Hier endet der Himmel - Brigitta Römer - E-Book

Hier endet der Himmel E-Book

Brigitta Römer

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Beschreibung

In "Hier endet der Himmel" gibt Brigitta Römer Außenseiterinnen, Sonderlingen, Randständigen, Grenzgängerinnen, Stotterern, Müßiggängern, vereinsamten Alten, verwahrlosten Kindern und kinderlosen Müttern, deren kleine und große Nöte im hektischen Getriebe der Welt meist untergehen, Namen, Stimme und Gesicht. Mit leiser Empörung - ab und zu auch mit einem frechen Augenzwinkern - wird Vergessenes und Verdrängtes, Menschliches und Mitmenschliches unter die Lupe genommen. Dabei sind 55 ebenso subtile wie unverblümt-eindringliche Prosatexte entstanden.

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Die Personen in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen. alle Geschichten sind erfunden.

Inhalt

einmal gross sein I

soirée

jagoda

heimat

auswandern

ein kleiner fisch

welt

lino

vermischte meldungen I

kind I

himmelreich

von haien und goldfischchen

lkw

im stiefmütterchenhain

gottfried

der tod und das mädchen

meine urgrossmutter

fragen

unter fremden sonnen

nachgefragt

paula

das andere blatt

2028

lichterloh

einmal gross sein II

die tapfere schneiderin

ingo

ungebremst

vermischte meldungen II

warten

zum trost

rückkehr

klara und heinrich, zwei wirklichkeiten

wetten, dass …

vielleicht ist irgendwo ein kind geboren

vermischte meldungen III

kind II

hinz und kunz

kein kind nicht

eva und adam

steine

das beflügelte renatlein

einmal gross sein III

fräulein julie

sprache

lied in zwei sätzen

magd gottes

mein dorf

ausgeschafft

grosse liebe

in kürze

engel

haschisch

haft

linda

schreiben

erster satz

einer geschichte

ein kahn

in einem meer

von erinnerungen

den ich an land ziehe

letztes wort

einer geschichte

ein kleiner tropfen

der in einem meer

von erinnerungen

verloren geht

dazwischen ich

widmung

für lino, flora, roberta, viktor, jagoda, linda und frieda und für eine nachtigall und einen spurlos veschwundenen fremden. für einen porschefahrer, für xaver, nelli, hulda, tomek, gottfried und lydia. für zwei bettlerinnen und deren hunde und für eine seherin. für tosca und horst, kevin und für renate, meine tante. für ingo und seine schwester sarah, für jakob und einen igel. für xenia und theo, fräulein julie, malwina und ignaz stark. für klara und heinrich, alba, nadia und ihren weissen esel. für ein schwarzes schaf und drei kamele. für emilie, laura, sophie, für heiliger ernst, für einen tramführer und für den tod und das leben. für eine sängerin, für marie, meine urgrossmutter, für ihren mann und ihre mitschwestern und miranda. für eine löwin, einen kleinen fisch, für drei banker und für ilona, leo, paula, iris, lilli, herbert und für farida. für eva und für adam.

einmal gross sein I

eines tages wagte ich linda, einem nachbarskind, zu sagen, dass ich manchmal gedichte schreibe.

»dann bist du also nur eine gedichterin«, sagte linda und schaute mich mit ihren hellen augen überrascht, ja wie mir schien, mitleidig an. sie legte ihren zeigefinger an die lippen und sass einen augenblick ganz still mit geschlossenen augen auf dem stuhl.

»ich, wenn ich einmal gross bin«, rief linda plötzlich ganz wild mit ihren kleinen händen in der luft herumfuchtelnd, als müsste sie damit böse geister vertreiben, und sprang dabei von ihrem stuhl auf, »ich, will, wenn ich einmal gross bin, engel werden, damit ich allen armen auf der welt helfen kann.«

dann setzte sich das mädchen auf den stuhl zurück. mit niedergeschlagenen augenlidern legte linda ihre händchen, die eben noch wie kleine vögel herumgeflattert waren, in den schoss, faltete und entfaltete ihre finger ein paar mal hintereinander und seufzte dazu tief. das schöne kind sah jetzt auf einmal erschöpft und irgendwie alt aus – oder einfach nur vernünftig wie ein erwachsener mensch?

wann werde ich wohl endlich einmal gross sein, fragte ich mich, denn ich kam mir jetzt mit meinen gedichten recht unnütz und sehr kindisch vor.

soirée

an einer abendgesellschaft trug sie stolz und aufgeregt einige lieder von schubert vor. doch in ihrer nervosität sang sie in den höchsten tönen schrecklich falsch. sie selbst merkte nicht, wie falsch sie sang. nur die anderen hörten ihre schrägen töne, und alle hätten sich am liebsten die ohren zugehalten. doch das war ihnen peinlich, und so unterliessen sie es – auch aus höflichkeit.

schön, sagten sie, als das konzert zu ende war, wirklich reizend, hübsch, und sie lächelten ihr unter verhaltenem beifall nachsichtig zu. dann wechselten sie sofort das thema. plötzlich sprachen alle sehr schnell und sehr viel. davon, wie man von argentinien nach brasilien kommt und vom grossen fahrplanwechsel im nächsten jahr.

während die anderen sich schliesslich in ein gespräch über missstände im bildungswesen vertieften, zog sie sich schmollend in eine ecke zurück. seltsam, dachte sie traurig, ob ihnen meine lieder gar nicht gefallen haben, dass sie bloss »schön« und »wirklich reizend« und »hübsch« gesagt und freundlich gelächelt haben? und, dachte sie verzagt: ich werde nicht mehr singen … obwohl? … nein, nie mehr! schön, wirklich reizend und hübsch, das ist mir nun doch zu wenig!

mit zittrigen händen nahm sie das volle glas – es war bereits das dritte mal, dass sie es leerte – und trank es wieder in einem zuge leer. dann stand sie zögernd auf. sie öffnete den reissverschluss ihres kleides und zog langsam ein kleidungsstück nach dem andern aus. mit einem geheimnisvollen lächeln und rosigen wangen trat sie, nur noch die goldenen ballerinas an den füssen, aus ihrer ecke hervor und stellte sich, so wie gott oder sonst irgendeine hoheit sie geschaffen hatte, vor die konsternierte abendgesellschaft.

insbesondere die damen waren jetzt sehr entsetzt. während die herren sich möglicherweise im geheimen fast ein bisschen die hände rieben und freuten.

jagoda

der knabe kam zu spät zur schule, und er kam zu spät nach hause. jeden tag. und jeden tag wurde er von seiner lehrerin dafür getadelt, und daheim schimpfte die mutter mit ihm, wenn alle auf den jungen warten mussten und das mittagessen kalt wurde. doch das hüpfen und hopsen auf seinem weg zur schule und von der schule nach hause bereitete ihm solches vergnügen, dass er allen ermahnungen zum trotz seine wege weiterhin tanzend zurücklegte. tanzend aber brauchte der junge viel mehr zeit für seine wege.

viktor war ein heiteres, glückliches und leichtfüssiges kind. seine jungen füsse und seine starken beine mochten es lustig und froh. er wollte einmal tänzer werden, wenn er gross war.

eines nachts wurde seine mutter krank. ihre schreie waren durchs ganze haus zu hören. und als zwei weiss gekleidete männer die wehklagende mutter wegtrugen, hingen ihr kopf und ihre arme wie leblos an ihrem mageren körper. das sah der junge, und er dachte erschrocken: die stehlen mir meine mama. er wimmerte leise, so dass es niemand hören konnte.

am anderen morgen erklärte eine haushälterin dem verängstigten viktor und seinen geschwistern: »man hat eure mutter in eine klinik eingewiesen. ich werde jetzt in diesem haus zum rechten sehen.« sie riss den jungen beim kämmen an den haaren. klinik, dachte viktor, und er sah etwas vor sich, das gross und schwarz war.

der Vater war nur noch selten zu hause. die mutter fehlte überall und immer. weil jetzt alles irgendwie falsch war, war dem jungen alles zu viel: schon das aufstehen am morgen; die fremde frau, die grob und laut das tat, was früher die mutter fein und leise getan hatte. mit schriller stimme befahl sie ihm dies und das und kesselte mit den töpfen in der küche und schlug die türen zu, so dass viktor sich die ohren zuhalten musste. zusammen mit dem lärm kroch der metallische geruch der haushälterin dem knaben unter die kleider, unter die haut, ins bange herz. lärm und geruch verteilten sich im ganzen haus. ja, in der ganzen welt roch es jetzt fremd, und alles war laut und schrill.

dazu kam, dass viktors sprunghaft fröhliche füsse nicht bereit waren, sich seinem bleischweren körper anzupassen und ruhiger zu treten. im gegenteil. sie ignorierten seine verzweiflung einfach. selbst in der nacht liessen sie ihn nicht in ruhe. sie hüpften weiter auch im bett und raubten dem jungen den schlaf. viktors kleine muntere füsse gingen entschieden eigene wege, taten so, als wüssten sie nichts von dem jungen mit den grossen, weiten und traurigen augen und nichts von seinem leeren kopf und seinem schweren, müden herzen. sie wollten tänzer werden, das stand für die füsse fest; und sie hielten ihn auf trab; sie wollten, dass er weiter lustig über stock und über stein tanzte und hüpfte.

was für ein fröhliches, lustiges kind, sagten manche, die viktor zusahen, und sie lachten. von stein zu stein, hopp, von fliese zu fliese, hoppela, von platte zu platte, heissassa!

nur der junge lachte nicht. angestrengt hatte er seinen blick stets nach unten auf den boden gerichtet, damit er nicht stolperte, sich nicht weh tat. seine krausen roten haare standen nach allen seiten von seinem kopf ab. er schaute niemals mehr auf, darum konnte auch niemand sehen, wie alt viktor jetzt aussah. so alt wie ein stein.

immer öfter fiel er jetzt über seine eilenden füsse. er fiel hin und musste sich, obwohl er sich vor erschöpfung kaum mehr auf seinen beinen halten konnte, mühsam wieder aufrappeln. die verbindung zwischen ihm und seinen füssen war gerissen.

doch viktor beklagte sich nicht. er hatte ja niemand, der seinen kummer verstanden hätte. das reden war ihm sowieso zuwider; seine zunge war schwer und lag dick und bewegungslos wie ein toter fisch in seinem mund. viktor weinte nur still in sich hinein, wenn seine knie bluteten. für seinen schmerz schämte er sich, und er schämte sich für seine wilden füsse, für seine schweren ungelenken beine, für seinen leeren kopf, für den vater, der fast nie mehr zu hause war, für die fremde frau und deren lärm und geruch, für die streitenden geschwister; für alles trug er alleine die schuld. das fühlte er, auch für die kranke mutter trug er die schuld.

immer in eile kam er doch überall zu spät. die lehrerin drohte, der vater sah ihn, wenn er zu spät kam, bloss kalt an. die haushälterin schlug den jungen jetzt, da ihre groben worte nichts nützten, ins gesicht.

eines tages war er spurlos verschwunden. sein platz in der schule blieb leer, und auch zu hause fehlte er wieder am mittagstisch. am abend fand man viktor weit weg vom dorf an einem fluss. auf einem bein hüpfend umkreiste er auf den stufen einer verfallenen brücke eine pfütze. seine arme hingen an seinem abgemagerten körper herunter und schlugen den takt zum endlosen tanz. seine wilden locken fielen ihm über die augen. als der vater ihn ansprach, schlug der junge seine schmutzigen hände vors gesicht und brach zusammen. der vater hob das kind auf und trug es nach hause.

mit einem selbstgerechten lächeln auf den lippen sagte die lehrerin am nächsten morgen in der ersten stunde: »so furchtbar bös’ hat unserem armen viktor das leben mitgespielt. wir wollen doch hoffen, dass es ihm dort, wo er jetzt ist, gut geht.« dann befahl sie der klasse, das rechenbuch auf seite 7 zu öffnen und die aufgaben a, b und c zu lösen.

da stand, noch ehe jemand das rechenbuch geöffnet hatte, leise eines der kinder auf. ein schüchternes kleines mädchen, das alleine in der hintersten reihe sass. es faltete seine zitternden hände vor der brust, und in seiner muttersprache, die niemand in der klasse verstand, fing es an zu singen. die ersten töne waren kaum hörbar. verhalten wie kleine seufzer drangen sie aus jagodas mund. doch allmählich übertönte die helle, warme stimme das gelächter der kameraden. und plötzlich wurde es im klassenzimmer ganz still, und alle hörten dem eindringlichen klagegesang des mädchens zu. die lehrerin stand steif wie ein dürrer stock an ihrem pult – sprachlos dünnlippig.

als jagoda mit ihrem lied zu ende war, setzte sie sich zurück an ihren platz: »muss man doch singen ein lied für einer gekrankter freund, viktor«, murmelte sie errötend, bevor sie auf ihrem stuhl wieder in sich zusammen sank. auf jagodas stirn glänzten kleine schweissperlen.

heimat

für v.

jetzt schlag ich zu, dachte die löwin. lieber sterben, dachte sie, als weitere 30 jahre männchen machen und pfötchen geben. in der arena, wenn er mir die peitsche das nächste mal um die ohren …

es war an einem sonntagnachmittag, in der kinder- und familienvorstellung, als sie ihre goldene pranke hob. nach dem zweiten hieb spürte sie ihre alte grosse wunderbare wildheit erwachen, und sie war glücklich und schlug und brüllte weiter.

kurz bevor der tödliche schuss die löwin niederstreckte, war sie schon zurückgekehrt in ihre wilde weite steppe, in ihre heimat, in ihren siebten himmel!