Hiding Hearts - Selina D. Berger - E-Book
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Hiding Hearts E-Book

Selina D. Berger

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Beschreibung

Wenn deine Träume aus dem Takt geraten… Amélie studiert in Paris Ballett, das harte Training und das Streben nach Perfektion nehmen all ihre Gedanken für sich ein. Kontrolle ist das Einzige, was sie den anderen Studierenden und den hohen Anforderungen ihrer Familie entgegenzusetzen hat. Doch als sie den offenen und lebensfrohen Lucien kennenlernt, wird ihr klar, dass das Leben mehr zu bieten hat als Disziplin und Leistungsdruck. Wenn da nur nicht ihre eigene Dunkelheit wäre, die sie immer wieder einholt …

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Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.

Lektorat: Dunkelstern GbR

Korrektorat: Andrea Wendl

Cover: Bleeding Colours Coverdesign

Satz: Bleeding Colours Coverdesign

ISBN: 978-3-98947-084-2

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Für mein siebzehnjähriges Ich, das sich nicht getraut hat, jemandem von ihrer Liebe zum Schreiben zu erzählen.

Inhalt

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

Danksagung

Nachwort

Content Notes

Liebe Lesende,

diese Geschichte behandelt sensible Themen. Daher findet ihr am Ende des Buches Content Notes.

Achtung: Diese enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Selina und das Dunkelstern-Team

Playlist

Lost without you - Freya Ridings

Wicked Game - Grace Carter

Control - Zoe Wees

Ending (2018 version) - Isak Danielson

Lovely - Daisy Gray

Mirage - Elina

Waiting room - Grace Carter

Broken - Isak Danielson

The Earth Prelude - Ludovico Einaudi

Kapitel 1

Jeder einzelne Muskel in meinem Körper war angespannt, während ich eine dreifache Pirouette drehte. Ich war hochkonzentriert. Der Ballettsaal flog an mir vorbei, bis ich schließlich in der vierten Position mit einem Bein nach hinten gestellt landete und in die nächsten Schritte der Kombination überging. Soutenue, Plié, Ecarté, Plié und dann stehen. Ich hielt die Endposition zwei Sekunden, bevor Monsieur Fournier das Handzeichen gab und ich gemeinsam mit meinen beiden Kommilitoninnen die Tanzfläche frei machte und zum Rande des Saals ging. Die nächsten drei waren dran.

Ich studierte am nationalen oberen Konservatorium für Musik und Tanz in Paris. Einem riesigen weißen Betonklotz, der in vier verschiedene Gebäude unterteilt war, die aber alle über das Dach miteinander verbunden waren. Als ich die Schule zum ersten Mal gesehen hatte, war ich davon überzeugt gewesen, dass der Baustil mit seinen schmalen, aber hohen Fenstern und dem schiffsartigen Überbau modern war. Ich war mir sicher gewesen, dass es toll werden würde, hier zu leben und zu studieren. Doch nach fast drei Jahren war die anfängliche Euphorie verflogen und ich sah nur noch die Kälte und Eintönigkeit dieses Gebäudes. Der Unterricht war hart. Jegliche Vorstellung von professionellem Ballett war eine Untertreibung dessen, was man hier erlebte. Als Kind träumte man von Glitzer und rosa Tutus, mit meinen einundzwanzig Jahren hoffte ich darauf, nicht von unseren Trainern vor allen Leuten vorgeführt zu werden, weil ich nicht gut genug war.

Ich beobachtete die nächsten Tänzerinnen genau. Valérie drehte die Pirouetten fehlerfrei, landete elegant, und auch den Rest der Kombination meisterte sie, als würde es sie nicht einmal anstrengen. Wie schaffte sie das?

»Die nächsten!«, rief unser Trainer und das ging so lange, bis alle die Kombination dreimal durchgetanzt hatten. Wir teilten uns für kurze Sequenzen gern in mehrere kleine Gruppen auf, damit wir zum einen genug Platz im Saal hatten, und damit Monsieur Fournier zum anderen jede von uns genau analysieren konnte.

Die Musik stoppte und wir beendeten die Unterrichtsstunde mit einfachen Bewegungen und Dehnungen an der Stange.

»Das Training heute hatte es in sich«, seufzte Julie, die neben mir ihre Spitzenschuhe auszog. Sie hatte das Wohnheimzimmer nebenan und versuchte immer wieder mit mir ins Gespräch zu kommen. Sie war nett, aber ich hatte kein Interesse daran, Freundschaften zu schließen. Ich war hier, um zu tanzen und besser zu werden, damit ich irgendwann in den Chor der Pariser Oper aufgenommen wurde. Das Ziel war hoch gesteckt, das war mir bewusst, aber deswegen durfte ich mir auch keine Ablenkungen erlauben.

»Findest du nicht?«, hakte sie nach.

»Doch, klar«, gab ich knapp zurück und massierte meine Füße, die nach stundenlangem Spitzentraining immer weh taten. Am besten kühlte ich sie nachher in einem Eimer voller Eiswasser. Das linderte die Schmerzen.

»Wollen wir später zusammen Abendessen?«, fragte Julie und sah mich hoffnungsvoll an. Sie lächelte und wischte sich eine locker gewordene braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich weiß noch nicht, wann ich heute hingehe, aber frag doch Valérie.« Ich nickte in Richtung meiner Mitbewohnerin.

»Was ist mit mir?« Sie tauchte neben uns auf, ihre Tasche über der Schulter hängend. Selbst nach stundenlangem Training saß ihr Haarknoten perfekt. Wie konnte alles an ihr mühelos aussehen?

»Abendessen«, erklärte ich und nahm einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche.

»Ja, klar. Gibt es heute nicht Ratatouille?«

Julies Augen funkelten. »Ja und das war letztes Mal richtig lecker.«

Die beiden unterhielten sich darüber, was es im Laufe der Woche sonst noch zu essen geben sollte, während ich meine Sachen in meine Tasche stopfte und aufstand. »Wir sehen uns«, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg in den Wohnheimtrakt. Valéries und mein Zimmer lag am Ende des Flurs. Es war länglich und ziemlich klein. Sowohl an der linken als auch an der rechten Wand stand ein Einzelbett aus dunklem Holz mit einem schmalen Nachttisch daneben. Vor dem Fenster gab es einen großen Schreibtisch, den Valérie und ich uns teilen mussten, genauso wie den Kleiderschrank hinter der Tür. An den Wänden auf Valéries Seite klebten zahlreiche Fotos ihrer Familie und Freunde. Die Klamotten, die nicht mehr in ihre Kleiderschrankhälfte passten, hingen alle über ihrer Bettlehne, und ihre Schuhsammlung türmte sich daneben. Im Gegensatz dazu sah meine Hälfte des Zimmers unbewohnt aus. Ich hatte keinerlei Fotos aufgehängt und die wenigen Klamotten, die ich mitgebracht hatte, waren allesamt sorgfältig im Kleiderschrank verstaut. Unter meinem Bett befand sich normalerweise nur meine Sporttasche und auf dem Nachttisch ein Wecker, sonst nichts. Bei Valérie stapelten sich darauf Bücher, Kopfhörer und all ihr Schmuck. Ich hatte nie das Bedürfnis verspürt, mich hier häuslich einzurichten. Es kam mir schlichtweg falsch vor. Das Gefühl, nicht an diesen Ort, diese Schule, zu gehören, verfolgte mich bereits über zwei Jahre. Mittlerweile hatte ich keinerlei Hoffnung mehr, je anders zu empfinden. Dabei konnte ich gar nicht genau sagen, woran es lag. Ob der ständige Druck in diesem Studium daran schuld war? Das Ballett an sich? Oder die Menschen, in deren Umfeld ich mich nie wirklich angekommen fühlte? Vielleicht war ich aber auch einfach nur unzufrieden mit mir, und folglich mit allem in meiner Umgebung.

Im Badezimmer schälte ich mich aus meinem Balletttrikot und der champagnerfarbenen Strumpfhose, ehe ich die Nadeln aus meinem Knoten zog, sodass meine blonden Haare in einem tiefen Pferdeschwanz meinen Rücken hinabfielen. Als ich auch das Haargummi entfernte, hätte ich am liebsten aufgestöhnt. Die straffe Frisur machte meiner Kopfhaut zu schaffen.

Genau in dem Moment, als ich hörte, wie die Zimmertür aufging, drehte ich das Wasser in der Dusche auf. Valérie hasste es, wenn ich lange duschte und sie dadurch ewig warten musste. Oft ließ ich ihr deswegen den Vortritt, aber heute wollte ich einfach nur noch in mein Bett. Und das so schnell wie möglich. Die Muskeln in meinem Nacken waren hart wie Stein und mein Kopf pochte. Innerlich stimmte ich Julie zu. Das Training hatte es in sich gehabt.

Als ich aus der Dusche trat, war der Spiegel über dem Waschbecken beschlagen. Schnell wischte ich mit meinem Handtuch drüber und betrachtete mich darin. Dünn zu sein war im professionellen Ballett wichtig. Daher achtete ich strikt auf meine Ernährung, denn der Sport allein genügte nicht.

»Wie lange brauchst du noch?«, rief Valérie genervt durch die Tür. Doch anstatt ihr zu antworten, trocknete ich mich schnell ab, schlüpfte in ein paar bequeme Sachen und verließ das Badezimmer mit meinem Föhn.

»Du kannst.«

»Endlich.« Sie saß bereits nur mit einem Handtuch bekleidet auf ihrem Bett und sprang auf, sobald ich den Weg freimachte.

Wenn jemand dachte, dass man sich nach zwei Jahren Zusammenwohnen zwangsläufig irgendwann anfreundete, hatte er sich geirrt. Valérie und ich waren uns zwar in gewissen Dingen ähnlich, unterschieden uns in anderen aber wie Tag und Nacht. Monsieur Fournier verglich uns im Training oft miteinander, obwohl ich bis heute nicht verstand, wieso. Valérie war in allem besser als ich und vielleicht war ich auch deshalb oft genervt von ihr.

Bevor ich mir die Haare föhnte, schickte ich meiner Mutter ein Video, das ich heute früh aufgenommen hatte. Ab und zu ging ich vor den offiziellen Stunden schon in den Saal, um für mich selbst zu trainieren. Und da meine Mutter seit Wochen auf mich einredete, dass ich ihr ein Video von meinem aktuellen Training schicken solle, hatte ich mich heute Morgen dazu durchgerungen, mich zu filmen.

Mein Herz klopfte, als ich es abschickte, weil ich genau wusste, wie kritisch Maman war. Sie hatte selbst früher Ballett getanzt, allerdings nie eine professionelle Karriere in Erwägung gezogen, weil sie das Modeunternehmen ihres Vaters übernehmen sollte, was sie letztendlich auch getan hatte. Durand. Eine Luxusmodemarke, die inzwischen auf der ganzen Welt vertrieben wurde. Sie ging in ihrem Job vollkommen auf, doch manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie es bereute, das Ballett nicht weiterverfolgt zu haben. Stattdessen steckte sie all ihre Energie in mich und meine Karriere, wofür ich ihr wahnsinnig dankbar war. Der zusätzliche Druck, den sie mir machte, war jedoch nicht immer leicht zu ertragen.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Mamans Antwort eintrudelte.

Maman: Du verlierst noch immer ständig die Spannung, vor allem in deinen Armen. Nach zwei Jahren am Konservatorium solltest du langsam anfangen, daran zu arbeiten.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann schmerzhaft weiterzuschlagen. Sie war nicht zufrieden mit mir. Wie immer. Dabei gab ich mein Bestes, um vorwärtszukommen, aber es war nicht genug.

Amélie: Ich arbeite daran, versprochen.

Spannung in den Armen. Ich machte mir eine innere Notiz, dass ich in nächster Zeit besonders viel Fokus darauf legen würde, um Maman stolz zu machen.

Gerade, als ich mein Handy beiseitelegen wollte, leuchtete eine neue Nachricht von ihr auf.

Maman: Ich habe uns für heute Abend einen Tisch im Maison Colène reserviert. Ich komme mit dem Zug in die Stadt. Holst du mich in dreißig Minuten am Bahnhof ab?

Zwei Nachrichten meiner Mutter und beide sorgten für kurze Aussetzer meines Herzens. Sie kam heute spontan in die Stadt, um mit mir essen zu gehen? Das konnte nur eins bedeuten: Entweder wollte sie mir irgendeinen Erfolg der Firma verkünden oder es ging um mich und meine Karriere. Auf beides würde ich gern verzichten.

Während meine Finger über die Tastatur flogen und Maman versicherten, dass ich sie abholen würde, wurden meine Hände so schwitzig, dass ich sie danach an meinem Handtuch abwischen musste, in das meine Haare bis vor wenigen Minuten noch eingewickelt gewesen waren.

Plötzlich wieder voller Energie sprang ich vom Bett auf und begann, meine Haare fertig zu föhnen, bevor ich in eine cremefarbene Bluse der Marke Durand schlüpfte und eine dunkelblaue Jeans dazu anzog. Maman würde bereits in dreißig Minuten am Bahnhof ankommen und ich brauchte in jedem Fall fünfzehn bis dorthin. Und da sie es hasste, zu warten, legte ich in Rekordgeschwindigkeit ein bisschen Make-up und Puder auf, tuschte meine Wimpern und verließ dann das Wohnheimzimmer, noch bevor Valérie mit dem Duschen fertig war.

Kapitel 2

Meine Augen suchten die Anzeigetafeln am Bahnhof hektisch nach der Nummer des Gleises ab, auf dem meine Mutter in diesem Augenblick ankommen sollte.

Der Lärm der bremsenden Waggons übertönte die blecherne Ansage, die gerade aus den Lautsprechern ertönte. Daneben drängten sich unzählige Stimmen der vielen Menschen in mein Ohr, die durch die große Halle hetzten.

Als ich endlich den richtigen Zug auf der Anzeigetafel fand, stellte ich fest, dass er Verspätung hatte. Ich atmete tief durch und versuchte, mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Es war alles gut, der Zug hatte zehn Minuten Verspätung, somit war ich mehr als pünktlich.

Während ich zum richtigen Gleis lief, fiel mir eine kleine Boulangerie am Rand der Bahnhofshalle ins Auge, vor der eine Schlange Reisender anstand, um sich einen Proviant für die Fahrt zu besorgen. Da ich noch einige Minuten übrighatte, beschloss ich, dort noch einen Kaffee für Maman zu kaufen, da ihre Laune sehr stark von ihrem Koffeinpegel abhing. Die Schlange wurde zum Glück schnell kürzer, sodass ich keine drei Minuten später den heißen Pappbecher in der Hand hielt.

Auf dem Weg die Treppe nach oben zum richtigen Gleis holte ich den kleinen Taschenspiegel heraus, den ich mir noch schnell eingesteckt hatte, und kontrollierte ein letztes Mal mein Aussehen. Das Make-up sah in Ordnung aus und meine langen blonden Haare fielen mir glatt über die Schultern. Das Einzige, das mir nicht gefiel, waren meine Augen. Sie starrten mich leblos in ihrem blassen Blau durch die tiefschwarz geschminkten Wimpern an.

Mit schnellen Schritten stieg ich die letzten Stufen hinauf und klappte den Spiegel gerade wieder zu, als sich auf einmal etwas Heißes über meine Bluse ergoss.

»Was zum …?«, fluchte ich und warf die Arme zur Seite.

»Mist, das wollte ich nicht. Sorry.« Mein Blick fiel auf den Typen, der mit zerzausten Haaren und Backpacking-Rucksack vor mir stand. Er war so groß, dass ich trotz meiner überdurchschnittlichen Größe den Kopf etwas in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Blick glitt von meinem Oberkörper hinauf zu meinen Augen und blieb daran hängen. Er hatte seine Lider vor Schock weit aufgerissen. Als ich den Kopf senkte, fiel mir der Coffee-to-go-Becher auf, den er in seinen Händen hielt, dessen Inhalt allem Anschein nach aber unversehrt war. Wie viel Pech konnte ich haben? Es reichte nicht, dass der Stoff meiner Bluse unangenehm an meiner Haut klebte, nein, es musste auch der Kaffee für meine Mutter sein, der nun mein Oberteil zierte.

»Scheiße, kannst du nicht aufpassen?«, blaffte ich ihn vollkommen überfordert von der Situation an und betrachtete die Sauerei. Normalerweise redete ich nicht in solch einem Ton und schon gar nicht mit Fremden, aber die aufkeimende Panik wegen des ruinierten Oberteils sorgte dafür, dass die Worte nur so herauspurzelten. »Das gibt’s doch nicht.«

»Das war doch keine Absicht«, verteidigte er sich und wandte sich dann mit einem Schulterzucken an mich. »Du bist da auf einmal so aufgetaucht und hast ja auch nicht geschaut, wo du hingehst.«

Schnell zückte ich eine Packung Taschentücher und versuchte, den Kaffeefleck wegzuwischen. Als ich jedoch bemerkte, dass ich ihn nur noch mehr in die Fasern des teuren Stoffes rieb, gab ich es auf.

»Verdammt«, murrte ich und warf das Knäuel in den nächsten Mülleimer.

Menschen drängten sich an uns vorbei, um rechtzeitig ihre Züge zu erreichen, und ich fragte mich, ob ich mich nicht einfach umdrehen und die Flucht ergreifen sollte. Das Treffen mit Maman würde ohnehin schon nicht einfach werden, warum also verpasste mir das Schicksal einen Schlag nach dem nächsten? Schlampiges Aussehen konnte Maman sogar fast noch weniger leiden als Unpünktlichkeit. Ehe ich mir weiterhin Gedanken über die Ungerechtigkeiten des Universums machen und mir einen Fluchtplan zurechtlegen konnte, wandte ich mich ab, um zu gehen.

»Hey, warte mal!«, rief mir der Backpacker hinterher.

Abrupt blieb ich stehen und ballte die Hände zu Fäusten. »Was willst du? Mir den anderen Kaffee auch noch überschütten?« Mein Mund plapperte, ohne Halt zu machen. Obwohl Maman noch nicht einmal angekommen war, nagte diese schreckliche Nervosität an mir. Ihretwegen konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.

Er zog die Augenbrauen zusammen, wobei sich seine Stirn leicht runzelte. »Nein, ich …«, er streckte mir seinen Kaffeebecher entgegen. »Hier. Nimm doch den. Hab auch nicht reingespuckt.« Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Skeptisch kniff ich die Augen zusammen und betrachtete ihn genauer. Was ging in seinem Kopf vor? Warum war er nett, obwohl ich ihn derart angefahren hatte?

Dem Aussehen nach zu urteilen, konnte er nicht viel älter als ich sein. Vielleicht ein, zwei Jahre. Dennoch wirkte irgendetwas an ihm reifer, nur konnte ich nicht genau sagen, was es war. Vielleicht die kleinen Falten, die sich neben seinen Augen bildeten, wenn er so frech grinste, obwohl er meine Bluse zerstört hatte. Oder die Cargohose, die er trug, passend zu dem Rest seines Backpackeroutfits.

Der Fremde zog die Augenbrauen abwartend nach oben. »Willst du ihn jetzt, oder nicht?«

»Du gibst mir freiwillig deinen Kaffee?«, hakte ich misstrauisch nach und spitzte die Lippen. Das Angebot klang verlockend. Ich hatte keine Zeit mehr, einen Neuen für meine Mutter zu besorgen, aber es wäre ein guter Anfang für diesen Abend. Oder zumindest würde es positiv von dem Fleck auf meiner Bluse ablenken.

Er wiegte den Kopf hin und her. »Um ehrlich zu sein ist es nicht meiner, sondern der meines besten Freundes. Aber der hat vorhin im Zug so einen ekligen Chiliburger bestellt und musste jetzt … ganz dringend wohin. Also befürchte ich, dass der Kaffee sowieso kalt ist, bis er ihn trinken kann.«

Ich runzelte die Stirn.

»Jetzt nimm schon, der ist nicht vergiftet oder so. Sonst wachsen dir die Falten auf der Stirn noch fest.«

Perplex von seiner Aussage riss ich die Augen auf und glättete meine Stirn. Ein paarmal klappte mir der Mund auf und zu, aber mir fiel kein Konter ein. Das Lächeln saß perfekt auf seinen Lippen und die Augen strahlten in einem dunklen Braunton. Schließlich presste ich nur ein leises »Danke« hervor und nahm ihm den Kaffeebecher ab. Dann wollte ich mich schon wieder an ihm vorbeischieben, als ich nochmal stehen blieb. »Ist da Zucker drin?«

Verwundert blickte er mich an. »Äh, nein. Ich glaub nicht.«

»Gut.« Denn das war noch eine Sache, die für meine Mutter der blanke Horror war: Zucker. Von klein auf hatte sie mir eingebläut, dass jegliche Art von ungesundem Essen – vor allem Süßigkeiten – für mich tabu waren, weil ich als Ballerina kein Gramm zu viel wiegen durfte.

Ich warf einen letzten Blick in sein Gesicht, das trotz der Verwunderung über meine Frage erheitert wirkte, und ließ ihn dann endgültig stehen.

Inzwischen war der Zug eingefahren und die Türen öffneten sich, was mein Herz zum Stolpern brachte. Meine Kehle war staubtrocken. War es normal, dass man so nervös war, wenn einen die eigene Mutter besuchte? Für mich war es jedenfalls immer so. Obwohl meine Eltern wie ich in Paris lebten, sah ich sie nur selten. Das Ballettstudium machte es mir nicht allzu oft möglich, nach Hause zu fahren. Und selbst wenn es doch so wäre, würde es ihnen überhaupt nicht auffallen, weil sie viel zu sehr mit ihrem Unternehmen beschäftigt waren. Schon immer hatte ich um jeden Funken Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Inzwischen war ich es leid.

Ich entdeckte meine Mutter sofort, als sie aus dem Waggon stieg. Mit ihrem senfgelben Bleistiftrock, der weißen Bluse mit großer Schleife am Hals, den farblich dazu passenden Pumps und der übergroßen Sonnenbrille war sie nicht zu verkennen. Auch ihre blonden Haare saßen so perfekt wie immer.

Wie jedes Mal, wenn ich sie nach längerer Zeit wiedersah, breitete sich ein Kloß in meinem Hals aus.

Mit einem Mal schluckte ich all meine Gefühle hinunter und sperrte sie ganz weit weg. Irgendwie musste ich mich gegen das wappnen, was sicherlich wieder auf mich einstürzen würde. Mamans Meinung. Ihre Kritik. Ihr Urteil …

Tief einatmend ging ich auf sie zu. Doch bevor ich sie begrüßen konnte, nörgelte sie bereits los. »Dein Vater wird heute Abend was zu hören bekommen. Da brauche ich einmal den Fahrer und er plant ein Meeting außerhalb der Stadt. Zwingt mich dazu, den Zug zu nehmen.«

»Salut, Maman.«

Sie blieb stehen und nahm die Sonnenbrille ab, um mich von oben bis unten zu mustern. »Wie siehst du denn aus?«, wollte sie wissen und deutete mit ihrem perfekt manikürten Finger auf meine ruinierte Bluse.

»Tut mir leid … mir wurde Kaffee drübergeschüttet.« Schnell reichte ich ihr den Pappbecher, den ich immer noch in der einen Hand hielt – nicht nur, um ihr die Details zu ersparen, sondern weil ich die Missbilligung bereits in ihren verengten Augen aufblitzen sah.

»Wenigstens eine denkt an mein Wohlergehen.« Sie stöhnte erleichtert und nahm einen großen Schluck. »Aber so kannst du nicht ins Restaurant. Wir müssen vorher ohnehin noch ins Konservatorium, weil ich noch einige Angelegenheiten mit Madame Roux zu besprechen habe. Währenddessen kannst du dich umziehen.«

Ich runzelte die Stirn. »Welche denn?«

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Die Marke Durand hat eine beträchtliche Spende für das Konservatorium geleistet.«

Eine … was? Ich glaubte, mich verhört zu haben. War das ihr Ernst? War sie nur deshalb hergekommen?

Sofort fing meine innere Stimme an, mich auszulachen und zu verhöhnen. Sie war nicht meinetwegen hier, um mich zu sehen und Zeit mit mir zu verbringen. Nein, sie war gekommen, um etwas für das Unternehmen zu erledigen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Es machte mich sauer, aber natürlich sprach ich keinen meiner Gedanken aus. Stattdessen nickte ich nur. »Okay.«

Kapitel 3

»Wo warst du denn so plötzlich?«, begrüßte mich Valérie, die mit ihrem Handy in der Hand auf dem Bett lag, als ich das Zimmer betrat.

»Hab meine Mutter vom Bahnhof abgeholt«, murmelte ich und zog eine frische Bluse aus dem Kleiderschrank. Es war ebenfalls ein Designerstück der Modemarke meiner Familie, weswegen der Name Durand in geschwungener Schrift auf dem Etikett stand. Ich trug diese Sachen, um ab und zu das Gefühl zu haben, tatsächlich in diese Familie zu gehören. Oder zumindest optisch hineinzupassen.

»Du klingst nicht begeistert«, stellte meine Mitbewohnerin fest. Ich hörte hinter mir, dass sie sich aufsetzte und das Handy auf dem hölzernen Nachttisch ablegte.

Die Türen des Schrankes quietschten, als ich sie schloss.

Als Valérie klar wurde, dass ich nichts erwidern würde, fuhr sie fort: »Und jetzt geht ihr essen?«

»Jep«, antwortete ich knapp und bürstete mir noch einmal durch die Haare, die vom Wind zerzaust waren.

Valérie stand auf. »Na dann viel Spaß. Ich gehe jetzt noch eine Runde laufen vorm Abendessen.«

»Jetzt noch?« Ruckartig drehte ich mich zu ihr um. Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog. Valérie war diszipliniert. Ehrgeizig. So, wie ich es sein sollte.

»Klar. Von nichts kommt nichts.« Sie schnappte sich ihre Kopfhörer. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie bereits Laufkleidung anhatte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Während ich mir in einem noblen Restaurant den Magen vollschlug, würde sie an ihrer Ausdauer arbeiten. Sollte ich nicht lieber dasselbe tun? Ein Blick in den Spiegel genügte, um mir die Unzufriedenheit mit meinem Körper wieder vor Augen zu führen. Ich sollte definitiv lieber Sport machen. Nur konnte ich das Essen nicht einfach ausfallen lassen und mich stattdessen dem Training hingeben.

»Na dann. Wir sehen uns später«, verabschiedete sie sich und winkte mir noch kurz zu. Dann war sie auch schon aus unserem Zimmer verschwunden und ich wechselte meine Bluse.

»Da bist du ja endlich.« Meine Mutter verdrehte die Augen.

»Wir hatten doch eine halbe Stunde vereinbart, oder?« Es waren gerade einmal fünfzehn Minuten vergangen. Nach dem Umziehen hatte ich mich noch ein paar Minuten ausgeruht und meine Gedanken sortiert, um den Abend heute gut zu überstehen.

»Ich war doch schneller fertig. Jetzt komm. Ich habe einen Tisch für sieben Uhr reserviert.«

Ich folgte meiner Mutter nach draußen, wo uns die warme Abendluft empfing. Es war Juni und deswegen auch noch um diese Uhrzeit taghell. Das Restaurant lag nur wenige Gehminuten vom Konservatorium entfernt. Wir liefen durch den angrenzenden Parc de la Villette und überquerten den Canal de l’Ourcq. Der Park war der größte in Paris und deshalb auch immer gut besucht. Viele Familien saßen an den Spielplätzen, wo sich die Kinder vor dem Schlafengehen noch austoben konnten. Auf dem Rasen wiederum sah man viele junge Menschen sitzen, die miteinander lachten und den schönen Sommerabend genossen.

Keine fünf Minuten später kamen wir bei dem Restaurant an, wo uns ein Mann im Smoking zunickte und die Tür öffnete.

Drinnen ertönte leise Klaviermusik, was die noble Atmosphäre unterstrich, genauso wie das viele Besteck und die hohen Kerzen auf den Tischen. Zu oft war ich schon in diesen schicken Restaurants gewesen, in denen man viel zu viel Geld für einen Salat bezahlte. Und immer noch konnte ich mich nicht damit anfreunden.

»Wir haben einen Tisch auf den Namen Durand reserviert«, teilte Maman dem Kellner mit, der uns in Empfang nahm. Er nickte leicht und deutete hinter sich. »Gleich hier hinten, Madame Durand.« Er führte uns an einen freien Tisch, an dem ich mich meiner Mutter gegenübersetzte.

»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken servieren?«

»Ich nehme ein Glas Ihres prestigeträchtigsten Weines und für meine Tochter ein Wasser, bitte.« Weil Wein zu viele Kalorien hat, hörte ich Mamans Stimme in meinem Kopf.

»Das Essen hier ist großartig. Dein Vater und ich waren letztens erst hier.«

Mein Kopf schnellte von der Karte hoch. »Ihr wart hier? Warum habt ihr nicht Bescheid gegeben, dass ihr in der Nähe seid?« Obwohl es mir jedes Mal vor den Treffen mit meinen Eltern graute, versetzte es mir einen Stich, dass sie mich nicht einmal gefragt hatten, ob wir uns sehen wollten. Schließlich waren sie immer noch meine Eltern, und alles, was ich tat, tat ich für sie. Weil ich sie stolz machen wollte. Weil ich …

»Wir waren nur für ein Geschäftsmeeting mit einem neuen Vertriebspartner in der Stadt und haben danach eine Kleinigkeit gegessen, bevor wir ins Büro mussten. Da war keine Zeit, Amélie.«

Als der Kellner zurückkam, krampfe sich mein Magen zusammen. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, gleich etwas zu essen. Ich sollte doch eigentlich wie Valérie Kalorien verbrennen und nicht welche zu mir nehmen.

Meine Mutter bestellte einen Fenchel-Gurkensalat mit Lachs und Datteln.

»Und was darf ich Ihnen servieren, junge Dame?«, fragte mich der Mann mit Schnauzer und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Mamans Blick lag auf mir, als mir Hitze durch den Körper schoss. Schnell klappte ich die Karte zu und stieß dabei gegen Mamans Weinglas.

»Pass auf.« Sie reagierte so schnell, dass sie es gerade noch zu fassen bekam. Dennoch kassierte ich einen strengen Blick.

»Tut mir leid«, murmelte ich und reichte dem Kellner die Karte. Ich spürte, wie mir Röte in die Wangen stieg. »Einen gemischten Salat, bitte.« Der Kellner nickte und verschwand dann in die Küche. Angespannt warf ich einen Blick zu ihr, aber da sie meine Bestellung nicht kritisierte, sondern gleich mit einem anderen Thema fortfuhr, ging ich davon aus, dass sie zufrieden damit war.

»Amélie, ich musste vorhin von Madame Roux erfahren, dass du beim Nussknacker für die Jahresaufführung in die zweite Reihe gestellt wurdest.« Sie nippte an ihrem Wein und mein Körper spannte sich unweigerlich an. Da war es. Das Thema, auf das ich schon die ganze Zeit gewartet hatte. Denn das war das Einzige, das für meine Eltern zählte. Fortschritte. Ergebnisse. Erfolg. Ich wusste genau, warum ich es ihr nicht erzählt hatte. Laut Monsieur Fournier befand ich mich im oberen Drittel der Klasse, aber auch das reichte nicht, denn meine Eltern wollten, dass ich für die Aufnahme in den Chor des Pariser Opernballetts vortanzte. Die Pariser Oper war eine der besten Ballettkompanien der Welt und dementsprechend heißbegehrt unter den Studierenden. Allerdings wurden jährlich nur wenige neue Tänzer aufgenommen, was den Konkurrenzkampf nur noch größer machte. Deshalb war die Chance, überhaupt für ein Vortanzen ausgewählt zu werden, verschwindend gering. Und damit auch die Chance auf ein besseres Verhältnis zu meinen Eltern.

»Ich …«, begann ich, wusste aber nicht so genau, was ich sagen sollte. Was erwartete sie denn? »Das stimmt. Ich komme nicht so ganz mit Madame Roux’ Unterricht klar. Aber Monsieur Fournier meinte letztens, dass ich mich in seiner Choreo gesteigert hätte.«

Sie schwenkte den Wein in ihrem Glas hin und her. »Und sonst?« In ihrem Ton schwang ein Hauch Hoffnung mit. Sie klammerte sich daran wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring. Doch ich war wie die Flut, die ihre Hoffnung mit einem einzigen weiteren Satz fortspülen würde. »War’s das schon mit Fortschritten?« Ich entschied mich dafür, zu schweigen, und zuckte bloß mit den Schultern, während mir das Herz schmerzhaft gegen meine Rippen schlug.

»Amélie, wir bezahlen diese Ausbildung nicht, damit du faulenzen kannst. Du musst trainieren, um besser zu werden.«

Der vorwurfsvolle Ton meiner Mutter ließ mich die Zähne zusammenbeißen. »Ich weiß. Ich trainiere doch.«

»Offensichtlich nicht genug. Sonst wärst du im letzten halben Jahr besser geworden.«

»Aber ich bin doch besser geworden«, verteidigte ich mich und fing mir dafür gleich einen tadelnden Blick meiner Mutter ein.

»Hör auf, mir ständig zu widersprechen. An dem Video, das du mir heute geschickt hast, habe ich gesehen, dass deine Arme noch immer so schwabbelig sind wie vor ein paar Monaten«, zischte sie und strich sich dann eine mit Haarspray verklebte Strähne aus dem Gesicht.

Ihre Worte waren wie Messerstiche in meine Brust. Ich hatte ihr das Video geschickt, um sie stolz zu machen. Wieder einmal hatte ich das nicht geschafft.

Stille breitete sich für einen Moment zwischen uns aus. Nur die sanften Töne des Klaviers und leises Stimmengemurmel der anderen Gäste waren zu hören.

Ein paar Minuten später brachte der Kellner die Gerichte. Maman fing sofort mit dem Essen an, während ich in meinem Salat herumstocherte, als hätte er es nicht verdient, gegessen zu werden. Nur dass es eher andersherum war. Wenn dann hatte ich es nicht verdient, ihn zu essen. Und so etwas wie Appetit hatte ich sowieso schon lange nicht mehr verspürt. Essen war für mich etwas Notwendiges. Aber nichts, über das ich mich freute oder das ich genießen konnte. Vor allem seitdem ich am Konservatorium studierte, kontrollierte ich ganz genau, was ich zu mir nahm, um dünn genug zu bleiben. Denn das war die Mindestvoraussetzung, um überhaupt eine Chance in der professionellen Ballettbranche zu haben.

»Wie läuft es mit deinem Audition-Video?«, fragte meine Mutter, als ihr Teller leer war.

»Gut. Ich … bin so gut wie fertig damit.« Das war gelogen, aber ich verkraftete keine weitere Standpauke.

Meine Mutter tupfte sich den Mund mit der Stoffserviette ab und nickte. »Immerhin etwas.«

Ich legte die Gabel beiseite und schob den Teller von mir. »Schmeckt es dir nicht?«, wollte meine Mutter wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein … also doch, aber ich habe keinen Hunger.«

Sie erwiderte nichts darauf und ich fragte mich ernsthaft, was ich von dem Abend erwartet hatte. Dass sich meine Mutter in den letzten drei Monaten, in denen wir uns nicht gesehen hatten, um 180 Grad gedreht hatte und mich auf einmal für das, was ich tat, lobte? Ich schnaubte innerlich. Eine absurdere Hoffnung gab es nicht. Es war nie genug, was ich tat. Ich war nicht das Vorzeigekind so wie mein Bruder Alexandre.

»Ich muss jetzt langsam los, die neue Kollektion wird morgen besprochen, das wird ein langer Tag«, riss mich meine Mutter schließlich aus den Gedanken und bedeutete dem Kellner, dass sie zahlen wollte.

»Wie geht es Papa?«, fragte ich, weil ich auch ihn seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Und das, obwohl ich zu meinem Vater eigentlich ein besseres Verhältnis hatte als zu meiner Mutter. Wenigstens machte er mir nicht ständig Vorwürfe. Er war einfach nie da.

»Gut«, antwortete sie knapp, womit das Thema auch schon wieder abgehakt war. Nach meinem Bruder brauchte ich gar nicht fragen. Bei ihm sah ich auf seinem Social-Media-Kanal oft genug, wie prächtig es ihm erging. Er reiste von Zeit zu Zeit durch die Welt und vertrat die Firma auf jedem Kontinent, weswegen ich ihn noch seltener als meine Eltern zu Gesicht bekam.

Maman bezahlte und dann machten wir uns auf den Weg nach draußen, wo ihr Chauffeur bereits wartete.

»Mach’s gut, Amélie«, sagte sie zur Verabschiedung und ich wusste genau, wie sie das meinte. Nämlich wortwörtlich. Ich sollte mich gut machen im Studium.

»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte ich, bevor sie in den Wagen stieg. »Wir könnten als Familie mal wieder etwas unternehmen«, schlug ich mit klopfendem Herzen vor.

»Natürlich«, gab sie zurück und ich traute meinen Ohren kaum. Aber was dann kam, machte diesen winzigen Hoffnungsschimmer auch schon wieder zunichte. »Wir geben bald eine kleine Soirée bei uns zu Hause. Da solltest du auch kommen.«

Ich ließ die Schultern hängen. War das ihr Ernst? Das verstand meine Mutter unter einem Familienausflug? Eine Soirée, bei der alle schicke Cocktailkleider trugen und mit einem aufgesetzten Lächeln miteinander plauderten?

Ich ballte meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen bohrten.

»Bis bald, Maman«, sagte ich nur, atmete tief durch und machte dann auf dem Absatz kehrt.

Zurück im Konservatorium stieß ich die Tür zu meinem Zimmer auf und das Erste, was ich entdeckte, war Valérie, die am Boden saß und sich dehnte.

»Hey«, sagte sie und wechselte die Seite ihres Spagats. Sie musste wohl gerade erst vom Training zurückgekommen sein, was ich aus ihren Sportklamotten schloss, die sie noch trug. Sie war eine der Besten in unserem Jahrgang und ehrgeiziger als jeder andere hier, was ich in solchen Momenten immer wieder bemerkte.

Entnervt schlug ich die Tür hinter mir zu und warf meine Ballerinas in die Ecke neben dem Bett.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Es ist nichts«, brummte ich.

Valérie wusste einiges über mich, das Verhältnis zu meiner Familie und meine Probleme beim Tanzen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es in meinem Inneren aussah. Sie wusste nichts von den Dämonen, die mich regelmäßig heimsuchten und mich mit sich in den Abgrund rissen. Es mochte sein, dass es mir vielleicht helfen würde, wenn ich jemandem von meinen Problemen und Gedanken erzählen würde. Jedoch erschien es mir unmöglich, mich vollständig zu öffnen. Schon gar nicht ihr. Alles, was sie zu sehen bekommen würde, wäre Schwäche. Schwäche, die mich angreifbarer machen würde.

Valérie verdrehte ihre Augen und warf die umwerfend schönen braunen Locken nach hinten. Ihre Haut war dunkler als meine, weil sie ursprünglich aus Mauritius kam. Sie war vorletztes Jahr ohne ihre Eltern hierhergezogen, um Karriere als professionelle Tänzerin zu machen. »Ich sehe doch, dass irgendwas ist. Rück schon raus mit der Sprache.«

Ich griff nach der Bürste, die auf dem Schreibtisch lag, und fuhr mir damit durch die vom Wind zerzausten Haare. »Ich will nicht darüber reden.«

Daraufhin zuckte meine Mitbewohnerin mit den Schultern und beendete ihre abendliche Dehneinheit. Eigentlich sollte ich mich jetzt dazusetzen und genau dasselbe tun. Aber ich brachte es nicht über mich. Mein Körper fühlte sich zu ausgelaugt an, um auch nur noch einen Schritt mehr als bis zu meinem Bett zu tätigen.

Ich band mir schnell die Haare zu einem hohen Zopf, zog mich hinter der geschlossenen Badezimmertür um, putzte mir die Zähne und schlüpfte unter meine Bettdecke.

Kapitel 4

Es war erst sieben Uhr morgens, als ich mich am nächsten Tag aus dem Bett quälte, um vor dem Tanztraining joggen zu gehen. In der Nacht hatte ich viel über die Worte meiner Mutter nachgedacht und schließlich festgestellt, dass sie recht hatte. Ich musste mich mehr anstrengen und noch härter trainieren, um meine Ziele zu erreichen. Ich brauchte einfach mehr Disziplin. Deshalb beschloss ich, direkt damit zu beginnen. Eine Runde Joggen war ein guter Anfang.

Valérie schlief noch, als ich aufstand und mich anzog. Ich schlüpfte schnell in lilafarbene Leggings und das passende Oberteil und zog meine Laufschuhe an, ehe ich das Zimmer verließ und die Tür leise hinter mir zuzog. In den Gängen war es vollkommen still. Dienstags hatten wir erst um neun Uhr Unterricht und somit schliefen noch alle.

Während ich auf die Tür zuging, dehnte ich meine Arme und kreiste bei jedem Schritt meine Fußgelenke, um sie zu lockern. Dann drückte ich die schwere Tür auf, trat nach draußen und lief direkt gegen die Brust eines Mannes.

»Woah!«, rief er und ich sah nur noch, wie sich der Kaffee in seiner Hand über mich ergoss. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein!

Ich riss den Kopf nach oben und starrte in dieselben braunen Augen wie gestern am Bahnhof. »Was machst du denn hier? Verfolgst du mich? Und hast du nichts Besseres zu tun, als Tag für Tag meine Sachen mit Kaffee zu ruinieren?«, blaffte ich ihn an.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als immer wieder in mich reinzulaufen?«, entgegnete er und sein Blick wanderte meinen Körper hinab und dann wieder zu meinem Gesicht.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Dreh den Spieß nicht um.«

Er hob beschwichtigend die Hände und tat so, als würde er mit einem unsichtbaren Schlüssel seinen Mund zusperren und diesen anschließend wegwerfen.

Ich verdrehte die Augen. »Verdammt«, seufzte ich und zog mein Shirt von meinem Oberkörper weg, um den riesigen Kaffeefleck besser begutachten zu können. Zum Glück war der Kaffee nicht mehr heiß gewesen, sonst hätte ich mir bei diesem dünnen Shirt auch noch Verbrühungen zugezogen.

Immer noch die Lippen aufeinandergepresst zog der Kerl ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und streckte es mir hin.

»Nein danke, dass das nicht funktioniert, haben wir gestern schon gesehen. Was machst du überhaupt hier?«, fragte ich und hörte, wie der Kaffeetyp theatralisch nach Luft schnappte.

»Ich darf wieder sprechen?«, fragte er gespielt entsetzt mit hochgezogenen Augenbrauen und Hand auf der Brust.

Als ich aber auf das alberne Spielchen nicht einstieg, sondern einfach schwieg, räusperte er sich und sein Lächeln verschwand. »Ich habe heute meinen ersten Tag.«

»Deinen ersten Tag als was? Als Kaffeelieferant?«, hakte ich mit gereiztem Unterton in der Stimme nach.

»Fast richtig geraten«, sagte er und lehnte sich lässig mit einer Hand gegen die Gebäudemauer. Der Kerl ließ sich nicht beirren. Jeder andere hätte bei meiner miesen Laune schon lange das Weite gesucht. »Nicht als Kaffeelieferant, als Hausmeister.«

Ich runzelte die Stirn. »Hausmeister?«

Er nickte. »Hausmeister. Du weißt schon: Dinge reparieren, den Innenhof fegen, Glühbirnen austauschen …«

»Ich weiß, was ein Hausmeister macht«, unterbrach ich seine witzelnde Aussage barsch.

Die Frage war eher, warum er hier als Hausmeister anfing und dabei derart motiviert wirkte. Dem Funkeln in seinen Augen nach zu urteilen, war er das nämlich.

»Dann hättest du nicht so fragend gucken sollen.« Ich wollte ihn schon stehen lassen, als er sich mir in den Weg stellte. Wieder einmal. »Und du? Studierst du hier?«

»Mhm«, brummte ich.

»Dann werden wir uns jetzt wohl öfter sehen.« Da war wieder dieses selbstgefällige Grinsen. »Vielleicht gebe ich dir sogar mal einen Kaffee aus, anstatt dir einen übers Oberteil zu kippen.«

»Vielleicht hantierst du besser einfach gar nicht mehr mit Kaffee, wenn du nicht in der Lage bist, ihn einfach nur in der Hand zu halten.« Ich schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, das er augenblicklich erwiderte. Dabei blitzte etwas in seinen Augen auf, das ich nicht deuten konnte. Aber darüber sollte ich mir auch gar keine Gedanken machen.

»Viel Spaß dir beim Dinge reparieren, Innenhof fegen und Glühbirnen austauschen. Ich muss los.« Ich machte auf dem Absatz kehrt, lief die steinernen Treppenstufen nach unten und wollte ihn so schnell wie möglich hinter mir lassen. Leider hatte er andere Pläne.

»Hey, warte mal!«, rief er mir nach. Natürlich drehte ich mich wieder um. Manchmal war ich eindeutig zu höflich.

»Was?«

»Ich bin Lucien. Und du?« Er fuhr sich durch die Haare, die heute tatsächlich noch zerzauster waren als gestern. War das überhaupt möglich?

Ich verengte meine Augen. Konnte er mich nicht einfach in Frieden lassen? Bewusst steckte ich mir einen Kopfhörer ins Ohr, um zu signalisieren, was ich von seiner Frage hielt. »Geht dich nichts an.« Dann folgte der zweite Kopfhörer und ich lief los, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Vollkommen erschöpft und schwer atmend kam ich nach einer Dreiviertelstunde zurück und hielt mir die Seite, als ich mich zu meinem Zimmer schleppte, um mich für den Unterricht fertig zu machen. Schweißperlen rannen über meine Stirn und mein Gesicht musste feuerrot sein, so sehr wie es brannte. Ich hatte alles gegeben beim Laufen, denn ich musste meiner Familie beweisen, dass ich nicht das faule Mädchen war, für das sie mich hielten. Ich musste ihnen beweisen, dass ich etwas schaffte und sie stolz auf mich sein konnten. Und da Ausdauer beim Ballett unglaublich wichtig war, würde ich ab jetzt öfter vor dem Unterricht laufen gehen.

Inzwischen war es nicht mehr so ruhig auf den Gängen. Einzelne Tänzerinnen waren schon fertig angezogen und machten sich auf den Weg zu den Unterrichtsräumen. Andere schlichen im Schlafanzug zu den Gemeinschaftsduschen, die ich zum Glück nicht benutzen musste.

Als ich ins Zimmer kam, war Valérie schon weg und ich machte mich nur kurz mit einer Tonne Deo und klarem Wasser frisch, weil ich sowieso gleich wieder schwitzen würde. Dann streifte ich mir die Sportklamotten ab und tauschte sie gegen eine beige Strumpfhose, ein schwarzes Balletttrikot, dessen Träger sich am Rücken kreuzten, und zog mir dann kurze schwarze Ballettshorts drüber. Anschließend band ich meine Haare zu einem strengen Zopf nach hinten und drehte sie zu einem Knoten ein. Ungefähr zehn Haarnadeln und ein Haarnetz zur Befestigung später schnappte ich mir meine fertig gepackte Trainingstasche und machte mich ebenfalls auf den Weg zu den Tanzsälen.

Als ich den Raum betrat, waren alle anderen Tänzerinnen und Tänzer bereits dabei, sich aufzuwärmen. Einige dehnten sich, andere übten Pirouetten und wieder andere die neuen Schrittabläufe. Ich stellte meine Tasche am Rand ab, zog meine Shorts wieder aus und fischte meine Ballettschläppchen heraus, die ich mir anschließend über die Füße stülpte.

»Guten Morgen, stellt euch bitte auf, wir fangen an«, begrüßte uns Monsieur Fournier und klatschte dabei auffordernd in die Hände. Seine dunklen Haare waren zurückgekämmt und er trug wie die anderen männlichen Tänzer ein weißes Shirt zu schwarzen Leggings.

Sofort standen alle auf und begaben sich auf ihre Plätze. Ich stellte mich an die Stange zwischen Valérie und Julie, schloss kurz die Augen, um meine innere Mauer wieder hochzuziehen, und hob dann das Kinn.

»Hey«, flüsterte Julie mir zu, woraufhin ich ihr nur ein gepresstes Lächeln schenkte. Dann legte ich eine Hand auf die Stange und atmete tief durch. Meine Beine fühlten sich von der Joggingrunde wie Wackelpudding an. Meine Kondition ließ echt zu wünschen übrig. Noch ein Grund, öfter laufen zu gehen. Nach ein paarmal würde ich daran gewöhnt sein. Heute aber musste ich das unangenehme Gefühl einfach aushalten. Und irgendwie war ich sogar dankbar dafür. Der brennende Schmerz in meinen Muskeln zeigte mir, dass ich etwas geleistet hatte. Dass ich über meine Grenzen gegangen war.

Monsieur Fournier spielte leise Klaviermusik ab und wies uns an, unser tägliches Aufwärmritual zu vollführen. Augenblicklich fingen alle an, Pliés zu machen, abwechselnd mit Relevés, dem genauen Gegenteil davon, wobei wir aus dem Plié auf halbe Spitze gingen. Danach folgte eine Drehung an der Stange, die wir mit grazilen Armbewegungen unterstrichen. Ich versuchte, die Spannung im Körper bei jeder Bewegung zu halten, denn Spannung war das Allerwichtigste. Sie bedeutete Körperbeherrschung.

Einige Zeit später hatten wir uns von den Stangen entfernt und uns in der Mitte des Raumes in drei Reihen aufgestellt. Wir bewegten uns weiter zur leisen Musik, während Monsieur Fournier durch den Saal ging. Hier und da korrigierte er eine Position oder Bewegung. Als er bei mir ankam, verkrampfte sich unweigerlich mein ganzer Körper. »Schultern lockerer«, wies er mich an. »Und Zehenspitzen weiter nach außen.« Gerade stand ich in der Arabesque, wobei ich ein Bein nach hinten oben streckte. Monsieur Fournier griff nach meinem gehobenen Fuß und drehte ihn noch ein Stück weiter nach außen. Das schmerzhafte Ziehen in meinen Sehnen brachte mich dazu, die Zähne aufeinanderzupressen.

»Weiter«, sagte er und ich kam in die Ausgangsposition für eine Pirouette. Ich fixierte einen Punkt vor mir und setzte dann zur Drehung an. Der Raum zog an mir vorbei. Einmal, zweimal, dreimal. Und dann landete ich mit einem Bein nach hinten gestellt, einen Arm nach oben und einen zur Seite gestreckt. Mein Herz raste, weil mein Trainer mich immer noch beobachtete. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah mich prüfend an, während ich versuchte, die Position zu halten und mein schwerfälliges Atmen zu verbergen. Denn für eine Ballerina musste immer alles leicht aussehen.

Einen Moment lang blickte er mich an, dann wandte er sich an Valérie. »Zeig ihr, wie es richtig geht.« Valérie drehte sich zu mir um und warf mir ein selbstgefälliges Grinsen zu. Dann wurde sie wieder ernst und vollführte dieselbe Schrittfolge wie ich eben. Für den Durchschnittsmenschen, der mit Ballett nicht viel am Hut hatte, hätte es exakt gleich ausgesehen. Aber ich sah die feinen Unterschiede, genauso wie alle anderen hier. Es ging beim Ballett um Millimeterarbeit und um jeden einzelnen Muskel.

Valérie machte es perfekt. Sie war immer besser als ich und anfänglich hatte es mich auch nicht gestört. Aber mit jedem Mal, mit dem sie gelobt wurde und ich nicht, wuchs die Stimme in mir, die mir sagte, dass ich einfach nicht gut genug war. Sie schrie mir zu, dass ich härter trainieren musste. Und obwohl es wehtat, spornte sie mich auch an, das Beste aus mir herauszuholen. Doch seitdem diese Stimme da war, hatte ich auch das Gefühl, immer schlechter zu werden. Valérie wurde besser. Ich schlechter. Der Unterschied wurde größer und der Gedanke, bald so gut wie sie zu sein, schien in immer weiterer Entfernung zu liegen.

»Gut gemacht, Valérie«, lobte Monsieur Fournier sie und zog dann weiter zum nächsten Schüler.

Auf einmal legte sich sanft eine Hand auf meine Schulter. »Nimm dir das nicht so zu Herzen«, flüsterte Julie hinter mir. »Du bist gut, vergiss das nicht.«

»Tue ich nicht, es ist alles in Ordnung«, erwiderte ich so locker wie nur möglich. Sie sollte nicht sehen, wie diese Situation an mir zehrte. Ich wollte nicht, dass überhaupt jemand hier von meinen Selbstzweifeln wusste.

Auch wenn sie es nett meinte, konnten keine Worte der Welt diesen Sturm an Gefühlen in mir auslöschen.

»Und denkt daran, euch morgen selbstständig aufzuwärmen! Wir fangen direkt mit der neuen Choreographie an!«, rief unser Trainer, als der Unterricht zu Ende war und alle schon dabei waren, ihre Sachen zusammenzupacken und aus dem Saal zu eilen.

Ich packte ebenfalls meine Ballettschuhe wieder in die Tasche und schloss sie, ließ mir dabei allerdings mehr Zeit als die anderen. Ich hatte es nicht eilig, denn der theoretische Unterricht würde erst in zweieinhalb Stunden beginnen, weil eine Dozentin krank war. Außerdem taten meine Beine bei jedem Schritt weh. Monsieur Fournier hatte mich heute noch härter gedrillt als sonst. Meine Muskeln schmerzten und mein Nacken fühlte sich komplett verspannt an. Mit einer Hand fuhr ich darüber und knetete ihn. Aber jedes Mal, wenn meine Finger zudrückten, wurde der Schmerz nur schlimmer. Normalerweise hatte ich dabei wenigstens das Gefühl, dass sich die Verspannung langsam löste, aber nicht dieses Mal. Mein Nacken war immer noch steinhart. Da würde nur eine heiße Dusche helfen.

Ich seufzte, stand auf und warf mir die Tasche über die Schulter. Inzwischen war der Ballettsaal leer. Ich war die Letzte, also schaltete ich das Licht aus und zog die Tür hinter mir zu.

Nach einer kurzen, aber wohltuenden Dusche machte ich mich auf den Weg in den Speisesaal. An der Essensausgabe holte ich mir das Tagesgericht und hielt dann Ausschau nach einem freien Platz. Ich saß am liebsten abseits, um mich beim Essen nicht beobachtet zu fühlen. Außerdem hatte ich meistens keine Lust auf ein Gespräch. Heute war ich ein wenig später dran als sonst, weswegen der Speisesaal bereits ziemlich voll war.

»Amélie!« Julie, die zusammen mit Valérie und ein paar anderen an einem Tisch saß, winkte mich herbei. »Setz dich doch zu uns.« Sie deutete auf den freien Platz neben sich. Schnell überlegte ich, wie es sich vermeiden ließ, sah aber ein, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, wenn ich nicht im Stehen essen wollte. Also ging ich zwischen den Tischreihen zu ihnen und setzte mich neben Julie.

»Zum Glück haben wir danach noch eine Stunde frei«, schwärmte Valérie. »Wie oft kommt es schon vor, dass Madame Bourton mal krank ist?«

»Ich glaube, das hab ich bisher tatsächlich noch nie erlebt«, gab Théo zurück. »Ich würde ja nicht behaupten, dass ich froh bin, dass sie krank ist, aber so eine doppelte Mittagspause könnten sie routinemäßig einführen.«

Lustlos stocherte ich in meinem gebratenen Reis mit Gemüse herum und schob mir ab und an eine halbe Gabel voll in den Mund. Théo und Julie unterhielten sich angeregt über irgendeinen Choreographen, der bald sein neues Stück hier in Paris aufführen würde.

Als ich einmal von meinem Teller aufsah, blieb mein Blick plötzlich an den zwei Menschen hängen, die gerade den Speisesaal betraten. Es waren Madame Roux und … Lucien. Er hatte einen Werkzeuggürtel um die Hüfte gebunden und einen Werkzeugkasten in der Hand. Sie deutete auf eines der Fenster ein paar Tische von uns entfernt und Lucien nickte. Sie schien ihm irgendetwas zu erklären, als sein Blick auf mich fiel. Aus irgendeinem Grund machte mein Herz plötzlich einen Sprung und auf meiner Haut begann es zu kribbeln. Der Blick, mit dem mich Lucien ansah, irritierte mich. Ich konnte nicht deuten, was er dachte. Aber er sah mich so eindringlich an, dass mir warm wurde und ich anfing, unruhig auf meinem Stuhl herumzurutschen.

Ich sollte ihn einfach ignorieren. Er war ein Tollpatsch, der mir die zwei Male, die wir uns begegnet waren, Kaffee übers Shirt geschüttet hatte.

Schnell wandte ich den Blick von ihm ab und widmete mich wieder meinem Essen. Noch immer lag die Hälfte auf meinem Teller. Aber irgendwie war mir die Lust aufs Essen sowieso vergangen. Der Tag hatte mich zu viel Kraft gekostet, obwohl er noch nicht einmal zur Hälfte vorbei war. Die ganzen letzten Wochen waren kräftezehrender als üblich.

»Willst du das nicht mehr?«, fragte Théo plötzlich und deutete auf mein Essen. Ich schüttelte den Kopf und schob ihm den Teller rüber. Sofort stürzte er sich auf den Reis.

»Da will wohl jemand noch groß und stark werden«, witzelte Valérie und grinste Théo spöttisch an. Der verzog den Mund zu einem Lächeln und zwinkerte ihr zu. »Warum wird den Männern hier eigentlich immer eingebläut, dass sie genug essen müssen, um Muskeln aufzubauen, während uns immer gesagt wird, dass wir nicht zu viel essen sollen, um dünn zu bleiben?« Valérie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Weil wir euch Mädels immer heben müssen. Ganz einfach.« Théo zuckte mit den Schultern und schob sich den nächsten Bissen in den Mund. Valérie schnaubte nur.

»Habt ihr eigentlich schon unsere neuen Kostüme gesehen?« Julie wechselte das Thema und ich linste nochmal kurz zu Lucien, der mittlerweile zusammen mit Madame Roux bei den Heizkörpern an der Wand neben der Eingangstür stand und daran herumschraubte. Der Werkzeugkoffer stand neben ihm auf dem Boden und Madame Roux hatte die Hände in die Hüften gestützt, während sie seinen Worten lauschte.

Schnell wandte ich mich wieder ab, aber das Gespräch an unserem Tisch zog an mir vorbei, weil ich mich keine Minute lang darauf konzentrieren konnte. Mein Körper fühlte sich vollkommen kraftlos an und mein Kopf war benebelt von den ganzen Empfindungen der letzten Tage.

»Anscheinend soll die nächste Choreo von Monsieur Fournier ein Mix aus Klassik und Contemporary sein«, meinte Julie plötzlich und Valérie lachte humorlos auf.

»Glaubst du wirklich, dass Fournier so etwas choreographieren würde? Das ist nichts für ihn. Er sagt doch nicht umsonst immer, dass das Wichtigste im Ballett Grazie und Anmut sind.« Sie warf ihre langen Locken zurück. »Wenn dann machen wir das bei Madame Roux.«

»Wir werden sehen. Hauptsache ’ne gute Rolle«, sagte Théo mit vollem Mund und schob meinen leer gegessenen Teller von sich weg.

Kurz war es still, bis sich Valérie plötzlich aufsetzte und ein Stück über den Tisch zu Théo lehnte.

»Hauptsache ein guter Partner bei den Pas de deux.« Ihre Augen funkelten verspielt.

»Fournier weiß, dass wir am besten zusammen funktionieren. Das wird er auch beim nächsten Stück nicht unberücksichtigt lassen«, sagte er und gähnte. Valérie und Théo tanzten die Duett-Parts meistens zusammen, weil sie beide zu den besten aus unserem Kurs zählten.

»So, ich geh schon mal. Ich muss noch den Anatomiestoff vom letzten Mal wiederholen«, fuhr Théo fort und stand auf. »Bis dann.« Eine Sekunde später verschwand er aus der Mensa.

»Ich geh dann auch mal. Bleibt ihr noch sitzen?« Valérie nahm ihr leeres Tablett.

»Wir gehen auch gleich«, antwortete Julie für uns beide.

Als Valérie den Speisesaal verlassen hatte, legte Julie eine Hand auf meinen Arm. »Geht es dir gut?«, fragte sie und sah mich eindringlich an.

Wie automatisch setzte ich mein antrainiertes Lächeln auf. »Natürlich. Alles in Ordnung.« Ich hielt ihrem skeptischen Blick stand, aber ich wusste, dass sie mir nicht glaubte. Dennoch akzeptierte sie, dass ich nicht reden wollte. »Du kannst zu mir kommen, wenn es dir nicht gut geht. Das weißt du, oder?«

»Das ist nett, aber nicht nötig. Ich bin nur ausgelaugt und überlege, wann ich mein Audition-Video für die Kompanien am besten aufnehme«, redete ich mich raus.

»Am besten machst du das ganz spontan, wenn du dich gerade wohlfühlst. Den Tipp hat mir meine alte Lehrerin gegeben. Sie meinte, dass es nichts bringt, sich das ewig vorzunehmen und dann am Tag davor schon nervös deswegen zu sein. Manchmal läuft es einfach besonders gut, und dann ist es am besten, wenn man gar nicht zu lange darüber nachdenkt, sondern einfach macht.«

»Deine alte Lehrerin hatte wohl Ahnung«, gab ich zurück, bezweifelte aber, dass ich den Tipp umsetzen konnte. Die Tage, an denen ich mich wohl und sicher fühlte in dem, was ich tat, hatten in den letzten Monaten immer weiter abgenommen. Ehrlich gesagt konnte ich mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich so einen Tag überhaupt das letzte Mal gehabt hatte. »Ich werde es mir merken.« Ich griff nach meinem Tablett und stand auf. »Bis später.«

»Bis später.« Julie lächelte. Ich erwiderte es erzwungen und bahnte mir dann den schnellsten Weg aus der Mensa.

Kapitel 5

»Zum Glück hat die Schule jetzt endlich jemanden eingestellt, der diese kaputten Fenster reparieren kann«, meinte Valérie, während sie ihre Trainingstasche packte.

Ich brummte zustimmend und kämmte mir meine Haare zurück, bevor ich mir einen straffen, tiefsitzenden Zopf machte. In weniger als einer Stunde ging das Training los, in dem wir eine neue Choreographie lernen würden. Allerdings hatten sich die Gerüchte, dass es sich um einen Mix aus Klassik und Contemporary handelte, als falsch herausgestellt.

»Klopf klopf«, ertönte plötzlich eine Stimme und die Tür schwang auf. Lucien streckte den Kopf herein und sah zwischen Valérie und mir hin und her. »Ich soll ein Fenster reparieren. Bin ich hier richtig im Zimmer von Valérie Martin und Amélie Durand?«, las er von einem kleinen Zettel in seiner Hand vor.

»Mehr als richtig«, antwortete Valérie prompt. »Hat ja auch viel zu lange gedauert, dass das mal einer macht.« Sie stand vom Bett auf und stellte sich provokant vor ihn. »Nur hätte ich nicht gedacht, dass es jemand repariert, der so gut aussieht.«

»Nun … da bin ich. Lucien«, stellte er sich vor.

Sie schüttelte seine Hand und lächelte. »Valérie. Also Lucien … wenn du es schaffst, dass unser Fenster nach dem Training nicht mehr undicht ist, hast du etwas gut bei mir.« Sie trat einen Schritt beiseite.

»Das sollte ich hinbekommen.« Auf Luciens Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

Augenblicklich schoss mir durch den Kopf, wie er mich zuerst am Bahnhof und dann vor der Eingangstür so angelächelt hatte. Sofort zog sich etwas schmerzhaft in meiner Brust zusammen und ich schluckte.

»Super. Ich würde ja gern länger bleiben und deinem hübschen Gesicht beim Arbeiten zusehen, aber ich muss vorm Training noch meine Wäsche in die Maschine werfen.« Sie griff nach dem Korb voller Sportsachen. »Bis gleich.«

Meine Mitbewohnerin verschwand aus dem Zimmer und Lucien ging zu der Fensterbank. Er stellte seinen Werkzeugkasten darauf ab, ehe er sich an mich wandte. »Wenn sie Valérie heißt, musst du Amélie sein.« In seinem Blick lag Zufriedenheit. Wahrscheinlich war er stolz, meinen Namen doch noch herausgefunden zu haben, nachdem ich mich beim letzten Mal geweigert hatte, ihm diesen zu verraten.

Ich steckte mir die letzten Haarnadeln in meinen Knoten und krächzte ein »Ja«.

Reiß dich zusammen, Amélie, sagte ich mir in Gedanken. Denn aus welchem Grund auch immer, brachte mich Luciens Anwesenheit aus dem Konzept. Fast wünschte ich mir, dass Valérie das Wäschewaschen verschoben hätte, nur damit ich nicht allein mit ihm war. Denn plötzlich hämmerte mein Herz und ich wusste nicht, wohin mit mir. Meine Haare waren fertig präpariert und auch sonst war ich schon bereit für den Unterricht, der allerdings erst in vierzig Minuten anfangen würde.

»Also dann«, fuhr er fort, »mach ich mich mal besser ans Reparieren, nicht, dass ihr noch irgendwann krank werdet, wenn es wieder kälter wird in der Nacht.« Ich nickte und versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

In unserem Zimmer breitete sich Stille aus und schließlich hörte man nur noch das Klappern des Werkzeugs.

Setz einfach deine Maske auf, Amélie.

Also rutschte ich vom Bett auf den Boden und fing an, mich zu dehnen, wie es eine Ballerina eben tat, denn das konnte nie schaden. Gerade war ich dabei, mich in den Spagat zu setzen, als Lucien sich umdrehte und mich fragend ansah. »Tut das nicht weh?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist Alltag. Ich bin das gewohnt. Also tut es nicht mehr weh.«

Er schien zu begreifen und lehnte sich lässig mit dem Rücken an die Wand. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und betrachtete mich. »Wie lange machst du das schon?«

Ich ging aus dem Spagat zurück und zog mich wieder aufs Bett hoch. »Was meinst du? Ballett?«

»Ja.«

Ich lachte. »Mein Leben lang. Sonst wäre ich nicht hier.«

Aber Lucien lachte nicht mit. »Deine Füße sind kaputt.« Sofort wurde mir warm und ich verspürte den Drang, meine Füße irgendwo zu verstecken. Sie waren schwielig, krumm und von blauen Flecken sowie Blasen übersät. Das kam alles von den Spitzenschuhen. Ich schob sie übereinander, als würde er sie dann nicht mehr sehen können.

»Das ist normal.«

Er zuckte lässig die Achseln. »Du musst es wissen.«

Ich wandte unsicher den Blick ab und reagierte nicht darauf, was Lucien dazu brachte, wieder das Wort zu ergreifen. »Du redest heute ja normal mit mir.«

Mein Blick schnellte wieder zu ihm. »Du schüttest mir heute ja auch keinen Kaffee über.«

Gut so, Amélie. Lass das Gespräch oberflächlich und zeig, wie selbstbewusst du bist.

»Auch wieder wahr. Aber wenn du willst, kann ich noch schnell einen aus der Cafeteria holen.« In seinen Augen tanzte Belustigung, was auch mir ein Schmunzeln entlockte.

»Das mit deinen Shirts tut mir echt leid«, fuhr Lucien schnell fort.

»Ist schon in Ordnung.«

»War das letztens deine Mutter am Bahnhof?«, wollte er wissen. Warum war er so neugierig und fragte all diese Sachen?

»Mhm.« Ich wippte auf den Fußballen auf und ab, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.

Er runzelte die Stirn. »Das klingt aber nicht glücklich. Habt ihr kein gutes Verhältnis?«

»Warum willst du das alles wissen? Wir kennen uns doch überhaupt nicht.« Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, hatten die Worte schon meinen Mund verlassen. »Du hast recht, tut mir leid.« Luciens Unterkiefer spannte sich an und er wandte sich wieder dem Fenster zu.

Eigentlich war das ja, was ich wollte, oder? Abstand wahren. Aber verdammt, ich wollte ihn doch nicht vor den Kopf stoßen. Er hatte ehrliches Interesse an mir gezeigt und das war nichts Verwerfliches. Aber ich war es einfach nicht gewohnt. In meinem Umfeld gab es sonst niemanden, der wirklich etwas über mich erfahren wollte. Über mich als Person, nicht über meine Ballettkarriere.

»Tut mir leid«, schoss es dann auf einmal aus meinem Mund und das eine Spur lauter als beabsichtigt. Lucien, der gerade den Fensterrahmen mit einem Hammer bearbeitete, zuckte zusammen und schlug sich auf seinen Daumen. »Merde!«, fluchte er und ließ das Werkzeug aufs Fensterbrett fallen, um sich den Finger zu halten.

Sofort war ich vom Bett aufgesprungen und eilte zu ihm. »O nein, das wollte ich nicht. Ich … ich wollte nur sagen, dass ich das nicht böse gemeint habe! Ich wollte dich nicht erschrecken.« Ich griff nach seiner Hand. »Zeig mal her.« Sein Daumen war knallrot und unter dem Nagel quoll Blut hervor. »Das sieht böse aus. Warte, ich hole etwas zum Desinfizieren und zum Verbinden.«

»Ist schon gut. Ich habe mich nur erschreckt. Das ist halb so wild.«

»Aber das tut bestimmt weh, oder? Und desinfizieren müssen wir das schon, nicht, dass sich etwas entzündet!«

Ich blickte zu ihm hoch, aber anstatt, dass er mich wütend anfunkelte, wie ich es erwartet hatte, lächelte er schief.

»Warum lachst du?«, fragte ich ehrlich verwundert.

»Es ist süß, wie du dir Sorgen machst.«