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Die Nr. 1-Bestsellerserie aus Dänemark Auf einem Londoner Friedhof wird die Leiche eines nigerianischen Terrorismus-Experten entdeckt, er wurde brutal ermordet. Kurz zuvor hatte der Professor dort ein geheimes Treffen mit Nora Sand, Korrespondentin der dänischen Zeitung Globalt. Mit seinem Tod fehlt ihre wichtigste Informationsquelle, daher wird Nora auf etwas anderes angesetzt: die spektakuläre Scheidung eines russischen Oligarchen von einem dänischen Reality-Star. Das Paar streitet öffentlich um das Sorgerecht für ihren Sohn. Als er entführt wird, stößt Nora darauf, dass beide Fälle zusammenhängen könnten. Die Suche nach der Wahrheit führt sie in die dunkelsten Winkel der Stadt. «Die Figuren überzeugen mit Herz und Charakter. Auf weitere Bände der neuen Serie darf man gespannt sein.» (Focus online)
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Seitenzahl: 319
Lone Theils
Hexenjunge
Kriminalroman
Aus dem Dänischen von Karoline Hippe
Kein Wagnis ist zu groß.
Auf einem Londoner Friedhof wird die Leiche eines nigerianischen Terrorismus-Experten entdeckt, er wurde brutal ermordet. Kurz zuvor hatte der Professor dort ein geheimes Treffen mit Nora Sand, Korrespondentin der dänischen Zeitung Globalt. Mit seinem Tod fehlt ihre wichtigste Informationsquelle, daher wird Nora auf etwas anderes angesetzt: die spektakuläre Scheidung eines russischen Oligarchen von einem dänischen Reality-Star. Das Paar streitet öffentlich um das Sorgerecht für seinen Sohn. Als er entführt wird, stößt Nora darauf, dass beide Fälle zusammenhängen könnten. Die Suche nach der Wahrheit führt sie in die dunkelsten Winkel der Stadt.
«Die Figuren überzeugen mit Herz und Charakter. Auf weitere Bände der neuen Serie darf man gespannt sein.» (Focus online)
Lone Theils war jahrelang London-Korrespondentin für die angesehene dänische Tageszeitung Politiken sowie fürs Fernsehen. Ihr Debütroman und Auftakt der Reihe um Nora Sand erscheint in 16 Ländern und wird für das Fernsehen verfilmt. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit zwischen Dänemark und England teilt die Autorin mit ihrer Protagonistin auch die Leidenschaft fürs Kickboxen.
Schnee fällt in London eher selten. Wenn die Flocken dann doch über der Stadt schweben, passiert Folgendes: Die eher Verspielten unter den Londonern verlangsamen für einen Augenblick ihr Tempo, starren beseelt in den Himmel hinauf und träumen von mehr. In den Herzen Tausender Kinder erwacht die Hoffnung auf schulfrei. Und der Verkehr kommt zum Erliegen.
Nur die wenigsten britischen Autos sind mit Winterreifen ausgestattet, und kaum ein Autofahrer lernt, sich durch den Schnee zu manövrieren, bevor der Zauber auch schon wieder vorbei ist. Die Landebahnen der Flughäfen Heathrow und Gatwick sind verwaist, während das Personal verzweifelt versucht, die nicht gerade zahlreich vorhandenen Schneepflüge zu bemannen, die irgendwo in einem der hintersten Hangars abgestellt worden waren.
Das Nachmittagslicht tauchte den Stadtteil Highgate in viktorianische Weihnachtskartenstimmung, wie Nora fand, als sie an der alten Schlachterei neben dem Buchantiquariat aus dem Doppeldecker Nummer 210 stieg. Im milchweißen Schneetreiben und dem gelben Licht, das durch die Fenster der Häuser auf die Straße fiel, fühlte sie sich für einen Augenblick wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das davon träumte, ins Warme zu kommen.
Sie schritt über den Platz, am Deli vorbei, und las noch einmal die SMS: Highgate Cemetery in einer Stunde. Abioni.
Der Bus war natürlich im Winterchaos steckengeblieben, nun hatte sie nur noch fünf Minuten bis zu ihrer Verabredung auf dem Friedhof. Mit raschen Schritten ging sie die leicht abfallende Swain’s Lane hinunter. Der schmale Bürgersteig war glatt, weshalb sie die Hacken ihrer Stiefel einsetzen musste, um nicht auszurutschen.
Was tat man nicht alles für eine gute Story? Nora versuchte schon seit langem, Kweko Abioni von der Universität in Abuja zu fassen zu kriegen. Der nigerianische Professor forschte über Terrororganisationen und war Boko-Haram-Experte. Er hatte Nora ein Interview zu dem Thema für Globalt versprochen, sobald er das nächste Mal im Rahmen einer Konferenz nach London käme.
Ihr Chef Oscar Krebs, der nicht gerade für seine Gelassenheit im Redaktionsalltag bekannt war, bezweifelte stark, dass sie die Story wirklich bekommen würde. Doch Nora hatte es garantiert. Mit ein wenig Geduld würde sie diesen Mann schon zu einem Gespräch überreden. Schließlich wusste er mehr als alle anderen über jene Organisation, die in der ganzen Welt dafür bekannt war, unschuldige Opfer anzugreifen und junge Schulmädchen zu kidnappen.
Je näher die Konferenz gerückt war, desto schwerer war es allerdings gewesen, den Professor zu erreichen und einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Er hatte weder auf E-Mails noch auf Anrufe reagiert, und Nora hatte selbst zu zweifeln begonnen, ob aus dem Interview noch etwas werden würde. Gestern jedoch hatte Kweko Abioni nach zwei Wochen Funkstille angerufen, während Nora gerade an einem Artikel über die internen Zwiste in den Reihen der Labour Party saß. Sie hatte schon einige Male zuvor mit dem Professor telefoniert und erinnerte sich an eine Bassstimme, so tief, dass die Erde jedes Mal ein wenig zu beben schien, wenn er lachte. Dieses Mal hatte er hingegen gestresst geklungen, als er Nora erklärte, dass er bereits in London sei, und versprach, sich am nächsten Tag mit ihr zum Interview zu treffen.
«Zeit und Ort teile ich Ihnen morgen mit. Ich muss vorsichtig sein», hatte er gesagt.
Nora kannte die Methoden des Boko Haram, deswegen hatte sie die Diskretion des Professors nicht verwundert. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er schon aufgelegt.
In der Tat hatte Abioni so verhalten geklungen, dass Nora nicht einmal Krebs von der Verabredung erzählt hatte. Sie hatte erst sichergehen wollen, dass sie etwas an Land ziehen konnte. Der Vormittag war dann ohne ein Lebenszeichen des Professors verstrichen, bis Nora schließlich vor einer Stunde die SMS erhielt.
Nun stand sie am Eingang zum Highgate Cemetery. Der viktorianische Friedhof war im Jahre 1839 ursprünglich für das gehobene Bürgertum im nördlichen London angelegt worden. Doch schließlich fand eine ganze Reihe von Persönlichkeiten wie Karl Marx, George Michael und der ehemalige russische Spion Alexander Litwinenko hier ihre letzte Ruhestätte.
Nora ging durch das schmiedeeiserne Tor auf eine kleine Gruppe von Menschen zu, die bibbernd in der Kälte vor der Kapelle am Eingang zum westlichen Teil des Friedhofs stand und auf ihre Führung wartete. Ohne Tourleitung durfte dieser Teil des Friedhofs wegen seiner Baufälligkeit nicht betreten werden.
Sollte es Kweko Abionis Plan gewesen sein, sich in der Menge zu verbergen, so war ihm das nicht gelungen. Die kräftige Gestalt, die eher an einen Schwergewichtsboxer als an einen Akademiker denken ließ, ragte zwischen den Touristen wie ein dunkles Ausrufezeichen hervor.
Nora ging auf den Mann zu.
«Professor Abioni? Ich bin Nora Sand.»
Er musterte sie für einen Augenblick, lächelte kurz und reichte ihr ein Ticket.
«Guten Tag», sagte er.
«Wir nehmen an der Führung teil?»
Er nickte und sah sich nervös um.
«Mir ist bewusst, dass dies vielleicht nicht der charmanteste Treffpunkt ist, doch wenn ich Ihnen erzähle, worum es geht, werden Sie es schon verstehen.»
Nora ließ die Hände in die Taschen ihres Mantels gleiten, während ihr Blick auf Abioni ruhte. Es fiel ihr schwer, Ähnlichkeiten zwischen dem Mann neben ihr und dem Foto auf der Homepage der Universität auszumachen. Er hatte stark abgenommen, und die Tränensäcke unter seinen Augen ließen ihn zehn Jahre älter wirken.
Der Tourleiter sah aus wie ein pensionierter Feldwebel, er trug eine Schiebermütze auf dem Scheitel, hatte einen Oberlippenbart und ging mit gestrecktem Rücken. Mit einem kleinen Stock hielt er die Besucher wie eine Herde Tiere zusammen. Als alle Teilnehmer an der Führung sich im inneren Bereich des Friedhofs versammelt hatten, hieß er sie willkommen und ermahnte sie, stets in der Gruppe zu bleiben.
«Es ist untersagt, diesen Teil des Friedhofs auf eigene Faust zu erkunden. Er ist teils sehr baufällig, und wenn Sie sich von der Gruppe entfernen, halten Sie uns alle nur auf», erklärte er und sah die Anwesenden mit festem Blick an. Nora nahm an, dass dieser Blick über mehrere Jahrzehnte hinweg ungehorsame Rekruten zur Ordnung gerufen hatte.
Nora und Abioni hielten sich hinter einem brasilianischen Paar, das damit beschäftigt war, das passende Kameraobjektiv für das heutige Wetter zu ermitteln.
Kurz darauf blieb der Tourleiter an Alexander Litwinenkos Grabstätte stehen und begann seinen Vortrag damit, dass der ehemalige FSB-Agent in einer dicken Schicht Blei begraben wurde, nachdem er mit dem radioaktiven Stoff Polonium 210 vergiftet worden war. Der Mord konnte bisher nicht aufgeklärt werden.
Einige aus der Gruppe traten ein paar Schritte näher an das Grab, machten Fotos und schauten sich das Porträt des Mannes an, der den mächtigen russischen Kräften getrotzt hatte. Abioni nahm Nora zur Seite.
«Hören Sie, ich befinde mich in einer misslichen Lage, die sowohl mich als auch vielen anderen das Leben kosten kann.»
Nora sah ihn besorgt an.
«Boko Haram?»
Abioni schüttelte den Kopf.
«Die Spuren führen in ganz andere Kreise. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen und hier in London unterzutauchen, aber es kann sein, dass sie mich gefunden haben», flüsterte er.
«Wer?»
Abioni schnitt eine Grimasse.
«Ich bin mir nicht sicher.»
Sie liefen unter einigen dunklen Zweigen hindurch, die sich filigran gegen den silbergrauen Himmel abzeichneten, passierten Engelsfiguren mit schneegepuderten Schultern und Grabsteine, die wie faulige Zähne aus dem Waldboden ragten. Nora leuchtete nun ein, warum Filmproduktionen immer wieder mit Nachdruck um Drehgenehmigungen für ihre Vampir- und Gruselerzeugnisse auf diesem Friedhof baten. Doch ihr leuchtete ebenso ein, warum alle diese Anfragen negativ beschieden wurden. Der Ort sah aus, als würde er in sich zusammenfallen, sobald ein Kamerateam mit voller Ausstattung auch nur einen Fuß auf ihn setzte.
«Erklären Sie mir bitte: Warum müssen Sie untertauchen?», fragte Nora.
«Ein Teil meiner Forschungsarbeit widmete sich unter anderem den Methoden, mit denen Boko Haram beim Kidnappen von Kindern in Nigeria vorgeht», erklärte Abioni beinahe im Flüsterton.
Nora nickte.
Sie hatte den Professor schon einmal am Telefon interviewt, zu der erschütternden Geschichte von über zweihundert Mädchen, die aus einer Schule in dem nigerianischen Bundesstaat Borno entführt worden waren. Die Terrorgruppe war in der Nacht gekommen und hatte die Mädchen mit Lastwagen abtransportiert. Sie erwartete ein Leben als Sklavinnen. Minderjährige Frauen von Soldaten, die jede Nacht nach Mutter und Vater weinten. Abioni war einer derjenigen, die versucht hatten, im Namen der verzweifelten Eltern mit der Gruppe zu verhandeln. Leider ohne große Erfolge.
«Boko Haram ist nicht die einzige Gruppe, die in Nigeria Kinder entführt», fuhr er fort.
«Wie ist das zu verstehen?»
«Wegen der Verhandlungen mit Boko Haram ist mein Name bekannt. Kurz darauf wurde ich von weiteren Eltern kontaktiert. Eltern, die ebenfalls Kinder verloren hatten. Sie wurden ihnen regelrecht gestohlen. Jedoch nicht von Boko Haram.»
Bevor Abioni mehr sagen konnte, warf ihnen der Tourleiter einen strengen Blick zu.
«Es ist wichtig, dass die Gruppe zusammenbleibt. Wir können hier niemanden frei herumspazieren lassen. So sind die Regeln», sagte er laut.
Nora und Abioni beeilten sich und holten die Gruppe ein, die nun in der ägyptischen Allee stand, in der eine Reihe von Familiengräbern in einem Zirkel um einen jahrhundertealten Zedernbaum angelegt worden war. Der Schnee fiel wie Puderzucker auf die dicken schwarzen Äste. Er dämpfte den gewöhnlichen Lärm der Stadt und ließ die Gruppe still zwischen den Toten wandeln.
«Sie reden hier von organisierter Kindesentführung? Von wie vielen Kindern sprechen wir?»
«Von Hunderten, glaube ich.»
Nora ließ diese Information auf sich wirken. Es war ungeheuerlich, dass zahllose Kinder einfach so vom Erdboden verschwinden konnten, ohne dass sich jemand darum zu kümmern schien.
«Sind Sie der Einzige, der davon Kenntnis hat? Wie kann das sein? Wer steckt dahinter, und wie können die Täter einfach so davonkommen?»
«Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wer der Kopf des Netzwerkes ist. Doch es scheint sich um sehr, sehr mächtige Menschen zu handeln. Und die wissen, dass ich zu tief in die Angelegenheit verstrickt bin. Deshalb befürchte ich, sie wissen inzwischen auch schon, dass ich mich in London aufhalte», erklärte Abioni und warf einen Blick über die Schulter.
«Aber hier werden Sie doch sicher sein?», meinte Nora.
Abioni schüttelte den Kopf.
«Ich bemühe mich, unbemerkt zu bleiben. Versuche, so wenig wie möglich zu telefonieren, vermeide es, meine Kreditkarte zu benutzen, doch ich rechne mit dem Schlimmsten.»
Ein paar kichernde holländische Mädchen gingen an Nora vorbei und machten ein Selfie vor einem der Grabmale im Hintergrund. Abioni schwieg wieder.
«Sie gehen davon aus, dass diese Leute Sie bereits gefunden haben?»
Abioni nickte mit düsterer Miene.
«Warum haben Sie nicht die Polizei kontaktiert?»
«Ich befürchte, dass Maria die Konsequenzen zu spüren bekommen würde», sagte er.
«Wer ist Maria?»
«Meine Assistentin, Maria Nua. Die haben sie.»
«Die haben Ihre Assistentin entführt?» Nora klang alarmiert.
Abioni zögerte.
«Nein. Nicht ganz. Sie hat selbst … sie hat sich denen aus eigenen Stücken angeschlossen.»
Während sie weitergingen, erzählte der Tourleiter von einem Zirkusdirektor, der noch zu Lebzeiten dafür gesorgt hatte, dass die Statue eines Löwen auf seinem Grab platziert werden sollte, und von einem Pferdehändler, der nun für alle Ewigkeiten unter einem dicken, steinernen Pony ruhte.
«Also gut, ich muss das alles erst einmal begreifen. Wer hat denn diese Kinder entführt?»
Abioni musterte Nora aus den Augenwinkeln.
«Woher soll ich wissen, dass ich Ihnen vertrauen kann?»
Nora seufzte.
«Sie haben dieses Thema doch angesprochen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mit niemandem aus Nigeria gemeinsame Sache mache, weder mit Hackern noch mit Kidnappern oder sonst jemandem», entgegnete sie.
Ein Lächeln huschte über Abionis Gesicht, verschwand jedoch genauso schnell wieder wie eine schmelzende Schneeflocke.
Nora startete einen neuen Versuch.
«Sagen Sie mir: Warum kommen Sie zu mir? Wenn es sich um einen Skandal diesen Umfangs handelt, warum wenden Sie sich nicht an die Times oder eine der anderen großen Zeitungen?»
«Ich traue mich nicht. Ich weiß nicht, wo diese Leute ihre Spione haben. Und dann haben Sie genau zum richtigen Zeitpunkt angerufen.»
Nora runzelte die Stirn.
«Wollen Sie mir damit sagen, dass die nigerianischen Kindesentführer vielleicht Spione in britischen Redaktionen platziert haben? Das kann ich Ihnen kaum glauben.»
Abionis Blick heftete sich an ihren. Er war todernst.
«Vielleicht nicht direkt in den Redaktionen. Aber woanders. Möglicherweise ist es der Taxifahrer, der mich zum Redaktionshaus fährt. Oder der Rezeptionist, den ich anrufe, um zu einem Journalisten durchgestellt zu werden. Sie hingegen arbeiten allein, da ist das Risiko geringer.»
«Aber wer sind diese Menschen?»
Abioni schloss die Augen.
«Haben Sie von den ‹Kindern Gottes› gehört?»
Nora schüttelte den Kopf.
Abioni sah sich um, als ob er davon ausginge, dass jeden Moment jemand hinter einer der alten trauernden Engelsstatuen auf ihn zugesprungen käme. Das Krächzen eines Raben ließ ihn zusammenfahren.
Rasch folgten sie der Gruppe Touristen zu dem, wie der Tourleiter ankündigte, Höhepunkt der Veranstaltung. Der Blick des Feldwebels durchbohrte Nora, als er die Teilnehmer erneut dazu aufrief, Respekt zu zeigen und leise zu sein. Dann betraten sie ein dunkles Gemäuer, das der Tourleiter als Katakomben bezeichnete.
In dem sparsamen Licht konnte man die Feuchtigkeit von den Wänden triefen sehen, an denen Grabkammern in langen Reihen verliefen. In ihnen hatte man die Särge von vor langer Zeit verstorbenen Londonern aufgebahrt.
Die kalte Trostlosigkeit des Gewölbes und die Gewissheit, dass der Tod sie eines Tages alle holen würde, legten sich wie ein Dämpfer über die Gruppe, und die Leute flüsterten nur noch. Nora verspürte einen Druck auf dem Brustkorb, und sie sehnte sich nach Schneeglöckchen und Sonnenlicht.
«Das ist eine Glaubensrichtung, die sich immer weiter ausbreitet», raunte Abioni ihr zu.
«Was meinen Sie?», flüsterte sie zurück.
Der Tourleiter stellte sich direkt neben Nora, weshalb es unmöglich war, das Gespräch fortzuführen, während der Mann mit einem Hang zum Makabren von modernen Grabräubern erzählte und davon, wie im Nachbarschafts-Pub The Flask einst unerlaubte Obduktionen durchgeführt worden waren.
Fünf Minuten später stand die Gruppe wieder in der violetten Dämmerung, und Nora atmete befreit auf.
Sie wandte sich um, da sie das Gespräch mit Abioni fortsetzen wollte, doch der Professor war nirgends zu sehen. Auch der Tourleiter hatte dessen Abwesenheit bemerkt.
«Wo ist Ihre Begleitung, Miss?», fragte er sie.
Nora sah sich verwirrt um.
«Das … das weiß ich nicht.»
Der Tourleiter marschierte mit gestrecktem Schritt zurück in die Katakomben, Nora dicht auf seinen Fersen.
«Ich wusste, dass er einer von den Typen ist, die sich von der Gruppe entfernen. Das sieht man auf den ersten Blick», erklärte er verbissen.
Sie betraten die Dunkelheit der Katakomben und stießen direkt hinter dem Eingang auf Abioni, der sich erschöpft an der Mauer abstützte.
«Entschuldigen Sie. Mir war plötzlich nicht wohl», erklärte er dem Tourleiter, der sofort in den Samaritermodus wechselte und ihm Wasser und seinen Schal anbot.
Der afrikanische Professor sah in der Tat schlecht aus. Seine dunkle Haut schimmerte grünlich, auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
«Alles in Ordnung?», fragte Nora.
«Um ehrlich zu sein, nein. In engen geschlossenen Räumen fühle ich mich nicht so gut», gestand Abioni mit einem gequälten Lächeln.
Langsam gingen sie über einen abfallenden Pfad, an dem entlang die Mausoleen wie kleine Reihenhäuser standen, zu der wartenden Gruppe zurück.
Die Führung neigte sich nun dem Ende zu. Nora und Abioni ließen sich zurückfallen, damit sie ungestört sprechen konnten.
«Beginnen wir von vorn. Wie haben Sie von den Entführungen erfahren?»
«Maria kam auf mich zu. Sie hatten ihren Neffen geholt. Deshalb bat sie mich, etwas zu unternehmen.»
«Also wusste sie, wer ihn entführt hat?»
«So einfach war es nicht. Seine Eltern hatten ihn selbst weggeschickt.»
«Eben haben Sie noch gesagt, er wurde geholt?»
«Ja, von den Kindern Gottes.»
«Aber wenn die Eltern ihn dahin geschickt haben?»
«Sie sind manipuliert worden, vermutet Maria.»
«Also versuchten Sie, ihr zu helfen?»
Abioni nickte bitter.
«Ja. Das war mein Fehler. Ich wusste nicht, mit wem ich es zu tun bekommen würde.»
«Wie meinen Sie das?»
«Am Tag nachdem ich mich an die Kinder Gottes gewandt hatte, erschien ich wie gewöhnlich an der Universität. Als ich in mein Büro kam, herrschte Chaos. Mein Schreibtisch war zu Kleinholz verarbeitet worden, mein Computer gestohlen.»
«Das klingt schlimm, aber könnte das nicht auch ein gewöhnlicher Einbruch gewesen sein?»
Abioni schüttelte den Kopf.
«Ich schloss die Tür hinter mir und versuchte, nicht in Panik zu verfallen, sondern wollte mir zuerst einen Überblick verschaffen, bevor ich die Polizei rief. Doch aus meinem Büro war beinahe alles entwendet worden. All meine persönlichen Aufzeichnungen und meine Akten über Boko Haram. Notizen und Berichte, die Ergebnisse vieler Jahre Arbeit. Die Dokumente, die nicht gestohlen worden waren, hatte man zerfetzt und war auf ihnen herumgetrampelt. Jedes einzelne Buch war aus dem Regal gezerrt worden. Sie hatten nach etwas gesucht. Und es allem Anschein nach nicht gefunden.»
«Wonach können sie denn gesucht haben?»
«Nach meinem Notizbuch.»
«Und warum haben sie es nicht gefunden?»
«Ich hatte es am Tag zuvor mit nach Hause genommen, um an einer neuen Spur zu arbeiten. Daraufhin versteckte ich es im Büro eines Kollegen, während ich die Polizei anrief. Das war eine weise Entscheidung.»
«Was enthält Ihr Notizbuch?»
«Lebensgefährliche Informationen.»
Nora blickte Abioni an.
«Sie müssten ein wenig konkreter werden.»
Er nickte und schaute zu den schneebedeckten Baumkronen hinauf.
«Sie werden es noch zu Gesicht bekommen.»
Der Schnee hatte sich auf den breiten Wegen in Matsch verwandelt, und Nora fror an den Füßen, als sie weitergingen.
«Sie haben den Einbruch also der Polizei gemeldet?»
Abioni nickte.
«Ja. Anfangs dachte ich noch, sie könnten mir helfen, doch das war ein Fehler.»
«Warum?»
«Sie waren schneller vor Ort, als gedacht. Tatsächlich innerhalb von zwei Minuten, als hätten sie nur auf meinen Anruf gewartet. Sie erklärten, einen anonymen Hinweis bekommen und daraufhin mein Büro durchsucht zu haben. Dabei deuteten sie an, auf aufsehenerregendes Material gestoßen zu sein. Dokumente, die beweisen sollten, dass ich mit Boko Haram unter einer Decke stecken würde.»
Nora starrte ihn ungläubig an.
«Was? Selbstverständlich haben Sie Dokumente über Boko Haram in Ihrem Büro. Schließlich forschen Sie ja über Boko Haram!»
«Das wollte ich denen auch erklären. Aber sie haben mir nicht zugehört. Sie waren zu dritt. Ein Vorgesetzter und zwei Beamte, die mich aus dem Universitätsgebäude eskortierten, verbunden mit der Warnung, beim nächsten Mal würden sie mich festnehmen.»
«Mit welcher Begründung?»
Abioni schaute zu Boden.
«Terrorismus, anscheinend. Sie erklärten, sie hätten meinen Computer beschlagnahmt und darauf genug Beweise für Straftaten gefunden, auf denen die Todesstrafe stehe.»
«Und jetzt sind Sie in London?»
Abioni nickte.
«Ich konnte nicht länger im Land bleiben.»
Nach knapp einer Dreiviertelstunde erreichten Nora und der Professor wieder den Platz, an dem die Führung begonnen hatte. Der Feldwebel verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er unentgeltlich arbeite, und der Aufforderung, für den Erhalt des Friedhofs zu spenden.
«Können wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen? Ich brauche mehr Hintergrundinformationen, wenn ich über all das schreiben soll.»
Abioni zögerte.
«Ich weiß nicht so recht. Ich muss vorsichtig sein.»
«Kommen Sie schon. Es ist wichtig. Haben Sie irgendwelche Beweise?»
«Nur meine handschriftlichen Notizen. Daten und Namen und so weiter. Aber mein Notizbuch habe ich an einem sicheren Ort versteckt, bis die Lage sich wieder beruhigt.»
«Haben Sie einige der Daten und Namen im Kopf, mit denen ich weiterarbeiten könnte?»
«Wenn wir irgendwo hingehen können, wo wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Ein Ort, an dem man uns nicht von der Straße aus beobachten oder unser Gespräch belauschen kann?»
«Es gibt da vorn ein Café. Wenn man im hinteren Teil des Raumes sitzt, kann man von draußen nicht entdeckt werden, aber trotzdem sehen, wer hereinkommt», versprach Nora.
Abioni nickte.
«Okay.»
Die Touristengruppe löste sich langsam auf. Einige gingen in den Souvenirladen und kauften Postkarten und Bücher. Andere schlenderten zur Ostseite des Friedhofs, um Selfies vor der Karl-Marx-Büste zu machen.
«Warten Sie hier», bat Nora und ging um die Ecke. Von einem früheren Besuch des Friedhofs wusste sie noch, wo die Toilette zu finden war.
Doch die war besetzt, und Nora wartete mit überkreuzten Beinen beinahe eine Ewigkeit in der Kälte. Irgendwann verlor sie die Geduld und klopfte an. Drinnen polterte es, und kurz darauf stolperte das brasilianische Pärchen mit roten Wangen und zerzaustem Haar heraus.
Als Nora auf dem Klo saß, bimmelte Krebs mit seinem typischen Sinn für Timing und seinem personalisierten Big-Ben-Klingelton in Noras Tasche.
«Sand hier», sagte sie und hoffte, dass der Hall ihren momentanen Aufenthaltsort nicht verriet. Doch wie so oft scherte es Krebs nicht im Geringsten, womit Nora gerade beschäftigt war, sondern lediglich, was er ihr zur sofortigen Erledigung auftragen wollte.
«Sag mal, wie konnte uns denn diese Ninette-Sache durch die Lappen gehen? Alle anderen Zeitungen haben sie schon online, nur wir berichten nicht exklusiv aus London», schnaubte er mit vorwurfsvollem Ton.
«Ninette? Das Reality-Sternchen?», fragte Nora überrascht.
«Ja. Die Scheidung!»
Nora hatte zwar gelesen, dass das dänische Reality-Sternchen sich mitten in einem bitteren Scheidungskrieg mit einem steinreichen russischen Oligarchen befand, mit dem es in London gewohnt hatte, aber diese Information war für sie so interessant gewesen wie Wetterberichte und Sportresultate. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass in den Zeitungen darüber berichtet wurde, doch sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie all das nichts anginge.
«Das ist doch keine Story für Globalt? Es ist reiner Klatsch und Tratsch mit Paparazzi-Fotos. Nichts für uns.»
Krebs stöhnte demonstrativ.
«Ist mir egal, Sand. Denn im Moment werden wir mit der Story von der Konkurrenz überholt. Du bist in London, und du kannst über die Story besser schreiben als jede andere.»
Nora holte Luft.
Es war kaum noch möglich zu wissen, was genau aus London berichtet werden sollte, nachdem Globalt einen neuen Geschäftsführer eingestellt hatte, der das Profil und die Onlinepräsenz des Magazins reformieren sollte. Jener Steffen Halskov hatte nicht weniger als eine Revolution versprochen, als er seine neue Stelle angetreten war. Für eine minimale Summe wollte er in weniger als einem Jahr die Besucherzahl auf der Website von Globalt vervierfachen. Die Mitglieder des Vorstands leckten sich die Lippen, als wären sie ein Bridgeclub bei einer kostenlosen Sherry-Verkostung, und sie sicherten Halskov die Stelle schneller zu, als man clickbait sagen konnte.
Das Problem war lediglich, dass Halskovs Modell nur funktionierte, wenn die Journalisten zum gleichen Lohn doppelt so viele Artikel lieferten.
Krebs hatte ihnen versichert, dass alles reibungslos verlaufen würde, solange die Korrespondenten sich zusammenreißen und sich der Umstellung gegenüber gewillt zeigen würden. Falls nicht, so seine Drohung, würden einige «Rationalisierungen» vorgenommen werden. Doch Nora bekam nie eine klare Anweisung, welche Art von Storys sie nun liefern sollte.
Krebs riss sie aus ihren Gedanken.
«Wann kannst du abgeben?»
Sie klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter fest, wusch sich leise die Hände und trocknete sie mit Klopapier ab.
«Vielleicht heute Abend. Ich bin gerade bei einem Treffen mit einem Informanten, dem Boko-Haram-Experten, erinnerst du dich, wir haben darüber gesprochen, ob …»
Krebs unterbrach sie.
«Das ist nicht schnell genug. Wir brauchen die Story jetzt. Spätestens in anderthalb Stunden, dann erreichen wir die Feierabendleser auf der Website. Deiner Quelle kannst du absagen. Ist ja ganz nett, dass du diese investigativen Themen verfolgst, wir müssen allerdings auch an unsere Zahlen denken.»
«Aber …»
«Das war keine Einladung zu einem Diskussionsbeitrag, Sand. Du kannst den Mann morgen treffen. Ich erwarte deinen Artikel», sagte Krebs bestimmt und legte auf.
Nora knallte die Tür zur Toilette gereizt zu und bereitete sich darauf vor, Abioni mitzuteilen, dass sie soeben abgezogen worden war. Das würde ihn nur noch nervöser machen, als er ohnehin schon war. Wenn er nun einen Rückzieher machte?
Sie überlegte, ob sie ihn dazu überreden könnte, mit zu ihr nach Hause zu kommen, damit er ihr nicht entwischte. Er könnte fernsehen, während sie schrieb, dann könnten sie bei einem gemeinsamen Abendessen ausführlicher über die verschwundenen Kinder sprechen.
Doch als Nora wieder um die Ecke bog, war der Platz vor dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs menschenleer, nur ein älterer Herr machte sich daran abzuschließen.
«Gut, dass Sie kommen. Sonst hätte ich Sie über Nacht bei den Gräbern eingeschlossen. Sie wären nicht die Erste.» Er lachte hämisch.
Nora sah sich um.
«Hier stand ein Herr und hat auf mich gewartet. Ziemlich groß, dunkelhäutig, in einem dunkelgrünen Mantel. Haben Sie ihn gesehen?»
Der Mann schüttelte den Kopf.
«Nein. Hier war niemand mehr, als ich kam. Die letzte Führung ist längst vorbei.»
Nora ging hinüber zum östlichen Teil des Friedhofs, bis eine Frau in dem kleinen Häuschen am Eingang sie aufhielt.
«Wir lassen niemanden mehr rein. Für heute haben wir geschlossen.»
Nora beschrieb Abioni, aber die Frau schüttelte nur den Kopf.
«Ich habe ihn nicht gesehen, und mit ziemlicher Sicherheit auch nicht eingeschlossen», sagte sie unwirsch und scheuchte Nora davon.
Die holländischen Mädchen aus der Touristengruppe standen vor dem Friedhof auf der Straße und studierten eine App mit Londons Metro-System auf ihren Handys.
«Habt ihr den Mann gesehen, mit dem ich bei der Führung war?», fragte Nora.
Die Mädchen schüttelten synchron den Kopf wie ein Zwillingspärchen.
Unruhe machte sich in Nora breit. Sie spähte die Swain’s Lane hinauf und hinunter und versuchte einzuschätzen, in welche Richtung er gegangen sein könnte.
Schließlich lief sie die Straße hinauf zur Bushaltestelle und versuchte, die Nummer anzurufen, unter der Abioni ihr die SMS geschickt hatte.
Gerade als das Freizeichen ertönte, kam es Nora so vor, als ob sie ein Klingeln in der Nähe hören würde. Kam es vom Inneren des Friedhofs?
Sie spähte durch die nackten Bäume in die zunehmende Finsternis. Eine Frau mit einem Buggy und einem Handy am Ohr ging an ihr vorbei. Von ihr musste wohl der Klingelton gekommen sein.
Die Verbindung wurde unterbrochen, und Nora rief ein zweites Mal an. Dieses Mal sprang die Mailbox direkt an. «Hier ist Nora, wo sind Sie? Seien Sie so gut und rufen Sie mich zurück. Ich kann Sie nirgends finden.»
Vielleicht ist ihm wieder unwohl geworden? Was ist passiert, während sie auf die brasilianischen Turteltauben warten musste? Hätte er ihr nicht Bescheid gesagt, wenn er bezüglich ihrer Abmachung kalte Füße bekommen hätte?
Nora machte kehrt und ging zurück zum Friedhof. Doch nun war das schmiedeeiserne Tor verschlossen, und alle Verantwortlichen waren in den Feierabend entschwunden. Sie rüttelte kurz am Gitter, doch auf dem Friedhof war alles still. Gerade als sie überlegte, wie sie nun weiter vorgehen sollte, rief der Chef vom Dienst aus der Onlineabteilung an.
«Wann schickst du uns den Text zu? Wir haben die Ninette-Story jetzt für den Abend eingeplant», sagte er.
«Entspann dich mal. Ich hab den Auftrag erst vor zehn Minuten bekommen», fauchte sie.
«Bitte um Verzeihung. Dann rechne ich damit, den Artikel innerhalb einer Stunde auf dem Schreibtisch zu haben», entgegnete er, ohne laut zu werden.
Nora versuchte erneut, Abioni anzurufen. Erfolglos.
Sie hinterließ ihre Nummer und ihre Adresse auf der Mailbox und bat Abioni, sie entweder schnellstmöglich zurückzurufen oder bei ihr vorbeizukommen. Dann lief sie durch den Schneematsch zurück zur Haltestelle und erwischte gerade noch den Bus, der Richtung Belsize Park fuhr.
Die Fahrt nach Hause hatte sich beinahe unerträglich in die Länge gezogen, und Nora stand unter enormem Zeitdruck, als sie sich endlich an ihren Schreibtisch setzte.
Sie balancierte ihr iPad auf dem Schoß, überflog ein paar Interviews im Netz und machte sich Notizen.
Die Ninette von heute hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem dreiundzwanzigjährigen Unterwäschemodel aus Randers, das durch eine Realitysendung bekannt geworden war, in der sie die meisten Jungs geküsst hatte, ohne nach Hause geschickt zu werden. Ihre Lippen waren seitdem viel voller geworden, und das Dekolleté war so prall, dass man an der Schwerkraft zweifeln konnte.
Ninette war nach London gezogen, um hier ihren internationalen Durchbruch als Model zu feiern, doch ihre Karriere war nur von kurzer Dauer. Nicht etwa, weil sie mit ihrem perfekten Körper, einem strahlenden Lächeln und ihrem klassischen nordischen Look nicht angekommen wäre. Sondern weil sie bei einem Empfang im The Dorchester einen Dirty Martini über Anton Bugakov geschüttet hatte, einen Mann, der daran gewöhnt war, genau das zu bekommen, worauf er zeigte. An jenem Abend entschloss er, auf Ninette zu zeigen.
Nora leuchtete es ein, warum es Ninette schwergefallen war, ihm zu widerstehen. Bugakov war ein attraktiver Mann Ende vierzig, gut gekleidet in wohlsitzenden Armani-Anzügen und mit einem ironischen Zug um den Mund, der zeigte, dass er sehr gut wusste, wie klischeehaft sowohl seine Sonnenbrille als auch die beiden kantigen Bodyguards waren, die ihm wie zwei treue Bulldoggen nacheilten. Dasselbe galt für die Yacht und den Sportwagen und das Faktum, dass er auf eine blonde Trophy Wife aus war, deren Brüste er selbst mitformen und bezahlen wollte. Und dass es ihm ziemlich egal war, was andere davon hielten.
Bugakov tat, was ihm passte. Und zwei Tage nach ihrem Treffen passte es ihm, seinen Privatsekretär zu einem von Ninettes Fotoshootings zu schicken, um ihr ein Diamantarmband von Bvlgari und eine Einladung zum Dinner zu überreichen.
Nach weniger als einem Jahr waren sie verheiratet. Ninette wurde in einem dreistöckigen Haus mit Garten in Chelsea platziert, und kein anderer als Bugakov durfte sie mehr in Unterwäsche sehen.
Die pompöse Hochzeit, bei der die Hälfte des FC Chelsea eingeladen gewesen war, hatte vor zehn Jahren stattgefunden. Angeblich hatte sogar Putin ein Set Golfschläger als Geschenk geschickt, er selbst musste am G8-Gipfeltreffen teilnehmen. Und nun stand die Scheidung des Paares an. Wenn man den britischen Klatschblättern Glauben schenkte, würde Ninette mehrere Millionen Pfund kassieren, sodass sie mit einem Schlag ganz oben auf der Liste mit den reichsten Dänen stehen würde. Vorausgesetzt, Bugakov würde sich friedlich mit ihr einigen, sein Vermögen mit ihr zu teilen. Doch darauf deutete nicht viel hin.
Nora fand einen Artikel aus der Sun, in dem behauptet wurde, Bugakov hätte dieselbe Anwältin eingeschaltet wie einst ein berühmter Rockmusiker. Bei der Scheidungsverhandlung jenes Rockstars brachte die Anwältin die zukünftige Ex-Frau dazu, derart die Beherrschung zu verlieren, dass sie aus reiner Wut einen Aktenordner nach ihr warf. Während im Gerichtssaal schockierte Stille herrschte, strich die Frau Anwältin in aller Seelenruhe ihr Kostüm glatt, wandte sich dem Richter zu und stellte fest, dass Seine Exzellenz nun mit eigenen Augen das unangebrachte Verhalten gesehen habe, das ihren berühmten Klienten dazu veranlasst hatte, die Scheidung einzureichen.
Doch die Aufteilung des Geldes war nicht das Einzige, worüber Ninette und Bugakov sich nicht einigen konnten. Der achtjährige Sohn des Paares, Nicholas, war noch ein viel größerer Streitpunkt. Bugakov wollte ihn bei sich in London behalten, den Jungen erst nach Eton und dann nach Cambridge schicken und ihm schließlich seine Öl-Aktiengesellschaft und all die anderen Unternehmen der Familie übertragen. Ninette hielt dagegen, dass der Junge besser daheim in Randers aufwüchse.
Nora sah die Berichterstattung vor sich: Holde dänische Jungfer, die Füße fest in Jütland verankert, im Kampf gegen den russischen Gangster. Es bestand kein Zweifel, dass die Story zu Hause in Dänemark für einige Klicks sorgen würde. Nicht zuletzt, wenn man sie mit Fotos von Ninettes Karriereanfängen und Bugakovs Porschesammlung würzte.
Die Anhörung bezüglich des Sorgerechts würde Montag beginnen.
Nora durchstöberte ihr E-Mail-Archiv und fand die Telefonnummer der Freundin einer Freundin, die sie bei einer Geburtstagsparty in Richmond getroffen hatte. Sie hatte Nora mit Anekdoten über Promischeidungen unterhalten, auf die ihre Anwaltskanzlei spezialisiert war.
Vera Vianka nahm den Anruf sofort entgegen, und nachdem Nora versprochen hatte, den Namen der Anwältin nicht zu nennen, sprudelte es aus Vera nur so heraus.
«Ninette hat keine echte Chance, das Kind zu behalten», erklärte sie. «Ich kenne die Anwältin, die Bugakov vertritt, und ich weiß, was sie kostet. Es ist ihm also enorm wichtig zu gewinnen.»
«Und was bedeutet das genau?»
«Du darfst mich nicht wörtlich zitieren, aber die Sache scheint übel auszugehen. Ich habe ähnliche Fälle von Leuten mit … ja, sagen wir, ähnlichem Hintergrund und Kontakten wie Bugakov studiert. Sie geben erst Ruhe, wenn sie gewonnen haben, und sie gehen immer nach demselben Muster vor.»
«Und wie sieht das aus?»
«Erst unterstellen sie Untreue. Manchmal entspricht das sogar der Wahrheit, manchmal eben auch nicht. Wenn das nicht funktioniert, gibt es immer noch den Demeshev-Bluff.»
«Den Demeshev-Bluff?»
«Demeshevs Frau wurde lästig. Also heuerte er ein paar Ärzte an, die vor dem Richter bestätigten, dass die Frau unter gravierenden psychischen Problemen leide. Selbstmordgedanken, Hysterie und Paranoia. Je mehr sie es abstritt und zu erklären versuchte, dass die ärztlichen Atteste erkauft wurden, desto paranoider klang sie. Clever.»
«Gibt es das wirklich?», fragte Nora fassungslos.
«Tja», bemerkte Vera trocken.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, saß Nora für einige Minuten nur da und starrte abwechselnd auf den leeren Bildschirm und aus dem Fenster, vor dem der Belsize Park in der Februarkälte erstarrt war. Der Obsthändler rückte seine Apfelsinen ein Stück tiefer unter den Baldachin. Menschen schwärmten in das Café auf der anderen Straßenseite. Nora überlegte, sich von dort eine heiße Schokolade zu holen, beschloss jedoch, erst die Arbeit hinter sich zu bringen. Sie atmete einmal tief durch und begann zu schreiben.
Nach vierzig Minuten setzte sie ihren letzten Punkt und rief den Diensthabenden in der Webredaktion an, um ihm Bescheid zu geben, dass der Artikel für die Veröffentlichung fertig war.
«Wurde auch Zeit», herrschte er sie an, aber Nora hatte keine Muße, einen weiteren nutzlosen Streit auszutragen. Sie streckte sich, ging in die Küche und setzte Teewasser auf.
In nur wenigen Stunden hatte sich der weiße Schnee in dunkelgraue Matsche verwandelt, kaputtgefahren von roten Doppeldeckern und Londoner Taxis, die langsam durch den dichten Verkehr krochen wie schwarze Skarabäen.
Abioni antwortete immer noch nicht, als Nora ein weiteres Mal versuchte, ihn anzurufen. Die Unruhe nagte in ihr. Ob sie die Polizei informieren sollte? Doch Abioni vertraute ihnen nicht, und was sollte sie den Beamten auch sagen?
Als das Wasser im Kocher den Siedepunkt erreicht hatte, war sie bereits wieder in ihre Stiefel geschlüpft. Die Teetasse stand einsam und verlassen auf dem Küchentisch, während Nora unten vor dem Haus versuchte, ein Taxi zu erwischen.
Zwei Stunden später kam sie unverrichteter Dinge nach Hause zurück. Fröstelnd und hungrig und ohne die geringste Idee, wo Abioni abgeblieben sein könnte.
Sie war zurück zum Friedhof gefahren, war den Zaun entlanggewandert und hatte versucht, zwischen den Bäumen in die Dunkelheit zu spähen. Doch dort war es totenstill gewesen, und mittlerweile hatte Nora so viele Nachrichten auf Abionis Mailbox hinterlassen, dass sie voll war.
Das Winterwetter hatte Primrose Hill in eine riesige Schlammpfütze verwandelt, und mehrere Male verlor Nora beinahe das Gleichgewicht auf dem rutschigen Boden. Doch das machte keinen besonderen Eindruck auf Enzo, der sich in ein riesiges handgeknüpftes Tuch eingewickelt hatte und – einen großen dampfenden Kaffeebecher in den Händen – Anweisung durch die kalte Morgenluft rief.
Der italienische Kickboxtrainer hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie man sich am besten für eine Einheit aufwärmte, und es gefiel ihm außerordentlich, Nora beim Laufen zuzusehen, während er sich entspannte.
Nora rang nach Luft, als sie sich zum dritten Mal den Hügel hinaufkämpfte, der dem idyllischen Park im Norden Londons seinen Namen verlieh.
Gegen zwei Uhr nachts hatte sie es aufgegeben, Abioni anzurufen. Auch auf ihre E-Mails hatte er nicht geantwortet. Daher hatte sie beschlossen, die Polizei zu kontaktieren, sollte sie im Laufe des heutigen Tages immer noch nichts von ihm hören. Egal, ob Abioni der Polizei traute oder nicht.
Endlich rief Enzo Nora vom Hügel herunter, und sie arbeiteten an ihrem Roundhouse-Kick, der nach Enzos Meinung immer noch sehr zu wünschen ließ.
«Wie oft soll ich es dir noch sagen? Geh mehr in die Hüfte. Dort liegt deine wahre Stärke», rief Enzo und gestikulierte mit einer Dramatik, die in dem Armenviertel Pisas, in dem er aufgewachsen war, viel natürlicher gewirkt hätten als in Londons trendigem Boho-Quartier.
Ttrotz der Winterkälte lief Nora der Schweiß über den Rücken, und Enzo ließ nicht locker, ehe ihr Kick einigermaßen saß. Erst dann arbeiteten sie an Noras Haken, und gerade als Enzo ihr mit einer extra Laufrunde drohen wollte, klingelte ihr Telefon.
Überraschenderweise sah sie Spencers Namen auf dem Display. Sie hatte den Leiter der Spezialeinheit für Serienmorde bei Scotland Yard während eines anderen Falls kennengelernt, und auch wenn sie keinesfalls Freunde waren, hatten sie doch im gemeinsamen Kampf gegen den Verbrecher Bill Hix und seine Handlanger gegenseitigen Respekt entwickelt. Leider reichte dieser nicht so weit, dass Spencer sich dazu herabließ, jederzeit einen Anruf von Nora entgegenzunehmen.
«Sand», sagte sie, außer Atem.
«Ich möchte Sie bitten, so schnell wie möglich bei mir vorbeizukommen. Ich muss mit Ihnen reden», teilte Spencer mit.
«Worum geht es?»
«Das möchte ich lieber in meinem Büro besprechen.»
Nora sah auf die Uhr. Ihr Training sollte noch zwanzig Minuten dauern, dann wollte sie nach Hause gehen und duschen.
«Ich kann in anderthalb Stunden da sein.»
«Wir würden es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie sofort kommen würden», entgegnete Spencer bestimmt.
«Ich bin mitten im Training, könnten Sie mir also bitte wenigstens erklären, worum es geht?», fragte sie.
Spencer seufzte.
«Okay. Kennen Sie einen Kweko Abioni?»
Die Frage ließ das Lächeln auf Noras Gesicht gefrieren, der Schweiß auf ihrem Rücken war plötzlich eiskalt.
«Ja.»
«Können Sie Abioni für mich beschreiben?»
«Warum?», hakte Nora beunruhigt nach.
«Tun Sie es bitte.»
In kurzen Stichworten beschrieb Nora den kräftigen Körper, die braunen Augen, die Haare, die an den Schläfen schon ein wenig ergraut waren, und den dunkelgrauen Mantel, den Abioni gestern getragen hatte.
«Kommen Sie sofort. Wo befinden Sie sich gerade? Millhouse holt Sie ab.»
Nachdem sie sich von Enzo verabschiedet hatte, wartete Nora keine halbe Stunde später an der Ecke Albert Road auf Millhouse, der in einem flaschengrünen Mascot vorfuhr.
Nora hatte versucht, sich auf der Damentoilette am Spielplatz den Schweiß abzuwaschen, ihr war jedoch peinlich bewusst, dass ihr Vormittag beim Kickboxen kaum zu übersehen war.
«Entschuldige. Ich wollte noch duschen, aber Spencer ließ mir keine Zeit dazu», sagte sie und fuhr das Wagenfenster einige Zentimeter herunter.
Millhouse nickte.
«Ich weiß.»
«Ist Abioni etwas zugestoßen?»
Millhouse sah zu ihr herüber.