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Eine Mutter verliert ihre Tochter durch ein Unglück. Sie schreibt Briefe an die Verstorbene, macht sich Gedanken über deren Leben und darüber, dass sie ihren Vater nie kennenlernen konnte.
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Seitenzahl: 74
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Für
ACDFGJKMPSTV
Das Gute
fliegt jetzt davon
dorthin
wo alles
nicht immer
in die
Vergangenheit
fällt
sondern täglich
auf-
und untergeht
wie die Sonne
Erich Fried
Engelskuss
Leon, Papa
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose
Borboleta
Eine Hand voller Sterne
Schon Anfang März hüllen sich die zwei alten Birken vor Miriams Küchenfenster in einen zartgrünen Schleier neugeborener Blätter.
Es ist mein erster Frühling ohne Tabea, denkt sie. Wie kann ich da weitergehen? In den Sommer, in den Herbst, in den Winter? Ich habe keinen Schimmer!
Trauer ist ein kompliziertes Gefühl.
Was schreibt man in einem Brief, von dem man weiss, dass er niemals nirgendwo ankommt? Wie fängt man einen Brief an eine Tote an? Einfach, als wäre nichts geschehen, mit: Liebe Tabea?
Darüber zerbricht sich Miriam seit Tagen den Kopf. Und obwohl ihr eine Stimme mit monotonem Geschwätz die ganze Zeit im Nacken sitzt und ihr weis zu machen versucht, dass es sowieso purer Unsinn sei, einen Brief an eine Tote zu schreiben, hat Miriam beschlossen, sich von der Aufsässigkeit dieses selbstherrlichen Geflüsters nicht abhalten zu lassen und Tabea diesen Brief unter allen Umständen zu schreiben. Weil die Stimme eh nicht meine Stimme ist, hat sie sich gesagt, werde ich nicht auf sie hören.
Und sie hat sich an den Tisch gesetzt und sechs Varianten ausprobiert: Liebe Tabea! Mein lieber Schatz! Mein grosser Schatz! Meine Beste! Mein einziges Kind! Meine schöne Tochter! Meine schöne Gazelle! Doch alle Anreden sind ihr irgendwie lächerlich vor gekommen. Sie hat die Blätter zerknüllt und weggeschmissen. Jetzt fängt sie ihren Brief halt ohne Anrede an.
Stell dir vor, Tabea, es gibt hier nicht mal ein Grab von dir, auf das ich meine weissen Blumen legen könnte!, schreibt sie auf das leere graue Blatt. Dann legt sie den Stift weg, sitzt lange mit gekrümmtem Rücken einfach nur da und starrt auf das Geschriebene. Stell dir vor, Tabea, es gibt hier nicht mal ein Grab von dir, auf das ich meine weissen Blumen legen könnte! Miriam liest den Satz immer wieder und verbeisst sich lange in einen unsinnigen Kampf widersprüchlicher Gefühle: Trostlosigkeit und Hoffnung in einem. Bis die Stimme in ihrem Nacken sie nach einer Weile aus diesem Taumel reisst. Der Tod hat einen Strich gezogen!, behauptet sie. Eine Linie, die du, solange du lebst, nicht überschreiten kannst. Man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, mit weissen Blumen oder einem Brief an dieser Endgültigkeit etwas ändern zu können. Auch wenn du an Wunder glauben solltest: Es ist den Lebenden nicht gegeben, mit den Toten eins zu sein.
Ich bin aber angewiesen auf ein bisschen Hoffnung. Liebe hört niemals auf, Liebe zu sein! Wenn du mich fragen würdest, woraus ich gemacht bin, würde ich sagen: Ich bin aus Liebe zu meinem Kind, aus lauter Liebe zu Tabea gemacht. Und davon hast du keine Ahnung, wirft Miriam der Stimme vor – die nicht meine ist, denkt sie wieder, und mir doch folgt wie ein Schatten! Weisst du, wenn man liebt, beharrt Miriam, besitzt man aussergewöhnliche Kräfte! Und wenn es mir lebend nicht gegeben sein sollte, mit meinem toten Kind wieder eins zu werden, dann … man muss nicht einmal hellhörig sein, um zu merken, dass … eine herzlose Kälte schwingt in deinen Worten mit, hörst du! Dein überhebliches Geflüster klingt in meinen Ohren … im Grunde genommen ist alles, was du sagst, nur ein dummes, schadenfrohes Gelächter, das irgendwie nach Spucke klingt. Ich werde diesen Brief schreiben, da kannst du Gift drauf nehmen.
Weisst du, Tabea, schreibt Miriam als Erstes auf ein neues leeres Blatt, ich war die letzten zwei Wochen in Portugal mit dem Schreiben einer Geschichte beschäftigt. Um es genau zu sagen: Ich schrieb die Wahrheit auf, die ich dir schulde! Weil sie ein Teil von dir ist. Weil sie dir gehört. Wie besessen schrieb ich die ganze Zeit und überall. Am Strand, im Hotel, in der Bar. Und im Bett, im Schlaf, unter der Dusche, in meinen Träumen schrieb ich weiter, auch ohne Schreibzeug und Papier. Als ich mit der Wahrheit zu Ende war, schrie ich sie wie eine Irre aufs offene Meer hinaus. Es war an einem stürmischen Tag, und niemand schien von meinem Lamento Notiz zu nehmen. Wohl weil das Rauschen der Wellen und das Geheule des Windes Zeile um Zeile, Wort um Wort verschluckten. Tabea mit ihrer grossen Empfindsamkeit, so dachte ich, wird mich schon hören. Du hast ja immer alles gehört! Sie ist in jeder Welle, sagte ich mir, sie ist jetzt in allen Meeren der Welt zuhause, und wer weiss, vielleicht hat Gott meinem Kind den Namen seines Vaters verraten, mutmasste ich und schrie, bis die Dunkelheit mich zu ängstigen begann. Im fahlen Licht eines von Wolken bedeckten Vollmonds schlich ich in meine Bleibe, eine einfache Pension, zurück.
Ich habe gehofft, mir würde nach dem Schreien leichter sein.
Freilich bin ich nur heiser geworden, denkt Miriam. Der Gedanke an ihr tagelanges Gekrächze nach dem unsinnigen Meeresgebrüll zaubert ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
Lächeln?, fragt sie sich erstaunt. Ob ich das überhaupt noch kann? Ungläubig streicht sie sich mit der Hand über die Wange, als wäre es eine fremde. Aber da ist das kleine Lächeln schon wieder weg. Ach, was für ein scheuer Vogel du doch bist …
»Weil Stare so lustige Vögel sind, Mama! Weil sie in Scharen leben und nie alleine, nie traurig und nie verloren sind. Und weil Stare unsere Träume unter ihren Flügeln über die Meere tragen«, hört Miriam Tabea plötzlich sagen. Ihr wird ganz heiss und dann ganz kalt. Weil Stare nie alleine, nie traurig und nie verloren sind, würde sie im nächsten Leben ein Star sein, hat Tabea immer verkündet.
Ich brauche also nur auf die Stare zu warten? Warum mir das erst jetzt wieder einfällt? Es ist Frühling, und ich muss mich beeilen, wenn … aber jeder Schritt ist ein Geht-nicht-mehr. Ein No-Go, würde deine Freundin Lea sagen. Ich muss … mich zuerst hinlegen, weil mich diese elende Krake, meine Krankheit, wieder einmal im Griff hat. Aber danach, Tabea …
Aufgewühlt sinkt Miriam in ihr Bett und weiss vor lauter Müdigkeit auf einmal nicht mehr, ob sie noch traurig oder schon glücklich ist. »Ach, Tabea, wenn du wüsstest«, flüstert Miriam und zieht sich die Decke über den Kopf, »wenn du wüsstest, wie ich mich darauf freue, bis du endlich aus diesem verdammten Perth zurückkehren wirst. Mit deiner alten Stoffpuppe in den Armen werde ich entweder im Bett liegen oder in meinem Sessel hocken und deine einäugige Babette wie Samt und Seide, wie ein Kind in meinem Schoss wiegen und auf dich warten.«
Es wird keine Stare geben, Miriam. Tabea wird nicht zurückkehren!
Was weisst du denn schon von den Verheissungen der Stare? Was weisst du von meinem Kind?
Ich nenne dieses Kind nur beim Namen, bohrt die Stimme ungerührt weiter. Und die Wahrheit ist: Dieses Kind ist tot, und es hat kein zweites Leben.
»Und kein Licht? Kein Licht nirgends?«, fragt Miriam.
Und kein Licht nirgends!, bestätigt die Stimme.
Nun weiss Miriam wieder, wie traurig sie ist.
Nachdem sie eine halbe Stunde unruhig geschlafen hat, setzt sie sich in ihren Sessel zurück. Spätestens jetzt, mutmasst Miriam und hält ängstlich lauschend inne, müsste die Stimme mir doch unter die Nase reiben, dass es nicht normal sei, wenn sich ein Kind über seine Wiedergeburt, über sein nächstes Leben Gedanken mache. Die Stimme, denkt sie, ist ja nur eine von vielen anderen, die mir mein vaterloses, stets etwas aus der Reihe tanzendes Kind schlecht machen wollen.
Aber zu Miriams Verwunderung rührt sich die Stimme jetzt nicht. Und weil Miriam gemerkt hat, dass sie, wenn sie schreibt, sowohl ihrem Schmerz als auch der Stimme für einige Augenblicke entkommen und ihrer Hoffnungslosigkeit ein wenig Hoffnung entgegensetzen kann, schreibt sie weiter. Schreibt und schreibt. Denn schliesslich, so sagt sie sich, geht’s um mein Leben.
Deine Wohnung ist geräumt. Gestern haben mir Ali und zwei seiner Freunde als Letztes noch dein Klavier gebracht, und ich habe mich, als die jungen Männer weg waren, süchtig nach deinem Geruch wie ein nach einem Knochen geiferndes Hundetier schnüffelnd über die Tasten her gemacht. Die Tasten riechen nach deinen Händen! Deinen Sandelholzduft, fürchte ich, werde ich nicht festhalten können. So wie sich das Bild von dir, das ich in meinem Inneren bewahre und wie einen kostbaren Schatz hege, schon jetzt im Nebel aufzulösen beginnt, so wird auch dein Duft bald aus meinen Räumen verschwunden sein.
Der Schmerz, Tabea, gräbt tiefe Falten in mein Gesicht. Und ich frage mich jeden Tag von neuem, warum mein gebrochenes Herz weiterschlägt. So als wäre nichts geschehen. Kein einziger Stern ist vom Himmel gefallen. Die Erde dreht sich weiter, die Sonne geht auf und unter, als wäre noch alles wie immer.
»Ich … ich muss nur auf die Stare warten, sie bringen mir den wahren Traum zurück«, flüstert Miriam und fährt dann nach einer kurzen Pause zu schreiben fort.