zopf angehoben hatte. Nora und Ellen trugen ihre langen dunklen Haare fast immer geflochten, weil sie es furchtbar fanden, wenn sich Nester im Haar bildeten, dann schrien sie um die Wette, dass sie ausgekämmt werden sollten.
»Jetzt ist mir übrigens etwas eingefallen, das gehört nicht ganz zur Sache, aber es hat mit kleinen Männern zu tun«, sagte Krumme. »Weißt du, dass Woody Allen einmal gesagt hat, dass er niemals Wagner hören kann, weil er dann immer Lust kriegt, in Polen einzumarschieren?«
»Gott … witzig, dass du Woody Allen erwähnst. Jetzt krieg ich ja fast eine Gänsehaut. Ich habe heute so viel an ihn gedacht.«
»In welchem Zusammenhang, Mäuschen? Ein Fenster, das du dekorierst?«
»Ja. Das wird total genial. Und ich sage das nicht, um anzugeben.«
Nora hatte den Daumen in den Mund gesteckt und ließ sich kein Wort entgehen, dieses unendlich schöne kleine Mädchen, er konnte fast nicht weiterreden, er musste sich vorbeugen und ihre Wange streicheln. Was hatten sie für Angst und Panik gehabt, weil drei Kinder unterwegs waren, und jetzt war alles so einfach und natürlich und alltäglich. Sicherlich nicht von Anfang an, kurz vor den Geburten und gleich danach war es eine verwirrende kleine Hölle gewesen, aber jetzt lief alles wie geschmiert, fand er.
Es waren ruhige, harmonische Kinder, alle drei, schon längst brauchten sie keine Windeln mehr, sie hatten nicht einmal eine winzige Allergie oder Unverträglichkeit, obwohl das doch gerade total angesagt war. Es war wohl das einzigAngesagte, das er nicht vermisste, sogar in feinen Restaurants musste die Speisekarte verzeichnen, welche Gerichte Gluten oder Eier oder Nüsse oder eine Vierteldattel oder zwei Zuckerkrümel enthielten, es war eine moderne Massenhysterie, und er als Koch in einem solchen Lokal hätte sich lieber gleich mit dem Tranchiermesser die Pulsadern aufgeschlitzt.
»Aber jetzt erzähl endlich von deinem Fenster«, sagte Krumme.
»Natürlich. Du weißt doch von diesem hippen Antiquitätenladen, der soeben am Gammeltorv eröffnet hat?«
»Nein, Mäuschen, davon weiß ich nichts.«
»Natürlich nicht. Du shoppst ja nie. Na jedenfalls habe ich ein transparentes Plastikmaterial gefunden, mit dem ich das Glas von innen beziehe, das ist eine be … eine überaus anstrengende Arbeit, denn schon die kleinste Luftblase stört die Wirkung, deshalb haben wir einen Zentimeter nach dem anderen geklebt. Und dieser Plastikfilm gibt allem, was im Schaufenster steht, eine Art sepiafarbene Patina, es sieht aus wie auf alten Bildern. Und da musste ich ganz viel an Radio Days von Woody Allen denken, dieser Film hat auch solche Farben, dieses goldene und fast glanzlose, leicht schmuddelige, ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll, aber es ist jedenfalls total Radio Days.«
»Sieht es richtig gut aus?«
»Das kann ich dir sagen! Total spektakulär! Es gibt auch Glas zu kaufen, das diesen Effekt hervorbringt, aber das kostet ein Vermögen für eine so große Fensterscheibe, aber vielleicht lassen sie ja so viel springen. Egal, wie langweilig der ausgestellte Stuhl oder die Kommode sein mögen, sie sehen aus wie auf einem alten Foto. Du musst mal hingehen und es dir anschauen. Die Leute lieben doch Nostalgie. Kannst du diesen Hunger nach der Vergangenheit verstehen? Kannst du den begreifen?«
»Ja. Das kann ich, Mäuschen. Aber man muss auch gute Erinnerungen an die Vergangenheit haben.«
»Da triffst du den Nagel auf den Kopf, Krumme. Darüber habe ich heute auch ziemlich viel nachgedacht. Dass ich zu einem verantwortungsbewussten Familienvater geworden bin …«
»Naja …«
»… aber dass ich ein Zukunftsfamilienmensch bin! Wir haben jetzt unsere eigene kleine Familie und ich bringe es nicht über mich, mich um die alte zu kümmern.«
»Wir haben doch meine Schwester und meinen Vater.«
»Snobs.«
»Es gibt sie aber. Und wir sehen sie ab und zu.«
»Aber wir kümmern uns nicht um sie, Krumme. Die sind mit sich selbst mehr als genug beschäftigt.«
»Hast du eigentlich mal wieder was von Torunn gehört?«
»Warum um alles in der Welt musst du die jetzt erwähnen? Du weißt genau, dass es eine Ewigkeit her ist, sonst hätte ich’s doch gesagt. War ja total einseitig, immer musste ich die Initiative ergreifen, und das hatte ich zum Kotzen satt.«
Leon schaute sofort auf.
»Ich hatte es einfach satt«, korrigierte sich Erlend sofort. »Willst du noch was zu trinken, Leon? Einen Smoothie vielleicht?«
»Smoothies sättigen, und bald gibt es doch den Abendbrei«, sagte Krumme. »Und Margido landet wohl in derselben Schublade. Die Schublade mit der Aufschrift Vergangenheitsfamilie.«
»Aber klar doch. Was ist bloß los mit denen? Sie haben Telefon und Postamt und sogar einen mittelgroßen Flughafen. Und dann haben sie es nicht mal über sich gebracht, zum Namensfest der Kinder zu kommen, obwohl wir ihnen sogar das Hotel spendieren wollten. Diese jämmerlichen Entschuldigungen. Pah! Nein, reden wir lieber über etwas Angenehmes. Putins lächerliche eins dreiundsechzig.«
»Aber, aber. Ich komme gut zurecht, sogar ohne diesen einen Zentimeter.«
»Das liegt daran, dass du innere Stärke besitzt, mein Schöner. Du brauchst auch nicht mit nacktem Oberkörper hoch zu Ross sitzen. Obwohl der Anblick allein ja den einen oder anderen angriffslustigen Agitator ablenken würde. Du würdest Frieden schaffen, Krumme. Dein Bauch würde dir den Friedensnobelpreis einbringen!«
»Was willst du ihnen heute Abend vorlesen?«, fragte Krumme. »Während ich das Essen fertigmache?«
»Das haben wir uns noch nicht ausgesucht, mein Wladimir. Das entscheiden wir im Badezimmer.«
»Papa hat Kotzen gesagt«, sagte Leon. »Hat er echt.«
»Hab ich überhaupt nicht, da hast du dich verhört, mein Prinz.Ich habe gesagt … glotzen«, sagte Erlend.
»You lie to your son?«, fragte Krumme.
»Um ihn zu schonen. Das ist doch unsere Aufgabe, als verantwortungsbewusste Eltern. Eine Verantwortung, die ich sehr ernst nehme. Hast du übrigens den Käse aus dem Kühlschrank geholt? Denn du erinnerst dich doch wohl an das köstliche Feigenbrot, das ich gekauft habe? Das können wir dann nach der Linsensuppe essen.«
»Der Käse liegt auf der Anrichte und wird immer leckerer.«
»Gott sei Dank. Dann ist das Leben wieder lebenswert. Russische Invasion hin oder her.«
Aber hallo, was bist du denn für ein kleiner Wicht?«
Margido hatte nur wenig Ahnung von Vögeln. Das winzige Geschöpf, das aus dem Heidekraut zu ihm aufschaute, hatte etwas Rotes auf der Brust, ansonsten war es braun. Dompfaff? Nein, die waren größer und auf der Brust viel röter, das wusste er immerhin, Dompfaffen hatte er unzählige Male auf dem Vogelbrett in Neshov und auf nostalgischen Weihnachtskarten gesehen, wo sie im tiefen Schnee an Ährengarben herumpickten, umgeben von alten Holzhäusern und Wichteln mit roter Zipfelmütze, die um Hausecken lugten.
Es war eigentlich seltsam, dass er so wenig über Vögel wusste, wo er doch nur einen kleinen Spaziergang entfernt von Gaulosen aufgewachsen war, diesem Mekka für Ornithologen. Eine Vielzahl von Vogelarten nutzte das Gebiet rund um die Gaulamündung als Zwischenstation auf dem Weg nach Süden oder Norden. Aber er besaß weder Skier noch Angel, er wanderte nie über die Hochebene und bestieg keine Berggipfel, er verspürte keinerlei Verlangen danach.
Es lag sicher daran, dass er sich im Allgemeinen kaum für die Natur interessierte. Er zog Asphalt, Treppen und flachen Boden vor, von Menschen geschaffene Systeme und motorisierte Fahrzeuge, vorhersehbare Umgebungen, die ihm keinen Widerstand boten. Die Schwalben, die viele oben in die Todesanzeigen setzten, waren eigentlich sein einziger Kontakt zu Vögeln. Und die Vögel, über die er in der Bibel las. Aber das war ja etwas anderes, hier handelte es sich um Gleichnisse und Symbole.
»Sehet die Vögel des Himmels«, sagte er an niemanden gerichtet. »Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht im Supermarkt, und doch sorgt der himmlische Vater für sie …«
Er stand gern auf seinem kleinen Balkon und blickte zu den Sternen, ein seltenes Mal sah er das Nordlicht, es versetzte ihn dann in eine fast sakrale Stimmung.
Wilde Natur auf Bodenniveau aber sprach ihn nicht weiter an. Natürlich war auch sie Teil der Schöpfung, und er war der Erste, der in Ehrfurcht den Kopf senkte, aber für ihn persönlich war es eine Schöpfung von rein theologischem und abstraktem Interesse.
Dennoch saß er jetzt hier, mitten in der Natur. Auf einem Baumstumpf mitten in einem Wald, mit ausgepackten Butterbroten auf zusammengeklemmten Knien, an einem ganz normalen Frühlingstag Anfang März.
»Jetzt kriegst du was. Bitte sehr. Ich bin zwar nicht dein himmlischer Vater, aber füttern kann ich dich ja trotzdem, das weiß er sicher zu schätzen.«
Margido nahm das Papier vom obersten Brot, riss ein dickes Stück Rinde ab und warf es dem Vogel hin, der jetzt durch das zundertrockene Heidekraut hüpfte. Der einsame kleine Vogel riss den Bissen an sich, als wäre er heiß umkämpft, dann flog er im Tiefflug und schwer beladen zwischen den Baumstämmen davon und war verschwunden. Margido schaute ihm hinterher, die Flügelschläge erfolgten so blitzschnell, dass sie zu einer vagen Bewegung auf der Netzhaut wurden.
Nun bemerkte er den Vogelgesang oben in den Baumkronen, der wirkte intensiv, hier gab es offenbar viele Vögel. Und das hörte er erst jetzt. Ein aufgeregtes Trällern löste das andere ab. Wie das nervte!
Diese Geschöpfe, die manche als so ungeheuer interessant empfanden, dass sie weite Entfernungen zurücklegten, um ein seltenes Exemplar erblicken zu können. Plötzlich musste er an Yngve Kotum denken, den Sohn auf dem Nachbarhof von Neshov, der war Vogelgucker gewesen, ehe er Selbstmord begangen hatte, wie lange war das her? Kurz vor dem Tod der Mutter war es gewesen, wenn er sich richtig erinnerte, und das tat er eigentlich immer, wenn es um Menschen ging, die er selbst begraben hatte, es war kurz vor Weihnachten, vor vier Jahren. Er schaute kurz zu den Bäumen hoch, die Zeitung hatte berichtet, dass sie schon Nester bauten und sich paarten, »der zeitigste Frühling aller Zeiten«, lautete eine Schlagzeile. »Schon brüten sie.«
Der Winter war trocken, und die Frühlingswärme hatte gleich nach Weihnachten eingesetzt, er mochte nicht an die Sache mit dem Klimawandel denken, wenn es einen Wandel gab, dann gab es den eben, ob er nun eine Plastiktüte in den einen oder den anderen Container warf, aber er machte es korrekt, das nun wirklich, er sortierte sorgfältig und beflissen. Dennoch war es zundertrocken, der Kiefernwald halbtot, das Heidekraut total verwelkt und die Bauern verzweifelt, las man in den Zeitungen. Bachläufe trockneten aus, die Talsperren waren auf ein Minimum gesunken, die Bevölkerung wurde aufgefordert, unnötigen Wasserverbrauch zu vermeiden, aber hier war er zum Glück entschuldigt. Ein Leichenwagen musste jederzeit vor Sauberkeit funkeln, das leuchtete allen ein, nicht zuletzt Stein-Ove aus der Autowäscherei.
»Dein Auto wird das shiniest in the city!«, sagte Stein-Ove, der immer mit englischen Brocken brillierte. »Noch flashier als in California, The Sunshine State, wo sie ihr Gras jetzt mit grüner Sprühfarbe lackieren … stell dir das vor, Margido! Sie verpassen dem Rasen einen grünen spray tan, nachdem sie sich selbst zuerst braun gesprayt haben. Ja, du brauchst ja nicht zu glauben, dass die sich in die Sonne legen, obwohl die da dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr scheint. Ha, nicht doch. Dann kriegen sie wrinkles, weißt du. Wrinkles and skin cancer. Aber die Leichenwagen in California sind ebenfalls dispensiert. Da kann man einfach Wasser draufkippen. Außerdem verpasst du deinem Caprice ja immer so viel polish, dass man den Straßenstaub im Handumdrehen abgespült hat. Dein polish spart Wasser, so ist das.«
»Ich glaube eigentlich, dass Florida Sunshine State genannt wird.«
»Kann schon sein. Whatever. Die vertrocknen jetzt in Ceeeelifornia, mark my words.«
Es war unbequem, auf dem Baumstumpf zu sitzen. Überall entdeckte er Baumstümpfe, hier wurden offenbar Bäume gefällt, oder waren gefällt worden, das Totholz war längst in sich zusammengesunken. Er schaute auf seine Butterbrote hinab. Dieser Anblick hatte etwas unendlich Beruhigendes, denn so hatten seine selbstgeschmierten Brote immer schon ausgesehen, abgesehen von der Reihenfolge, in der sie lagen, das hing vom Belag ab.
Heute lag zuoberst das mit dem Jarlsberg-Käse, garniert mit rosa Lachskaviar, ohne die Ecke, die er für den Vogel abgerissen hatte. Eine schmale Mondsichel aus Salami lugte unter der nächsten Schnitte hervor. Der Ziegenkäse auf der untersten war nicht zu sehen, aber er wusste, dass er dort war, und dieses Wissen war mehr als genug. Er liebte Ziegenkäse, den etwas scharfen Nachgeschmack. Nicht immer lag die Kuhkäseschnitte obenauf, nur, wenn er Kaviar hatte, den er daraufgeben konnte, dann musste sie nach ganz oben, damit der Kaviar nicht zerdrückt würde. Wenn er die Salami mit einigen Gurkenscheiben verziert hatte, und vielleicht einem Spritzer Mayonnaise, dann kam ihr die Ehre zu, obenauf zu liegen.
Plötzlich kam ihm die seltsame Erkenntnis, dass er noch nie Gurkenscheiben und Kaviar im selben Brotpaket gehabt hatte. Immer wurde nur ein Brot besonders ausgestattet.
Die Brote schmierte er, ohne sich vorher groß Gedanken darüber zu machen; das mit der Verfeinerung und der Reihenfolge lief offenbar ganz automatisch, dachte er. Und das war gut so. Auf diese Weise brauchte er keine Entscheidungen zu treffen, bevor er die Wohnung verlassen und der Arbeitstag begonnen hatte.
Seine Morgenroutine sollte genau das sein: Routine. Feste Rahmen. Jedes Hemd hatte den dazugehörigen Schlips, und alle Hemden und Schlipse passten zu jedem einzelnen seiner Anzüge. Er brauchte nicht zu überlegen, es ging hier um gleichmäßige Variation und rotierende Abnutzung. Er legte alles am Vorabend zurecht, auch an den Wochenenden, falls er unerwartet zu Hausbesuchen gerufen wurde.
Er hob das Brot mit dem Jarlsberg an den Mund und biss hinein, der Salzgeschmack des Kaviars kratzte angenehm hinten am Gaumen.
Kein Kaffee. Wann hatte er zuletzt seine Brote ohne Kaffee verzehrt? Er war einfach von der Straße abgebogen, hatte die Brote genommen, war ausgestiegen, hatte das Auto abgeschlossen und war über einen kleinen Waldweg gegangen, den er zufällig vor einem kleinen Birkenwald entdeckt hatte, so weit, dass er das Auto nicht mehr sehen konnte, und dann hatte er sich auf diesen Baumstumpf gesetzt.
Er hatte irgendwo gelesen, nur in Norwegen, nicht einmal in Schweden oder Dänemark, genossen die belegten, in Papier verpackten Brote den ausgezeichneten Ruf als anerkannte Zwischenmahlzeit, und das sollte davon kommen, dass Norwegen so arm gewesen war. Brote mit ein wenig Belag. Das war etwas anderes als Mittelmeerkost, wo sich alles um exotische Gemüsesorten drehte. In Norwegen waren solide Hackfrüchte angesagt, Kartoffel und Möhre und Steckrübe, Dinge, die geborgen im Schoße der Erde wachsen konnten, während oben das harsche Klima wütete. Aber Gemüse war etwas für das Abendessen. Vorher kamen die Brote zum Zug.
Er kaute und machte sich an das Salamibrot. Die Trennpapiere knüllte er zusammen und legte sie auf das Butterbrotpapier, neben das Brot mit dem Ziegenkäse. Ziegenkäse ohne Kaffee, nein, das geht nicht, dachte er, da bewahrte er das letzte Brot lieber noch auf.
Er blieb mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf sitzen und zerkleinerte das Essen in seiner Mundhöhle, es war unangenehm trocken beim Kauen, er öffnete die Augen, als er den letzten Rest hinunterschluckte, seine Schuhspitzen hatten sich auf dem kurzen Weg hierher mattgrau verfärbt Er hätte Galoschen anziehen sollen, um sie vor Rissen und Staub zu beschützen, doch die lagen noch im Auto. Ein winziger Huflattich lugte neben seinem rechten Schuh hervor. Eine kleine Blume, die gerade genügend Feuchtigkeit gefunden hatte, um ihr Gesicht ins Licht zu pressen, ein neues Leben, das seine Kraft aus den Überresten der längst verstorbenen Artgenossen aus dem Vorjahr holte. Ein knallgelbes kleines Symbol für die Schöpfung, für das Leben mitten im Tod.
Der Tod.
So marginal und doch so allgegenwärtig. Überall um ihn herum, um diesen kleinen Baumstumpf im riesigen Wald, ging der Tod Hand in Hand mit dem Leben, stand der Tod auf den Schultern des Lebens und konnte es jederzeit in die Knie zwingen. Es war ein Kreislauf, war Gleichgewicht und Harmonie.
Die Gleichung ging auf.
In seinem eigenen Leben war das nicht so, dort gab es nicht viel Gleichgewicht und Harmonie, er hatte es total satt, war so müde, dass er sich ab und zu bei dem Wunsch ertappte, eine tödliche Krankheit ohne zu schlimme Schmerzen zu bekommen, die ihm alle Verantwortung von den Schultern nehmen und ihm einen würdevollen und schnellen Tod schenken würde – begleitet von professionellem Pflegepersonal, das sich um all seine Bedürfnisse kümmerte. Dann könnte er sich hingeben, entspannen, fest im Glauben vor seinen Schöpfer treten.
Sein Leben war so klein geworden, eine Trauer hatte sich in seinem Körper festgesetzt, eine Trauer, aus der er nicht schlau wurde.
Da war der Vogel wieder, es musste derselbe sein, er sah genau gleich aus.
»Dann gibt es diesmal Ziegenkäse.«
Er riss gleich die ganze Schnitte in kleine Stücke und verstreute sie vor sich im Heidekraut, leckte sich Butter und Käsereste von den Fingerspitzen und knüllte das Butterbrotpapier zusammen.
Was um Himmels willen hatte er hier zu suchen, ohne Sinn und Ziel? Aber wie schön wäre es doch, sich einfach hier zwischen die Baumstümpfe legen zu können und ruhig und ordentlich zu sterben, wie die alte Frau im Lied von Jan Eggum, die starb, als sie Wasser holen wollte, um ihren Kittel wuchsen Maiglöckchen, die Erde öffnete sich für sie, nahm sie auf ihre eigene zärtliche Weise zurück, einfach und natürlich, es war so schön, er schloss die Augen und wurde überwältigt von dem starken Drang zu weinen, natürlich ohne es zu können, das wusste er nur zu gut.
Denn was sollte das Ganze eigentlich. Nicht einmal die Liturgie schenkte ihm noch besondere Freude. Aber was hatte ihn dazu veranlasst, anzuhalten, das Auto zu verlassen und in den Wald und zu diesem Baumstumpf zu gehen? Er versuchte, sich daran zu erinnern. Das Autoradio war eingeschaltet gewesen, hatte ihn irgendeine Musik aus dem Gleichgewicht geworfen? Nun wusste er es wieder. Da hatte jemand über »soziale Plattformen« gesprochen, und sofort hätte er sich übergeben mögen.
Alle diese Wörter, all diese hohle neue Wirklichkeit, die den Alltag und seinen Beruf zu einem anderen gemacht hatten. Die ganze Bestattungsbranche bewegte sich im Expresstempo voran, während er auf dem Bahnsteig zurückblieb, auf einer ganz realen Plattform.
Warum gaben sie dieser neuen Wirklichkeit, die keine Wirklichkeit war, sondern nur Abstraktion, diese seltsam konkreten Bezeichnungen? Eine Plattform war aus Beton oder Holz, sie war vor einem Bahnhof errichtet oder als Terrasse vor einem Haus. Eine Milchrampe war eine kleine Plattform. Die großen Bohrinseln in der Nordsee waren riesige Plattformen, sie waren vielleicht aus anderem Material, aber sie waren greifbar und handfest, man konnte hinfahren, man konnte sie messen und wiegen.
Aber soziale Plattformen?
Er war veraltet, das war er. Die Steinmetze schickten ihre Rechnungen jetzt per Mail. Die Post des Tages kannte man nicht, auch wenn der Briefträger gerade erst da gewesen war, aber nein, man musste die Mails jede Stunde auf Mitteilungen und Rechnungen durchsehen.
Frau Marstad und Frau Gabrielsen wussten, wie er das sah, deshalb druckten sie die Rechnungen aus und legten sie ordentlich zusammengefaltet auf seinen Schreibtisch, damit sie aussahen wie echte Rechnungen, aber es gab keine Routinen mehr, keine Vorhersagbarkeit.
Das galt auch für die Todesfälle. Gedenkseiten auf Facebook, Gedenklisten mit Namen auf einem Bildschirm, Zünde auf Fb eine Kerze an. Es gab eine eigene App, um Todesfälle mitzuteilen.
Eine App.
In der Branche wurde prophezeit, dass Todesanzeigen in wenigen Jahren ganz abgeschafft sein würden. Zu teuer. Das Netz gab’s gratis. Alle diese unpersönlichen Kanäle, alle diese Gefühle, die sich an einen Schirm richteten und nicht an ein Gesicht. Wie oft kam es wohl vor, dass Angehörige über das Netz von einem Todesfall erfuhren, und nicht, weil ein mitfühlender Geistlicher aus Fleisch und Blut vor der Tür stand, vielleicht zusammen mit einem Polizisten und schlimmstenfalls mit einem Arzt, wenn ein Unfall passiert war. Warme, lebendige Hände, eine echte Schulter zum Weinen, kleine tröstende Worte im Ohr. Aber, aber …
Jetzt erfuhren sie es von einem Bildschirm.
Ihm war der Tod weggenommen worden. Der Tod war ihm aus den Händen genommen worden. Sein Beruf, den er mehrere Jahrzehnte hindurch ausübte, hatte sich verändert, er wuchs ihm über den Kopf, und er brauchte alle Kräfte, um ihn noch meistern zu können.
»In den alten Zeiten« bedeutete jetzt, »vor ein paar Jahren«. Noch immer wurden in den Nachrichten die Namen der Umgekommenen erst genannt, wenn alle Angehörigen informiert waren. Aber nicht mehr lange, dann würde auch diese pietätvolle Regel ein Ende haben. Was war aus der Würde geworden? Aus der Ehrfurcht bei der Begegnung mit dem Tod? Dem Respekt? Und das Außerordentliche war, dass der Tod dem Leben der Menschen ferner war denn je. Weniger und immer weniger hatten je einen toten Menschen gesehen. Wie sollten sie das Leben preisen können, wenn sie den Tod nicht kannten?
Na gut. Er kannte den Tod. Wenn jemand den Tod kannte, dann er. Und hier saß er und träumte am helllichten Tage vom Tod, ohne das Leben sonderlich zu preisen. Er schloss die Augen und atmete tief durch die Nase, es roch würzig und echt nach dieser Natur, zu der er keine Beziehung hatte, alles verschwand vor seinen Augen, hier saß er als dicklicher Überrest mit schmutzigen Schuhen und einem zusammengeknüllten Butterbrotpapier zwischen den Händen.
Wenn nur alles anders gekommen wäre, damals, als Torunn bei ihnen war, wenn sie nicht verschwunden und alles zum Stillstand gekommen wäre. Sie fehlte ihm so sehr.
Alles war Erlends Schuld. Es war wie in einer Seifenoper. Erlend hatte geglaubt, sie könnten schwuppdiwupp zu einer Familie werden, nur weil die DNA sie verband, und er hatte sich aufgeführt, als sei der Familienstammbaum über Nacht in Stein gemeißelt worden. Er begriff nicht, dass diese verletzliche Konstruktion behutsam behandelt werden musste, nicht geschleudert, noch ehe der Leim getrocknet war.
Torunn.
Er hatte sie damals nicht nur liebgewonnen, sondern auch tiefen Respekt für sie empfunden.
Aber er war nicht sicher, ob sie das begriffen hatte, und jetzt war es ja sowieso zu spät. Obwohl sie wusste, dass Neshov nach ihrem Verschwinden zum Verkauf ausgeschrieben werden würde, hatte sie nichts von einem möglichen Erlös verlangt. Dass der Hof sich als unverkäuflich erwies und jetzt düster und verfallen zwischen den verpachteten Feldern lag, war ihr offenbar auch egal.
Offiziell war sie die Besitzerin. Sie musste Neshov als Grundbesitz doch versteuern, und die Steuer wurde nach dem Bodenpreis berechnet. Das war fast lächerlich. Alte verfallene Häuser mit unbrauchbarem Inhalt.
Besitz. Lächerlich.
Er selbst hatte sie nicht angerufen, aber die ganze Zeit gehofft, ein Käufer tauche auf. Von seiner Mutter erfuhr er damals, dass sie nach Hause wollte und die Wohnung und ihren Anteil an der Kleintierklinik verkaufen. Logisch erschien es ihm nicht, er glaubte einfach, sie wolle zu ihrem alten Leben zurück, um einen kompromisslosen Strich unter das neue zu ziehen. Offenbar war Geld kein Problem, da sie nicht auf den Verkauf des Hofes drängte. Daran mochte er übrigens gar nicht denken. Auch daran nicht.
Die Häuser sollten eben verfallen, drinnen wie draußen.
Er erhob sich. Steif im Körper, eiskalt im Kreuz und an den Beinen stolperte er vorsichtig zur Straße zurück.
Sein Telefon lag auf dem Beifahrersitz und leuchtete.
Vier unbeantwortete Anrufe, alle aus dem Büro. Und dabei war er sonst immer zu erreichen. Immer. Tag und Nacht. Er musste sagen, der Akku sei leer gewesen, und hoffen, dass sie ihm glaubten, obwohl sie wussten, dass er überall Ladevorrichtungen hatte, sogar im Auto.
Sein Akku war nie leer.
Ehe sie bei Margrete klingelte, blieb sie stehen und blickte auf die Tür der gegenüberliegenden Wohnung.
Diese jetzt so fremde Tür, durch die sie jahrelang mit größter Selbstverständlichkeit ein- und ausgegangen war. Hinaus, um Essen zu kaufen, um zum Zahnarzt zu gehen, um die Mutter zu besuchen und früher auch den Stiefvater, um zur Arbeit zu gehen und sich den Anforderungen der Welt zu stellen. Hinein: müde, munter, froh, niedergeschlagen, aber immer erleichtert, auf dem Weg in ihr eigenes kleines Zuhause, zu ihren Habseligkeiten, ihrem Chaos und ihrem ganzen persönlichen Kleinkram.
Gegenstände und Möbel waren jetzt in Kartons draußen in Sandvika eingelagert. Dinge, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte. Das einzige Bild, das sie vor sich sah, wenn sie ein seltenes Mal an das Lager dachte, war das des durchgesessenen Sofas mit der alten Decke, ihr Lieblingsort nach langen Tagen, eine Art Höhle, in die sie kriechen und in die sie verschwinden konnte, im Dämmerschlaf oder mit einer Lieblingsserie auf dem iPad. Das Sofa war das Einzige, das sie vermisste, es war der eigentliche Nabel ihres Lebens gewesen.
Aber es stand nicht mehr hinter dieser fremden Wohnungstür.
Sie konnte noch immer die Schraubenlöcher sehen, wo das alte Messingschild befestigt war, das ihr der Stiefvater damals geschenkt hatte, als sie ihre erste Wohnung gekauft hatte. Torunn Breiseth in schwarzer Kursivschrift auf goldenem Metall. Das Schild war in Seidenpapier gewickelt, zusammen mit einer kleinen Karte, auf der stand, dass er außerdem zwanzigtausend Kronen auf ihr Konto überwiesen habe. Damit du dich ein bisschen einrichten kannst. Sei umarmt, Gunnar.
Sie hatte sich gefreut. Über das Schild so sehr wie über das Geld. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wo man ein Türschild bekommen konnte, hatte sich einen Zettel vorgestellt, mit Kugelschreiber beschriftet und mit Klebeband unter der Klingel rechts auf der unebenen Mauer angebracht.
Was sagte der Vater damals noch? – Breiseth? So nennst du dich also? Als ob sie einen anderen Namen haben könnte als den Mädchennamen ihrer Mutter, nachdem diese als Ehefrau für den Anerben von Neshov verworfen worden war, weil sie sich bei ihrem einzigen Besuch auf dem Hof zu viel Leberwurst genommen hatte. Der Hof und der Mann, von denen die Mutter geglaubt hatte, dass sie ihr ewig langes Leben bedeuten würden. Nennst du dich … In den Augen des Vaters war es sozusagen nur ein Beiname, und nicht der, der sie eigentlich war. Sie dachte daran, wie lächerlich ihr sein Gedankengang vorgekommen war.
Jetzt sah die Tür ganz anders aus als damals, als sie ihr Zugang zum Privatleben gewesen war. Sie sah aus, als hätte sie sich zum Karneval geschmückt.
Die Namen waren weder in Messing graviert noch auf Porzellan handgemalt, nicht einmal dunkelbraun in ein Holzschild eingebrannt. Nein, hier hing eine riesige Pappscheibe mit fünf Namen neben der Wohnungstür, einmal auf Arabisch, daneben mit normalen Buchstaben, befestigt jeweils an den Ecken mit blauem Markierband. Offenbar hatte eine von den Jüngsten dieses Kunstwerk geschaffen, sie tippte auf Fatima, der vorletzte Name über Muhammed. Die arabischen Buchstaben waren gleichmäßig und schön, vermutlich von einem Erwachsenen geschrieben, der Rest ein Sammelsurium von Knallrosa und leuchtend Türkis, mit Buchstaben und Verzierungen, die teilweise aus Blumen und Borten geformt waren, dazu am Rand mit Klebstoff befestigte Glitzerstreusel, in scharfem Kontrast zu dem groben blauen Markierband.
»Himmel. Ich lach mich schief, du siehst aus wie ein Weihnachtsbaum, Torunn.«
»Ich bin zu Fuß gekommen. Ein Hoch auf Reflektoren. Sonst hätte ich ausgesehen wie roadkill. Ich glaube, ich habe zehn Stück an mir, und außerdem Leuchtstreifen an der Kleidung.«
»Gelaufen? Den ganzen Weg von Maridalen? Du musst doch Stunden unterwegs gewesen sein.«
»Zweieinhalb, und es war furchtbar schlecht geräumt. Aber ich bin schnell gegangen, hab Spikes unter den Schuhen. Hab sie jetzt runtergenommen. Will ja deinen Fußboden nicht zerlöchern. Hätte fahren können, aber ich dachte, vielleicht übernachte ich, und hier findet man doch nie einen Parkplatz. Ich hab Weißwein im Rucksack, ich kann heute Abend also nicht zurück.«
»Und ich habe Rotwein.«
Sie war in den letzten Jahren fast häufiger bei Margrete zu Besuch als damals, als sie noch gegenüberwohnten. Damals hatte sie eine volle Stelle in der Tierklinik und gab außerdem Kurse für frischgebackene Hundebesitzer.
Die Tage waren lang, und die sporadischen Besuche bei Margrete bestanden eigentlich nur aus einem Kaffee oder einem hastigen Glas Wein, mit einer gegenseitigen Kurzinformation über den jeweiligen Alltag.
Jetzt blieb sie ganze Abende. Ab und zu übernachtete sie, auch wenn das eigentlich nicht so angenehm war. Margretes Sofa war knubbelig und es schlief sich nicht gut darauf, außerdem rechnete Christer damit, dass sie zu Hause morgens die Hunde versorgte.
»Wird er denn nicht sauer? Wenn du hier übernachtest?«
»Und wie. Dann muss er die Hunde ja selbst füttern. Und heute habe ich nicht einmal Bescheid gesagt, als ich gegangen bin. Was kochst du? Riecht nach Tomaten und Gewürzen. Meine Güte, hab ich einen Hunger!«
»Das ist bisher nur die Pizzasoße, der Teig muss noch gehen, mit frischer Hefe und echtem Pizzamehl.«
»Echtes Pizzamehl! Gibt es auch unechtes?«
»Kochen bring ich dir später mal bei. Erst mal begnügen wir uns mit Handarbeit. Nun leg schon ab. Dann kriegst du ein Glas Wein.«
Die kleine Wohnung, spiegelverkehrt zu ihrer alten, wirkte wie immer chaotisch. Das Wohnzimmer fungierte als Arbeitszimmer, der lange Esstisch war nur an einem Ende Esstisch, wenn überhaupt. Die Nähmaschine stand wie eine kleine Lokomotive zwischen Bergen aus Stoff und Näharbeiten in allen Stadien. Auf dem Boden und unter dem immer aufgebauten Bügelbrett wimmelte es von Pappkartons voller Stoffe.
In der Küche stand ein kleiner Resopaltisch, bedeckt mit Papier und Scheren und Ausdrucken aus dem Netz, auf der Anrichte türmte sich ein Stapel aus Schachteln, wo Einfassbänder in allen erdenklichen Farben aus den kleinen Löchern quollen, neben einem Plastikkasten mit Garnrollen und Dosen mit allerlei Metallvorrichtungen zum Aufhängen von Gardinen. Nur der Herd mit dem dampfenden Kochtopf und ein großes Schnittbrett mit kleinen Haufen aus gehackten Zwiebeln und in Scheiben geschnittenen schwarzen Oliven, die auf einigen Schichten Trockenpapier ruhten, war für normale Küchenaktivitäten reserviert.
»Die Soße schmeckt fantastisch. Wo ist der Teig mit dem echten Mehl?«
»Die Schüssel steht im Schlafzimmer. Hab hier keine freie Stelle gefunden.«
»Mir kommt es hier fast noch voller vor als sonst. Hast du so wahnsinnig viele Bestellungen, oder was?«
»Ja. Wahnsinnig ist das richtige Wort. Ich glaube wirklich, ich kann bald kündigen. Prost. Schön dich zu sehen.«
Margrete arbeitete als Krankenschwester in der Klinik Ahus und verabscheute ihre Arbeit. Auf Hobbybasis hatte sie eine Webseite angelegt und nahm Bestellungen für Näharbeiten an, sie besorgte auch die Stoffe, hatte inzwischen gute Absprachen mit den Lieferanten und bekam das Material zum Einkaufspreis. Vor allem wurden Vorhänge bestellt.
»Ich bekomme jetzt auch Aufträge von Firmen, also von kleineren, für die großen habe ich nicht genug Kapazität und auch nicht genug Platz, ich muss ja schon das Schlafzimmer okkupieren. Allein in dieser Woche habe ich drei Kunden hier in Oslo besucht. Die sind so unvorstellbar erleichtert, wenn ich sage, dass ich alles für sie erledigen kann, und es ist so viel leichter für mich, als wenn sie online bestellen und ich Stoffmuster mit der Post verschicken und danach ewig hin und her telefonieren muss.«
»Warum musst du denn so viel mit denen telefonieren?«
»Weil die Muster, die ich schicken kann, winzig sind! Wenn ich selbst hinfahre, kann ich ganze Vorhangbahnen mitnehmen, und dann sehen sie ja sofort, was sich am besten macht.«
»Vielleicht musst du dir etwas mieten. Einen Arbeitsraum. Und jemanden anstellen. Du gründest einen Betrieb, wie das klingt! Himmel, was hab ich für einen Hunger! Hast du was zum Knabbern? Erdnüsse? Kartoffelchips?«
»Ich hab Käsekräcker.«
»Noch besser. I love you.«
Margrete räumte auf dem Resopaltisch eine kleine Schneise für Weingläser und die Kräcker frei.
»Dein Aschenbecher steht auf dem Balkon.«
»Super. Dann rauch ich jetzt mal sofort eine.«
Der Aschenbecher war ein mit Wasser gefülltes Einmachglas, und die Aussicht war dieselbe, wie die, die sie damals gehabt hatte. Wenn sie hier stand und rauchte, hatte sie fast das Gefühl, selbst wieder hier zu wohnen. Sie musste ein gutes Stück vom Geländer wegtreten, denn der Schnee lag so hoch, obwohl der Balkon der Wohnung darüber ein Dach bildete, ihre Füße in den Socken wurden eiskalt, aber das war es wert, die Zigarette schmeckte nach dem langen Fußmarsch wunderbar.
Margrete hatte inzwischen beide Weingläser wieder gefüllt.
»Hast du keine Angst, wenn du so am Straßenrand entlanggehst? Ist es da oben in Maridalen nicht furchtbar dunkel?«
»Doch, dunkel ist es schon, das kann ich dir sagen. Großer Gott. Um diese Jahreszeit … da könnte man auch gleich durch einen schwarzen Sack wandern. Stell dir vor, nicht mal der Schnee macht es etwas heller. Aber wenn der Mond nicht scheint, dann …«
»Und du hast keine Angst? Dass irgendwer dich einfach in ein Auto zerrt?«
»Absolut nicht, der würde dann selbst ein Problem kriegen, ich kann mich sehr gut wehren. Aber ich habe einen Fuchs gesehen, als ich die Kopflampe noch aufhatte, bevor die Straßenbeleuchtung anfing. Der hatte größere Angst als ich und machte den Supersprung über die Schneekante. Die Dunkelheit ist nicht gefährlich, es ist doch dieselbe Umgebung wie, wenn es hell ist.«
»Jetzt redest du Unsinn. In der Dunkelheit kann ALLES passieren, Torunn.«
»Nicht ohne Vorwarnung. Autos haben Scheinwerfer und sind schon aus weiter Entfernung zu sehen. Und Tiere sind niemals gefährlich. Nicht in Norwegen. Spielst du ernsthaft mit dem Gedanken zu kündigen?«
»Ja, ich hab es so satt, das kann ich dir gar nicht sagen. Hab das Gefühl, ich schaffe nie, was ich schaffen muss, immer endet alles im Chaos. Das Schlimmste ist, dass die Schwesternhelferinnen kein Norwegisch sprechen, und da hab ich manchmal das Gefühl, total den Verstand zu verlieren. Dabei verlier ich auch so verdammt viel Zeit. Für lächerliche Missverständnisse und alles, was man mit dem Teelöffel eingeben muss. Aber ich will da jetzt nicht dran denken, jetzt machen wir es uns mal so richtig gemütlich. Soll ich deine Decke holen?«