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Alles beginnt mit A. Ein Totengräber steigt in einen Zug und trifft A., seine erste Liebe. A. ist auch der Grund, weshalb er zu schreiben beginnt. In seinem Tagebuch begibt er sich auf eine Irrfahrt entlang der Untiefen des Dating- und Friedhofsalltags. Als bei ihm dieselbe Lungenkrankheit wie bei Thomas Bernhard diagnostiziert wird – kurioserweise, nachdem er sich intensiv mit dessen Werk auseinandergesetzt hat –, befeuert die Todesangst noch die unermüdliche Suche nach der wahren Liebe. Wird er sie finden oder bleibt sie für immer unerreichbar? Mario Schlembach zieht in heute graben sämtliche Register des autofiktionalen Erzählens und gräbt sich mit einer Baggerschaufel voll Ironie durch eine nicht abreißen wollende Enzyklopädie des Scheiterns. Dabei erweist sich Schlembach als wahrer Meister des Tragisch-Komischen, das Lachen ist selbst in den traurigsten Momenten nicht weit. Keine Zeit für Gedanken an die eigene Vergänglichkeit – vor dem nächsten Grab gilt es noch die größte Liebesgeschichte aller Zeiten zu vollenden. "Wie viele Wege muss ich noch suchen, um A. nicht zu finden?"
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Seitenzahl: 206
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Mario Schlembach
Roman
ERSTES HEFT
ZWEITES HEFT
DRITTES HEFT
VIERTES HEFT
FÜNFTES HEFT
Heute graben. Die Erde feucht, lehmig. Bei den ersten Brettern des Sarges sagt Papa, ich hätte »die da unten« gekannt. Ich erinnere mich nicht. Während der Trauerfeier schreibt mir eine Unbekannte. Sie will wissen, wie groß ich bin. 1 Meter 80 reichen wohl nur bei Toten. Nach dem Begräbnis: Schnitzel und Bier. Seit zwei Tagen schmerzt meine Brust. Ich fühle, dass ich krank werde.
Es beginnt wieder: die Arbeit an dem Buch. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber der Weg ist eingeschlagen. All das Material, das seit Jahren in der Schublade liegt, wird nur noch zur Last. Aber wie lässt sich eine verlorene Liebe zu einem Roman korrigieren?
Montag nur auf dem Friedhof. Die ganze Woche Begräbnisse. Toter auf Toter und kein Raum dazwischen, um ins Schreiben zu finden. Da ist dieses ständige Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt und ich jetzt alles aufschreiben muss oder es ist für immer verloren. Ich werde schon wieder zu dramatisch. Eine einfache Verkühlung und ich denke, ich muss sterben. Wahrscheinlich eine Berufskrankheit.
6 Uhr 30. Papa ruft. Ich habe vergessen, mir den Wecker zu stellen. Die immer gleiche stille Fahrt zum Friedhof. Oma auf dem Weg Eier gebracht. Erdcontainer aufbauen. Graben. Alles ohne Komplikationen. Blunzengröstl zu Mittag. Und danach, was ich nicht wusste, ein Termin mit dem Bestatter für eine Exhumierung. Wir müssen eine Gruft ausräumen, um Platz für die nächste Generation zu schaffen. Der Friedhof ist gesperrt. Als der Steinmetz den Deckel öffnet, schwimmen die Särge darin wie Gurken im Einmachglas.
Mit Rotwein im Blut meine allerersten Notizen durchgeblättert. Welch idealistischer Narr ich war! Ich wollte die Welt verändern. Ich wollte zeigen, dass das Gute und Schöne vor unseren Augen liegt, wenn wir alles mit demselben Respekt behandeln wie uns selbst. Ich wollte die Menschen auf den Pfad meiner Liebe führen, ohne zu wissen, was das war, und schrieb einen detaillierten Plan dazu. Erster Schritt: Weg von zu Hause! Zweiter Schritt: Die ganze Welt sehen! Dritter Schritt: Ein Buch schreiben, das alles sagt! Dieser Idealismus dauerte genau ein Semester lang. Dann stieg A. in den Zug und es war mir sofort klar, dass es nur einen einzigen Zweck für Worte gab: sie! Meine Welt lag jetzt in ihren Augen.
Für eine 104-Jährige graben. Die Erde hart und voller Steine. Auf 1 Meter 60 Tiefe stoßen wir auf einen Felsen. Nur Sprengstoff hätte uns weitergeholfen.
Wohin sind die wohligen Träume? Nichts als verschwommene Bilder und die ständige Angst, zu spät dran zu sein. Aber wofür? Niemand wartet auf mich. Niemand… Auf dem Bahnsteig. Eine Frau, die ich nur flüchtig kenne, bittet mich, sie zu begleiten. Alles würde ich dafür geben, mit ihr in diesen Zug zu steigen, aber ich tue es nicht. Ein nicht mehr zu identifizierendes Mädchen ist im Fluss ertrunken. Ich muss sie begraben.
Jeden Tag mit dem Hund im Wald. Stets derselbe Weg. Vorbei an dem Gedenkstein für einen Forstpraktikanten, der hier erschossen aufgefunden wurde. Es wäre vielleicht eine schöne Geschichte: Eine Postkarte im Laub. Vorne der Schattenriss eines Mädchens und auf der Rückseite eine einzige Frage: »Glaubst du, dass man jetzt schon für sein ganzes Leben lieben kann?« Sie beantwortete seine Frage nie. Mit 17 Jahren hat sich der Junge das Leben genommen und nun sind seine Nachfahren auf ewig dazu verdammt, in jeder Frau die eine zu sehen. Der Mythos des Sehnsüchtlers, der all seine Lieben wie einen Stein rollt und rollt und rollt…
Am Vormittag zur Hausärztin, die mir nichts gegen die bereits wochenlang andauernde Verkühlung verschreibt. Prophylaktisch schickt sie mich zum Röntgen, weil ich vielleicht eine Lungenentzündung übergangen haben könnte, als ich letzten Winter mit Grippe im Bett lag, aber trotzdem bei Minusgraden hinaus zum Friedhof musste.
Im Diagnosezentrum ohne Termin. Aus Mangel an Optionen blättere ich durch Brigitte und Lisa. Neben dem Donauland-Katalog, von dem meine Mama ihren monatlichen Liebesschinken bezog, waren diese Zeitschriften das Einzige, was bei uns auf dem Klo als Lektüre stets vorrätig war. Nach zwei Stunden werde ich oberkörperfrei vor eine weiße Platte gestellt. Ein schriller Ton erklingt. Fertig. Zurück zu Hause verzweifle ich vor den leeren Seiten.
Kurz vorm Einschlafen schreibt mir eine Volksschullehrerin, die lange Strandspaziergänge mag und von einem eigenen Märchenbuch träumt. Als ich von meiner Kindheit auf dem Friedhof erzähle, antwortet sie eine Minute vor Mitternacht: »Gute Nacht, kleiner Prinz der Unterwelt.« Nach dem Aufwachen ist unser Gespräch gelöscht, als hätte es nie existiert.
Gegen 10 Uhr ist es mit dem Schreiben vorbei. Ich fahre zum Supermarkt und lasse den Hund auf dem Feldweg laufen. Der Bestatter hat mich gebeten, am Nachmittag als Träger auszuhelfen. Kurz bevor die Zeremonie beginnt, stellen wir uns zu viert neben den Sarg. Meine einzige Aufgabe für die kommende halbe Stunde: lebendig verschwinden. Trauerzug. Es regnet. Wir heben den Sarg vom Bahrwagen und bringen ihn zur Ruhestätte. Unzählige Male hat mir Papa gepredigt, ja nicht bei Regen oder Schnee auf eine polierte Grabplatte zu treten, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sofort rutscht mein Fuß weg und der Bestatter packt mich im letzten Moment am Kragen. Ein Schritt weiter und ich wäre vornüber ins Loch gefallen. Zwei Meter hinab! Der Fall alleine hätte mich wohl nicht umgebracht – der schwere Sarg von dieser Höhe schon. Lächerlich, von einem Toten erschlagen zu werden.
Würde ich jetzt sterben, könnte mein Buch über A. nicht einmal als fragmentarische Talentprobe veröffentlicht werden. Bloß Selbstzweifel versüßt mit Sehnsuchtsballaden. Mechanisch tippe ich die alten Notizhefte ab, ohne den richtigen Rahmen zu finden.
Die Hausärztin sieht sich die Bilder meiner Lunge an und schreibt mir sofort eine Überweisung zur Computertomografie. »Ausgedehntes Verschattungsareal«, lese ich im Röntgenbefund. Nichts als Vernarbungen wahrscheinlich. Wenn die Lunge der Sitz der Trauer ist, dann muss meine einem Schlachtfeld gleichen.
Beim Zähneputzen starre ich in den Spiegel. Vollbart. Die Haare schulterlang. Die alten Frauen auf dem Friedhof schauen skeptisch. Als würde sie bald Jesus höchstpersönlich unter die Erde bringen wollen. Aber bei der Vorstellung, mir einen Frisörtermin auszumachen, bekomme ich Panikattacken. Wie lange hat mich niemand mehr berührt? Vielleicht sollte ich mich zumindest einmal rasieren, um zu sehen, ob ich noch da bin.
Papa überlässt mir kaum die Schaufel. Rein formal habe ich seine Arbeit auf dem Friedhof übernommen, aber statt mich ab und zu ins Loch zu lassen, verausgabt er sich völlig. Hat er Angst aufzuhören? Wie als Kind sehe ich ihm schweigend zu und verfalle der Trance seiner Bewegungen.
Mein allererstes Treffen mit einer Internetbekanntschaft. Viel zu früh im abgemachten Lokal. Ich tue so, als würde ich ein Buch lesen, bis endlich B. eintritt. Ihr offenes Wesen gefällt mir sofort. Zittrig stammle ich Allgemeinplätze als Sätze und verschlucke dabei jedes Wort so sehr, dass mein Gegenüber ständig nachfragen muss, was genau ich damit meine. B. arbeitet für eine Anwaltskanzlei. Wir teilen uns eine Hauptspeise. Ich höre ihr aufmerksam zu und beginne nach ihren Ausführungen und dem Rückgewinn eines Teils meiner sprachlichen Fähigkeiten von mir zu erzählen: Bauernhof, Möchtegern-Schriftsteller… Totengräber. B. schweigt. Ich habe mich so wohl gefühlt, dass mir der Friedhof irgendwie rausgerutscht ist. In meinem Kopf rotiert es. Statt schnell das Thema zu wechseln oder zumindest irgendeine Reaktion abzuwarten, rede ich mich in einen Rausch über das Handwerk des Grabens. Ohne jeglichen Filter erzähle ich alles, wie es in mir hochkommt: Knochendichte, Verwesungsgrade… Warum? Nach meinen Ausführungen deutet B. dem Kellner und bezahlt für uns. Beim Gehen sagt sie, dass es schön gewesen sei und sie sich bei mir melden werde. Es erfordert keine große Gabe, Höflichkeitslügen lesen zu lernen.
Zum Friedhof. Die Erde steinhart. Ich hole das Stemmgerät. Knock-knock-knockin’ on heaven’s door. Nach den ersten zehn Zentimetern wird der Boden zum Glück lockerer. Laut Grabstein liegt die letzte Beerdigung fünf Jahre zurück. Am Kopfteil ist der Sarg noch nicht ganz eingebrochen. »Schauen wir uns ihn einmal an«, sagt Papa zu mir. Ich habe es als Frage verstanden, aber es war keine. Noch alles da. Die Leiche ist in ein großes, weißes Tuch eingewickelt. Wahrscheinlich wegen Infektionsgefahr oder aufgrund eines Unfalls. Papa kann sich nicht erinnern und es muss ein Rätsel bleiben, das auch ich nicht klären will.
Fußball und Bier, während mir eine Publizistikstudentin mit einer Karikatur als Profilbild schreibt: »Was suchst du in einer Frau?« Habe ich mir über den Part danach je Gedanken gemacht? »Jemanden, der mich nicht braucht«, tippe ich ins Telefon, weil es gut klingt, und führe diesen Satz nicht weiter aus. Wischi-Waschi-Antwort. Wahrscheinlich die falsche. Das Frage-Antwort-Spiel mit der Fremden endet sofort und ihr Name verschwindet von meinem Bildschirm. Würde Die Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit eine Quizshow sein, wäre ich wohl ihr miserabelster Kandidat.
Aufgelassene Ruhestätte. Ich grabe hinab. In Hüfthöhe taucht ein Krokodil auf. Es schnappt nach mir. Was nun? Vorsichtig schaufle ich um das Monster herum und muss ständig aufpassen, nicht gefressen zu werden. Es ist furchtbar mühsam, die richtige Tiefe zu erreichen. Der Verzweiflung nahe, beginne ich hemmungslos zu lachen und wache davon auf.
Im Zug durch die regnerische Landschaft. Eine junge Frau steigt ein und setzt sich mir gegenüber. Immer wieder schaue ich von meinem Notizheft hoch. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie mich an. Genau so hat alles begonnen. Mein Herz rast. Es ist lächerlich. Das Mädchen mir gegenüber gleicht in nichts A. und doch ist es so, als würde sie wieder bei mir sitzen. Habe ich diesen Zug mit ihr je verlassen?
Computertomografie. Eine Assistenzärztin überreicht mir den Fragebogen zu meinem gesundheitlichen Ist-Zustand und legt mir gleich die Infusion. Wenig später werde ich in eine kleine Kammer gerufen, die nur aus Spiegeln besteht. Ich soll meinen Oberkörper freimachen. Meine Figur gleicht immer mehr einer letscherten Birne. Ich werde weitergeführt und zur Röhre gebracht. Hinlegen. Hände über den Kopf. Hinein in die Maschine und fünf Minuten der kalten Computerstimme folgen: »Bitte einatmen und die Luft anhalten.« Helle Drehgeräusche. Ein Klacken. »Normal weiteratmen.« Vom Kontrastmittel spüre ich zunächst nichts. Erst während des letzten Drittels bemerke ich ein leichtes Kribbeln im Bauch und dann wird mein Schädel plötzlich so heiß, dass er jeden Moment zu explodieren droht. Zurück im Spiegelkabinett ziehe ich mich wieder an und warte auf dem Gang auf weitere Anweisungen. Im Fünf-Minuten-Takt werden Namen aufgerufen. Fließbandarbeit. Das Material sind die Menschen. Die Maschine bestimmt den Rhythmus. Nach einer Weile kommt die Assistenzärztin zurück, gibt mir die Bilder meiner Lunge und zieht ganz sanft die Infusionsnadel aus meinem Arm. Ihre blonden Haare sind nicht länger zu einem Zopf gebunden und erst jetzt erkenne ich, wie strahlend blau ihre Augen sind. Ich lächle sie an, aber bleibe nichts anderes als ein ausgefüllter Fragebogen für sie.
»Fleckig-konfluierende Verdichtungen in beiden Lungen, oberlappenbetont, kleinnoduläre Veränderung der Interlobulärsepten. Mediastinale und bihiläre Lypmphadenopathie. Der Befund ist supekt für das Vorliegen einer Sarkoidose (Morbus Boeck). Eine weitere pulmonologische Abklärung ist angeraten.« Müsste das Böse, dort, wo man Angst um sein Leben haben sollte, nicht ganz klar geschrieben stehen? Was fange ich mit diesem nüchternen Fließtext voller Fremdwörter an? Ich schlage die Begriffe nach und es ist ein Spiel mit dem Feuer.
Ein Strand. Ich grabe im Sand. Langsam kommt das Wasser immer näher. Was als Spiel beginnt, wird zum bitteren Ernst. Ich schaufle wie wild, um die richtige Tiefe zu erreichen, aber mit jeder Welle fällt das Loch in sich zusammen. Nie werde ich fertig! Es ist noch dunkel, als ich aufwache und hinaus in die Kälte muss.
Ganz neue Reaktionen meines Körpers: ein Stechen in der Brust. Die Atemzüge schwer. Ist es die Krankheit? Oder höre ich zum ersten Mal genauer hin, was sich in mir abspielt, ohne diese Sprache zu verstehen? Regungslos sitze ich vor meinem Schicksal und kontrolliere nur, was noch in meiner Macht steht: Worte. Und selbst sie entgleiten mir.
Treffe C. in einem Café. Die Fotos, die ich von ihr kenne, sind völlig überbelichtet und kaschieren wohl ihr richtiges Alter, aber wenn sie nur annähernd der Realität entsprechen, dann… C. wirkt aufgewühlt und bombardiert mich mit Fragen: »Wie viele Beziehungen hattest du schon? Wann war die letzte? Wie lange hat sie gedauert? Warum hat sie geendet? Siehst du dich als Beziehungsmensch? Oder eher so schau-ma-mal? Suchst du was Ernsthaftes?« Schlage ich eine Frage weg, wachsen doppelt so viele nach. Seit wann liegt das Kennenlernen im Kopf der Medusa? Ich versuche möglichst unbekümmert zu antworten und versehe meine Worte mit einem ironischen Unterton. C. lacht nicht. Ich fühle mich wie bei einem Bewerbungsgespräch, und als meine Zeit um ist, beginnt sie mit der detailgenauen Auflistung ihrer Zukunftspläne. Sie sei jetzt in ihrem Beruf als Versicherungsmaklerin »angekommen« und suche die »Vervollständigung ihres Glückes«. Als ich leicht zu schmunzeln beginne, weil ich glaube, dass es eine scherzhafte Formulierung gewesen sei, blickt C. mich mit steinernem Gesicht an. Ankommen, was heißt das?, denke ich beim Bezahlen. »Ich habe jetzt noch einen Abendworkshop und die nächsten Wochen gut zu tun«, sagt C. zum Abschied. Wir verlassen das Café. Ich müsste zwar auch ihren Weg einschlagen, aber ich gehe in die entgegengesetzte Richtung. Irgendwie war C. als bloße Illusion interessanter.
6 Uhr 30. »Es ist die Hölle, wenn der Nebel friert«, sagt Papa, als wir unser Werkzeug aus der Totengräberkammer holen. Irgendwie poetisch. Doppelgrab. Auf der rechten Seite ausheben. »Er hat sich vor den Zug geworfen«, erzählt eine alte Frau beim Vorbeigehen. Der nach ihr eintreffende Diakon bestätigt es mit anderen Worten: »Er hatte ein Unglück vor dem Zug.« – »Wie alt?«, fragt Papa aus dem Grab. »Ende 70.« Und ich weiß genau, welche Replik jetzt folgen wird: »Das hat sich auch nicht mehr ausgezahlt!« Mein Kopf verkommt zu einem einzigen Friedhofsdialoglexikon. Die Erde trocken. Es schaufelt sich leicht. Der letzte Leichnam ist fast völlig verschwunden. Da sind nur noch der Totenkopf und ein dicker Oberschenkelknochen zu finden. Der Rest: Plastikzeug aus den Siebzigern. Ein schwarzer Anzug. 100% Polyester. Faltenfrei. Weißes Hemd. Schuhe. Strümpfe. Später Buchteln mit Vanillesauce bei Oma.
Zur Hausärztin. Sie schreibt mir eine Überweisung für die Lungenklinik. Es wird ernst. Muss ich jetzt die Rechnung dafür bezahlen, dass ich immer alles in mir vergraben habe? Jede Trauer, jedes Verlassenwerden habe ich in mich hineingefressen und jetzt frisst es mich auf. Mein Körper ist von einem Virus befallen, der mich innerlich aushöhlt, bis ich um jeden Atemzug kämpfen muss. Ich werde schon wieder theatralisch. Aber bei allem, was ich über diese Krankheit lese, ist der Weg zum Übertreibungskünstler nicht weit.
Mit D. in der Stadt. Ihr Anblick kratzt Wunden auf, mit denen ich noch immer nicht umgehen kann. Sie will alles über meine letzten Jahre wissen. Ich bin müde und kaum in der Lage, meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Was habe ich gemacht in all der Zeit? Allein die Frage macht mich unruhig. Nichts ist passiert. Ich existiere in einer Blase ständiger Wiederholung. Was erzählen? Ich beginne mit meiner Krankheit und der anstehenden Untersuchung in der Lungenklinik, um sofort eine Ausrede dafür zu haben, das Treffen auf ein Minimum zu reduzieren. Es wird geraucht. Ich vertrage es nicht. Seit ich die mögliche Diagnose gelesen habe, meide ich alles, was mir den Atem rauben will. Ich trinke Tee und höre jetzt nur noch diesem Wesen mir gegenüber zu, das mir so fremd geworden ist. Ihre Empathie hatte ich damals mit Zuneigung verwechselt, und als ich sie küssen wollte… D. empfiehlt mir ihren Therapeuten, weil es meist psychologische Gründe seien, warum uns etwas krank macht. Sie spricht von ihren eigenen Dämonen und dem Weg, den sie eingeschlagen hat, um sie zu besiegen. »Ich arbeite auch gerade daran«, werfe ich ein. Stimmt das? Vielmehr kommt es mir so vor, als würde ich durch das Buch über A. alle Monster in mir zugleich wachrufen, um sie in einem finalen Gefecht gegeneinander antreten zu lassen. Kann ich auf so einem Schlachtfeld überleben? Und wer gewinnt diesen Kampf? Die romantische Seele? Der Todestrieb? Die künstlerische Hybris? Der Egomane im Schafpelz? Der Weltschmerzhypochonder? Oder der Depressionsclown, der tagtäglich seine Rolle als Totengräber spielt? Als D. über Rituale des Loslassens zu sprechen beginnt und wissen will, ob ich A. noch immer nachtrauere, nutze ich die erstmögliche Gelegenheit, um aufzubrechen.
Aufwachen. Zum Friedhof. Einen halben Meter tief graben, bis Papa und ich auf drei dicke Sandsteine stoßen. Unter der größten Kraftanstrengung stellen wir sie auf. Fast wäre mir einer aus der Hand gerutscht und in die Gruft gefallen. Für die bereits darin befindlichen Särge hätte es dann geheißen: quitsch, quatsch… Traubenmatsch. Danach Mittagessen. Fleischlaberl mit Erdäpfelsalat. Ich lege mich etwas hin, schlafe ein und schrecke nur wenige Minuten vor der Abfahrt zum Begräbnis auf. Für kurze Zeit weiß ich weder wo ich bin noch wer ich bin. Aufbahrungshalle. Totenbilder verteilen. Trauerzug hoch zur Kirche. Ich keuche nach wenigen Schritten. Meine Kondition ist erbärmlich. Umziehen. Als die Hinterbliebenen weg sind, springe ich in die Gruft und schiebe den Sarg auf die Seite, um Platz für den Nächsten zu schaffen. Ins Wirtshaus. Bier. Und die immer gleichen Leichengeschichten.
Da ist diese Frau hinter einer Theaterbühne. Ich bin Statist und sie spricht mich an. Sie ist jung, bleich im Gesicht und hat fast weißes Haar. Alles an ihr scheint noch kindlich zu sein und doch ist in ihren Augen eine unheimliche Reife zu erahnen. Meine Begierde ist groß und ich weiß, eine Berührung und ich explodiere. Zu lange hat es sich aufgestaut. Zu groß ist dieses Verlangen nach ihr. Ist sie wieder nur eine Fantasie? Um uns bricht das Chaos aus. Apokalyptische Feuer… und da öffnet die Frau ihr weißes Seidenkleid. Sie beugt sich über mich und ich bettle meinen Körper an, jetzt ja durchzuhalten, jeden Moment zu genießen, für den ich die Welt geopfert habe. Als ich aufhöre, mich mit meinen eigenen Gedanken zu beschäftigen, merke ich erst, wie wild und unkoordiniert ihre Küsse sind. Ihr Mund scheint mein Gesicht fressen zu wollen. Ihre Zunge erkundet die Untiefen meines Rachens. Ich bin erschrocken und verliere jedes Verlangen nach ihr. »No one fucks as hard as a writer«, flüstert sie in mein Ohr. Ich lache. Zitiert sie da jemanden oder sind das wirklich ihre Worte? Ich muss mir das alles merken, denke ich, und als ich komme, geht die Welt unter.
Die üblichen Routinen am Morgen. Danach ein Loch für eine Urne ausheben – und gleich wieder zuschütten. Die Angehörigen wollen, dass alles still, leise und anonym bleibt. Später weiter die Notizhefte abschreiben. Langsam kommt mir das Buch über A. wie eine einzige Sehnsuchtsnotbremse vor.
Krankenhaus Hietzing. Vorbei an Baumskeletten im Morgendunst. Ich kenne diesen Ort gut, aber habe es bisher nur bis zur Pathologie geschafft. Auf dem Weg zur Lungenklinik im Pavillon VIII verlaufe ich mich mehrmals. Bei der Anmeldung gebe ich die Bilder meiner Lunge ab und werde von einer Krankenschwester in den nächsten Raum gebeten. Blutabnahme. Fragestunde. »Alter? Größe? Rauchen Sie?« Mit meinen Papieren hoch in den dritten Stock. Ich soll auf dem Gang Platz nehmen. Nach kurzer Zeit kommt eine Pflegerin und schmiert mein linkes Ohrläppchen mit einer Creme ein. »Nicht hingreifen. Es brennt gleich.« Warten. Die Lifttür geht auf. Ein alter Mann im Rollstuhl wird neben mir abgestellt. In seiner Nase steckt ein durchsichtiger Schlauch, der an einem Sauerstoffbehälter befestigt ist. Seine Füße und Hände – nur Haut und Knochen. Er soll einige Schritte gehen, sagt die Schwester zu ihm, und als er versucht aufzustehen, denke ich, dass er jeden Moment in sich zusammenfallen wird. Ich kann kaum hinschauen. Vor mir ein Skelett, das nur noch Fragmente eines Menschen trägt. Was hält ihn noch am Leben? Mein Name kratzt durch die alten Lautsprecher. Ich erahne ihn erst beim zweiten Mal. Im Anmeldezimmer wird mein Ohrläppchen abgewischt, ein kleines Loch gestochen und mit einem Röhrchen nimmt die Pflegerin etwas Blut ab, das sie durch eine Maschine laufen lässt. Als der Zettel mit den Werten ausgespuckt wird, werde ich zwei Zimmer weiter geführt. Lungenfunktionstest. In der Mitte des Raumes steht ein gläserner Kasten. Ich setze mich hinein. Die Schwester bringt ein Plastikmundstück auf der Öffnung vor mir an und ich bekomme eine Art Wäscheklammer auf meine Nase geklemmt. Glastür zu. Die folgenden Anweisungen klingen nach Zugdurchsagen: »Richten Sie sich so ein, dass Sie gerade sitzen und umschließen Sie das Mundstück komplett mit Ihren Lippen… atmen Sie ganz normal… gut so… gleich kommt ein Widerstand… atmen Sie einfach weiter… sehr gut… und gleich nochmal… wunderbar… und jetzt holen Sie ganz schnell und ganz tief Luft und blasen alles raus, was in Ihrer Lunge ist… blasen, blasen, blasen… kommen Sie, da geht noch was… blasen!… sehr gut… und normal weiteratmen.« Mir wird schwarz vor Augen. Zurück im Erdgeschoss soll ich warten, bis der Doktor so weit ist. Eine Stunde lang versuche ich irgendetwas in mein Notizheft zu kritzeln, aber es ist mir unmöglich, diese Welt um mich jetzt auszublenden. Überall Menschen, die von ihren Leiden gezeichnet sind. Ihre Augen sind leer – ausdruckslos. Was mache ich hier? Ich habe weder Symptome einer Krankheit noch irgendwelche Beeinträchtigungen – nur Bilder, die anderes sagen. Die Tür vor mir geht auf und ein junger Arzt bittet mich herein. Er sieht sich die Computertomografie meiner Lunge an und begutachtet danach die heutigen Werte. »Also bei den Aufnahmen sind die Schatten sehr deutlich zu erkennen. Auch die Entzündungswerte in ihrem Blut und ihre beeinträchtigte Lungenfunktion sind klare Anzeichen für eine mögliche Sarkoidose. Um sicher zu gehen und Weiteres ausschließen zu können, sollten wir aber schnellstmöglich eine Bronchoskopie durchführen«, sagt der Doktor in einem Ton, als würde er ein Lehrbuch referieren. Die Bronchoskopie sei ein harmloser Eingriff mit einer leichten Narkose, fügt er noch hinzu, wobei über den Rachen etwas Gewebe entnommen wird. »Noch Fragen?« Ich versuche, in meinem Kopf irgendwelche Sätze zu formulieren, aber da ist nichts. »Na wunderbar! Machen Sie sich einfach bei unseren entzückenden Damen einen Termin aus und dann hätten wir’s auch schon.« Ich nicke und bleibe für einen kurzen Moment sitzen.
»Das war ein Sandler«, sagt Papa aus dem Grab. Ich schrecke auf. Oft weiß ich nicht, ob er das, was er sagt, wirklich so meint, oder ob es eine andere Bedeutung für ihn hat. »Warum war das ein Sandler?«, frage ich ihn. »Das haben’s immer schon gesagt«, ist zunächst seine einzige Antwort, bis er einige Stiche später weiter ausführt: »Er ist halt ständig so herumgelaufen, obwohl er ja einen Haufen Geld gehabt hätte. Geizig bis auf die Knochen. Als ich seine Frau eingegraben habe, wollte er, dass ich bei der Hälfte aufhöre, weil er gedacht hat, es wäre dann billiger.« Nach und nach kommen wir Papas Jahrgangskollegen näher. Er vergisst oft, dass ich die Geschichten von damals nicht kenne.
Verliebt in E. Wahrscheinlich das falsche Wort. Aber andere Vokabeln für die Liebe habe ich nicht… Wir treffen uns unter der Eule der Technischen Universität. Ich bin nervös, aufgewühlt. Nichts weiß ich über E., aber da sind genug Bilder von ihr, um meine Fantasie in alle Richtungen zu befeuern. Was ist schlimmer? Gar nichts zu wissen oder in jede Kleinigkeit etwas hineininterpretieren zu können? Oberflächliche Gespräche bei Punsch. Ich rede über mein Schreiben. Den Totengräber lasse ich aus Erfahrung weg. Sie spricht von ersten Modelaufträgen, einem Urlaub auf den Seychellen, ihrer Wohnungssuche… Tritt eine kurze Pause ein, dann versucht sie, die Leere zu füllen, als könnte sie keinen Moment der Stille ertragen. Ist eine Anziehung da oder existiert das alles nur in meinem Kopf? Während sie eine Geschichte aus ihrer Kindheit erzählt, starre ich in ihr Sommersprossengesicht. Kann ich aus diesen Punkten meine eigenen Sterne deuten? E. muss früh weg und ich begleite sie zur Straßenbahn… Ich schreibe über sie. Das ist nie ein gutes Zeichen. Wenn ich schreibe, inszeniere ich etwas, das nicht da ist. Vielleicht ist verliebt doch das falsche Wort.
Weiter am Buch über A. arbeiten. Danach zum Friedhof. Vor der Messe fragt der Pfarrer den Bestatter: »War der Mann krank?« – »Nein. Alt!«, antwortet er.
Ich möchte bei E. sein – jetzt! Wer ist sie? Manchmal kommt es mir so vor, als wäre mir die Antwort darauf bereits völlig egal geworden. Ob sie B., C. oder D. heißen: Ich erschaffe mir Gespenster, denen ich dieselbe Maske aufsetze.
E. antwortet auf keine meiner Nachrichten. Ich lösche ihre Nummer, bevor sie es tut.
Fußballmatch. Der Torwart schießt mich an und es wird als mein Treffer gezählt. Später mit den Mitspielern in die Stadt. Ein einziges Delirium. Ich betäube mich, um irgendwie dazuzugehören, und verliere jegliche Grenzen. Exzess bis weit nach der Sperrstunde. Als alle gehen, ziehe ich mit zwei Kellnerinnen weiter. Ich habe wohl versucht, eine von ihnen zu küssen. Das Einzige, woran ich mich erinnere, sind Ablehnung und Zurückweisung.