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Nach ihrem hochgelobten Debut-Roman »Wir kommen« nun das neue Buch einer der schärfsten Beobachterinnen unserer Zeit, Ronja von Rönne. ›Heute ist leider schlecht‹ ist eine Auswahl ihrer besten Kolumnen aus der »Welt am Sonntag« und ihrem Blog »Sudelheft« sowie brandneuen Texten. Frech, witzig, provozierend und auf den Punkt gebracht widmet Ronja von Rönne sich darin ungemein scharfsinnig und wortgewaltig den Lebensentwürfen unserer Zeit. Sie schreibt über alles, was das Menschsein zur Unverschämtheit macht: » Positiv denken ist sehr in. Dabei ist das großer Unsinn. Wenn man z. B. sehr einsam ist, hilft es auch nicht, sich einzureden, man sei eigentlich nur die kleinste Polonaise der Welt. Denn die Wahrheit ist doch: Man fühlt sich sehr allein, und wenn Sie sich weiter einreden, lediglich ein ›sehr exklusives Clübchen‹ zu sein, bleibt es auch dabei.« Ein Buch im typischen Rönne-Sound, ein Muss für alle Fans des »neuen Sterns am Himmel des deutschen Popliteratentums«, wie das Deutschlandradio Kultur Ronja von Rönne genannt hat.
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Seitenzahl: 204
Ronja von Rönne
Heute ist leider schlecht
Beschwerden ans Leben
FISCHER E-Books
Für Gromi
Wenn ich an meine Kindheit denke, erinnere ich mich nur an Millionen Kieferorthopädenbesuche und AOL-CD-Roms. Das waren Umsonst-CDs, mit denen man sich ins Internet einwählen konnte. Vom Internet wussten wir wenig, aber wir ahnten, dass es höchstens halb so glänzend und bunt wie die AOL-CDs sein konnte. Das Internet war egal. Die AOL-CDs waren es nicht.
Sie lagen überall aus. Beim Edeka bekam ich nicht, wie andere mir mit leuchtenden Augen erzählten, eine Scheibe Wurst, über deren Herstellung man später furchtbare Dinge erfahren würde, nein, ich bekam eine AOL-CD.
»Willst du noch eine AOL-CD?«, fragte die Kassiererin, und ich antwortete:
»Aber ja, solch eine wunderbare AOL-CD, wer weiß, wenn die anderen hundert kaputtgehen, habe ich noch eine zum Ersatz. Gib her das Ding.«
Meine Kindheit war ein leeres Zimmer in Oberbayern, in dem tausend AOL-CDs und eine Zahnspangendose lagen. Später, als mir das zu langweilig wurde, spielte ich einfach, dass die Zahnspangendose auch eine AOL-CD ist.
Nie habe ich gespielt, dass die CDs Ufos wären oder wenigstens Telekom-CDs, ich wollte nicht phantasievoll sein, ich wollte einfach nur noch mehr AOL-CDs. Ich wollte alle. Man braucht hohe Erwartungen, sonst kann man nicht enttäuscht werden.
Irgendwann schmiss meine Mutter sie alle weg. Rums und klirr-klirr in den Hausmüll. Ich sprach kein Wort mehr mit ihr, packte schweigend meine Siebensachen und zog aus, um fürderhin missverständliche Texte in großen Zeitungen zu publizieren.
»Die Wut, woher kommt denn die Wut in Ihren Texten«, werde ich gefragt. Ein- oder zweimal habe ich ehrlich darauf geantwortet.
»Meine Mutter hat meine Reklame-CDs weggeworfen.«
»Ach so, hm«, sagt die Reporterin.
»Wirklich. Jede Einzelne«, sage ich.
Dann sagen wir beide nichts und denken an bessere Zeiten. Vielleicht liegen sie ja bei ihr in der Zukunft. Für mich sind »bessere Zeiten« nur eine vage, glitzernde Erinnerung mit Loch in der Mitte.
Gedruckt worden ist meine Antwort übrigens nie, stattdessen stand dann später da, dass ich eben einen »schrägen Humor« habe. Dabei stimmt das nicht. Schräger Humor ist, wenn man seine Mitschüler erschießt und auf die Frage nach dem »Warum« antwortet:
»I don’t like mondays.«
Das ist schräger Humor. Das hier ist der letzte Satz. Und das war eine Lüge.
Ich wache oft gegen vier Uhr morgens auf. Meistens, weil ich keine Luft bekomme. Um vier Uhr morgens eine Panikattacke zu bekommen ist sehr praktisch, denn sonst verpasst man nicht viel. Die Geschäfte haben geschlossen, die Exfreunde ihr Handy im Flugmodus.
Weil aber auch die schönste Panikattacke nicht für immer ist, will die Zeit bis zur Morgendämmerung genutzt werden. Also erledige ich, ganz die Generation Produktiv, all die Dinge, zu denen ich sonst so selten komme. Ich starre in mein finsteres Zimmer und denke über Mahngebühren nach, stelle mir den Tod vor und führe imaginäre Gespräche mit Menschen, die mir verhasst sind. Ich male mir die Zukunftsangst aus. Ich stelle mir vor, wie in meinem Kopf ein Tumor wächst. Spätestens, wenn die Sonne aufgeht, weiß ich, welche Fehlentscheidungen in meinem Leben mich zu dem gemacht haben, was ich heute nicht bin.
Unfair ist, dass nach dieser Tortur erst der Tag beginnt, das Einzige, was vielleicht noch schlimmer ist als der Morgen. Grässlich viele Stunden warten grinsend darauf, genutzt zu werden. Weil es aber hell ist, und weil man in der Uni sitzt, und weil es starken Kaffee gibt, kann ich mich tagsüber sehr gut mit meinen moralischen Verfehlungen, meiner Unproduktivität und meinem destruktiven Lebensstil arrangieren.
Das Schöne ist, dass sich die Zeit von ganz allein verlebt. Ich muss gar nichts tun. Ich kann mit einer Scheibe Toast auf meinem Grabstein sitzen und warten. Aber weil ein Grabstein sehr unbequem ist, wache ich häufig nachts auf und muss darüber nachdenken, warum ich meine kurze Erdenzeit nicht sinnvoller genutzt habe. Alles ist sehr schlimm.
»Komm, wir hängen die Wäsche auf!«
»Nö.«
»Geh wenigstens mal von Facebook runter.«
»Nope.«
So geht das schon seit Tagen. Ich komme zu gar nichts mehr. Das Diffuse ist bei mir eingezogen, kräht in meinem Zimmer herum und macht mir Sorgen. Es veranstaltet Tennisturniere für seine Freunde in meinem Hinterkopf. Ich nehme nie teil, verliere aber trotzdem. Sagt es. Das Diffuse reißt meinen Kleiderschrank auf, schmeißt alles durcheinander, schmiert sich Lippenstift ins Gesicht und verkleidet sich wahlweise als Furcht oder Versagensangst. Gerade trägt es einen BH in Doppel D, was völlig albern aussieht, weil weder das Diffuse noch ich große Brüste haben.
»Wer bin ich jetzt?« Es grinst feist.
»Weiß nicht. Ein Komplex?«
»Och, Mensch, das war zu einfach.« Das Diffuse zieht sich beleidigt zurück in die Ecke und liest mir aus meinem Tagebuch mit elf vor.
»Guck mal, du wolltest damals schon Autorin werden!«
»Weiß ich.«
»Und was ist seitdem so schiefgegangen?« Das Diffuse brüllt vor Lachen, kippt eine Flasche Aldi-Whiskey und grabbelt an meinem Handy rum, um selbstmitleidige SMS an Verflossene zu tippen.
Ich schlage ihm einen Spaziergang vor. Draußen scheint die Sonne. Es schüttelt den Kopf.
»Wusstest du, dass Sonnenschein die Nummer-eins-Ursache für Hautkrebs ist?«
Ich zerre es aus dem Haus. Wir gehen Richtung Rewe. Ich will was Schönes kochen, für uns beide. Ich lege eine Aubergine in den Korb. Das Diffuse nimmt sie wieder heraus. Ich lege sie wieder hinein. Das Diffuse guckt zornig und schmeißt vier Stangen Discounterkippen in den Korb. Ich resigniere.
Es nervt zusehends. Das Diffuse hat viele ärgerliche Angewohnheiten. Zum Beispiel, Redensarten falsch zu verwenden.
»Jetzt macht doch keine Mücke aus einem Elefanten! Alles ist viel schlimmer, als es tatsächlich scheint!« Es verdreht die Augen. Dann rennen wir beinahe nach Hause, denn, erzählt das Diffuse ganz euphorisch, zu Hause sei der WLAN-Empfang viel besser, außerdem könne man in Jogginghosen herumliegen. Ich gebe nach.
Das Diffuse legt sich in mein Bett. Es sieht eigentlich ganz zahm aus, wie es sich da zusammenrollt. Es kann kaum noch die Augen offen halten, als ich mich dazulege.
»Ich bin wie das Sams«, murmelt es noch, »nur dass ich jeden Tag da bin und keiner mich mag.«
Im Halbschlaf greift es nach meiner Hand. »Du verlässt mich doch nicht, oder?«
Ich gucke es an, streiche ihm ein Haar aus dem Gesicht. Wie könnte ich.
Ich habe mich zu einem Interview mit Marcel Reich-Ranicki verabredet. Er gibt mir die Hand und entschuldigt sich, dass er nicht kommen konnte. Draußen scheint die Sonne, als wir im Holodeck Platz nehmen. Die Realität sitzt zwei Tische weiter, guckt mürrisch und trinkt Zitronenlimonade.
SUDELHEFT: Es ist wirklich schade, dass wir uns heute nicht unterhalten können –
REICH-RANICKI: Ich glaube, Sie lesen zu wenig Zeitung. Sonst wüssten Sie, dass ich gar nicht mehr lebe. Man kann nicht einfach als Toter zu Interviews aufkreuzen. Das brächte alles durcheinander.
SUDELHEFT: Aber ich interviewe lieber Tote, die twittern nicht.
REICH-RANICKIversonnen: Manchmal ist eine Schreibblockade für den Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen.
SUDELHEFT: Sie machen mir sogar als Toter noch Angst –
Die Realität schlürft missbilligend den Rest ihrer Zitronenlimonade und setzt sich eine Sonnenbrille auf.
REICH-RANICKI: Sie werden albern.
SUDELHEFT: Mir ist das irgendwie unangenehm, ich habe das schon groß angekündigt, ein Interview mit Reich-Ranicki, das gab es ja nun ewig nicht mehr, und jetzt sitze ich hier alleine –
REICH-RANICKI: Aber hier ist man nie alleine. Sehen Sie, da läuft Jean-Luc Picard! Ich glaube, wenn ich ein anderer Mensch wäre, wäre ich ein großer Star-Trek-Fan. Bis auf die Voyager-Folgen, die sind Quatsch.
SUDELHEFT: Möchten Sie einen Earl-Grey-Tee?
REICH-RANICKIlässt den Blick in die Ferne schweifen: Mich stört die gewollte Metaebene in diesem Text massiv. Bei Wikipedia steht, dass ich eine realistische Literatur favorisiere.
Die REALITÄT holt aus und wirft ihr Glas nach uns:ENDLICH SAGT ES MAL EINER! MICH GIBT ES AUCH NOCH!
SUDELHEFT: Aber die Realität muss doch nicht immer in Texten die größte Rolle spielen. Ich finde das aufdringlich.
REICH-RANICKI: Ich muss jetzt gehen. Es ist immer so schwer, Orte zu verlassen, an denen man noch nie war.
Ich möchte den internationalen Tag der Tapferkeit ausrufen.
Tapfer sind alle, die sich umgebracht haben, und alle, die noch leben. Viel zu oft wünscht man mir »viel Spaß« bei allerlei spaßlosen Angelegenheiten, viel zu wenig sagt man mir »tapfer bleiben«. Dabei ist doch viel mehr schlimm als angenehm, und bei angenehmen Tätigkeiten hat der Spaß sich gefälligst von allein einzustellen und sollte nicht erst durch Wünsche meiner Freunde beordert werden müssen. Ständig muss ich Spaß haben. Man kommt kaum mehr zum Silberputzen bei all dem Spaß.
Silberputzen war als Kind meine Lieblingsbeschäftigung. Ich komme aus Oberbayern. Früh stellte mich meine Mutter vor die Wahl: »Kind«, sagte sie, »möchtest du in deiner Freizeit lieber in den Trachtenverein oder das Familiensilber polieren?«
Ansonsten habe ich als Kind viel gelesen und gewackelt. Das Wackeln war toll. Einfach von vorne nach hinten, den ganzen Oberkörper und Tag lang. Heute komme ich nur noch selten dazu, es wird ja viel diagnostiziert, und ganz schnell wird einem das Silbermesser entwendet und durch einen Therapieball ersetzt, man muss alte Jogginghosen tragen, durch traurige Fluren von noch traurigeren Psychiatrien schlurfen und Activity mit Verrückten spielen. Ich habe in meiner kurzen Erdenzeit noch viel vor, deswegen wackele ich nicht mehr, sondern trinke zur Stressbewältigung viel Alkohol, das ist gesellschaftsfähiger.
Wenn man »ich wackele« in Google tippt, wird einem übrigens »ich wackele wie ein Dackel« vorgeschlagen, aber ich finde, das geht doch zu weit. Ich wackele wie ein vernünftiger Mensch, nicht wie ein überzüchteter Dachshund.
Wie viel Sex normal ist, weiß ich übrigens nicht, das müsst ihr schon selbst wissen! Was ist denn das für eine bescheuerte Frage! Wenn ihr zur Beantwortung einer solchen Frage Texte einer 23-jährigen Wacklerin lesen müsst, tut mir euer Partner wirklich leid.
Dafür kann ich bald die Frage »Bringen Überschriften mit dem Wort Sex wirklich mehr Leser?« empirisch fundiert beantworten. Und wenn ihr jetzt wütend seid, weil ihr statt Sextipps nur erfahren habt, dass ich als Kind gern Silber putzte, kauft euch doch das nächste Mal die »Cosmopolitan«, ihr Knalltüten.
An Weihnachten treffe ich alte Freunde wieder. Das hat bei uns Tradition. Die meisten sind natürlich weder alt noch Freunde, trotzdem umarmt man sich ein bisschen länger als sonst, weil man so tut, als ob man es wirklich so meinen würde. Man lässt die Augen blitzen und strahlt: Geht’s dir gut? Man erinnert sich mühsam an alte Insider, die nicht mehr zünden, aber man lacht trotzdem, denn sonst müsste man ja miteinander reden, und genau das will man nicht, sonst wären es ja keine alten, sondern echte Freunde.
Man hält sich gegenseitig auf dem Laufenden: Nein, ich rauche nicht mehr. Ja, ich wohne jetzt auch in Berlin. Nein, ich habe jetzt keinen Sex mehr mit Schimpansenbabys. Dann lacht man höflich und sagt: Oh, krass, wie hast du das denn geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, und schade, das Schimpansen-Ficken hat dir doch früher so viel Spaß gemacht! Schon fühlt man sich wieder ein bisschen verbunden. Wie früher. Und kurz denkt man, dass früher vielleicht alles gar nicht so schlecht war, wie mein Psychiater immer behauptet.
Denn es gibt natürlich Gründe, warum diese Menschen alte und nicht aktuelle Freunde sind. Weil ich nicht mit Menschen befreundet sein will, die so eklige Dinge tun, wie mit Schimpansen zu schlafen oder change.org-Links zu posten. Der wahre Grund, warum man so sehr strahlt, wenn man alte Freunde umarmt, liegt daran, dass man diese Fressen an den anderen 363 Tagen im Jahr nicht umarmen muss.
Weihnachten ist die Zeit der Dankbarkeit. Ist Zeit der Aufarbeitung. Manchmal gibt es ja auch gute Neuigkeiten: Die Stufenschönste ist mittlerweile Stufenzweitschönste, und der ehemalige Klassensprecher hat sich vor einen ICE 3 geworfen. Dann guckt man betroffen, sagt: Züge fand er früher schon immer toll, und dreht sein Glas in den Händen, während man sich die zerfetzten Einzelteile dieses Arschlochs im Schnee glitzernd vorstellt. Blut auf Weiß. Schön. Weihnachtlich.
Und weil ja Weihnachten ist, glaubt man auf einmal wieder ein bisschen an Gerechtigkeit. Und dann fängt es an, leise zu schneien.
Ich bin unglücklich. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich im Nachbarhaus einen fetten Typen mit Halbglatze, der sich seit gut 20 Minuten vergeblich einen runterholt. Im Innenhof beschimpfen sich drei Männer auf Türkisch, vielleicht brüllen sie aber auch »ICH HAB DICH ECHT GERN, BRUDER!« und »EY, ICH DICH ERST« und »IST DER SCHLIPS NEU? DER SIEHT SUPER AUS!« – so genau weiß ich das nicht, ich kann kein Türkisch.
Es regnet, Travis fragt warum. Ich bin unglücklich. Ihr dürft nicht fragen warum, höchstens warum nicht. Es ist ein sehr guter Tag, um unglücklich zu sein. Ich verpasse nichts. Ich sollte glücklich sein, an so einem langweiligen Tag unglücklich zu sein. An unglücklichen Tagen kann man nämlich auch Glück haben. Zum Beispiel, wenn der Tabak zur Neige geht. Dann hat man nämlich einen Grund, vor die Haustür zu gehen.
Angemessen unglücklich zu sein ist sehr schwierig. Man braucht viel Übung damit. Profis nutzen unglückliche Tage, um den Kleiderschrank auszumisten und unter der Küchenzeile zu wischen. Anfänger tippen bei Google »Bin ich depressiv?« ein. Danach rufen sie ihre Freunde an und jammern. Das ist überhaupt ein großes Missverständnis: Unglücklichsein ist noch lange keine Entschuldigung fürs Jammern. Unglücklichsein ist eine Entschuldigung, um unglücklich zu sein. Außerdem muss man nicht duschen.
Ich nutze unglückliche Tage, um mit Leidenschaft zu hassen. Dazu kommt man sonst so selten. Ich sitze zum Beispiel an meinem Küchentisch und hasse ihn. Danach kommt die Küche dran, dann die Wohnung. Scheiß Deutschland. Bis zur totalen Misanthropie brauche ich fast den ganzen Nachmittag. Währenddessen rauche ich viele Zigaretten und ärgere mich darüber, dass alles nach Rauch riecht. Am Abend retuschiere ich noch alle meine Bilder in Schwarz-Weiß und gehe erschöpft, aber unglücklich ins Bett. Vor dem Einschlafen denke ich noch ein bisschen an unheilbare Krankheiten und schaue eine Doku über verhungernde Kinder in Afrika. Es war kein schöner Tag.
Kennt ihr Conni? Sie ist die blonde Heldin einer Buchreihe. Conni ist brav, schlau, immer gutgelaunt. Ich hasse Conni. Conni war immer genau so alt wie ich gerade und konnte alles.
Die Buchtitel sind schriftgewordene Minderwertigkeitskomplexe für die zarte Kinderseele: Conni lernt reiten. Conni lernt schwimmen. Conni lernt singen. Conni rettet Oma. Conni lernt backen. Außerdem geht Conni gerne in die Schule, gerne zum Zahnarzt, gerne wandern. Später hatte Conni einen Austauschschüler und eine beste Freundin. Das Schlimmste, was Conni jemals passiert ist: Sie weiß nicht, von wem der an sie adressierte Liebesbrief stammt. Das Schlimmste, was mir je passiert ist, war ein LSD-Unfall, nach dem ich jahrelang nicht normal atmen konnte.
Conni konnte alles, und was sie nicht konnte, hat sie gelernt. Das Schlimmste war: Sie hatte immer Spaß. Bei allem. Ewig lächelnd und unbesiegbar ist Conni ein blonder, hämischer Schatten, der sich über meine Kindheit gelegt hat, eine Steilvorlage für frühkindliches Verzagen.
Conni lernte schwimmen, mich brachte eine Qualle ins Krankenhaus. Conni lernte Ballett, ich wurde aus dem Fußballverein geworfen. Das ist so passiert: Es war Probetraining, vor mir lag der Ball. Der Trainer brüllte: »PASS!«, ich machte nichts. Er brüllte wieder: »PASS!«, und ich heulte. Weil ich nicht wusste, was ein »Pass« ist, und weil ich nicht in Connis Welt gelebt habe, wo mir die freche Trainerin das bestimmt erklärt hätte.
Conni bekam später ein Fohlen, ich Urzeitkrebse, die in trübem Wasser vor sich hin starben. Conni ging nicht mit Fremden mit, meine Eltern steckten mich mit sechs alleine in die Bahn.
Mittlerweile ist Conni wohl Mitte 20, wie ich. Manchmal frage ich mich, wie es ihr heute ergeht. Man weiß ja, wie das mit den Kindern von dermaßen überambitionierten Eltern endet. Wenn Connis Autorin nicht bald von Amy Winehouse’ Vater lernt, liegen in deutschen Buchhandlungen wohl bald folgende Titel: Conni spritzt jetzt Heroin, Conni vergisst zu verhüten, Conni ist jetzt Teeniemutter, Conni und die Arbeitslosigkeit, Conni beerdigt ihre Eltern, Conni läuft Amok. Ein bisschen wünsche ich es ihr. Denn natürlich wird Conni daraus lernen, und später wird Connie dann Coach.
Was bin ich wert, denkt man sich – und je schlechter es einem geht, desto genauer kennt man die Antwort: gar nichts. Wenn der Kapitalismus dann einwendet, dass das so nicht stimme, dass der Wert eines Menschenlebens nämlich bei ziemlich genau 45 Millionen Euro liege, also sämtliche Nieren, Samenspenden und Lungenflügel zusammengerechnet, ist das auch nicht wirklich tröstend, aber im Trösten war der Kapitalismus eh nie besonders gut.
Man schaut sich also um, verkorkste Karriere, das Billy-Regal immer noch nicht aufgebaut, Beziehungsratgeber neben dem Bett, und fragt sich, wie man eigentlich in diesem Leben gelandet ist, das so gar nicht wirkt, als sei es 45 Millionen Euro wert. Die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland gibt einem recht und rudert zurück: Mit ungefähr 10 Millionen Euro wird hierzulande der Wert eines Menschenlebens berechnet, etwa, wenn es um die Entscheidung geht, ob sich eine Verkehrsampel lohnt.
Philosophisch scheint das nicht ganz wasserdicht, und zumindest wenn man verliebt ist, ist man sicher, dass ein Mensch viel mehr wert sein kann als zehn läppische Millionen oder eine Ampel. Selbst ohne flatteriges Ungeziefer im Bauch geben die Humanisten einem recht: Unendlich viel sei ein Menschenleben nämlich wert. Egal, welches? Aber ja, jedes Einzelne.
So richtig vertraut man den Humanisten nicht, die kennen einen ja gar nicht persönlich, das klingt schon sehr nach Pauschalurteil. Außerdem ist die Antwort, jedes Menschenleben sei unendlich viel wert, auch nicht so richtig schmeichelnd für das Ego. Den Trick kennt man noch von Kindergeburtstagen, wo nach der Schnitzeljagd alle eine Urkunde kriegen, dabei schnallt man schon als Dreijähriger, dass wenn alle gewinnen, es keiner wirklich tut.
Ganz korrekt ist die Frage nach dem Wert ohnehin nicht. Richtig wäre: Wie viel bin ich zurzeit wert? Sonst ergeht es einem wie der Unternehmerin Elizabeth Holmes. Der wurde noch letztes Jahr von »Forbes« ein Wert von 4,5 Milliarden Dollar attestiert. Diesen Donnerstag wurde sie wieder runtergestuft. Auf null. Auch nicht schön.
Dann doch lieber die Humanismus-Teilnehmerurkunde. Oder eine schöne Verkehrsampel.
Ich habe keine Zeit für diesen Text. Er wird mich höchstwahrscheinlich einige Stunden meines Lebens kosten, es sei denn, ich finde noch mehr lange Füllwörter wie »höchstwahrscheinlich«, um diese Zeilen zu füllen. Das werde ich tun. Höchstwahrscheinlich. Ich könnte die Zeit, die ich für diesen Artikel aufwende, in viel angenehmere Dinge investieren. Ich liege gerne herum. Ich möchte den neuen Roman von Clemens Setz lesen. Aber ich raube nicht nur mir die Zeit, sondern auch Ihnen, lieber Leser. Denn in diesem Text geht es um Zeit und um unseren wenig rationalen Umgang damit. Ich verrate Ihnen an dieser Stelle schon die These, und mehr wird auch inhaltlich nicht dazukommen. Keine Überraschung. Keine neue Idee. Ab hier ist Deko.
Ich warne Sie jetzt schon, gleich zu Beginn, damit Sie weiterblättern und sich die zehn Minuten Lebenszeit sparen können, für die komplizierte Zubereitung einer Tasse Jasmintee oder die Rettung Ihrer Beziehung. Sie werden in diesem Text nur an das sehr Offensichtliche erinnert werden: dass Zeit wertvoll ist.
Es ist Mittwoch, der 9. August im Jahr 2015, jung ist dieser Mittwoch, erst acht Minuten alt. Über ein Viertel meiner voraussichtlichen Lebenszeit ist verstrichen. Ein Tag hat 24 Stunden. Eine Minute hat 60 Sekunden. Der schnellste Mann der Welt läuft hundert Meter in 9,58 Sekunden. Um das herauszufinden, habe ich 16 Sekunden gegoogelt. Zehn Sekunden habe ich darüber nachgedacht, ob ich diesen Satz im Text lasse.
Das sind Zahlen, Ziffern, die Orientierung geben darüber, wie viel Zeit vergangen ist, und vor allem darüber, wie viel noch bleibt. Es sind Zahlen, die so tun, als seien sie ein objektives Zeitmaß.
Dabei beweisen schon die Verben, mit denen man die Zeit beschreibt, dass es so einfach nicht ist. Zeit lässt sich verschleudern, der Urlaub verfliegt, die Kündigungsfrist verstreicht, die Zeit kriecht, wenn man auf etwas Schönes wartet, und manchmal, nur für eine Ewigkeit, bleibt sie stehen. Oft in Gewitternächten.
Wenn wir auf die Uhr sehen, stimmt das natürlich nicht. Das Uhrwerk tickt, ein Metronom, stetig, verlässlich, in Momenten voller Selbstzweifel, und kurz vor der Deadline tut sie das sogar unerbittlich. Doch vielleicht irrt sogar Albert Einstein, wenn er sagt: »Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.« Denn unser sprachlicher Umgang mit der Zeit straft das gleichmäßige Ticken Lügen, und glaubhafter wirkt ein anderes Einstein-Zitat: »Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden.« Was auf jeden Fall nicht stimmen kann, ist, dass jedes Einstein-Zitat ein Zitat von Einstein ist; bei der Menge ist das schon rein zeitlich nicht möglich, selbst wenn diese relativ ist.
Zeit ist die kostbarste Ressource, über die wir verfügen, außer vielleicht Wasser. Ein verdurstender Mann in der Wüste wünscht sich wohl kaum noch mehr Zeit dort. Eher fragt er sich, warum er durstig im Sand herumsitzen muss, nur um als mittelmäßiges Fallbeispiel zu dienen.
Verzeihen Sie mir die unnötigen Einschübe, aber sie gehen mir leicht von der Hand und sparen damit, was ich nicht wei