Damit der Tag nicht gleich mit einem Schatten beginnt - Brigitta Römer - E-Book

Damit der Tag nicht gleich mit einem Schatten beginnt E-Book

Brigitta Römer

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Beschreibung

Almut, das Mädchen mit den roten Haaren, erzählt vom Aufwachsen in Endikon, dem traurigsten Dorf der Welt. Sie lässt den Leser an den kindlichen Spielen mit ihrem Bruder Wölfli teilhaben, aber auch an der zerrütteten Ehe der Eltern - ihrem über alles geliebten Vater, dem König, und der strengen Mutter Ilse. Almut redet über Gott und die Welt, stellt Fragen übers Leben der Erwachsenen - später auch über die Liebe. Die Qualitäten dieses Romans liegen in der mitreißenden Sprache und der ungeheuren Poesie des Erzählten, wo Franz Kafka ebenso einen festen Platz einnimmt wie ein rothaariger Gott mit Brille, ein imaginärer Hund namens Sand oder Almuts bigotte Mitschülerin Beth. Brigitta Römers fesselndes Buch, das Almut von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter begleitet, erinnert an den »Kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry oder an »Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna«. Die schweren und ernsten Themen des Lebens werden durch eine poetische Leichtigkeit (anfangs aus der Perspektive einer Elfjährigen) vermittelt, die den Leser neugierig von Kapitel zu Kapitel weiterlesen lässt, um zu erfahren, wie es der phantasiebegabten Almut im Verlauf ihres Lebens ergehen wird. Ein bezauberndes Buch, das in seinen besten Passagen an die berühmten Geschichten von Peter Bichsel heranreicht.

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Inhaltsverzeichnis

Pauli

Gott

Teufels Küche

Kafka

Oma

Das Schloss

Dass Oma das so lange aushält

Beth

Gift

Die Andere

Achtundzwanzig

Auch Wälder haben ihre Zeit

Rabenzeit

Fleur

Blutrot

Nichts

Winterkind

Zu spät

Glück

Die Lehrerin

Wie die Schweine

Nicht mit Rosen bedacht

Wie ein Stein

Honiggelb und von einem tiefen Blau

Leuchten

Dem Himmel nahe

Ganz leicht

Glück

Dein König, Almut, ist jetzt ganz leicht

Winnetou

Endikon

Jeder für sich alleine

Schlamassel

Das Fest

Ein überaus dunkles Weiss

Eine leise Röte

Der Koffer

Ich hörte sie von weit her singen

Firlefanz

Wolf

Heimweh

Neuzehnhundertachtundsechzig

Doch, sie kann

Das Allernötigste

Nur gerade Mal ein Katzensprung

Sitting Bull

Ins Blaue

Rubia

Wenn Eulen schreien

Wird sie da sein?

Zu spät

Schlafende Hunde

Trauermantel

Unter dem Lindenbaum

Beth

Am nächsten Morgen

Josefstrasse

Unkenrufe

Kirschrot

Bei der Kälte!

Froh zu sein bedarf es wenig

Zu wenig zum Leben

Kindchen

Kranker Vogel

Die Unruhe der Tiere

Endloser Sommer

Schlafen wie Dornröschen

Eine unsichtbare Hand

Giulietta

Das grosse Sterben

Dunkel

Schlafen

Michael

Suchen

Warten

Kleine Lichter

So ein Gott!

O mein Herz!

Am äussersten Rand der Erde

Narben

Mein Riesenglück

Heimat

Regen

Schnee

Der erste Mensch

Die letzte Seite – das achte Blatt

Pauli

Jetzt wäre ich um ein Haar hingefallen. Aber die Augen öffnen durfte ich nicht. Denn dann hätte der schwarze Mann mich gefressen.

Pauli tagträumt und erfindet, während er dem Tisch bei irgendetwas zuschaut, vielleicht eine wahre Geschichte. So dachte ich, als ich endlich in der Küche stand und erleichtert auf einen der vier Stühle niedersank. Nun konnte ich getrost meine Augen wieder öffnen. Jetzt, bei meinem König, war ich ausser Gefahr.

Bis in die Küche, so hoffte ich, würde der schwarze Mann mit seinen hundert Augen nicht kommen. Furchtbare Augen, die nie schliefen und mich nicht schlafen liessen. Diese hundert und mehr bösen Blicke.

»Papa, ich kann einfach nicht schlafen! In meinem Zimmer ist alles … alles so … bös …«

»Prinzessin auf der Erbse?«

»Ja«, antwortete ich, »ja … darf ich bitte … darf ich … einen einzigen winzigen Schluck von deinem Wein trinken? Bitte, Papa! Damit ich …«

Wortlos schob er sein halbvolles Glas über den Tisch. Ich nahm es und trank nach dem erlaubten Schluck schnell noch einen zweiten, grösseren. Das tat ich immer! Der Wein schmeckte zwar abscheulich, aber …

»Ja, ja, Rotwein, das ist gut fürs Herz«, murmelte Pauli. Er hob seine spitzen Schultern ein bisschen an, zwinkerte mit den Augen und streckte dann die Hand nach seinem Glas aus.

»Aber zwei Schlucke reichen!«

»Danke«, murmelte ich und schob das Glas zurück. Er nahm die Flasche und goss sich nach.

Das blubbernde Geräusch klang, so kam es mir vor, wie ein listiges Gekicher. Hell und lieb. Ein gut gemeintes Schmunzeln, welches mich das dreckig-hämische Grinsen des schwarzen Mannes, schnell vergessen liess. Ich wurde plötzlich froh. Froh über den Wohlklang des gluckernden Singsangs, der mir wie ein Sonnenstrahl über den Rücken rieselte und meine kalten, nackten Füsse wärmte.

Dass man mit Papa so still glücklich sein kann, wunderte ich mich. Ich fühlte die Wärme im ganzen Körper.

Sein Glas war jetzt voller als zuvor.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, richtete mein Vater seinen Blick wieder auf den Tisch und träumte weiter vor sich hin.

Er zählt vielleicht die Flecken auf der Tischdecke, vermutete ich und überlegte, ob ich ihm vom schwarzen Mann, von Argus in meinem Zimmer, erzählen soll, damit meine Angst verschwindet. Aber ich spürte, dass ich damit nur die Stille gestört hätte. Die Stille, die mir half, zu mir zu kommen.

Auf dem Buch, das neben Vaters blasser Hand, neben seinen langen, langen Fingern lag, stand zuoberst klein Franz, darunter gross Kafka und in der Mitte Der Process. In Schwarz!

»F-r-a-n-z - K-a-f-k-a«, buchstabierte ich. Ich konnte schon ein bisschen lesen, obschon ich noch nicht zur Schule ging. Mit dem Zeigefinger strich ich über die Schrift, die sich von dem ockerbraunen, leinenen Buchdeckel ein wenig abhob. »K-a-f-k-a?«, wiederholte ich, betrachtete das Buch und sah fragend zu meinem Vater auf.

»Ja, Kafka … genau«, murmelte er, und ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein müdes Gesicht.

Hell und weit. Sehr weit reichte es, so schien mir. Dieses kleine Lächeln spendete mir mehr Trost, als tausend Worte es je vermocht hätten. Das ganze Haus war voll von diesem guten, stillen Lächeln.

Vollends besänftigt, stieg ich lautlos wieder die Treppe hoch. Diesmal hielt ich aber, um im Finstern nicht noch einmal zu stolpern, die Augen weit offen.

Der schwarze Mann war jetzt doch bestimmt verschwunden? Auf und davon. Auf Nimmerwiedersehen!

Noch traute ich der Sache nicht ganz. In mein eigenes Zimmer mochte ich nicht zurückkehren. Womöglich geisterten dort im Finstern noch immer Argus’ böse Blicke herum. Ausgeschlossen war das nicht! Mama behauptet immer, der Teufel habe, wenn er erst mal im Haus sei, Blei an den Füssen und einen langen Atem.

Ich legte mich zu meinem Bruder ins Bett – in Löffelchenstellung. Wolf murmelte etwas Unverständliches im Schlaf und drückte seinen warmen Rücken an meinen Bauch.

Die Königin, meine Mama, ist die Schönste im ganzen Land! schoss es mir durch den Kopf, als ich, die Nase in Wölflis Nacken, tief Luft holte und nun plötzlich meine Mutter vor mir sah. Meine Königin mit den langen, dunkelblonden Haaren, dem schmalen Gesicht und den blauen Augen. Gierig sog ich Wolfs Geruch in mich hinein. Ein Gemisch aus Pulmex, Himbeersirup und Zwieback. Mit einem Mal war ich ganz selig. Wenn ich einmal gross bin und so schön wie Ilse, dachte ich in einem Glückstaumel, dann werde ich Pauli, den guten König, meinen Papa heiraten und …

Aber da fielen mir meine roten Haare ein, und mein Glück wurde sofort kleiner.

Ich hatte die Angewohnheit, mir meine Eltern als König und Königin vorzustellen. Ein Königspaar, gekrönt in prächtigen Kleidern. Und ich war ihr Königskind. Dornröschen. Im Geheimen nannte ich sie bei ihren Vornamen. Ilse und Pauli, das kam mir richtiger vor als Mama und Papa, obwohl Mama es mir verboten hatte.

»Herrgott nochmal! Ich bin deine Mutter, nicht deine Ilse.«

»Menschenskind, Almut, du gehst ja schon bald zur Schule, da schläft man nicht mehr beim Bruder! Auch wenn der noch zu klein ist für alles!«, schimpfte Ilse, als sie mich kürzlich in Wölflis Bett erwischte. Sie war sehr böse auf mich. Das fiel mir jetzt wieder ein, und ich sah Ilses Zornesfalte, den Skorpion zwischen ihren Augenbrauen, vor mir. Gross, tief und schwarz. Er verdunkelte ihr schönes Gesicht.

»Zu Befehl, Frau Königin«, murmelte ich kleinmütig. Ich darf mich von Mama nie mehr in Wölflis Bett erwischen lassen. Damit der Tag nicht gleich mit einem Schatten beginnt, dachte ich noch.

Gott

»Noch sieben Mal schlafen, dann ist es soweit!«, sagte Ilse.

»Es wird Zeit, dass du in die Schule kommst!«

Ich konnte es kaum erwarten.

Im Februar war ich sieben Jahre alt geworden.

Es schneite.

»Das Holz im Keller ist fast alle! Wenn’s nicht bald wärmer wird, dann … ja, Menschenskind! … Aber woher nehmen und nicht stehlen? Damit hat ja nun keiner gerechnet, dass an Ostern noch immer Winter ist!«

»Werden wir jetzt einfrieren, Mama?« Wolf wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase. »Werden wir vertoden?«

Am ersten Schultag lernte ich das Wort GOTT und meinen eigenen Namen schreiben. Am Ende hatte ich in dem blauen Heft, das die Lehrerin allen Kindern zusammen mit einem roten Bleistift und einem Radiergummi auf den Tisch gelegt hatte, eine ganze Seite geschrieben: GOTT ALMUT GOTT GOTT GOTT ALMUT ALMUT GOTT ALMUT.

Den Radiergummi hatte ich dabei kein einziges Mal gebraucht.

Am zweiten Tag zeichnete ich mit wenigen Strichen, nachdem das Fräulein Blum die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel vorgelesen hatte, Gott mit einigen Buntstiften – rot, grün, blau und schwarz – auf ein grosses, weisses Blatt Papier. An den unteren Rand des Blattes schrieb ich in Schwarz gross GOTT und machte einen dicken, roten Punkt dahinter.

Ich erinnerte mich, dass Mama zu mir gesagt hatte: Zuletzt steht immer, immer ein Punkt.

Weil ich mit meiner Zeichnung schnell fertig gewesen war, schrieb ich danach auf die hintere Seite des Blattes meinen Namen. Gleich fünf Mal hintereinander. Und jedes Mal machte ich einen roten Punkt dahinter. Fünf rote Punkte. Fünf Mal bunt durcheinander Almut. Ich war stolz, dass ich in meinem Namen das T von Gott hatte.

Steif und fest behauptete später auf dem Heimweg meine pummelige Banknachbarin Beth mit den tiefliegenden traurigen Augen und dem bleichen ernsten Gesichtchen, das hell aus dem dunklen Haarkranz heraus leuchtete, Gott sei gross und sehr mächtig, habe nicht rote, sondern weisse Haare und einen ebensolchen dicken Bart. »Und ganz sicher hat er keine Brille!!!«

Doch ich liess mich nicht so leicht von meinem Gott abbringen!

Ich stellte mir Gott wie Pauli, meinen Papa, vor. Einfach nur viel älter.

»Gott ist katholisch und du? Du bist wahrscheinlich noch nicht einmal evangelisch!«, zischte Beth und verzog ihre Lippen. »Du kannst doch gar nicht wissen, wie Gott aussieht!«

Obgleich es mich auf der Zunge brannte und ich mich gerne für meinen Gott gewehrt hätte, schwieg ich und machte mein Ich-hör-dir-gar-nicht-mehr-zu-Gesicht. Ich biss auf die Zähne, zählte bis zehn und hielt den Atem an. Wahrscheinlich ist Pauli schon katholisch, dachte ich und kam zum Schluss, dass wohl eher Ilse noch nicht einmal evangelisch sei!

Beth liess sich nicht abschütteln und lief ununterbrochen redend neben mir her.

»Genau so, wie ich ihn gezeichnet habe, sieht Gott aus! Genau so! Ich bin nämlich katholisch! Darum weiss ich es!«, behauptete sie.

Plötzlich stellte sie sich vor mich hin, fuchtelte mit ihrem Zeigefinger in der Luft herum und schwenkte ihre Zeichnung. »Und hinter Gott macht man sicher gar nie einen Punkt! Nur, damit du es weisst: Gott hat keinen Punkt, er ist unendlich!«

Während mein Gott auf dem Blatt in der linken unteren Hälfte ohne weiteres Platz gefunden hatte, füllte Beths Gott das ganze Blatt aus. Die weissen Haare waren allerdings schwarz wie die ihren. Ebenso der Bart.

Vielleicht weil man auf einem weissen Blatt keinen weissen Bart sehen kann!, dachte ich und fand, dass Beths Gott eher aussah wie Argus, der schwarze Nacht-Mann.

»Mein Gott sieht halt ähnlich aus wie mein Papa. Und der ist nicht gross und mächtig und hat nie im Leben keinen Bart gehabt, dafür eine Brille und wie ich rote Haare!«, rechtfertigte ich mich schliesslich doch noch und rannte dann, so schnell ich konnte, weg.

Das mit dem Punkt werde ich nachher Mama fragen, nahm ich mir vor.

»Man sagt nicht nie keinen Bart gehabt!«, schrie Beth mir wütend hinterher.

Da hielt ich mir mit beiden Händen die Ohren zu und rannte noch schneller.

Teufels Küche

Wegen meines rothaarigen Gottes mit Brille – an den ich, seit ich ihn gezeichnet hatte und seinen Namen schreiben konnte, mit Leib und Seele glaubte –, geriet ich nicht nur bei Beth, sondern auch zu Hause immer wieder in Teufels Küche.

Pauli schien zu Gott keine rechte Meinung zu haben. Er starrte, wenn von Gott die Rede war, nur wortlos auf seine Finger. Ilse jedoch war sich ihrer Sache sicher. Jeder, der an ihn glaube, habe einen Narren gefressen, behauptete sie und ärgerte sich »über den Unsinn, mit dem meine Tochter jeden Mittwoch nach dem Religionsunterricht von der Schule nach Hause kommt«. Gott sei nichts als ein Schlag ins Wasser!, behauptete sie sogar.

Gott war Ilses wunder Punkt.

»An Gott oder den Teufel zu glauben, Almut, ist gehupft wie gesprungen!«, versuchte sie mir weis zu machen.

Ich glaubte ihr nicht. Gott war mir ein Vater.

Kafka

Wölfli hat fast immer Hunger! Ich werde warten, bis er erwacht, sagte ich mir und kaute an meinen Nägeln. Er wird mir beim Essen meines Kartoffelbergs helfen. Dafür erzähle ich ihm nachher meine Geschichte nochmal von A bis Z.

Dass ich die Geschichte ein bisschen verbessern wollte, hatte ich mir schon in der Schule vorgenommen. Als Salzsäule, das war klar, konnte man Lots Frau nicht einfach stehen lassen und vergessen. Sie tat mir leid.

Auf dem Heimweg war ich aber nicht dazu gekommen, mir ein besseres Ende auszumalen, weil Beth mir wieder mal die Ohren vollgequatscht hatte und ich gar nicht zum Nachdenken, geschweige denn zum Reden gekommen war.

Als ich noch auf der Treppe stand, ahnte ich es bereits: Etwas Kompliziertes lag in der Luft.

Gleich blüht mir was, dachte ich und ich zog ein bisschen den Kopf ein, als ich leise in die Küche trat. Ilse hantierte am Herd. Sie schepperte mit den Deckeln der Töpfe, dass es einem in den Ohren wehtat.

»Ach! Hast du mich jetzt erschreckt«, murmelte sie, ohne mich anzublicken, und ich sah, wie ich vermutet hatte, den Skorpion; die dunkle Falte zwischen ihren Augenbrauen.

In letzter Zeit war bei uns am Mittagstisch nie gut Kirschen essen. Am besten wäre es gewesen, mich unauffällig an den Tisch zu setzen und den Mund höchstens zum Essen aufzumachen.

Doch ich wollte reden, einfach reden, reden. Ich war wie besessen. Frau Lot musste erlöst werden! Sie tat mir leid.

Kaum dass alle am Tisch sassen, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus. Doch plötzlich kamen mir lauter Gestalten in die Quere, die weder in Sodom noch in Gomorra etwas zu suchen hatten. Die Jungfrau Maria, Emil, die Detektive, Jesus und König Herodes, das doppelte Lottchen, Schneewittchen, Rapunzel, Augustus und das Sterntalerkind.

»Um Himmelswillen, Almut, bewahre uns doch vor diesem Mist! – Iss endlich und halt deinen Mund!«

Ilses Stimme schepperte; wie gerade eben die Töpfe in der Küche. Kein gutes Zeichen. Allerspätestens jetzt hätte ich auf der Hut sein müssen. Mamas Augen standen ganz nahe zusammen. Die Falte zwischen ihren Brauen hatte sich noch tiefer eingegraben. Sie glänzte schwarz.

Der Skorpion wappnet sich, dachte ich kurz aufblickend.

Mamas Schelte blitzte an mir ab. Denn ich musste ja mit Lots Frau vorwärts machen und zu einem Ende kommen! Hunger hatte ich sowieso keinen. Im Unterschied zu Wolf hatte ich fast nie Hunger. Das Essen, die Kartoffeln konnten mir gestohlen bleiben. Also redete ich mich weiter um Kopf und Kragen.

»Du wirst schon sehen, am Ende sitzt du wieder alleine vor deinem vollen Teller! Da helfen dir dann kein Gott und keine Lotte nichts!«, schepperte Ilse.

Ja, dachte ich, Mama hat Recht. Ich habe am Nachmittag frei, da kann ich mir etwas Besseres vorstellen, als alleine vor einem vollen Teller zu sitzen. Ich will mit Wolf ins Schloss!

Eigentlich hatte auch ich selbst von Sodom und Gomorra mehr als genug, und der Gedanke an unser Schloss hätte mich fast zur Vernunft gebracht … aber … wo war ich mit der Geschichte überhaupt steckengeblieben?

Statt aufzuhören, fuhr ich fort mit meinem Geplapper. Schliesslich explodierte mir ja schier der Kopf vor Einfällen. Ich fabulierte also weiter wild drauflos, streute Brotkrümel auf den Weg, stach mich in den Finger, wickelte das Kind in Windeln und legte es in eine Krippe, schüttelte den Apfelbaum, holte Brote aus dem Ofen, liess Lazarus vom Tode auferstehen, flüchtete mit Maria und dem heiligen Kind auf einem Esel vor König Herodes, bat Aschenbrödels Turteltäubchen um Gold und Silber, warf den Frosch an die Wand, fragte den Spiegel, wer die Schönste sei im Land und wusch dem Heiland die Füsse. Und natürlich flocht ich überall Gott ein. Gott, der Allmächtige. Gott, der Erhabene. Gott, der Gerechte. Ich redete und redete und merkte nicht, dass es längst nicht mehr um Lots Frau ging. Es war wie nachts in meinen Träumen. Da lief oft etwas aus dem Ruder. Ich war drauf und dran, die ganze Welt zu retten.

»Sapperlot! Es reicht! Jetzt … jetzt hab’ ich die Nase voll von deinem Kraut und deinen Rüben! Da! Wer nicht hören will, muss fühlen! Und da! Gleich noch eine!«

Mein Kopf stand augenblicklich in Flammen, und mir war schwindlig.

Rot, nun bin ich ganz rot im Gesicht, dachte ich und wäre vor Scham am liebsten sofort unter den Tisch gekrochen. Ich duckte mich aber nur ein bisschen und versteckte die Hände in den Ärmeln meines blauen Pullovers.

»Was ist bloss in dich gefahren? Was für einen Unsinn tischst du uns da auf? … Bald jeden Tag geht das so … so sind die Frommen! Sie palavern und palavern. Mein Vater war auch so einer. Er redete und redete, und keiner hörte ihm zu! Keiner interessierte sich für das, was er von seiner Kanzel herab verzapfte. Du scheinst das Predigen von ihm zu haben!«

»Ich … ich habe doch nur …«

»Ja, ja! Bewahre uns in Zukunft einfach vor deinen dummen Geschichten und auch vor Gott! … Wobei Gott? Wäre ja schön, wenn es den gäbe! Oder Paul? Was glaubst du denn, wo der hockt? Uns … ausgerechnet uns scheint er ganz vergessen zu haben – oder?«

Mit einem eisigen Blick durchbohrte sie die ganze Welt. Man brauchte gar nicht erst aufzublicken, um das zu wissen. Man fühlte es einfach.

Wenn der König noch lange nichts sagt, dachte ich im Stillen, wenn er jetzt nicht gleich eine Antwort gibt, dann … dann wird Ilse … Pauli könnte doch einfach irgendetwas zusammenschwindeln … »Flunkern!«, wie Mama sagt. Mit brennendem Kopf nahm ich hoffnungslos den Kampf mit meinen kalten Kartoffeln wieder auf und steckte die Tränen weg.

Aber würde ich in meinem Leben jemals wieder etwas herunterschlucken können? Ich werde an diesen Kartoffeln ersticken! Und Pauli? Der König? Papa wird niemals jemals eine Antwort geben … er …

Pauli wusste zwar, dass es einen Gott gab, da war ich mir sicher, aber wo er ist … das konnte auch er nicht wissen. Das wusste doch keiner!

Fräulein Blum, meine Lehrerin, hatte gesagt, dass man Gott nicht sehen kann! Und eine Lehrerin lügt nie. Sie flunkert nicht einmal. Aber Ilse … Mama hat eben gerade gelogen! Gott hat uns nicht vergessen! Gott kann uns nicht vergessen … er … Mama hat nicht nur geflunkert, nicht nur ein wenig geschwindelt. Sie hat regelrecht gelogen! Und Papa behält Gott lieber für sich. Denn der Skorpion … Mama macht damit immer alles kaputt!

»Wolfgang ist mit dem Essen längst fertig und du … du hast ausser deinen Fingernägeln heut’ wohl noch nix Richtiges gegessen!« Wieder das Scheppern in meinen Ohren.

Wie jeden Mittag hatte Wölfli seinen Teller als erster leer gegessen und seinen ährenblonden Lockenschopf nun auf seine Arme gebettet. Ich hörte das leise, rasselnde Geräusch seines kurzen Atems. Er war eingeschlafen.

Seit Wochen war er erkältet, er hustete und weinte nachts und sträubte sich, wenn man ihm die Nase putzte.

Und Papa? Der König?

Ich blickte kurz auf und sah, wie er verloren in seinem Teller herumstocherte.

Er weiss nicht einmal eine Lüge! Der König, dachte ich, Papa müsste uns jetzt doch unbedingt aus der Patsche helfen! Er ist gross und klug und … er hätte … wenn er doch nur! …, hoffte ich im Stillen.

Aber der gute König hatte sich hinter seinem Ich-hörenichts-und-sehe-nichts-und-sage-nichts-Gesicht versteckt. Und ich wusste: Er wird sein Versteck so schnell nicht verlassen. Aber der Skorpion wird sich ohne eine Antwort nicht zufrieden geben. Er wird irgendwann zustechen – gifteln. Da war das beste Versteck nicht gut genug.

Widerwillig schob ich den dürren Brocken in meinem Mund weiter von Backe zu Backe. Ich hätte mir jetzt gerne die Ohren zugehalten. Die plötzliche Stille in der Küche schien mir unerträglich; und je länger sie andauerte, desto ungestümer und lauter klopfte mein Herz. Gleich wird es explodieren. Als trüge ich ganz allein an allem die Schuld.

Ich wünschte mir, ich wäre ein Igel. Stachelig, damit sich jeder an mir die Finger verbrennt, dachte ich störrisch.

Ich starrte das leere Glas an, das neben meinem vollen Teller stand. Mit dem ersten Bissen hatte ich es in einem Zug hinuntergeleert. Ein zweites gab’s, wenn überhaupt, erst, wenn ich aufgegessen hatte.

Wasser! Bitte, Mama, nur einen kleinen Schluck! flehte ich für mich. Da fielen mir der kleine Prinz, die Rose, die Wüste, der Fuchs und der Satz ein: »Wasser kann auch gut sein für das Herz.« Er klang mir plötzlich wie ein Trost in den Ohren. Ich musste an die tausend Brunnen, die tausend Glöckchen, die tausend Sterne denken und an … Oma!

Sie hatte mir die Geschichte vom kleinen Prinzen oft erzählt.

Oma, dachte ich, und mein Herz fühlte sich nun wie ein winziger Kieselstein an – tot und traurig.

Aber Fräulein Blum hatte gesagt, versuchte ich mich zu trösten, dass Gott einem gerade in der grössten Not am nächsten sei. Bloss erkenne man manchmal erst im Nachhinein, dass er da gewesen wäre, wenn man nur an ihn geglaubt hätte.

Bestimmt ist er jetzt da. Mitten unter uns!, dachte ich. Ich stellte mir vor, wie er zwischen Mama und Papa sass. Und keiner merkt es? Jedenfalls, so durchfuhr es mich, werde ich wahrscheinlich nie, nie mehr schlucken können! Und gleich blüht mir noch viel mehr. Ist das nun die Strafe, dass ich viel zu viel geschwatzt habe? Vielleicht mag Gott es einfach nicht, wenn man seine Geschichten umdichtet. Vielleicht muss Lots Frau halt doch für immer – gottgewollt! würde Beth sagen –, als Salzsäule … Wenn nur Pauli endlich, endlich etwas sagen würde!

Du bist mir noch eine Antwort schuldig, mein Lieber! wird Ilse jetzt gleich mit feuerroter Stimme fordern.

Es ist mein gutes Recht, eine Antwort zu kriegen, wenn ich etwas frage, pflegte sie sich jeweils zu rechtfertigen, wenn, was oft geschah, Paul Jäger seiner Frau Rede und Antwort schuldig blieb.

Ich zerdrückte alle Kartoffeln auf einmal, schob den kalten Brei zu einem Berg zusammen und versteckte, was ich angerichtet hatte, unter meiner Hand. Das hätte jetzt gerade noch gefehlt, dass Mama …

»Wer weiss, Ilse, wer weiss? Vielleicht …«

Endlich, Papa … Er redet! Der gute, gute König redet! Er hat gesagt »Wer weiss, Ilse, wer weiss, vielleicht …« Und jetzt wird er uns gleich sagen, wo Gott ist! Dann kann Mama sehen, wo sie hinkommt mit ihrem Wo-der-hockt!

Nun hatte ich den schweren Brocken Kartoffelbrei mit einem Mal ganz leicht geschluckt. Und war wieder voller Hoffnung.

Aber nein! Zu früh gefreut.

Mit abgebrochenen Sätzen wusste man ja noch lange nicht, woran man war.

Nach dem »Vielleicht« kratzte sich Pauli mit der einen Hand am Kopf und betrachtete die andere, als wär’s eine fremde auf dem Tisch. Und blieb stumm wie ein Fisch. Erst nach einer Weile, die mir wie eine ganze Ewigkeit vorkam, gab er sich noch einmal einen Ruck. Mit einem rastlos ratlosen Lächeln auf den Lippen sagte er leise – es hörte sich an, als spräche er nur mit sich selbst: »Vielleicht sind wir, da Gott uns nicht findet, einfach hier, wo wir sind, am falschen Platz … Zur falschen Zeit am falschen Ort, Ilse? Das wäre dann wohl unser und nicht Gottes Fehler – nicht wahr?«

Seine Augen schwammen hinter den dicken Brillengläsern noch eine Weile hin und her, als erwarte er eine Antwort. Doch dann senkte er seinen Blick wieder und vertiefte sich, wie immer, wenn ihm nicht ums Reden war, in seine Hände oder ins Muster der Tischdecke. So genau konnte man nicht wissen, was ihn da jeweils gefangennahm.

Gleich wird der Skorpion losspringen! Jetzt war’s – das fühlte ich –, um das letzte Bisschen Frieden endgültig geschehen. Ich duckte mich. Ein Weinen kroch mir die Kehle hoch.

Mama wird Tacheles … sie wird Papa die Leviten lesen. Gleich wird sie ihm ein Ich-rede-mal-wieder-nur-an-eine-Wand und ein Ach-du-fadenscheiniger-Erbsenzähler-du und ein Wer-A-sagt-muss-auch-B-sagen und noch viel Schlimmeres an den Kopf werfen.

Lauter Dinge, die mir für Pauli weh taten.

Doch es blieb still. Wieder wusste man nicht, woran man war.

Als fände sie im Himmel, was sie gerade suchte, schaute Ilse nach einer Weile seufzend zur Decke. Sie verdrehte ein wenig die Augen, schien mir, und sagte dann:

»Ach, du, Paul, du mit deinem Kafka.«

Nur das. Nichts weiter. Ihre Stimme war nicht laut, und ihre Worte waren nicht spitz und feuerrot, wie ich befürchtet hatte. Das Scheppern war verschwunden. Sie hatte ganz sanft gesprochen. Paul und Kafka schwebten noch immer in der Luft. Zwei kleine, bunte Vögelchen.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Zumindest stellte ich mir das vor. Ich wagte es ja noch immer nicht, meiner Königin in die Augen zu blicken. Aber ich war mir sicher: Sie macht jetzt lustige Augen!

An ihren lustigen Augen lag mir viel, und ich hielt mich daran fest. Wieder bahnte sich – diesmal aus Dankbarkeit – ein Schluchzen in meiner Brust an. Und wieder schob ich es weg.

Sie hat nicht Ich-lass-mir-die-Butter-nicht-einfach-von-dir-von-meinem-Brot-nehmen! gesagt. Kein Ach-du-ewiger-Langweiler-du! Kein Davon-werden-wir-aber-auch-nicht-satt!

Ich verstand zwar nicht, warum nun das Unwetter durch dieses winzige Wörtchen Kafka so mir nichts dir nichts plötzlich vom Tisch war. Aber eigentlich war das ja auch völlig egal. Mein hartes Kieselsteinherz blühte jedenfalls auf. Ich wäre Mama am liebsten um den Hals gefallen. Jetzt konnte ich wieder klar denken. Das Tohuwabohu in meinem Gehirn hatte sich verzogen, und ich konnte mir mit einem einigermassen kühlen Kopf überlegen, wer denn dieser Fremde, dieser Kafka sein mochte. Aber ich sah ein, dass Neugier jetzt fehl am Platz gewesen wäre.

Alles, was zählt, dachte ich, ist, dass einem für Pauli nichts weh zu tun braucht. Danke, danke, liebe Frau Königin! Danke, danke, mein lieber Gott! Danke, Papa!

Ganz leicht war mir mit einem Mal zu Mut. Und um ein Haar wäre mir mein Glück beinahe herausgerutscht. Fast hätte ich meine Dankbarkeit mit einem Tanz um den Tisch und einer Umarmung offen gezeigt. Aber im letzten Moment hielt ich inne und schielte, ohne den Kopf zu heben, in Ilses Richtung. Da sah ich, dass ihr Lächeln wieder verschwunden war, und der Skorpion lauerte, wenn auch längst nicht mehr so schwarz, noch immer zwischen ihren Augen. Es war gewiss besser, die Zunge weiter im Zaum zu halten.

Und Pauli? Papa?

Der König, so schien mir, war schon wieder weit weg. Im Reich seiner langen Finger. Vielleicht beobachtete er auch die Flecken auf der Tischdecke. So genau wusste man das nie bei ihm.

Auf jeden Fall, das war klar, will er jetzt nichts als schweigen. Das wenigstens sah man ihm deutlich an.

Kafka? Der geheimnisvolle Fremde wollte mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ist er etwa einer von Papas schönen »Eintracht«-Freunden?, durchfuhr es mich.

Und schon hatte ich Mama in den Ohren. »Na, gehst du schon wieder mit deinen schönen ›Eintracht‹-Freunden feiern? Ich kann mir’s ja denken, mit was für einer Fahne du dann wieder mitten in der Nacht, wenn normale Leute längst schlafen, mehr auf den Knien als auf deinen Füssen angekrochen kommst!«

Ilse hasste Papas »Eintracht«-Freunde, obschon sie immer »schöne« sagte. Das hörte man spätestens bei der Fahne. Die Fahne schnitt einem die Luft ab … sie klang, als würde einer einem die Tür gleich fünf Mal vor der Nase zuschlagen. Dar um, weil alle Türen zu waren, konnte Papa auch nicht antworten. Er machte nur ein langes Gesicht. Und wie so oft wusste man nicht recht, woran man war.

Ach, der Herr zuckt nicht mal mit der Schulter?!, schmiss Ilse Pauli, wenn er schon lange im Dunklen verschwunden war, böse nach. Das machte die Sache nicht besser.

Schon wieder vergass ich, dass ich hätte essen müssen.

Aber war Kafka wirklich einer von denen?

Das wollte ich nach dem Glück eben wirklich nicht glauben!

So ein schlechter Mensch ist Kafka bestimmt nicht! Und überhaupt, es ist doch jetzt alles, alles gut!

Von wegen, alles gut! Der Kartoffelberg? Ihm fehlte nur die oberste Spitze! Ihm musste ich, wenn mir mein Glück lieb war, nun augenblicklich an den Kragen.

»Na, siehst du! Ich hab’s ja gewusst! Alle ausser dir sind fertig. Jetzt musst du halt alleine aufessen, was du dir mit deinem ewigen Geplapper wieder mal eingebrockt hast!«, befahl Ilse und liess mich hocken.

Ich … ich werde warten! Bis Wölfli erwacht. Er wird mir bestimmt helfen!, hoffte ich und kaute an meinen Nägeln.

Wolf hatte immer Hunger.

Dafür erzähle ich ihm nachher im Schloss meine Geschichte. Mit allem Drum und Dran.

Oma

Die Falte zwischen Mamas Augenbrauen war verschwunden. Ilse stellte ein Glas Himbeersirup auf den Tisch neben meinen Teller. Ich spülte damit den letzten Bissen von meinem Kartoffelberg hinunter und musste dabei wieder an den kleinen Prinzen und an Oma denken. Ich trug den Teller in die Küche, füllte mein Glas noch einmal und trank es in einem Zug leer. Da schoss mir schon wieder das Wasser in die Augen.

Wolf hatte auf dem Sofa unter der braunen Wolldecke noch ein Weilchen geschlafen. Papa hatte ihn nach dem Essen ins Wohnzimmer getragen. Aber nun war mein Bruder wach, und wir hatten nur noch eines im Sinn: Wir wollten ins Wäldchen. In unser Schloss.

»Hmm, zieht ihr aus, das Fürchten zu lernen?« Pauli stand, als ich Wölfli die Schuhe band, im Mantel neben uns im Flur und putzte sich mit seinem blau karierten Taschentuch schon eine ganze Ewigkeit die Brille.

»Mach aber zuerst deine Hausaufgaben, bevor ihr für immer im Wäldchen verschwindet – hörst du, Almut?«, mahnte Ilse aus der Stube.

Schon zu spät, Frau Königin, sagte ich mir. Wir standen – ich hatte mir das himmelblaue Märchenbuch unter den Arm geklemmt –, schon auf der Treppe. Leise zog ich die Tür hinter mir zu.

Das Schloss

»Ich bin ein böser, böser Wolf … ich rress dich, Almi! Ich ress dich mit Hauhaut und Haahaar! Huuuhuuu!«, brüllte Wölfli und fletschte wie ein grimmiger Hund die Zähne. Dann drohte er mir mit seinen zu Klauen geformten kleinen Händen, rollte seine kornblumenblauen Augen, zog und zerrte an meinen Kleidern, schüttelte seinen blonden Lockenschopf und biss sich in meinem Jackenärmel fest.

»Sieben Mal rress ich dich … und das Rotkäpfchen und die böse Oma in Rüsseldorf und die sieben Geisslein … und Papa und Mama, alle, alle auf einmal beiss ich tot!«

»Iiiihii, aber nicht so fest, sonst fress ich dich zurück!«, schrie ich und sprang weg, liess mich fangen und fressen, fangen und fressen.

Obwohl es nicht das erste Mal war, dass wir das Fressen- und-gefressen-werden-Spiel spielten, war Wölfli auch jetzt wieder wie elektrisiert davon.

Sieben Mal wollte er mich heute fressen.

Siebenmal! Nicht mehr! Nicht weniger. Und nicht unzählige Male!

Das hatten wir so abgemacht. Sonst hätte ich mich, das wusste ich, den ganzen Nachmittag lang anbrüllen, zerkratzen, herumwirbeln und auffressen lassen müssen. Wölfli war unersättlich. Aber abgemacht war abgemacht!

Wie zwei junge Hunde balgten wir jetzt auf dem Moosboden unseres Königreiches in unserem Schloss herum.

Das Schloss war eine kleine Lichtung in einem sich selbst überlassenen Birkenwäldchen hinter unserem Haus. Ein verzauberter Ort. In seinem lichtgrünen Schatten verschwanden wir, wenn es das Wetter zuliess, ganze Mittwochnachmittage und Sonntage lang.

Wie auf einem weichen Teppich sassen wir auf dem mit dichtem Moos bewachsenen Waldboden zwischen verästeltem Wurzelwerk, das wie die Fänge eines Tieres dunkel zwischen den hoch aufgeschossenen Farnen und Hecken dahinkroch. Selig verloren wir uns in unseren unsäglichen Kinderträumen. Manchmal waren wir so in unser Spiel vertieft, dass wir Ilse nicht hörten, wenn sie uns vom Küchenfenster aus zum Essen rief.

»Hol’s der Kuckuck! Das darf wirklich nie mehr vorkommen!«, schimpfte sie vergangenen Sonntag. »Nächstes Mal schliess’ ich einfach die Haustür zu, und ihr könnt dann sehen, wo ihr die Nacht verbringt«, drohte sie uns. Wir mussten also auf der Hut sein.

»Almi! Jetzt bist du mäusetot!«, schrie Wolf und gab atemlos auf. Sein Rotz hatte ihn kampfunfähig gemacht. Unübersehbar hing er grünlichgrau an seiner Nase, und ich ahnte, dass er nicht nur an seiner Nase hing, sondern auch an seinem Jackenärmel, seinen Händen und an mir. Nach langem Zureden war Wölfli endlich bereit, sich die Nase von mir putzen zu lassen.

»Aber nur, wenn du mit mir zuerst ›Ei, Grossmutter‹ spielst!« Das war seine Bedingung.

»Lässt du dir danach bestimmt die Nase putzen? Ganz ohne dich zu sträuben? Schwörst du’s?«

Er schwor und zog tüchtig seine Nase hoch. Wir setzten uns auf den höchsten Baumstrunk in unserem Schloss, auf den Königsthron, und steckten unsere vom Raufen heissen Köpfe in das blaue Märchenbuch. Rasch schlug ich da, wo das Lesebändchen zwischen den Seiten lag, das dicke Buch auf.

Das war die Stelle, die Wölfli immer wieder hören wollte. Ich konnte sie schon beinahe auswendig.

»Ei, Grossmutter«, begann ich, »was hast du für grosse Ohren? – Dass ich dich besser hören kann! – Ei, Grossmutter, was hast du für grosse Augen?«

»Dass ich dich besser sehen kann!«, fiel mir Wölfli ins Wort. Ich hatte Angst und dachte: Gleich wird er wieder den bösen Wolf spielen.

Ich musste mich also beeilen, verhaspelte mich deshalb und geriet ein bisschen ausser Atem. Ich gab mir grosse Mühe, dass ich hochdeutsch tönte! Wie Ilse, wenn sie uns abends im Bett vorlas. Oder wenn sie redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war.

Wenn sie immer reden würde, behauptete Ilse, wie ihr der Schnabel gewachsen sei, dann würde sie nicht nur abends beim Vorlesen Hochdeutsch sprechen, sondern auch morgens und mittags am Tisch. Aber sie verrenke sich, damit wir ihr gehorchten, lieber die Zunge.

»Ich passe mich halt an. Alles andere wäre hier in Endikon sowieso nicht zu meinem Vorteil! In Düsseldorf, da, wo ich herkomme und wo eure andere, die böse Oma noch immer wohnt, reden alle Hochdeutsch. Da würdet ihr rein gar nichts verstehen.«

Von mir aus hätte Mama ruhig immer so reden können, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Es gefiel mir. Es klang wie im Radio.

»Ei, Grossmutter!« Ich las schnell weiter: »Was hast du für grosse Hände? – Dass ich dich besser packen kann! – Aber Grossmutter, was hast du für ein entsetzlich grosses Maul?«

»Dass ich dich besser rressen kann!«, schrie Wölfli und sprang auf.

Doch ich war darauf gefasst gewesen, packte ihn sofort und erinnerte ihn an seinen Schwur. Mit einem schmutzigen Taschentuch, das ich zwischen ein paar glänzenden Kieseln, einem Schneckenhaus, einem Stück Schnur, einem verklebten Bonbon und einem rostigen Nagel in seiner Jackentasche gefunden hatte, machte ich mich ans Werk. Wolf schnäuzte und schnaubte; ich putzte. Er sträubte sich und versuchte mir ein paar Mal zu entkommen, doch ich erinnerte ihn an sein Versprechen. Er fügte sich, und ich putzte so lange weiter, bis die Nase sauber und das Taschentuch voll war. Schliesslich klaubten wir noch das Bonbon aus dem Taschenfutter, und ich durfte, bevor Wölfli es sich ganz in den Mund steckte, ein paar Mal daran schlecken. Dann schlug ich vor, Krippe zu spielen.

»Au ja, Almi, komm wir reiern Weihnachten!«, stimmte mir Wolf zu.

Am Fusse unseres Königsthrons befand sich im vom Regen unterspülten verzweigten Wurzelwerk in einer Höhlung unsere Bühne. Da führten wir unsere Stücke auf. Das Stück »Krippe« spielten wir immer wieder. Das ganze Jahr hindurch.

»Wir nehmen den kleinen, weissen Stein hier für das Kind … und dieses Schneckenhaus für die Krippe«, überlegte ich laut und suchte in unserer Schatzkiste weiter nach Darstellern. Die Schatzkiste war ein kleines Erdloch, wo wir alles aufbewahrten, was wir im Laufe der Zeit im Wald gefunden hatten: Steine und Steinchen, Schneckenhäuser, Tannenzapfen, Wurzeln, Eicheln und ihre Becherchen, Flechten, Baumrinden, Buchennüsschen, einen alten Kamm, eine blaue Scherbe, einen rostigen Nagel.

»Ich spiele den Resel!«, brüllte Wolf, als ich mir gerade überlegte, ob ich Frau Lot beim Weihnachtsspiel auch eine Rolle geben und für sie einen Tannenzapfen oder den alten Kamm nehmen sollte. Der Engel Michael, die blaue Scherbe, hätte die Salzsäule mit seinem Schwert doch ganz leicht zerschlagen können, malte ich mir aus und … Da stand Wölfli schon auf allen Vieren dicht hinter mir, wieherte wie ein Pferd und stiess mit seinem Kopf in meinen Rücken. Zwischen dem Gewieher schrie er immer wieder: »Almi, Achtung! Ich bin eine wilder, wilder Rrressel!«

Ich gab Wolf einen Klaps, liess den Esel stehen und vertiefte mich in mein Weihnachtsstück. Ich schimpfte im Namen Marias mit Josef, der seinen Mund wie Papa nicht aufmachte, wenn er ihn hätte aufmachen sollen. Ich weinte für das Kind im Schneckenhaus. Ich prophezeite als Erzengel Michael ewigen Frieden auf Erden. Wölfli gab sich nicht geschlagen und klamaukte in meinem Rücken weiter.

»Almi, jetzt bin der mit dem schwarzen Kopf!«, sagte er plötzlich, nachdem er mir ein Weilchen zugehört und mich nachdenklich beobachtet hatte. Ich flocht ihm eine Königskrone aus Farn in die Haare, er kletterte auf den Thron und regierte uns mit einem langen Stock. Den Esel, einen grossen Stein, hatten wir zuvor mit der Schnur aus Wolfs Jackentasche neben der Krippe an dem rostigen Nagel festgebunden.

Der Abend kam rasch, es dunkelte schon ein wenig. Gerade als wir mit unserem Stück da angelangt waren, wo Josef und Maria aus Bethlehem hätten fliehen sollen, weil ihnen Herodes auf den Fersen war, fuhr Wolf plötzlich auf und flüsterte: »Almi, ich glaube, Mama hat gerufen!« Er boxte mit seinen Fäusten in die Luft und schrie: »Jahaa, wir kommen! Ich rrresss dich, Mamhaaa!« Dann rannte er wiehernd los, die Krone fiel ihm vom Kopf, und der Rotz hing ihm wieder an der Nase.

Immer, wenn es am schönsten ist …

Müde trottete ich hinter meinem Bruder her.

Dass Oma das so lange aushält

Nach dem Abendessen holte ich meinen Ranzen. Ich nahm mein Schulheft und das Rechenbuch und beugte mich müde über eine mir endlos erscheinende Reihe von zweistelligen Zahlen. Das Abzählen an den Händen half nicht mehr. Die Zahlen waren einfach unzähmbar!

Ich habe halt nicht genug Finger, dachte ich, kaute an meinen Nägeln und verlor mich in der Maserung des kleinen Holztisches, der früher mal Oma gehört hatte und jetzt in meinem Zimmer stand.

O-m-a- … Oma?

Ich hielt den Atem an und zählte schnell eins-zwei-dreivier … bis einundzwanzig. Dann schnappte ich nach Luft, öffnete meine Augen und schrieb einundzwanzig hinter die erste Rechnung.

So war das also, wenn man nicht mehr atmete!

Dass Oma das so lange aushält! … Sie ist t-o-t. Tot …

Mit den Rechnungen kam ich nicht vom Fleck.

Das Vorlesen vor dem Einschlafen fiel ins Wasser.

»Man kann nicht alles haben! Du hättest dich ja am Nachmittag dahinter setzen können, meine Liebe«, schimpfte Ilse und schlug die Tür zu. »Im Übrigen ist es sowieso höchste Zeit«, liess sie auf der Treppe noch verlauten, »dass ihr ins Bett kommt! Das gilt auch für dich Wolfgang – hörst du! Zähne putzen!«

Es war nun ganz still im Haus, und obwohl bei uns keiner rauchte, roch es nach Zigaretten. Ich musste an Mamas Kummer, der auch mein Kummer war, denken: Pauli.

Aber vielleicht war Mama heute ja gar nicht alleine.

Vielleicht sitzt Kafka mit ihr in der Küche! Und sie strickt wie gewöhnlich. Sie und Kafka hören ausnahmsweise zusammen Radio.

Ich nahm mir vor, morgen nach ihm zu fragen.

Dass er bei Mama in der Küche sass, war mir ein tröstlicher Gedanke.

Auf eigene Faust schrieb ich nun ganz schnell ein paar beliebige zweistellige Zahlen aufs Blatt. Ich wollte mein Heft verschwinden lassen, bevor es Ilse etwa noch einfiel, einen Blick darauf zu werfen. Ich war froh, ja fast schon ein bisschen übermütig, endlich mit den Hausaufgaben fertig zu sein.

Wenn ich erwachsen bin, dachte ich, werde ich, wie Kafka, rauchen. Und nicht nur am Abend, sondern den ganzen Tag lang mit ihm zusammen Radio hören.

Als ich das Heft und das Rechenbuch in den Ranzen verstaute, stieg mir aus seinem Innern ein Gemisch aus Leder und reifen Äpfeln in die Nase. Und ich musste schon wieder an Oma denken.

Sie hatte mir im Frühling, kurz bevor sie gestorben war, den Thek aus rotem Leder, gefüllt mit allerlei Süssigkeiten, zu meinem siebten Geburtstag geschenkt.

Papa war nach dem Abendessen wieder im Dunkeln verschwunden – so leise, man würde denken, keiner hätte es gemerkt.

Ich lag schon im Bett und wartete auf Ilses Gutenachtkuss, als mir Paulis lautloses Verschwinden wieder in den Sinn kam. Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, gab es mir wie bei Oma einen Stich ins Herz. Mit aller Kraft versuchte ich meinen Kummer, der nun wie ein Schwarm schwarzer Mücken über mich herfiel, zu verscheuchen.

Ilse musste den Kuss vergessen haben.

Im Dunkeln spukten mir noch lange die »Eintracht«, Oma, Kafka und Mamas Kummer, der auch meiner war, durch den Kopf. Ich spitzte die Ohren. Ich wollte nichts verpassen.