Hey, ich bin der kleine Tod … aber du kannst auch Frida zu mir sagen - Anne Gröger - E-Book

Hey, ich bin der kleine Tod … aber du kannst auch Frida zu mir sagen E-Book

Anne Gröger

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Beschreibung

Eine vielversprechende neue Stimme der Kinderliteratur Samuel geht niemals raus. Nie! Viel zu gefährlich! Doch eines Tages steht plötzlich ein kleines Mädchen mit schwarzem Umhang und Sense vor ihm. "Hallo, ich bin der kleine Tod, aber du kannst auch Frida zu mir sagen!" Natürlich will Samuel, dass Frida sofort wieder verschwindet, aber nee, Frida bleibt. Schließlich hat der große Tod sie geschickt. Samuel soll ihr das Leben zeigen. Ausgerechnet Samuel, der nie (wirklich nie!) rausgeht. Denn Risiken aller Art und Naturgewalten lauern da, und nicht zu vergessen: Kinder! Die größten Keimschleudern überhaupt. Perfekt, findet Frida. Denn was sie Samuel verschwiegen hat: Ihre große Prüfung wird sein, ihn zu holen. Zumindest glaubt sie das.

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Samuel geht niemals raus. Nie! Viel zu gefährlich!

Doch eines Tages steht plötzlich ein kleines Mädchen mit schwarzem Umhang und Sense vor ihm: Frida, der kleine Tod. Natürlich will Samuel, dass das komische Mädchen sofort wieder verschwindet, aber nee, Frida bleibt. Schließlich hat der große Tod sie geschickt: Samuel soll ihr das Leben zeigen. Ausgerechnet Samuel, der Stubenhocker. Risiken aller Art und Naturgewalten lauern draußen, und nicht zu vergessen: Kinder! Die größten Keimschleudern überhaupt. Perfekt, findet Frida. Denn was sie Samuel verschwiegen hat: Ihre große Prüfung wird sein, ihn zu holen. Zumindest glaubt sie das.

Anne Gröger

Hey, ich bin der kleine Tod …

… aber du kannst auch Frida zu mir sagen

Mit Illustrationen von Fréderic Bertrand

Für alle rotznasigen, blutverschmierten und mit Dreck überzogenen Spielplatzkinder.

Aber auch für alle, die sich schon allein das Gesicht waschen können.

1. KapitelHier geht’s um Leben und Tod

Hier geht’s um Leben und Tod. Also jetzt bloß keinen Fehler machen!

Sitzen die Elektroden?

Check!

Funktioniert das EKG-Gerät?

Check!

Ist die Stoppuhr bereit?

Check!

Alles klar! Es kann losgehen.

Ich muss zugeben, ich bin etwas nervös. Manche Dinge bleiben einfach aufregend, egal wie oft man sie schon gemacht hat. Notfallübungen gehören dazu. Mein Magen rumort. Dabei hat der gar nichts zu verdauen. Nur der Tee von heute Morgen schwabbert darin herum. Obwohl? Vermutlich ist er schon weitergewandert und rauscht mittlerweile durch die Nieren. Kommt bestimmt gleich in der Blase an. Ich merk schon, wie der Druck steigt. Das Herz spielt auch verrückt. Dem EKG kann es nichts vormachen. Die Wellen rasen über den Monitor. Jede Welle ist ein Herzschlag, und je schneller mein Herz schlägt, umso mehr Wellen produziert es. Wie bei einer Sturmflut. Wenn das Herz tobt, ist das Leben besonders aufregend. Gibt es hingegen keine Wellen mehr, ist man höchstwahrscheinlich tot. Das mit dem Totsein geht schnell. Gleich ist es wieder so weit. Licht aus!

Im Zimmer ist es dunkel. Nur die Schatten der Möbel kann ich noch erkennen. Gut so. Ist schließlich der Sinn der Übung! Ich lasse mich fallen und lande weich im Sessel hinter mir. Noch einmal tief durchatmen und los geht’s! Die Elektroden reiße ich mir mit einem Ruck von der Brust. Und dann passiert, was passieren soll: Die Wellen auf dem Monitor werden kleiner. Die Elektroden spüren keinen Herzschlag mehr. Die Wellen schrumpeln zusammen, bis nur noch eine gerade Linie von ihnen übrig ist. Das EKG-Gerät schlägt ALARM!!! Ich starte meine Stoppuhr.

Es dauert genau 23 Sekunden, dann geht die Tür auf und jemand stürmt ins Zimmer. Keine Ahnung, wer es ist, aber ein guter Start sieht anders aus. Kurzes Gerumpel. Dann ein Schrei! Aha! Es ist Schwester Ada. Bestimmt ist sie beim Versuch, den Lichtschalter zu ertasten, gegen die Schublade geknallt, die ich extra hab offen stehen lassen. Ada schnauft am Boden und ich sehe ihren Schatten, der aufzustehen versucht, aber gleich wieder fällt.

»Scheiße!«, brüllt Ada.

War bestimmt die Schmierseife. Hab ich vorhin auf dem Boden verteilt. Kurz vor dem Herzanfall wird oft noch gekotzt. Echte Kotze zu bekommen, ist im Krankenhaus eigentlich kein Problem. Aber mal ehrlich, wie eklig ist das bitte? Und furchtbar unhygienisch!!!

Ada hat es geschafft. Sie steht und tastet sich durch den Raum. Wirklich unglaublich! Schon so viele Jahre in diesem Krankenhaus, doch ihre Ortskenntnis ist immer noch mies. Das Bett, in dem der Notfallpatient liegt, liebevoll von mir aus Decken und Kissen zusammengebaut, hat sie immer noch nicht erreicht. So langsam stirbt die Hoffnung mit dem Patienten.

Zwei Minuten und eins, zwei, drei, vier … Ich lasse die Uhr nicht mehr aus den Augen … fünf, sechs, sieben, acht Sekunden. Endlich kommt Ada am Bett an und schaltet den Alarm aus. Ich stoppe die Uhr, knipse das Licht an und gucke so vorwurfsvoll, wie ich nur kann: »Du warst zu langsam, Ada. Schon wieder.«

Ada schnaubt. Ihr Gesicht ist ganz rot. »Pff … ich und zu langsam! Ich hatte erst zwei Tote diesen Monat. Ich bin super!«

Über so viel mangelnde Selbstkritik kann ich nur den Kopf schütteln. Ada versteht den Ernst der Lage nicht. »Ada, zwei Tote sind überhaupt nicht super. Das sind zwei Tote zu viel.« Ich trage Adas Stoppzeit in meinen Ordner ein. Sie bleibt stur: »Ach komm! Zwei Tote bei zehn Notfallübungen sind doch gar nicht schlecht. Das mit der Schublade war übrigens voll gemein.« Ada schnuppert an ihren Händen. »Und das mit der Seife auch.«

»Das war nicht gemein, das war realistisch«, kläre ich sie auf. »Vergessene offene Schubladen und Kotze auf dem Boden. Damit musst du rechnen.«

»Ach, Rechnen!«, grinst Ada. »Ist nicht so meine Stärke. Weißt du doch.« Ja, weiß ich. Denn wenn es anders wäre, wüsste Ada auch, dass eine Quote von zehn zu zwei bedeutet, dass man in ihrer Obhut mit zwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit stirbt. Das ist verdammt hoch! Aber besser, ich sage ihr das nicht. Vor einem halben Jahr habe ich Ada eine Mängelliste ihrer Arbeit vorgelegt, alles fein säuberlich aufgeschrieben, was sie so falsch macht und was sie besser machen könnte. Zwei Tage lang hat sie nicht mit mir gesprochen und mich bei den Notfallübungen dreimal sterben lassen. Verblutet, vergiftet und Schlaganfall! Manche Menschen können mit Kritik einfach nicht umgehen. Deswegen überlege ich, wie ich ihr am besten beibringe, dass sie dringend mal wieder ein bisschen mehr Sport machen und weniger Pralinen essen sollte. Mein Blick sagt mehr als tausend Worte.

»Du findest, ich bin fett geworden?«

Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Fangfrage ist und Ada mir gleich den Kopf abreißt, wenn ich Ja sage. Besser diplomatisch bleiben. Ich zeige ihr meine Aufzeichnungen aus den letzten Jahren: »Schneller geworden bist du mit der Zeit jedenfalls nicht.«

»Ich bin also fett und alt?«

Diese Diskussion führt in keine konstruktive Richtung. Am besten, ich sage nichts mehr und klaue einfach weiter heimlich die Pralinen aus dem Schwesternzimmer. Im Grunde ist nämlich genau das das Problem. Glücklich geheilte Patienten bedanken sich mit Pralinen und anderem Süßkram für ihre Entlassung. Ich finde dieses Verhalten unverantwortlich. Diabetes, Fettleber und Herzinfarkt sind nur einige der Folgen von übermäßigem Zuckerkonsum. Doch das Klinikpersonal futtert sich nicht nur selbst ins Grab, nein, sie reißen andere gleich mit. Denn wenn Ärzte, Pfleger und Schwestern fett werden, werden sie langsamer, kommen bei Notfällen zu spät und der Patient stirbt. Ich tue wirklich viel, damit hier alle fit bleiben, und will mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn ich einmal nicht mehr da sein sollte. Falls es diesmal wirklich wahr ist und ich entlassen werde. Ada scheint gerade das Gleiche zu denken, denn sie guckt ein bisschen traurig aus der Wäsche: »Ohne dich wird es hier bestimmt todlangweilig.« Ich seufze. Wenn das mal nur so wäre. Ich tippe eher auf lebensgefährlich. Aber im Grunde läuft das ja aufs Gleiche hinaus.

Nur einen Moment habe ich nicht aufgepasst und schon macht Ada wieder, was sie will.

»ADA!«, rufe ich noch. Zu spät. Sie hat die Vorhänge aufgezogen und die Sonne knallt ins Zimmer. Ich muss die Augen zusammenkneifen! Mann! Ada weiß doch, dass ich das hasse. Natürlich tut sie ganz unschuldig.

»Ja, Samuel, mein Sonnenschein?«

»Mach sie zu!«

»Ach komm! Ein bisschen Sonne hat noch keinem geschadet.«

Das sollte Ada mal ihren Hautkrebspatienten sagen. Die würden ihr was erzählen. Und wenn ich ihr erzähle, warum ich offene Vorhänge nicht mag, würde sie mich nicht ärgern, sondern auch noch die Fenster mit Brettern verrammeln. Ich erzähle es ihr aber nicht. Geht sie nichts an. Das geht niemanden etwas an! Deswegen muss ich alles selber machen, zum Fenster latschen und die Vorhänge zuziehen.

Ich wollte wirklich nicht hingucken, aber ein kleines bisschen hab ich sie doch gesehen: die Berge am Horizont. Sie sind auch schwer zu übersehen. Mit dem ganzen Schnee obendrauf, der in der Sonne glitzert. Die Berge können so viel glitzern, wie sie wollen, ich will sie nicht sehen. Den Vorhang ziehe ich millimetergenau vor die Fenster, damit auch nicht der kleinste Felsen ins Zimmer schaut.

Ada grinst. Das ist für Ada nicht ungewöhnlich. Doch es ist kein normales Grinsen, es ist eines von der Sorte: Ada hat etwas vor. Nur was? Ich lasse Ada nicht aus den Augen. Und bin trotzdem zu langsam. Mist! Ich schaffe es nicht, sie daran zu hindern, unter ihrem Kittel eine Rolle Klebeband hervorzuziehen, die Vorhänge wieder zu öffnen und an der Wand festzukleben. Ich hätte es wissen müssen, wenn sie will, kann Ada doch schnell sein. Scheinbar findet sie eine Notfallübung unwichtiger als ihren Schabernack. Manchmal frage ich mich, ob das hier ein Krankenhaus oder der Kindergarten ist. So genau werde ich das nie wissen, denn in einem Kindergarten war ich noch nie. Mit elf Jahren bin ich dafür auch einfach schon zu alt. Mal abgesehen davon, würde ich einen Kindergarten sowieso nicht freiwillig betreten. Neben öffentlichen Toiletten gehören die nämlich zu den unhygienischsten Orten der Welt. Überall kleine Kinder mit vollgekackten Windeln und laufenden Rotznasen. Widerlich! Die Anzahl der Keime, die dort ihr Unwesen treiben, will ich mir gar nicht vorstellen. Ich habe mit denen, die hier sind, schon genug zu tun. Am Klebeband hängen unzählige. Ich greife zum Desinfektionsspray. Meine Mutter hat mir dafür extra einen Gürtel mit zwei Taschen links und rechts genäht. Wie ein Cowboy seine Pistolen, habe ich mein Desinfektionsspray immer dabei. Denn ich fasse nichts an, was ich nicht vorher desinfiziert habe.

Ich spüre ihn im Nacken, Adas Blick. Diesen Blick kenne ich. Den erkenne ich sogar mit geschlossen Augen oder eben mit dem Hinterkopf. Der Blick bedeutet Mitleid. Und davon hatte ich in meinem Leben wirklich schon genug. Ich bin anders. War ich schon immer. Solange ich denken kann, war ich krank. Ich wurde mit einem Immunsystem zweiter Klasse geboren. Na gut, vielleicht sogar dritter oder vierter Klasse. Und wenn man es ganz genau nimmt, könnte man auch sagen, mein Immunsystem ist schrottreif. Es hat keine riesigen Mauern und keine ordentliche Alarmanlage, wie sich das gehört. Nein, mein Immunsystem hat nur einen löchrigen alten Zaun und sagt zu jedem Krankheitserreger: »Herzlich willkommen!« Deswegen wohne ich auch im Krankenhaus. Ist einfach sicherer. Allerdings kann sich mein Wohnort bald ändern, nämlich dann, wenn die Therapie erfolgreich war. Ich habe neue Stammzellen transplantiert bekommen, und wenn die ihren Job richtig machen, sollte mein Immunsystem rundum erneuert sein und ich nach Hause dürfen.

Geschafft! Die Vorhänge sind frei und ich kann sie wieder schließen.

»Samuel!« – Lisbeth ruft nach mir. Zusammen mit Rudi und Dr.Marx steht sie in der Tür. Dr.Marx ist mein Arzt, wir kennen uns seit Jahren. Lisbeth und Rudi sind meine Eltern. Die kenne ich noch länger. Nicht wundern! Lisbeth und Rudi nenne ich nicht Mama und Papa. Hab ich noch nie gemacht. »Mama« und »Papa« wird auf der Kinderstation einfach zu oft geschrien. Deswegen ist es besser, seine Eltern beim Vornamen zu rufen. Da stehen die Chancen höher, dass die richtigen kommen.

Rudi und Lisbeth machen wichtige Mienen. Aber Dr.Marx guckt am wichtigsten. Ada lächelt mir aufmunternd zu und geht hinaus. Jetzt ist es so weit. Gleich werde ich erfahren, ob die Therapie angeschlagen hat. Lisbeth kann die wichtige Miene nicht mehr halten und beginnt zu schluchzen. Wenn die Mutter weint, sagt das wohl alles. Die Therapie hat nicht funktioniert. Okay. Was solls! Muss ich mit leben. Mache ich ja sowieso schon elf Jahre lang. Doch Lisbeth verkraftet die Nachricht scheinbar schlechter als ich. Sie stürmt auf mich zu, will mich umarmen. Sie soll mir bloß nicht zu nahe kommen. Schnell strecke ich ihr mein Desinfektionsspray entgegen. Sie stoppt und hebt die Hände.

»Ich bin desinfiziert«, sagt sie. Ich schnuppere. Desinfektionsgeruch ist einfach unverkennbar. Lisbeth darf näher kommen. Und sie kommt so nah, dass nicht mal mehr ein Blatt Papier zwischen uns passt. Sie drückt mich ganz fest. »Es hat funktioniert. Die Therapie hat angeschlagen, mein Schatz!«, flüstert sie an meinem Hals.

Ich kapiere überhaupt nichts mehr. Was? Ich löse mich aus ihrer Umarmung und sehe sie fragend an. Lisbeth lacht und weint gleichzeitig. Wer soll denn daraus schlau werden? Ich hoffe, ihr ist klar, was für zweideutige Botschaften sie hier sendet. Ich brauche Fakten und schaue zu Dr.Marx. Der Mann ist schließlich Wissenschaftler. Doch Dr.Marx lächelt und nickt ganz unwissenschaftlich. Also was? Die Therapie hat angeschlagen? Ja? Nein? Vielleicht? Um hier endlich mal Klarheit zu schaffen, strecke ich Dr.Marx meine Hand entgegen. Er weiß, was er zu tun hat, und reicht mir die Untersuchungsergebnisse.

Es stimmt! Unglaublich! In den Unterlagen steht es schwarz auf weiß. Die Therapie hat funktioniert. Wie es aussieht, hat sich mein Immunsystem von einem Schrottplatz in eine Burg mit hoher Mauer und Wassergraben verwandelt.

»Du darfst nach Hause«, sagt Dr.Marx und lächelt so breit, wie ich ihn noch nie habe lächeln sehen. Auch Lisbeth hat inzwischen mit dem Weinen aufgehört. Sie strahlt mit Rudi um die Wette.

Ich darf nach Hause. Kann das überhaupt sein? Geht das nicht alles ein bisschen schnell?

»Was ist denn mit den Nebenwirkungen, dem Rückfallrisiko und …« Dr.Marx lässt mich nicht ausreden. »Du kommst regelmäßig zur Kontrolle, nimmst weiter deine Medikamente und kannst ansonsten ein normales Leben führen.« – Ein normales Leben? – Ich lasse mich aufs Bett fallen. Das muss ich erst mal verkraften.

Viel Zeit habe ich dafür allerdings nicht. Lisbeth und Rudi können es kaum erwarten, mit mir das Krankenhaus zu verlassen. Schnell haben sie meine Sachen zusammengepackt. Nur mein Schutzanzug hängt noch im Schrank. Aber der wird nicht eingepackt. Den ziehe ich an. Mein Schutzanzug ist mein wichtigstes Kleidungsstück. Es ist ein schwarzer Overall, an dem außen viele kleine Protektoren aus Hartplastik aufgenäht sind. Wenn ich meinen Anzug trage, sieht es so aus, als würde ich im Panzer eines Krokodils stecken. Ein bisschen fühle ich mich auch so. Stark und unverletzbar. Ist natürlich Quatsch! Käme ein Auto, wäre ich platt. Doch mein Anzug schützt mich vor blauen Flecken. Bei meiner Krankheit kann aus einem blauen Fleck schnell eine innere Blutung werden. Und so eine innere Blutung ist gefährlich. Von außen sieht man nichts. Aber im Körper fließt das Blut nicht mehr dorthin, wo es hinfließen soll, sondern dahin, wohin es will. Das ist schlecht. Wenn das Blut sich an keine Regeln hält, spielen die Organe irgendwann auch nicht mehr mit. Was dabei herauskommt, nennt man: tot. Ich hatte schon zweimal eine innere Blutung. Deswegen gehe ich auch nie ohne meinen Anzug aus dem Haus.

»Den brauchst du nicht mehr!«, sagt Rudi. Er hat doch keine Ahnung, deswegen ignoriere ich ihn und schlüpfe in meinen Panzer.

»Hallo, Samuel!«

Ich blicke auf und sehe das Unheil durch die Tür treten. Frau Lind. Die hat mir gerade noch gefehlt. Frau Lind ist die Kinderpsychologin des Krankenhauses und will immer reden. Ich will aber schon lange nicht mehr mit ihr reden. Denn sie ist immer anderer Meinung als ich und stellt Fragen, die niemand hören will.

»Warum trägst du eigentlich deinen Schutzanzug?«

Ich sag’s ja. Fragen, die keiner braucht. Ich versuche es erst mal mit der Taktik, sie nicht zu beachten, vielleicht hat Frau Lind ja einen dringenden Termin und geht von alleine wieder weg …

Nee! Pech gehabt! Heute scheint sie Zeit zu haben. Am besten sage ich etwas, worüber sie mit mir nicht diskutieren kann, einfach weil es Fakt ist: »Alle 72 Sekunden verunglückt ein Mensch, Tausenden Krankheiten stehen wir hilflos gegenüber und von unzähligen Viren und Bakterien wissen wir noch gar nicht, wie gefährlich sie sind.«

So! Das hat gesessen. Frau Lind bleibt stumm. Zumindest vorerst. Denn sie setzt ihren Ich-versteh-dich-Blick auf und das bedeutet in der Regel, da kommt gleich noch was. Und richtig: »Die Welt ist ein gefährlicher Ort«, sagt sie.

Damit hat sie ausnahmsweise mal recht. Genau aus diesem Grund ist mein Schutzanzug allein nicht ausreichend. Ich setze noch meinen Mundschutz auf, ziehe meine Latexhandschuhe an und schnalle meinen Gürtel mit dem Desinfektionsspray um. Fehlt nur noch mein Vollvisierhelm. Der schützt nicht nur vor Kopfverletzungen aller Art, sondern auch vor unerwünschten Gesprächspartnern. Dummerweise liegt der Helm auf meinem Bett. Frau Lind sieht, dass ich hingucke. Ich weiß, sie wird die Zeit, die ich für den Weg zum Bett brauche, für eine weitere Frage nutzen.

»Hast du Angst, dir passiert das Gleiche wie Tobi?«

Frau Lind wird ganz schön persönlich. Sie kann nicht ernsthaft glauben, dass ich darauf antworte. Darüber denke ich nicht mal nach!!!

Natürlich habe ich Angst, dass mir das Gleiche passiert wie Tobi. Aber das geht Frau Lind nichts an. Das geht niemanden etwas an! Sie soll mich in Ruhe lassen. Helm auf! Visier runter! Und tschüss!

Im Flur haben sich alle versammelt, um mich zu verabschieden. Ärzte, Pfleger, Schwestern. Aufgereiht stehen sie da. Langsam gehe ich an ihnen vorbei, schüttle Hände. Lisbeth und Rudi umarmen sie. Mir ist das zu gefährlich. Die Keime.

In meinem Anzug bin ich nicht besonders schnell. Das ist der Nachteil, wenn man in einem Panzer herumläuft. Dafür habe ich Zeit, mir alle noch mal genau anzugucken. Die meisten kenne ich seit Jahren. Sie freuen sich, dass ich entlassen werde. Muss ich das persönlich nehmen?

Einige freuen sich sogar so sehr, dass sie weinen. Ada wischt sich die Tränen am Kittel ab. Komischerweise wird’s bei mir auch etwas feucht im Auge. Zum Glück kann das niemand sehen.

Rudi und Lisbeth haben noch etwas für alle. Ich fasse es nicht! Pralinen! Ada wollen sie auch welche schenken. Das muss ich verhindern.

Ich gehe zu Ada und tue so, als ob ich stolpere. Dabei schubse ich sie. Wie erwartet, verliert Ada zuerst das Gleichgewicht und dann die Pralinen. Die Packung fällt auf den Boden. Darauf habe ich gewartet. Ich plumpse den Pralinen direkt hinterher. Mein Hintern leistet ganze Arbeit. Sie sind platt. Ada seufzt. Ich lächle zufrieden. Der nächste Notfallpatient kann mir wirklich dankbar sein.

2. KapitelSo kannst du doch nicht leben!

Das Leben ist kostbar und mit kostbaren Dingen muss man vorsichtig umgehen. Meine Eltern verstehen das nicht, das heißt, eigentlich versteht es nur Rudi nicht. Lisbeth ist natürlich auf meiner Seite.

»Jährlich sterben 20000 Menschen an Grippe. Jeder neunte Verkehrstote ist ein Fahrradfahrer und jedes Jahr gibt es drei Todesopfer durch Hundebisse.« Das alles musste ich Rudi erklären, als er mich fragte:

»Bauen wir einen Schneemann?«

Das war im Winter.

»Willst du dein neues Fahrrad ausprobieren?«

Das war im Frühling.

»Wollen wir im Park spazieren gehen?«

Das war vor drei Tagen.

Rudi nervt. Und das schon seit einem halben Jahr. Seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kommt er fast jeden Tag an und will etwas unternehmen. Draußen. Außerhalb der Wohnung. Dabei weiß er genau, dass ich nicht rausgehe. Außer zu den Kontrollterminen ins Krankenhaus.

»So kannst du doch nicht leben!«, sagt er immer. Aber ich finde, das ist ja wohl meine Sache. Ich lebe gerne sicher und am sichersten ist es zu Hause in meinem Zimmer. Natürlich, ein Bunker wäre noch sicherer. Aber den wollen mir Rudi und Lisbeth nicht kaufen. Ich habe sie gefragt.

Ich muss mich mit bescheideneren Mitteln begnügen. Die Ecken und Kanten meiner Möbel habe ich mit dicken Lagen Stoff abgeklebt. Das reduziert die Beulen- und Blaue-Flecken-Gefahr erheblich. Ein voll aufgefülltes Desinfektionsspray steht immer auf meinem Nachtschrank bereit, genauso wie eine Spenderbox mit Mundschutzmasken und eine mit Latexhandschuhen. Der Erste-Hilfe-Koffer befindet sich gut sichtbar neben meinem Kleiderschrank. Ich inspiziere ihn wöchentlich auf Vollständigkeit, seit Rudi mir mal ein Pflaster geklaut hat. Andere Mitbewohner erweisen sich da als nützlicher. Meine Bergpalme zum Beispiel reinigt die Luft im Zimmer. Ein Geschenk von Lisbeth. Natürlich!

Genau wie das Theraband, das ich jeden Morgen für meine Gymnastik benutze. Bei geöffnetem Fenster, möchte ich betonen. Also von wegen, ich ginge nicht an die frische Luft. Nach dem Sport halte ich sogar mein Gesicht für exakt 15 Minuten in die Sonne. Das ist die für meinen Hauttyp vorgeschriebene Zeit. Schließlich muss ich Vitamin D tanken. Morsche Knochen sind das Letzte, was ich gebrauchen kann!

»Kommst du mit auf den Spielplatz?«

Rudi ist wirklich hartnäckig. Und wahnsinnig!

»Auf einem Spielplatz gibt es Kinder«, kläre ich ihn auf. Rudi versteht das Problem nicht. Ich muss deutlicher werden: »Wenn man davon ausgeht, dass ein durchschnittlicher Erwachsener bis zu zweimal im Jahr krank wird, ein durchschnittliches Kind aber bis zu zwölfmal, ist das Kind sechsmal mehr krank und damit eine sechsmal größere Keimschleuder als Erwachsene. Daraus folgt: Kinder sind lebensgefährlich!«

Das hat Rudi nicht gewusst. Bevor er sich irgendwelche Einwände überlegen kann, füge ich hinzu: »Mit Kindern möchte ich nichts zu tun haben.«

Rudi steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

»Wir können ja hier was spielen!«, schlage ich vor. Rudi lächelt, aber ich weiß, er denkt jetzt wieder darüber nach, wie schade es ist, dass er kein normales Kind hat, mit dem er normale Sachen machen kann. Rudi hat nur mich. Damit müssen wir beide leben.

»Willst du denn nach den Sommerferien nicht in eine richtige Schule gehen?«, fragt er, nachdem er mich noch eine Weile lang angestarrt hat. Diese Frage könnte sich Rudi eigentlich selbst beantworten. Damit keine Missverständnisse aufkommen, antworte ich: »Ganz bestimmt nicht!«

Ich bin mit meinem Online-Unterricht sehr zufrieden. Mein Lehrer Christian, mit dem ich jeden Tag per Video spreche, ist ein kompetenter Mann. Meistens jedenfalls. Nur in der letzten Stunde vor den Sommerferien hatten wir einen kleinen Disput. Christian wollte mir tatsächlich weismachen, dass der Tod eine gute Sache ist. »Glaubst du nicht, dass das Leben irgendwann langweilig wird?«, hat er gefragt. »Weil unsere Zeit begrenzt ist, ist es doch so wertvoll.«