Ich trinke das Wasser am liebsten ganz frisch vom Himmel - Brigitta Römer - E-Book

Ich trinke das Wasser am liebsten ganz frisch vom Himmel E-Book

Brigitta Römer

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Beschreibung

Almut wartet. Auf Fleur, die angebetete Freundin aus Schultagen. Doch die ist mit dem löwengesichtigen, adleraugenkalten Schriftsteller Höfle verheiratet. Ein Kind namens Vilde hat Fleur allerdings von einem anderen, dem sanftmütigen Jakob, den die brutale Welt zum Geschlagenen, Getriebenen werden lässt, der in einer Anstalt untergebracht wird, aus der er immer wieder in die umliegenden Wälder entflieht. Vilde zieht irgendwann zu Almut nach Zürich, wo sie zur gefeierten Cellistin wird. Almut, kurz Ai genannt, wird für Vilde zur Ersatzmutter, zur echten und einzigen Mutter. Die beiden erzählen sich ihre Lebensträume, schweifen in Phantasiewelten ab, sind innig miteinander verbunden. Wenn da nicht das Problem mit der Liebe wäre ... Der Liebe zu einer Frau oder einem Mann, die nicht frei sind. Wie geht man damit um? Muss Liebe immer allumfassend sein und in einer klassischen Ehe enden, um dort früher oder später zu versanden? Dieser Roman handelt von den verschiedenen Formen der Liebe, der erfüllten und enttäuschten, der (Hass-)Liebe zwischen Müttern und Kindern, der Warte-Liebe in der Hoffnung auf ein Happy End. Immer türmen sich die Gefühle weit hinauf in einen Himmel, der mal rosa, mal rot, aber auch düster regengrau ist. Brigitta Römers Buch ist wie das Leben selbst: nie langweilig, nie voraussehbar, immer wieder hochpoetisch. Ein Roman in Form einer großen Liebessymphonie in e-moll.

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Seitenzahl: 444

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Jeder Mensch ist eine Melodie. Lieben heisst: sie innehaben. Ich bin für dich, du bist für mich

Franz Werfel

Für alle

Für alle, die Katzen, Eidechsen Wälder, Effie Briest, Emma Bovary, Kakteen, Moose, Schumann, Brahms und die Einsamkeit des Graureihers mögen. Für alle, die manchmal traurig und verzweifelt sind, trotzdem Räder schlagen und auf dem Kopf stehend weiter philosophieren. Für alle, die noch Träume haben, die Sehnsucht kennen und das Leben lieben.

Inhaltsverzeichnis

Fleur

Berge versetzen

Vilde

Cellosuiten

Prélude in d-Moll

Im Garten meiner Mutter

Auferstehen

Höfle

Fichte und Ahorn

So schön war das!

Frederico Fellini

Herr Rubin

Edward Elgar

Jakobs Briefe

Ein grosser, sehr ernster Fisch, eine alte Seele

Das kleine Lied vom Schlaf

Freiburg

Wie ein Vögelchen

Höfle ist wie das Fis auf meinem Cello

Effi Briest

Als wäre Jakob tot

Ich bin ein müdes, ich bin ein leeres Tier

Von den Rändern der Welt

Ohne Liebe kann man nicht leben

Ikarus hat nichts falsch gemacht

Die Bedingungen eines einsamen Vogels

Das Ertrinken in ihren Augen

Krieg und Frieden

Fleur und ich

Caspar

Eine Andere

Jakob

Ich wäre so gerne ein Vogel

Wer bist du?

Wenn der Reiher laut krächzend

Sisch äbä ä Mönsch uf Ärde

Das Dunkle mit einem Menschen teilen

Magister Ludi

Es rauscht und rauscht

Die Perlenmaus

Zwei kleine Fische

Ninive

Die zweite Geschichte

Wie ein Vogel hoch auf dem Draht

Lothar Gasser

Katzen haben sieben Leben

Die dritte Geschichte

Wald

Eisblumenkind

Ich bin ein Tier

Sehnsucht nach Meer

Spur eines Engels

Wir sind nur Mund

Huflattichhände

Ein scheues Tier,

Wir müssen leben

Zweiundzwanzig Splitterchen

Das letzte Wort

Eine blinzelnde Katze ist ein lächelndes Tier

Liebes-Lied

Mensch, alles Tiere!

Acht Splitterchen

Ein Einhorn, das hilft

Neun Splitterchen

Eine Wand ist eine Wand ist eine Wand

Weil ihr nicht sehen könnt,

Ein Fuss ist keine Hand

Tokio

Honigmilch

Kleine Textchen …

Umwege sind mein Ziel

Väterchen Frost

Ein wahrer Mensch

Notausgang: Poesie

Wie dürres Laub

Gottes Hände riechen nach Erde

Glückspilz

In uns allen klingt ein Lied

Gift

Meister Ludis Tod

Angelo hat viel Zeit

Onēsan arigatō

I’m still here!

Ein alter Gaul in neuem Fell

Flieg, schräger Vogel! Flieg!

Artan und Artea werden Räderschlagen mögen

Gleichklang

Kartoffeln sind nie meine Stärke gewesen

Ich trinke das Wasser am liebsten

Mein Wolf ist grau

Ich war voller Hoffnung

Ich möchte meine Mutter,

Notausgang: Poesie

Lieben

Kormoranisch

Nein, es kratzt mich nicht

Meine andere Schwester

Irgendetwas mit einem E

Sie ist nun endlich bei Jakob angekommen

Coda

Fleur

Ich habe Fleur nur ein einziges Mal weinen sehen. Das war, als Jakob starb. Doch damit greife ich vor. Jakobs Tod und Fleurs Weinen kamen erst viel später.

An einem heissen, hellen Sommertag neunzehnhundertsiebenundneunzig wurde Melusine beerdigt.

Fleur reiste mit Vilde am Abend zuvor an. Und wie immer, wenn sie in Zürich war, übernachtete sie bei mir. Ich sah Vilde zum ersten Mal. Sie gefiel mir, und ich mochte sie sofort. Fleur hatte mir viel von ihr erzählt.

Nicht schon wieder

»Komm, lass uns zusammen in unsere Himmel schauen, Almut! Ich in deinen hellen und du in meinem dunklen«, sagte Fleur, nahm meine Hand und küsste mit ihren vollen, weichen, warmen Lippen meine kalten Finger. Jeden Finger einzeln. Und dann drückte sie meinen Handballen auf ihre heisse Wange. »Lass deine Hand bitte, bitte einen Augenblick da liegen«, flüsterte sie. »Bitte, Almut, nimm sie jetzt nicht gleich wieder weg!«

Das war am Abend nach Melusines Beerdigung. Ein letzter Sonnenstrahl fiel hell leuchtend auf das Fensterbrett. Auf der Birke vor dem Fenster sang eine Amsel ihr Abendlied, und aus der Ferne hörte man die Geräusche der Stadt: Autos, Trams, ein Flugzeug, eine Ambulanz.

Vilde hatte sich schon vor einer Weile leise und unbemerkt in das hinterste Zimmer meiner Wohnung verzogen, wo ich zuvor meinen Schreibtisch weggeräumt und eine Matratze für sie auf den Boden gelegt hatte.

Nach dem Begräbnis sah das Mädchen mitgenommen aus. Irgendwie kam Vilde mir plötzlich verloren vor, und ich hätte sie gerne gefragt, wie sie sich fühle. Aber dann hatte sie die Türe schon hinter sich zugezogen. Für Fleur jedoch schien Vildes Verschwinden keine Bedeutung zu haben.

»Vilde muss nachdenken«, sagte Fleur achselzuckend, als ich sie darauf ansprach. »Sie verträgt sich nicht mit ihrem Vater. Sie hasst Florian. Es ist am besten, wir lassen sie jetzt in Ruhe. Dafür ist sie ja im rechten Zimmer! Das ist doch dein Karsumpel-, dein Grübel- und Tagtraumzimmer. Da wird Vilde finden, was sie sucht.«

Fleur musste mein ängstliches Zurückweichen gespürt haben. Sie musste gefühlt haben, dass mich ihr Überschwang verwirrte. Während sie meine Finger küsste – jeden Finger einzeln – , glaubte ich nämlich den Boden unter meinen Füssen zu verlieren. Verbundenheit und Liebe bedeuteten auch Gefahr.

Man kann fallen. Man kann im Stich gelassen werden. Nicht schon wieder! dachte ich. Aber dann merkte ich, dass das mit dem Boden-Wegrutschen ja gar nicht stimmte. Dieses Mal war es nicht der Boden unter meinen Füssen, der …

Fleur hatte zwar mit ihren Küssen alle Wände um mich herum eingerissen, doch der Boden schien diesmal merkwürdigerweise zu halten.

Ich habe … es ist … gerade eben habe ich den hellsten Stern am Himmel berührt!, stammelte ich lautlos, und mit einem Mal war ein grosser Jubel in mir.

Der Stern leuchtete unter meiner Hand lange weiter. Erst als mein Arm so kraftlos war, dass er zu zittern anfing, löste ich meine Hand von Fleurs heisser Wange. Doch ich hätte die Hand am liebsten gleich wieder auf den Stern zurückgelegt.

Da gehört sie doch hin!, dachte ich. Das wollte ich doch schon immer! Fleur ist eine dunkelgelbe Rose …

Fleur öffnete ihre Augen, und mit einem einzigen Blick schenkte sie mir eine Schönheit, mit der ich nicht mal mehr im Traum gerechnet hatte.

Ja, dachte ich, wenn ich die Liebe noch einmal kennen lernen will, muss ich wohl auch ein Leben ohne Mauern wagen, dann muss ich meine Schutzlosigkeit aushalten. Aber ist nicht gerade Verletzlichkeit ein Teil der Würde, die einem verloren geht, wenn man lange ohne Liebe lebt?, fragte ich mich.

Trotz dieser plötzlichen Einsichten war mir immer noch ein bisschen bange. Denn ich wusste ja nicht, wohin mich das führte mit dem Stern und was diese neue, nie dagewesene Schönheit für mein Leben bedeutete.

Das mit Ossip, sann ich, ist schon so lange her, ich kann mich nur noch … und Melusines schwere Krankheit hat mir keine Zeit gelassen, mir darüber Gedanken zu machen, wie man leuchtende Sterne vom Liebeshimmel holt. Vielmehr habe ich mir in den letzten Jahren den Kopf über die erbarmungslose Endgültigkeit des Todes zerbrochen. Wie immer, ohne damit auf einen grünen Zweig zu kommen.

Berge versetzen

Zuerst einmal bedeuteten für mich das neue Licht und die Schönheit, dass sich zu meinem Erstaunen der Boden unter meinen Füssen mit jedem Tag und jeder Nacht, die ich mit Fleur verbrachte, verlässlicher anfühlte! Ich liess es geschehen, dass Fleur mich für sich neu erfand. Ich meinerseits hatte Fleur ja schon vor einer halben Ewigkeit für mich erfunden. Damals in Endikon. In diesem traurigen Kaff mit seinen fremdenfeindlichen Dörflern hatte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als mit Fleur Hand in Hand durch eine Blumenwiese zu laufen. Daran erinnerte ich mich gut: an die schöne Fleur, die an nichts glaubte ausser an das, was sie sah; die sich am Mittwochnachmittag mit Franz in der Scheune des Hilfikerhofs traf, wo sich die zwei Dreizehnjährigen liebten; die mein Geschenk, das blaue Märchenbuch, ablehnte, weil sie nicht an Märchen glaubte; die mich ohne eine Gegenleistung selbstverständlich alles bei sich abschreiben liess; die in der Schule wegen ihrer gemütskranken Mutter oft fehlte und nach deren Tod plötzlich spurlos verschwand. Und vor ein paar Jahren ebenso wieder aufgetaucht war. Diese Fleur hatte nun plötzlich ihr Herz an mich verloren?

Ich kann’s nicht glauben!

Im Schlepptau dieses grossen Sommers liessen wir uns zu einer zärtlich wilden Liebe hinreissen. Diese Liebe ist eine Liebe, die ihresgleichen sucht, dachte ich bei mir immer wieder.

Gemeinsam sprengten wir alte Fesseln und versetzten Berge.

Was neu war an Fleur: der Irisduft und eine wunderbare Sanftheit. Rose unter den Blumen. Lilie auf dem Felde. Und ihre Wildheit, die alte vertraute.

Wir lernten unsere Körper kennen. Sie den meinen, ich den ihren. Sie den ihren. Ich den meinen.

Manchmal fühlte sich das an, als würden wir beide in den Fluten den Verstand verlieren.

Vilde

Aber natürlich habe ich es von Anfang an gewusst!

»Du musst wissen, Almut, ich kehre immer wieder zu Florian zurück«, prophezeite sie schon nach unserer ersten Nacht. »Ich sorge weiter für ihn! Das schulde ich ihm. Aber für dich, Almut, werde ich nicht nur sorgen. Dich liebe ich! Deshalb werde ich auch zu dir immer wieder zurückkehren!«

Obschon ich schon geahnt hatte, dass mit Fleurs Abreise meine alte Einsamkeit wieder zu mir zurückkehren würde, war ich doch überrascht, wie sehr das Zurückgelassenwerden mich bedrückte.

Kein Berg steht mehr an seinem Platz, dachte ich, und sie verschwindet einfach so! Ich war ein bisschen wütend. Mit nichts als nur meinen Erinnerungen an unsere Küsse lässt sie mich hocken. Alleine mit meiner Wildheit, mit der ich jetzt ohne sie nichts mehr anzufangen weiss. Alleine mit meinem neuen Gesicht.

Mit jedem Tag, den ich ohne Fleur war, kamen mir meine Erinnerungen an unsere Küsse, an unsere Umarmungen und an unser Liebesgeflüster unwirklicher und unsinniger vor. So als hätte ich mir diese Wildheit und mein neues Gesicht nur ausgedacht.

Wäre Vilde nicht gewesen, dann wäre wahrscheinlich nicht nur mein Schlafzimmer, sondern die ganze Wohnung zu einem unwirklichen Ort verkommen. Ich mied es, alleine in meinem Bett zu schlafen, und legte mich in der Nacht aufs Sofa. Wie früher an der Josefstrasse hatte ich das alte, mittlerweile neu überzogene Sofa auch hier an der Brahmsstrasse wieder in der Küche platziert. Mein Schlafzimmer betrat ich nur noch, wenn die Sehnsucht mich antrieb, dem Duft unserer Liebe – der sich jedoch mit jedem Tag mehr und mehr verflüchtigte – , nahe zu sein.

Fleurs Tochter, die achtzehnjährige Vilde, ist bei mir in Zürich geblieben.

Vilde ist eine verrückte junge Frau. Mit drei Jahren erhielt sie schon ihren ersten Klavierunterricht. Als sie vier war, bekam sie das erste Cello, auf dem sie beinahe Tag und Nacht spielte. Als Vilde acht war, kriegte sie ein grösseres, ein Siebenachtel-Cello. Vilde spielte und spielte. Sie bekam in Ulm Unterricht von namhaften Lehrern und mit vierzehn dann ein italienisches Meisterinstrument. Fleur und Florian hatten geglaubt, ihrem Kind mit dem tollen Instrument eine grosse Freude zu machen. Aber Vilde hat es kaum angeschaut. Sie spielte weiter auf ihrem alten »Kindercello«. Vor einem Jahr stellte sie auch dieses Instrument in die Ecke. Und weil sie ausser Cellospielen nichts mit sich und ihrem Leben anzufangen wusste, war sie in ihrem Trübsinn, einer bodenlosen Traurigkeit, schier ertrunken.

Und nun hatte Vilde sich in Ossips Cello verliebt! Kurzerhand verpasste sie dem alten Instrument neue Saiten und hauchte ihm neues Leben ein. Sie spielte den ganzen Tag, und nachts spielte sie weiter – mit einem Dämpfer.

»Damit du und die Nachbarn trotzdem schlafen können«, sagte sie.

Doch ich war mir nicht so sicher, ob meine Nachbarn das auch wirklich konnten. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass hier in diesem alten Haus vor allem junge Leute wohnten.

Die sind vielleicht nicht gar so empfindlich!, sagte ich mir. Und ausserdem spielt mindestens einer von ihnen Klavier.

Alles nur ein schöner Traum?

Die Unsichtbaren

Gesicht an Gesicht

Nun hat das lange Schweigen

meines Sterns begonnen

Welche von uns

wird zuerst wieder reden?

Den Mund auftun?

Leib an Leib?

An Tagen wie diesen regnet es

auch bei Sonnenschein

in mein Herz

Und ich stelle mir –

voller Hoffnung

auf deine Rückkehr wartend –

als Ausweg auch den Tod vor

Hand in Hand

Wie wird das geheime

Leib-in-Leib weitergehen?

Und wo das vertraute Wange-an-Wange?

Im Verborgenen?

Ich wünsche mir so

Mund auf Mund

den federleichten Duft

deiner zarten Haut einzufangen

Für immer!

Hätte ich wie früher an der Josefstrasse einen Feuerofen gehabt, hätte ich ihn mitten im Sommer angeheizt und diese nächtlichen Zeilen, ja wahrscheinlich mein ganzes Notizbuch, weinend in die Flammen geworfen. Jetzt riss ich nur die eine Seite heraus, zerknüllte sie in der Nacht und fischte sie am Morgen doch wieder aus dem Papierkorb.

Mein Leben ohne Fleur war voller Sehnsucht.

»Ich glaube«, sagte Fleur bei unserem Abschied, »Almut, ich glaube, unsere Herzen werden unsere verbotene Liebe aushalten wollen! Weisst du, ich glaube, dass die Sehnsucht Teil einer ewigen Liebe ist! Eine ewige Liebe muss eine geheime Liebe bleiben, glaube ich! Stell dir doch vor: Wir werden uns nie darüber streiten, wer mit dem Staubsaugen, dem Wäschewaschen und dem Kochen an der Reihe ist. Eine Frau sollte nicht kochen können, und wenn sie’s kann, sollte sie es niemals verraten. Du wirst dein Leben haben und ich meins. Zusammen werden wir aber immer wieder in unsere Himmel blicken. Du in meinen dunklen, ich in deinen hellen.«

»Vielleicht«, flüsterte ich, »Fleur, vielleicht muss ich weinen, wenn du jetzt gehst, und vielleicht muss ich weinen, wenn ich dich wiedersehe.«

»Ich glaube an unsere zärtliche Wildheit, Almut! Also weine nicht, wenn ich gehe und weine nicht, wenn ich zurückkomme«, flüsterte sie mir ins Ohr und nahm mich hinter verschlossener Tür ein letztes Mal in den Arm.

Gleichwohl fürchtete ich mich vor der Leere im Herzen, die – damit hatte ich ja Erfahrung – einträte, wenn Fleur es sich anders überlegen und nie mehr zu mir zurückkehren sollte. Vielleicht … es könnte ihr ja etwas zustossen. Wie leicht …

Wie eh und je neigte ich noch immer zur Schwarzmalerei. Ich fürchtete mich sehr vor meiner alten Einsamkeit. Immer wieder befielen mich grosse Zweifel, und ich fragte mich: War das nicht alles – die Hand an Fleurs Wange, der Stern, die Küsse in der Nacht, die Schönheit einer dunkelgelben Rose – war das nicht alles nur ein Traum? Aus dem ich endlich erwachen sollte?

Hirngespinste, nichts als Hirngespinste!, würde Ilse sagen, wenn sie mich sähe. Wenn sie noch lebte. »Du machst dich mit dieser Liebe nur lächerlich!«

Cellosuiten

Die alten Geister gaben nicht auf.

Fleur hat es sich sicher anders überlegt! Sie wird nicht zurückkommen! Mutter hat recht: Ich mache mich nur lächerlich, wenn ich weiter an diese Liebe glaube!

Gebetsmühlenartig menetekelte ich meine Bedenken: Ich bin ihr nicht wichtig genug!

Vilde übte noch immer. Tag und Nacht. Bachs Cellosuiten. Ich ertappte mich oft dabei, wie ich sie im Geheimen beobachtete, wie ich Fleur in Vilde suchte und manchmal auch fand. Vilde hatte ihre wunderschönen Augen, ihren aufrecht hüftschwingenden Gang, ihren Stolz und ihre Freiheitsliebe zweifellos von ihrer Mutter. Von ihrem Vater, den sie nie Vater, sondern höchstens mal Florian, meist aber einfach etwas geringschätzig Höfle nannte, behauptete Vilde, habe sie nur ihren Hang zur Besserwisserei. »Mama behauptet zwar, ich hätte mein gutes Gehör von Höfle. Aber das glaube ich nicht. Meine Ohren sind Jakobs …«

Vilde brach plötzlich errötend mitten im Satz ab, als schämte sie sich für das, was sie eben gesagt hatte. Aber dann fing sie sich schnell und redete weiter. Und nun hörte es sich an, als müsste sie sich, damit sie an ihren Gefühlen nicht ersticke, endlich einmal alles von der Seele reden.

»Weisst du, es ist nicht leicht für mich mit Florian und Fleur!« platzte es aus ihr heraus. »Die zwei sind zusammen echt ätzend! Ich möchte für immer bei dir bleiben, Almut! Wirklich für immer! Hier kann ich sein, wie ich bin. Ein bisschen meschugge. Mit Höfle ist das nicht möglich. Wir streiten uns ständig. Er hat sogar wieder damit angefangen, mich zu schlagen.

›Mir passt dein Ton nicht‹, hat er mir neulich an den Kopf geworfen. Da habe ich zurückgeschrien: ›Dann bezahl mir halt Gesangsstunden, du Arschloch!‹ Vorauf er mich – das musst du dir mal vorstellen, ich bin achtzehn! – glatt geohrfeigt hat. Da wusste ich, dass ich weggehen werde. Das Leben mit ihm ist die Hölle. Es ist ein Tanz um ein goldenes Kalb. Da bleibt einem nur die Vernunft. Und die ist auf Dauer für mich sehr anstrengend. Weisst du, Höfle muss man behandeln wie einen Verrückten. Er hält sich selbst für den klügsten und genialsten Menschen der Welt. In Wirklichkeit ist er jedoch nur ein mittelmässiger Schriftsteller, der seine belanglosen Romane schreibt, die sich vermutlich, nein, ganz bestimmt, alle um ihn selbst drehen. Ich habe noch keinen einzigen Satz von Florian gelesen und habe auch nicht vor, das jemals zu tun! Wenn Höfle was nicht passt – sorry, dass ich das so sage – , wenn etwas nicht nach seinem Kopf läuft, wenn man ihn nicht gut findet – etwa wenn in der Zeitung sein neuestes Buch zerrissen wird – , was oft der Fall ist, dann scheisst er sich, wie das kleine verwöhnte Buben tun, voller Trotz in die Hose. Und meine Mutter pflegt all seine Empfindlichkeiten. Sie ist seine ergebene Dienerin, sein geduldiges Kindermädchen. Dabei ist Höfle ganz einfach nur verrückt!«

Ach, dachte ich, wenn du wüsstest, wie verrückt ich bin vor Sehnsucht nach deiner Mutter!

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Vilde: »Ja, ja, die Liebe ist etwas Verrücktes! Aber Florian ist ganz anders verrückt als du und Fleur. Der ist nur in sich verliebt und versteht gerade darum rein gar nichts von der Liebe. Es ist ihm viel zu anstrengend, ausser sich selbst noch jemand anderen zu lieben. Alles ist ihm zu anstrengend … Fleur liebt dich, Almut!«

Prélude in d-Moll

Weiss Gott, woher diese Träume kommen, dachte ich, und flocht immer weiter an dem dunkelgelben Haarzopf einer Toten, die zwischen den Trümmern eines eingestürzten Hauses lag. Die Haare waren Fleurs Haare. Unendlich lang und dicht. Die tote Frau jedoch war eine andere. Sie war nicht schön, sie hatte keine breiten Hüften, und ihre Wange war kein Stern. Dennoch flocht ich ihr Haar weiter zu einem Zopf – einem endlos langen ewigen Zopf, und dabei wunderte ich mich wieder einmal, dass die Toten so lange tot sind!

Seit Fleur weg war, verirrten sich fast jede Nacht fremde Träume in meinen unruhigen Schlaf.

Als ich gestern mitten in der Nacht aufgewühlt aus diesem Traum erwacht bin, hat mich Vildes Cellospiel im Hintergrund beruhigt. Die zweite der sechs Suiten. Das Prélude in d-moll.

»Ich vermisse Dich«, schrieb ich am Morgen auf den Einkaufszettel.

»She is missing you too«, schrieb Vilde am Mittag darunter.

Als ich mich am Abend bei Vilde für diese aufmunternden Zeilen bedankte, sah sie mich warmherzig lächelnd an und sagte leise seufzend: »Meine Mutter hat dir ganz schön den Kopf verdreht – was?«

»Ja«, stammelte ich errötend, »sie hat Wände eingerissen und Berge versetzt.«

»So schlimm?«

»Ja, so schön!«

Vilde hat nichts gegen unsere Liebe. Irgendwie scheint sie das Kommen und das Gehen ihrer Mutter schon zu kennen. Sie muss wissen, dass man Fleur und die Liebe niemals festhalten kann. Nicht mal Vildes Vater hat es geschafft, den Schmetterling, seine Frau, für immer an sich zu binden.

»Florian flippt zwar jedes Mal aus, wenn meine Mutter weggeht«, sagte Vilde. »Rotzbesoffen hat er auch schon versucht, sie zu schlagen. Aber ich glaube, irgendwie braucht er dieses Kommen und Gehen selbst auch.«

Es ist also nicht das erste Mal?! Fleur hat vor mir schon andere verzaubert?, schoss es mir heiss durch den Kopf, und ich spürte, wie ich errötete.

»Sie liebt dich wirklich, Almut«, sagte Vilde, als hätte sie wieder meine Gedanken gelesen. »Du solltest dir und ihr vertrauen! Fleur sagt, dass die Gewohnheit die Liebe umbringt, die Sehnsucht sie aber am Leben erhalte. Darum geht sie weg, bevor es zu spät ist.«

»Ach, Vilde, ich …«

»Du liebst, Almut, du wirst geliebt, du lebst. Was willst du mehr?«

»Manchmal möchte man gerne an Wunder glauben.«

»Ja, dann glaub doch einfach an dein Wunder, Almut.«

Im Garten meiner Mutter

Was ist Vilde doch für ein wunderbares Geschöpf!

»Siehst du den Garten hier?« fragte Vilde. Sie hatte sich in der Bibliothek ein paar Bücher geholt, und nun blätterte sie in einem Bildband: »Englische und französische Gärten«.

»Das sind die Gärten, die Höfle mag. Geordnet, alles am rechten Platz, alles nach seinen Erwartungen, alles nach seinen Vorstellungen. Die Farben, die Formen, selbst die Schmetterlinge und die Bienen fliegen und schwärmen nach seiner Choreographie. Fleur aber gibt nur vor, den gemeinsamen Garten im Sinne Höfles zu pflegen. Im Geheimen setzt sie sich, als wäre es das Natürlichste der Welt, über seine Ordnung hinweg und lässt da und dort in ihrem gemeinsamen Garten ein bisschen Wildheit aufblühen. Meine Mutter ist viel klüger als Florian. Sie hat sich mit ihren wilden Blumenbeeten noch nie verraten. Sie stellt sich dumm, erträgt klaglos Höfles Tyranneien und pflegt nebenbei ihre Blumen, ohne dass er es merkt.«

Als ich heute mit Vilde zusammen einkaufen, ging hat sie mitten auf dem Gehweg plötzlich ein Rad geschlagen.

»Ich bin so glücklich bei dir«, hat sie gesagt, als sie wieder auf ihren Füssen neben mir stand, und mich umarmt. »Ich werde bleiben. Ich werde mit dem Cello … ich werde hier Musik studieren! Ich habe sonst ja keine Ahnung, was ich mit dem Leben anfangen soll. In Ulm sind sie damit sicher einverstanden. Florian ist froh, dass er mich endlich los ist. Und ich bin froh, dass ich ihn los bin!«

Nachdem wir eingekauft hatten, kochten wir zusammen Spaghetti.

»Mit meinen schwarzen Haaren bin ich so etwas wie ein Fluch für Höfle«, sagte Vilde plötzlich und schob den Teller, ohne einen Bissen gegessen zu haben, weg. »Fleur ist blond, und Höfle ist extrem blond! Dazu extrem hellhäutig! Er ist nicht mein Vater! Jakob Hell ist mein richtiger Vater! Jakob, der jahrelang im Gefängnis oder in einer Anstalt war. Er muss genau die gleichen Haare haben wie ich. Schwarz. Aber Fleur leugnet das. Sie sagt, dass es Jakob Hell, wenn ich ihn mir nicht ständig einbilden würde, gar nicht gäbe.«

Ich sah Vilde erstaunt an und dachte, gleich wird sie weiterreden. Gleich wird sie mich wissen lassen, wie das ist mit Höfle und Jakob Hell …

Sie redete weiter, aber von etwas ganz anderem.

»Gestern«, fuhr sie fort und ging zum Fenster, »gestern Mittag ist ein Vogel in diese Fensterscheibe hier geflogen. Vielleicht war der kleine Unglücksrabe ja besoffen und hat entweder die Scheibe mit dem siebten Himmel oder sein Spiegelbild mit dem Weibchen, nach dem er schon die ganze Zeit gerufen hat, verwechselt. Jedenfalls dachte ich nachher, dass man verdammt aufpassen sollte, damit man sich nicht in irgendwas oder irgendwen verrennt.«

»Meinst du Jakob?« fragte ich. »Hat Jakob sich in Fleur verrannt und Fleur sich in Jakob?«

»Kann sein. So genau weiss ich es nicht. Aber wahrscheinlich muss man sich halt auch mal verrennen. Ich meine, es gäbe keine Liebe, keine Musik, keine Bücher und kein einziges Bild, wenn da nicht Liebende, Musiker, Schriftsteller und Maler wären. Das Herz ist ein Organ aus Feuer. Und wenn es brennt, muss man auch zulassen können, dass es brennt und auch aushalten, dass das Feuer schmerzt, glaube ich. Bach, Beethoven, Mendelssohn, Dostojewski, Kafka, Picasso, Leonardo da Vinci, alle hatten brennende Herzen.«

»Ja«, sagte ich, »und den kleinen Prinzen, den Fuchs und die Rose gäbe es auch nicht.«

»Oh ja, den kleinen Prinzen und den Fuchs gäbe es auch nicht, ohne dass für sie einmal ein Herz gebrannt hätte. Was wäre das doch für eine arme Welt ohne des kleinen Prinzen Rose.«

»Aber das Verrennen und der Schmerz dürfen nicht aus dem Ruder laufen – oder?«

»Klar, denn wenn’s aus dem Ruder läuft, kostet das einem im schlimmsten Fall das Leben. Das hat der Unglücksrabe uns vorgemacht. Und nicht nur er, es hat viele gegeben, die mit ihren brennenden Herzen die Kurve nicht mehr gekriegt haben. Wahrscheinlich war auch Saint-Exupéry einer von ihnen«, sagte Vilde, zog den Teller zu sich zurück und löffelte gierig die kalten Spaghetti, die sie vorher, wie für ein kleines Kind, in winzige Stückchen zerschnitten hatte. »Oh, das hat jetzt gut getan«, sagte sie. »Ich meine das Essen, aber auch, dass du das mit dem toten Vogel und Jakob gleich verstanden hast. Nicht jeder begreift sowas sofort.«

Auferstehen

»Unser Pechvogel ist nicht tot«, sagte Vilde am nächsten Tag und nahm mich mit in das Zimmer, das einmal mein drittes, mein Schlaflosen-, mein Karsumpelmein Schreib-Zimmer gewesen ist, jetzt aber, da Vilde bei mir geblieben ist, ganz ihr gehörte. Hier lag der Rabe in einer Kartonschachtel und blickte uns an.

»Diese Augen!« sagte ich.

»Ja, irre! Man fühlt sich ertappt! Er äugt, als ob er alles über einen wüsste. Alles, auch das, was man am liebsten vor sich selbst verstecken und schon gar nicht einen anderen wissen lassen möchte.«

»Und jetzt? Was …«

»Mal sehen, ob er weiterleben mag. Ich jage jetzt für ihn Insekten und füttere ihn mit vorgekauten Maiskörnern und Nüssen!«

Vilde ist so etwas wie Wolf, eine Indianerin! Ich musste an meinen Bruder mit seinen Schnecken und seiner Schlange denken.

Vilde nannte den Vogel Rabe.

»Ich nenne«, sagte sie mit einem lausbübischen Lächeln auf dem Gesicht, »ich nenne die Dinge am liebsten beim Namen. Wenn ich einen Hund hätte, würde ich ihn Hund nennen, einem Hasen würde ich Hase sagen, einem Star Star, einem Pferd halt Ross, einem Affen Affe und einer Kuh Kuh. Nur bei einem Schwein und bei einer Katze fiele es mir schwer, bei ihren ursprünglichen Namen zu bleiben. Einer Katze, befürchte ich, würde ich einen Namen wie Perle oder Rubin andichten. Katzen haben etwas Verführerisches an sich, sie verleiten einem zu Schwärmereien. Und zu einem Schwein würde ich ganz einfach Rosa sagen.«

»Und die Menschen, wie nennst du die Menschen?« fragte ich. »Mann, Frau, Bub, Mädchen?«

»Nein, bei den Menschen ist alles leider viel komplizierter. Weil sie eine Sprache haben. Weil sie allen Dingen Namen geben. Die meisten Menschen wissen aber nicht, dass sich im Laufe ihres Lebens ihre Namen ändern …«

»Ist das so?«

»Ja, ich glaube schon. Es gibt nur ganz wenige, für die ein einziger Name ein ganzes Leben ausreicht. Fleur ist vielleicht eine von denen. Aber wir werden sehen.«

»Und du?«

»Ja, ich vielleicht auch. Fleur hat mir diesen Namen gegeben. Ich finde, der reicht sehr weit. Bei mir ändert sich aber der Nachname. Ich werde beantragen, dass man Höfle durch Hell ersetzt.«

Da ist er wieder, dieser dubiose Vater. Jakob Hell, dachte ich.

Der Rabe starb am siebten Tag! Wir vergruben ihn im Wald unter einer Eiche. Darauf hatte Vilde bestanden.

»Es muss unbedingt eine Eiche sein. Ich habe letzte Nacht geträumt: Rabe kann nur unter einer Eiche auferstehen.«

Höfle

»Ich kann dich von hier aus schon ein bisschen sehen«, sagte ich, als Fleur mir vier Wochen später am Telefon versprach, sie würde schon bald für eine Woche nach Zürich kommen. »Weil ich dich liebe, Almut«, flüsterte sie.

Aber sie kam nicht. Ich weinte. Ich wartete, und die Zeit, die mir sonst immer zwischen den Fingern zerrann, stand nun still. Ich dachte mir hunderterlei von Gründen aus, warum Fleur nichts mehr von sich hören liess. Eine der schrecklichsten Vorstellungen war die, dass Florian in seinem geordneten Garten Fleurs geheime, wilde Blumenecke entdeckte haben könnte und seiner untreuen Frau nun zur Strafe für immer alle Arten des Ausschweifens und Ausfliegens verbat. Er schlägt sie, dachte ich, und merkwürdigerweise war ich fest davon überzeugt, dass nicht ich und Fleurs geheime Liebe zu mir ihn in seiner Ehre bedrohten. Ich, ich bin ja nur eine Frau!, dachte ich, und er wird sich sagen: Ach, die kleine rothaarige Schweizerin, das ist eh nichts Ernstes. Und damit hat er ja auch recht. Fleur liebt Jakob! Nicht mich. Diesen dubiosen Jakob, der vielleicht Vildes Vater ist und wie sie schwarze Haare hat. Jakob, da war ich mir plötzlich ganz sicher, ist Fleurs grosse und einzige Liebe und damit die einzige Gefahr für Florian. Er ist der Grund, weshalb Höfle Fleur jetzt in einem seiner dunkelsten Zimmer einsperrt. Fleur wird schnell gemerkt haben, dass sie sich mit mir geirrt hat. Dass es sich für sie nicht lohnt, mich zu lieben … Aber irgendwann würde sie sich melden müssen.

Sie hat doch ihr Kind hiergelassen! Das mein Kind ist, schoss es mir durch den Kopf. Was ist das für eine Mutter, die einfach so ihr Kind …

Aber genau diese zurückgelassene Vilde war es, die mich immer wieder vor meiner Verzweiflung rettete.

»Hör auf zu warten, Almut«, sagte sie. »In so einem Fall ist es am besten, du bestimmst, ob es dir weh tut oder nicht. Der Fisch stinkt stets vom Kopf her! Du bist dein Chef.«

Ich nahm mir Vildes Rat zu Herzen und verbat mir ab sofort, neben dem Telefon zu sitzen. Ja, ich zog sogar manchmal den Stecker aus der Dose, weil mich das Warten sonst noch um den Verstand gebracht hätte!

Vorher hatte ich zuweilen bis zu fünf Mal am Tag im Briefkasten nach einem Brief geschaut, nur um danach beschämt mit leeren Händen zurück in die Wohnung zu schleichen. Jetzt liess ich den Briefkasten links liegen. Und das fiel mir nicht mal so schwer, wie ich geglaubt hatte.

Wir luden die Leute von der Wohnung über uns ein. Eine WG. Zwei Frauen und vier Männer. Musikstudenten! Vilde und ich gingen jetzt oft zusammen ins Kino oder ins Konzert. Wir erzählten uns unsere Träume. Die, von denen wir hofften, dass sie eines Tages noch wahr würden, und die, die uns zuweilen aus dem Schlaf aufschreckten. Und fast jeden Tag liefen wir bis zur Atemlosigkeit im Wald um die Wette. Dann ruhten wir uns auf der roten Bank am Teich aus, wo wir sangen und unsere schon vor Wochen angefangene Endlosgeschichte weiterspannen. Wir nannten diese Ausflüge Waldbäder.

Und dann kam die schlechte Nachricht. Höfle, dieses ferne Schreckensgespenst, war krank! Florian, und nicht Jakob, war also der Grund, dass Fleur so lange nichts von sich hatte hören lassen!

Hätte ich mir doch denken können!

»Ich kann jetzt nicht weg. Verstehst du das, Almut?«

»Ja«, sagte ich und dachte: Nein, nein, nein und nochmals nein!

»Würdest du mir einen Kuss geben?« fragte Fleur.

»Ja, das würde ich, wenn du hier bei mir und nicht bei Höfle wärst.«

»Dann denke jetzt ganz fest an mich«, bat sie mit zittriger Stimme. »Vergiss mich bitte nicht! Bitte, Almut, schau für mich in meinen Himmel. Der ist jetzt sehr, sehr finster!«

Was muss dieser Höfle nur an sich haben, dass sie ihn mehr liebt als mich?, sinnierte ich und warf einen Teller an die Wand. Das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie getan!

»Gut gemacht«, lobte mich Vilde und schmiss grinsend eine Tasse auf den Boden. Dann kramte sie lange in ihrem Rucksack herum. »In so einem Fall nützen manchmal Zigaretten«, sagte sie und legte lächelnd ein Päckchen »Mary Long« vor mich auf den Tisch.

»Ach, du rauchst?« rief ich erstaunt aus. Doch sie ging nicht darauf ein, sondern sagte nur: »Komm, mach schon, lass dir’s schmecken! Hier ist das Feuer dazu.«

Fichte und Ahorn

Mit einem stahlblau schwalbenlosen Himmel kündigte sich der Herbst an. Die Stare sammelten sich auf den Bäumen und wuchsen unentwegt tschilpend zu schwarzen, immer grösser werdenden Wolken-Schwärmen an.

Seit Wochen hatte ich nichts mehr von Fleur gehört. Damit muss ich mich abfinden, sagte ich mir und hielt mich weiter tapfer an Vildes Rat, mir mein eigener Herr und Meister zu sein. Aber wie nichts sonst nährte die Schlaflosigkeit die Glut meiner Gedanken an Fleur. Wenn der Schlaf nichts von mir wissen wollte – was oft vorkam – , riss ich mir, um meiner Sehnsucht zu entkommen, in der Nacht das Herz aus dem Leib. Doch am Morgen war es wieder da, und die Mühsal mit dem Kampf gegen die Sehnsucht begann von neuem.

»Ich habe eine alte Spinne in meinem Zimmer«, sagte Vilde. »Sie zeigt sich selten, aber …«

»Warum weisst du, dass es eine alte Spinne ist?«

»Man sieht es, sie hat Runzeln«, erwiderte sie kichernd: »Nein, Almi, echt, im Ernst, sie ist einfach alt und weise, und irgendwie mag ich sie sehr.«

»Du magst alle Tiere gern, glaube ich.«

»Ich bin selbst eines. Und du auch!« sagte Vilde, und diesmal lachte sie nicht.

»Ja, das stimmt, ich auch.«

»Nicht alle Menschen können das von sich sagen. Manche sind einfach Frau oder Mann. Langweilig. Böse oder gut. Wir sind von allem etwas … Ich habe letzte Nacht«, wechselte Vilde das Thema – das tat sie oft, manchmal sogar mitten im Satz – , »ich habe von den zwei Bäumen geträumt, aus denen man vor genau siebenundsiebzig Jahren Ossips Cello angefertigt hat. Ich habe im Traum mit diesen zwei Bäumen gesprochen. Eine Fichte und ein Ahorn«, erzählte sie. »Das war ein sehr schöner Traum, Almut. Ich würde ihn dir gerne schenken.«

»Dann schenk ihn mir doch. Ich schenke dir dafür das Cello!«

Vilde zog ihre hohe Stirn in Falten. »Ich weiss nicht«, sagte sie und schwieg dann lange. »Ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich glaube, ich wäre dem Geschenk nicht gewachsen! Was man sich zum Eigentum macht, verliert an Glanz und Wert. Ich glaube, ich liebe dieses Cello gerade darum, weil es nicht mir gehört. Darum glänzt es und klingt so schön. Hast du Ossip … ich meine … du hast mir nie erzählt, wart ihr eigentlich verheiratet?«

»Ja.«

»Hat er das Cello mehr geliebt als dich?«

»Nein, das hat er nicht.«

»Unglaublich! Ich denke immer, wenn Menschen heiraten, dann ist es mit der Liebe vorbei. Mein Mann! Meine Frau! Das klingt ein bisschen wie … als hätte man ein falsches Geschenk erhalten. Wenn Ossips Cello, das jetzt dein Cello ist, mir gehörte, ich glaube, das wäre fatal. Es ist seltsam, aber, ich … bitte, Ai, lass uns nicht weiter darüber reden, sonst muss ich noch weinen. «

Eigentlich hätte ich Vilde gerne noch gesagt, dass Ossip im Grunde genommen Wein und Whisky mehr geliebt hatte als mich und sein eigenes Leben. Dass er sich zu Tode … aber ich blieb an meinem neuen Namen hängen und dachte: Ai! Was für ein merkwürdiger Name!

Als hätte ich eben laut gedacht, sagte sie: »Ich habe mir das mit deinem alten Namen lange überlegt. Er passt nicht mehr zu dir. Du hast jetzt eine andere Tonart. C-Moll oder d-Moll, wahrscheinlich eher d-Moll. Ausserdem möchte ich dich bei einem Namen nennen können, den keiner sonst für dich hat. Der nur mir gehört.«

Am nächsten Tag meldete Vilde sich für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule an. Drei Wochen später spielte sie vor und wurde aufgenommen.

»Ich glaube, ich war echt gut«, sagte sie grinsend.

»Ja, das muss zweifellos so gewesen sein, sonst würden sie dich ja nicht nehmen.«

»Ich möchte, dass auch du glücklich bist, Ai. Meine Mutter … ich … Fleur ist so dumm, so dumm! Ich hätte das nie von ihr gedacht, dass sie die beste und die schönste all ihrer Blumen einfach so hocken lässt. Wahrscheinlich ist dieser Arsch tat sächlich krank.«

So schön war das!

Inzwischen waren nun auch die Stare verschwunden. Die Ruhe, die nach ihrem Wegzug eingekehrt war – die Vögel hatten sich, ehe sie ihren Flug in den Süden antraten, auf der Birke vor unserem Küchenfenster versammelt – , mutete einen nun fast gespenstisch an. Ihre Geschwätzigkeit fehlte mir.

Die Zeit, dachte ich wieder einmal, die Zeit heilt keine Wunden. Und das ist auch gut so!

Die Zeit zerrann. Herbst, Spätherbst, November, bald war Weihnachten. Meine Erinnerungen an unsere Umarmungen und Küsse verblassten, aber die Sehnsucht nach Liebe wuchs und wuchs.

Ohne Liebe, dachte ich, ohne Liebe kann man nicht leben! Immerhin: Solange ich den Schmerz spüre, ist auch die Liebe noch da. Das war bei Oma so, bei meinem König, bei Ossip und bei meinem Bruder. Solange ich also den Schmerz spüre, habe ich Fleur nicht ganz verloren. Solange ich mich nach ihr sehne, bleibe ich die Frau, die sie mit ihrer wilden Zärtlichkeit aus mir gemacht hat.

Ausgerechnet mit meinem Schmerz also, versuchte ich mich zu trösten.

Jetzt, da Vilde ihr Studium angefangen hatte, war ich wieder öfter alleine zu Hause. Ich irrlichterte stundenlang im Wald herum, suchte Vogelfedern, sammelte schöne Steine und leere Schneckenhäuser und hörte den Vögeln zu. Ich sass nächtelang in der Küche auf dem Sofa und dachte über das Leben und meine unerfüllten vergangenen und die noch zu erwartenden erhofften Träume nach. Dazwischen rauchte ich auf dem Balkon eine, zwei, oft sogar drei »Mary Longs« nacheinander, obschon mir danach immer ein bisschen schlecht war. Nicht selten blieb ich so lange in der Küche hängen, bis die ersten Strahlen des Tageslichts auf die Seiten des Buches, in dem ich gerade las, oder auf das Blatt, auf das ich gerade schrieb, fielen.

Plötzlich kam mir meine Arbeit, die ich bis dahin eigentlich gemocht hatte, weil ich als Kioskverkäuferin unter die Leute kam, lästig vor.

Ich brauche Zeit für mich!

Ich rechnete aus, dass Melusines Erbe mir eine ganze Weile reichen würde, auch wenn ich nichts arbeitete.

Melusine würde das in Ordnung finden, dass ich mir mit ihrem Geld das Leben etwas leichter mache. Natürlich muss ich bescheiden leben, aber das wird mir nicht schwer fallen. Tu ich ja sowieso, sagte ich mir. Schliesslich wagte ich den Schritt und kündigte die Stelle.

Um mich bei Melusine zu bedanken, legte ich eine rote Rose auf ihr Grab.

Und dann, einen Tag vor Weihnachten, kam Fleurs Brief. Und ich habe geweint. So schön war das!

Frederico Fellini

»Ich werde vielleicht später einmal einen Reiher heiraten«, sagte Vilde heute beim Frühstück. Sie hob die Stirn und sah mich traurig an.

Sie meint das ernst, dachte ich.

»Bestimmt werde ich nie einen Mann heiraten! Wahrscheinlich auch keine Frau.«

»Warum denn ausgerechnet einen Reiher?« fragte ich.

»Weil ein Reiher keine Gefährten braucht«, antwortete sie. »Weil er wie ich die Einsamkeit mehr liebt als das, was er mit seinen Artgenossen gemeinsam hat.« Wieder schaute sie mich traurig an.

Vildes Antwort hatte mich zutiefst erschüttert. Wahrscheinlich weil diese Antwort mich an mich selbst erinnerte. Ich war früher genauso, durchfuhr es mich. Sie könnte meine Tochter sein! Sie ist mein Kind, dachte ich und fragte: »Wie wirst du denn deinen Mann, den Reiher, nennen? Vogel? Reiher?«

Vildes Antwort kam, als hätte sie sich das vorher lange überlegt, postwendend: »Herr Grau! Und weisst du, Herr Grau und ich, wir würden uns wie Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir nur siezten.« Nach einer langen Pause fügte sie dann noch hinzu: »Ich war noch nie mit einem Mann … ich meine, ich bin noch immer Jungfrau.«

»Und mit einer Frau«, fragte ich.

»Auch nicht.«

»Macht dich das traurig?«

»Nur ein bisschen.«

In der drauffolgenden Nacht träumte ich von Höfle.

Er war dabei, als Fleur und ich uns in meinem Bett nach langer Zeit zum ersten Mal wieder liebten. Mit einer Krone auf dem Kopf sass er stolz in seinem Ohrensessel wie der Kaiser von China auf seinem Thron und bewertete böse grinsend, was er beobachtete.

»Gut, gut«, rief er und klatschte in seine Hände, als ich mich von Fleur abwandte und sagte: »Ich kann das nicht, Fleur, es geht nicht! Ich … wenn dieser Florian dabei ist, dann … ich kann nicht bleiben, wie ich bin, wenn Höfle zuschaut.«

»Lass ihn, Höfle ist immer überall dabei. Er ist eben Schriftsteller, die stecken ihre Nase gerne in fremde Geschichten, damit ihnen was zum Schreiben einfällt. Tu, als wäre er nicht da!«

»Dann nimm wenigstens diesen doofen Ring von deinem Finger!«

»Nein, das darf ich nicht. Den hat Höfle für den Rest meines Lebens an diesen Finger gebannt! Ich bin seine gute, treue, harmlose Frau. Der Ring gehört an diesen Finger, der längst nicht mehr meiner ist!«

»Dann reiss Höfle wenigstens diese verdammte Krone vom Kopf!« schrie ich wutentbrannt. »Er ist doch der Letzte, der eine Krone verdient!«

»Ja, das ist wahr, und doch ist er der Erste. Er war vor dir, Almut, vergiss das nicht!«

Ich erwachte in Tränen aufgelöst. Ich bin für Fleur nur die Andere und nicht, wie ich geglaubt hatte, die Eine, dachte ich und tastete im Dunkeln auf dem Nachttisch nach dem Päckchen »Mary Long« das ich jetzt für alle Fälle stets in meiner Griffnähe hatte. Es war nicht da, wo es hätte sein sollen.

Es lag neben Vilde. Und Vilde sass mit einer Wollmütze auf dem Kopf, die sie sich weit über die Ohren gezogen hatte, bis zum Kinn in ihre Bettdecke eingewickelt auf dem Balkon und rauchte.

»Komm«, sagte sie. »Ich habe mir deine ›Mary Longs‹ geholt. Es ist eine Nacht wie im Bilderbuch. Nur für uns gemacht! Ganz jungfräulich die Mondsichel! Mars und Venus funkeln einander an, und gleich fällt für uns noch Kassiopeia vom Himmel! Wobei: Ich bin eigentlich schon so wunschlos unglücklich, dass mir auch eine Sternschnuppe nichts mehr hilft … Too-uit! Too-uit«, ahmte sie das Käuzchen nach, das irgendwo nach seinem Weibchen schrie. »Alle drei sehnen wir uns nach unserem Doppelgänger, das ist das Dümmste, was man machen kann.« Sie rutschte bereitwillig zur Seite. »Komm, Ai«, sagte sie noch einmal, und ich setzte mich neben sie auf den Boden. Vilde liess mich unter die Decke kriechen, legte mir ihren Arm auf die Schulter und reichte mir ihre brennende Zigarette. Und so, in einem steten Hin und Her, rauchten wir schweigend eine Zigarette nach der anderen, bis das Päckchen leer war und statt der Sterne der Horizont zu leuchten anfing.

Zwei Reiher, dachte ich, zwei ziel- und schlaflose Pechvögel kurz vor dem Erfrieren. Und dies nicht nur wegen der Kälte … jeder ist eingesperrt in seinem Käfig!

Plötzlich war mir hundeübel, ich nestelte mich unter der Decke hervor und rannte ins Bad, wo ich mich übergab. Vilde war mir gefolgt und hielt, während ich weiter würgte, meine Stirn.

»Danke«, sagte ich, »als ich wieder auf den Füssen stand, danke, das war sehr lieb von dir.«

»Mach dir nichts draus«, sagte Vilde, verschwand in ihrem Zimmer und schlief den ganzen Tag, die Nacht darauf und noch einen weiteren Tag.

Ich selbst hatte am nächsten Tag alle Anzeichen eines Katers. Kopfweh, Bauchschmerzen und Katzenjammer. Warum Vilde wunschlos unglücklich, wie sie sagte, mitten in der Nacht auf dem Balkon sass und danach schlief und schlief, als ginge es um Leben und Tod, wusste ich nicht.

Aber es hörte sich für mich an, als hätte sie sich nun doch in einen Mann und nicht in einen Reiher verliebt.

Am übernächsten Abend erst setzte sie sich in ihrem zerknitterten Nachthemd zu mir in die Küche und fragte: »Wie alt kann ein Vogel werden?«

»Welchen Vogel«, fragte ich, »welchen Vogel genau meinst du?«

Irgendetwas erschreckte mich an Vildes Frage. Doch sie antwortete mir nicht, sondern stellte mir eine weitere Frage, die ich wieder nicht verstand.

»Wie weiss man, dass man sicher ist? Wie weiss man, dass man einen, den man mag, liebt? Ist es ein Lied, das einen glücklich macht? Ein Flügelschlag, der schmerzt? Ich glaube, ich kenne nur die Musik, die Liebe kenne ich nicht. Vielleicht bin ich doch Höfles …«, seufzte sie und sank, ohne den Satz fertig zu machen, in sich zusammen. Doch plötzlich richtete sie sich auf, ihre dunklen Züge erhellten sich. »Ach, was soll’s?« winkte sie ab. »Ich habe gestern und heute noch nicht gelacht. Wo ich doch so gerne lache«, kicherte sie, und ihre Zunge spielte nun zwischen ihren Lippen – das tat sie immer, wenn sie etwas im Schilde führte. Ein letzter Sonnenstrahl verschmolz mit ihrem Lachen.

»Kennst du den Film von Fellini, wo einer, ich glaube, er hiess Ugo, auf einen Baum kletterte und, gross und mager wie er war, wie ein ausgehungerter Vogel auf einem Ast sass und ›Voglio una donna!‹ schrie? Stundenlang ›Voglia una donna!‹ Also in den höchsten Tönen nach einer Frau rief? Und alle schämten sich für ihn; nur Ugo schämte sich nicht. Ist mir gerade eingefallen, Ai, als ich mich an unsere Balkonszene erinnert habe«, lächelte Vilde und fügte schnell noch hinzu: »Was Sehnsüchte doch für seltsame Blüten treiben!«

»Ja, ja«, sagte ich, »ich kenne diesen Film. Das war ›Amarcord‹. Dieser Ugo, ein dürres, langes Geschöpf voll unerfüllter Sehnsucht, der wahrscheinlich noch nie eine Frau gehabt hatte, sass hoch oben in einem Baum auf einem dünnen Ast. Ein unartiger Knabe in einem Männerkörper, ein ungelenker Riesenvogel, der sich merkwürdigerweise plötzlich widerstandslos ausgerechnet einem Kolibri ergab. Nach Stunden vergeblichen Schreiens machte diesem langen Ugo eine kleinwüchsige Nonne, eine Zwergin in schwarzer Amts tracht mit schneeweisser Haube, die man extra aus der Anstalt, in der Ugo lebte, geholt hatte, Beine. Ihr gelang es, den jungen Mann vom Baum zu holen. Eine überaus berührende Szene. Schön und traurig – oder?«

Vilde hatte meiner langen Rede aufmerksam und geduldig zugehört. »Ja«, sagte sie, »schön traurig«.

Herr Rubin

Es ist sonderbar! In seinem gelben Auge glitzerte kaum merklich stets ein bisschen Verhöhnung. Als wüsste er im Grunde genommen alles besser als wir. Was ja vielleicht auch stimmte.

Jedes Mal, wenn ich Rubin, den einäugigen Kater, den Vilde aus dem Tierheim zu uns geholt hatte, ansah, kam es mir vor, als würde er uns Menschen etwas Tiefes, etwas sehr Bedeutungsvolles verschweigen. Handkehrum schien mir, als besänne sich das Tier plötzlich anders und suche nun doch nach den richtigen Worten, suche mit mir zusammen nach einer gemeinsamen Sprache.

Was Herr Rubin in seinem Katzenleben an Furchtbarem schon erlebt hatte, wusste keiner so genau. Das Einzige, was man Vilde im Tierheim hatte sagen können, war, dass ein Wanderer den Kater halb verhungert und schwer verletzt auf einer Alp in einem Stall, einem verdreckten Verliess, wo das Tier wahrscheinlich tage-, ja möglicherweise sogar wochenlang eingesperrt gewesen sein musste, gefunden und es im letzten Moment vor dem Tod bewahrt hatte. Wie Rubin dorthin gekommen war und wer ihm das angetan hatte, würde für uns wohl für immer im Dunkeln bleiben.

Herr Rubin war eine wundervolle Katze.

Er ist, schrieb ich in mein Notizheft, eine undurchdringliche Abgeschlossenheit für sich! Von Rubin geht eine Stille, eine Ruhe und eine Gefasstheit aus, die durch kein Wort und keinen Blick der Aussenwelt zu erreichen ist.

Und ich dachte: Das möchte ich auch können! So bei mir sein, dass niemand von aussen mir etwas anhaben kann!

Edward Elgar

Weil ich geglaubt hatte, von Fleurs Worten überwältigt zu werden, bat ich Vilde, den Brief für mich zu öffnen und ihn mir vorzulesen. Sie las, zuckte die Schultern und legte die halbleere Seite offen vor mich auf den Tisch.

»Der Brief«, sagte ich, als ich ihn enttäuscht in den Umschlag zurücksteckte, »ist wie ein fremder Blick! Es ist, als hätte sie ihn nur in die Luft geschrieben. Ich habe mir ein anderes Bild von Fleur gemacht!«

»Ich glaube, Almut«, sagte Vilde, »man versäumt das Leben, wenn man an Bildern festhält.«

Am Ende von Fleurs Brief, der aus vier, höchstens fünf hastig dahingeschrieben Zeilen bestand, schlug sie mir vor, dass wir uns in Freiburg treffen sollten. Sie rufe mich vorher kurz an, schrieb Fleur noch.

Der Anruf kam.

»Warum in Freiburg?« fragte ich. »Warum kommst du nicht nach Zürich?«

»Weil Freiburg in der Mitte liegt.«

»Du weichst mir aus?«

»Nein, das tu ich nicht«, lachte sie. »Ich komme dir entgegen.«

Obschon ich mir vorgenommen hatte, nicht nach Freiburg zu fahren, setzte ich mich dann doch in den Zug und fuhr hin. In die Mitte der Welt. Ich versuchte nichts zu erwarten. Aber genau das gelang mir nicht. Je näher ich Freiburg kam, desto heftiger wurde mein Verlangen, und die Erinnerungen an unseren siebentägigen Liebesrausch brachen in stürmischen Wellen über mich her. Von meinen eigenen Gefühlen überwältigt, stieg ich schliesslich schon ganz aufgelöst aus dem Zug. Neben dem begehrenden Aufschrei nach Liebe gab es aber ein leises, vernünftiges Stimmchen in mir, das mich kaum hörbar warnte: Du gerätst in Teufels Küche, Almut! Kehr zurück in dein altes, ureigenes Land. In das Vorher.

In den Käfig, den ich kenne? Nein, das tue ich bestimmt nicht. Nimmermehr!, widersprach ich dem Stimmchen vehement.

Viel zu früh war ich an dem Ort, einem kleinen Café in der Bahnhofshalle, wo Fleur und ich uns verabredet hatten. Alle Tischchen waren besetzt, und ich mochte mich nicht zu einem fremden Menschen dazu setzten. Also tigerte ich rastlos vor dem Eingang des Cafés hin und her und blickte voller Ungeduld immer wieder zur grossen Bahnhofsuhr. Es kam mir aber vor, als stünden ihre Zeiger still.

Ich bin wie Rilkes Panther im »Jardin des Plantes« vom Warten hinter den Stäben müde, haderte ich.

Endlich sah ich Fleur unter all den fremden Leuten. Ohne Eile gleichgültig um sich blickend, bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Ihre breiten Hüften wiegend, der aufrechte Gang, stolz wie immer. So stellte ich sie mir jeweils vor, wenn ich an sie dachte. Auch jetzt ging es mir wie damals, als ich sie nach Jahren zum ersten Mal wieder getroffen hatte. Sie besuchte Melusine, und ich dachte: Wo ist denn Fleur geblieben? Die selbstsichere, unabhängige, stolze Fleur, die Beths allmächtigen Gott, ohne mit der Wimper zu zucken, mit einem einzigen Satz entthront hatte. Diesmal war meine Irritation aber noch grösser als sonst. Denn ihre Haare … Was hat sie denn mit ihren Haaren gemacht?

Ohne es selbst zu wollen, liefen meine Füsse los. Ich stürzte auf Fleur zu und wollte … doch sie wich vor mir zurück.

»Wenn ich sehe, wie zwei auf der Strasse aufeinander zulaufen und sich umarmen«, hatte Vilde einmal gesagt, »dann denke ich immer, die haben dieselbe Musik gehört! Etwa das Klaviertrio in d-Moll von Mendelssohn. Schon die ersten sieben Takte sind ja zum Sterben schön!«

»Nicht hier«, flüsterte Fleur, sah in die Luft hinein und zog mich hastig weiter.

»Du siehst anders aus«, stammelte ich und dachte: Was hat sie nur mit ihren Haaren …? Warum schämt sie sich meiner?

Aufgeregt plappernd – Fleur erzählte mir irgendwelche Belanglosigkeiten – , stiess sie mich weiter. Ihre Bewegungen waren fahrig, und mir kam es vor, als wollte sie nicht nur mich, sondern auch sich selbst vor der Welt verstecken. Wie ein gehorsames Hündchen lief ich stumm hinter ihr her.

Erst in dem kleinen Zimmerchen, das wir uns für eine Nacht in einem Hotel reserviert hatten, erst als uns niemand mehr sehen konnte, schien Fleur mich endlich wahrzunehmen.

»Meine Liebste, Liebste, Liebste«, flüsterte sie atemlos und fiel mir um den Hals. »Ich … ich habe immer, immer an dich gedacht. Glaub mir, ich …«

Der Rest ihres Satzes ging unter in einem Meer – einem Meer von Küssen. Doch diesmal dauerte es lange, bis ich mich auf Fleurs Begehren einlassen und dem eigenen Verlangen nachgeben konnte.

Eigentlich müsste ich doch, ehe es zu spät ist, wie ein inneres Stimmchen mich eben gemahnt hat, zurückkehren in mein altes, ureigenes Land, dachte ich. Sie schämte sich am Bahnhof für mich! Und sie schämte sich auch für sich, das war zu spüren an ihrem merkwürdigen Geplauder und ihrer Fahrigkeit. Fleur schämt sich für unsere Liebe! Aber in meinem alten Land kenn’ ich mich doch gar nicht mehr aus! Da bin ich jetzt genauso fremd wie hier in Fleurs Armen, grollte ich in eitler Gekränktheit. Aber zu guter Letzt konnte ich dem Feuer nicht widerstehen und gab mich der Liebe hin. Unserer wilden Liebe, von der ich gerade nicht mehr wusste, ob es denn wirklich Liebe oder nur eine Fata Morgana war.

Es fühlt sich nicht mehr so an wie vorher!

Das war das Einzige, was ich am nächsten Tag auf der Rückreise zu denken im Stande war. Und ich verstand nicht recht, warum ich das dachte. Denn: Es ist doch so schön, es ist doch so wunderschön gewesen!

Vilde war nicht da, als ich nach Hause kam. Ich schloss in meinem Schlafzimmer die Läden, zog die Vorhänge und legte mich in mein Bett. In mein Nest. Wie ein kranker Vogel. Und diesmal war ich es, die schlief und schlief und schlief.

Wenn ich zwischendurch kurz erwachte, weil ich aus der Wohnung über mir Klavier- und Celloklänge hörte, störte mich die Musik nicht im Geringsten, denn im Halbschlaf musste ich daran denken, dass Vilde einmal gesagt hatte, sie wolle mit ihrer Musik nichts anderes als nur die Herzen öffnen.

»Es gibt so viele Menschen, die ihr Herz für immer verschlossen haben. Das ist doch sehr traurig.«

Vilde übte seit Wochen für einen Wettbewerb Elgars Cellokonzert, und einer ihrer Kollegen spielte auf dem Klavier den Orchesterpart.

Als ich endlich wieder aus meinem zerwühlten Nest kroch – ich hatte es für mehr als vierundzwanzig Stunden nicht verlassen und erwachte mitten in der zweiten Nacht – , fühlte ich mich wie früher. Wenn Ossip mir nicht mehr aus dem Sinn wollte. Wenn das Kind schrie und schrie; wenn die Räder quietschten und ich nicht mehr zu unterscheiden vermochte, ob es Ossips oder meine Haut war, unter der das Kind schrie, und ob es meine oder Ossips Ohren waren, in denen die Räder unentwegt quietschten. Die Grenze zwischen dem Aussen und dem Innen hatten sich aufgelöst. Und wieder einmal wollte ich verschwinden. Nichts als nur verschwinden. Weglaufen aus dem falschen Film.

Wahrscheinlich gibt es den Himmel auf Erden nicht, menetekelte ich und fluchte dann leise in mich hinein, weil ich mir wieder einmal am heissen Tee die Zunge verbrannt hatte.