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55 kleine Wahrheiten, die sich beschäftigen mit den ewigen Fragen über die Liebe, die Angst, die Freiheit, die Enttäuschung, die Sehnsucht, die Einsamkeit, die Eitelkeit, die Gier, die Kindheit, die Wahrheit, das Glück etc.
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Seitenzahl: 51
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Für Franz
Woher wissen wir, dass das, was wir »Ich« nennen, wirklich »Ich« ist?
ZHUANZI (369-286 v. Chr.)
Prolog
Lilo Blaus fünfundfünfzig kleine Wahrheiten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Meine Nachbarin, Lilo Blau, ist mit ihrem ganzen Karsumpel in ein anders Haus, in den obersten Stock unters Dach, gezogen.
»Wir sind jetzt dem Himmel so nahe wie noch nie. Und wer weiss Lilo, vielleicht kannst du nun endlich mal Gott bei seiner Arbeit zusehen«, habe sie hoffnungsvoll zu sich selbst gesagt.
Sie wolle gar keinen Hehl daraus machen, dass sie oft mit sich selbst und mit den Dingen um sich herum rede. Etwa mit ihrem Küchentisch, dem Stuhl, ihrem Kissen, der Kaffeetasse oder mit ihren Schuhen.
»Mit den Bäumen, dem Moos, den Blumen, den Vögeln, den Hunden und Katzen sowieso!«
Die Auswahl ihrer Gesprächspartner sei unendlich gross. Auch unter Menschen habe sie nun angefangen, laut mit sich selbst zu sprechen; weil man einer alten Schachtel ja gar nicht mehr richtig zuhören würde. Ihre Selbstgespräche kämen allerdings nicht nur gut an. »Weil meine Gedanken, na, du weisst schon, nicht nur immer freundlich und nett sind«, gestand sie mir mit einem spitzbübischen Lächeln im faltigen Gesicht.
Mit dem Wir-sind-dem-Himmel-so-nahe-wie-niezuvor meinte Lilo übrigens alles, was sie ausmachte! Ihre Bücher, die Topfpflanzen, Bilder, Kleider, Tassen, Teller, Schüsseln, ihre guten und die bösen Geister und natürlich nicht zuletzt ihr über alles geliebter, stummer, doch stets geistesgegenwärtiger Freund Franz! Franz mit seinem ängstlichen Blick und seinem traurigen Mund.
Nichts hat Lilo also in der alten Wohnung zurückgelassen!
Wegen des Treppensteigens, den siebenundsiebzig Stufen, seien ihre alten Füsse zuerst von dem Wohnungswechsel nicht sonderlich begeistert gewesen. Ihr stummer Freund indes habe ihn schon lange herbeigesehnt.
»Er mochte das Getriebe und den Lärm im Parterre nicht. Erst abseits, prophezeite er, würden wir uns alle beide in Stille, endlich mit dem Wesen der menschlichen Existenz richtig auseinandersetzten können«, erzählte Lilo. Und darauf, nur darauf käme es an im Leben.
Ein Wunsch, mit dem er ihr seit Jahren schon in den Ohren gelegen hat. Und es zeigte sich, dass er mit seiner Prophezeiung tief ins Schwarze getroffen hatte.
Von dem Augenblick an nämlich, als Lilo in ihrer verwinkelten Dachwohnung tatsächlich begonnen hatte, ihre zuweilen recht launischen und lauten Innenwelten zu erforschen, ereignete sich beinahe jeden Tag etwas, womit sie ihrer Lebtag nie und nimmer gerechnet hätte. Sie verlor sich manchmal allerdings fast in dem dornigen Gestrüpp wildernder Träume, Gefühle, Gedanken und Empfindungen, welche die Begegnungen mit ihrer menschlichen Existenz in ihr auslösten.
Sie sei oft tagelang zwischen Stuhl und Bank geraten, habe dann aber bald begriffen, dass dies der einzige Weg sei, um ihrem kleinen Leben gerecht zu werden.
»Ich wollte meine Grenzen sprengen! Unbedingt.«
Man kann sagen, Lilo sank tief in sich hinein, um zu verstehen, wie das, was sie gemeinhin als Ich, Lilo, bezeichnete, entstanden war.
»Irgendwann begriff ich: Ich muss dafür buchstäblich nichts tun. Ausser Lilo sein«, flüsterte sie hingerissen, als sie von ihrem Abenteuer erzählte. »Unglaublich ist das!«, setzte sie lächelnd hinzu.
Als Erstes habe sie, wie schon in ihrer alten Wohnung, Franz Kafkas Portrait an die Ost-Wand ihres Wohnzimmers gehängt.
Seit ihrem Umzug duzte Lilo ihren Freund. Vorher war sie sich nie ganz sicher gewesen, ob es richtig wäre, Kafka bei seinem Vornamen zu nennen.
»Ich kannte ihn ja leider nach all den Jahren, in denen er mir Gesellschaft geleistet hat, noch immer nicht gut genug«, meinte Lilo. Alles, was sie von Franz Kafka gelesen hätte, habe sie zwar stets zutiefst berührt, aber, sagte sie, »ich müsste echt lügen, wenn ich behaupten wollte, auch nur etwas davon wirklich begriffen zu haben!«
Wie dem auch sei: Da wir uns nun schon so lange kennen und einiges miteinander durchgemacht haben, müsste das jetzt eigentlich drin liegen, habe sie sich gesagt, sich ein Herz gefasst und – als die Ältere – Kafka das Du angeboten.
Und er habe ihr darauf – wie stets ohne Worte – unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er mit ihrem Vorschlag absolut einverstanden sei.
Möglicherweise habe sich sogar Kafkas Neigung zur Fallsucht unter dem Dach ein klitzekleines bisschen gebessert.
Wenn er wie so oft in der alten Wohnung auch in der neuen ab und an von seiner Wand herunterfiel, hob Lilo ihren stummen Freund wie eh und je leise seufzend auf und klebte ihn ergeben mit neuen Klebstreifen wieder fest.
»Weisst du, Lilo«, habe sie jedes Mal zu sich selbst gesagt, »den Franz, den kannst du gar nicht festkleben. Dem musst du immer wieder auf die Beine helfen und ihn so nehmen, wie er ist.«
Doch gerade diese dünnhäutige Empfindlichkeit, Kafkas immerwährendes unsicheres Tasten und Suchen nach Formen des Lebens, müsse es gewesen sein, das sie so an ihm gemocht habe.
Und dass er nicht einer von diesen leidigen Besserwissern war.
»Er war keiner von denen, die sich auf eine dumme Art gescheit geben. Keiner von den vielen, die meinen, einer alten Tante mit spitzem Zeigefinger die Welt erklären zu müssen! Er hörte mir einfach zu und verstand einfach alles. Sofort! Alles! Auch das Unsinnigste!«
Franz Kafka sei ihr innigstes Geheimnis gewesen!