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Beschreibung

Am 29. Mai 1994 starb Erich Honecker in Santiago de Chile — das glaubt die Welt bis heute. In Wahrheit jedoch lebte der ehemalige Staatschef der DDR bis vor kurzem in einem gepflegten Reihenhaus im Stadtteil La Reina, gut versorgt mit Südfrüchten. Und wie jetzt herauskam, verfasste er zwischen den Jahren 1994 und 2015 zahlreiche Tagebücher — in penibler Schönschrift! Darin kommentiert Honecker scharfsinnig die weltpolitische Lage, plaudert aus seinem Privatleben und schildert offenherzig seine Nöte und Sorgen. Ein faszinierend anderer Blick auf die vergangenen 20 Jahre. Einfach zu lustig, um wahr zu sein! Erfahren Sie aus den neu entdeckten Tagebüchern: - woran die DDR wirklich zugrunde ging ("Eine Verkettung unglücklicher Umstände, die darin gipfelte, dass Schabowski seine eigene Schrift nicht lesen konnte!") - was Honeckers Sozialistenherz höher schlagen ließ ("Als West-Berlin im Jahre 2005 das Ost-Ampelmännchen einführte!") - was er von Donald Trump hält ( "Macht auf Margot und mich einen sehr vernünftigen Eindruck.") - was der Tod von Helmut Schmidt für ihn bedeutet ("Habe schon 1977 zu Margot gesagt: Wenn der so weiterraucht, macht ers nicht mehr lange. Und wieder einmal habe ich recht behalten!")

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Das Buch

Erich Honeckers Tagebücher sind eine historische Sensation – und zugleich hinreißend komisch! Erfahren Sie aus den neu entdeckten Schriften:

– woran die DDR wirklich zugrunde ging: »Eine Verkettung unglücklicher Umstände, die darin gipfelte, dass Schabowski seine eigene Schrift nicht lesen konnte!«

– was Honeckers Sozialistenherz höherschlagen ließ: »In West-Berlin sind sie endlich zur Vernunft gekommen und haben meine Ost-Ampelmännchen eingeführt.«

– welche Pläne es für ein niveauvolles TV-Unterhaltungsprogramm in der DDR gab: »Ich denke da zum Beispiel an eine Sendung mit dem Titel: Wer wird Funktionär? Jeder Kandidat, der alle Fragen richtig beantwortet, erhält dafür einen Platz im Politbüro.«

Erich ist wieder da! Ein einzigartiger Einblick in die Gedankenwelt des Mannes, der achtzehn Jahre lang die Geschicke des einzigen sozialistischen Staates auf deutschem Boden lenkte.

Der Autor

Über den Herausgeber der Tagebücher, Jorge Nicolás Sanchez Rodriguez, ist wenig bekannt. Er war Erich Honeckers Privatchauffeur und seinem Chef stets treu ergeben. Schon nach einem halben Jahr duzten sich beide und nannten sich gegenseitig liebevoll »Genosse«.

An Honeckers Tagebücher gelangte er durch ein Missverständnis.

Jorge Nicolás Sanchez Rodriguez(Hrsg.)

Hier ist allesBANANE

Erich Honeckersgeheime Tagebücher1994–2015

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1450-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: semper smile Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © LASKI/SIPA © Shutterstock (Foto); ©aopsan/Shutterstock (Hintergrund); ©Nadezhda Shlemina/Shutterstock (Seile)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Personen

Erich Honecker:

Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates a.D.

Margot Honecker:

Seine Frau und Ministerin für Volksbildung

Sonja:

Tochter von Margot und Erich Honecker

Roberto (genannt Robbie):

Sohn von Sonja und Enkel von Erich und Margot Honecker

Hugo Campos:

Nachbar der Honeckers im Exil in Chile

Erich Mielke:

Minister für Staatssicherheit im Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) in der Berliner Normannenstraße, Mitglied im Politbüro und im Zentralkomitee

Egon Krenz:

Mitglied des Politbüros und Nachfolger Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender

Günter Schabowski:

Mitglied des Politbüros. Öffnete aus Versehen die Berliner Mauer: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort. Unverzüglich.«

Günter Mittag:

Mitglied des Politbüros und Sekretär für Wirtschaftsfragen der Planwirtschaft in der DDR

Willi Stoph:

Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Ministerrates der DDR und Hobbybotaniker

Alexander Schalck-Golodkowski:

Oberst im Ministerium für Staatssicherheit und Wirtschaftsfunktionär, in erster Linie mit Devisenbeschaffung betraut

Markus Wolf:

Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, des Auslandsnachrichtendienstes der DDR im Ministerium für Staatssicherheit

Dr. Puccio:

Leibarzt der Honeckers in Chile

Vorbemerkung

Erich Honecker und ich hätten uns fast nie kennengelernt, denn um ein Haar wäre er bei unserer ersten Begegnung ums Leben gekommen. Ich erinnere mich noch gut, es war der 14. Januar 1994. Ein so warmer Tag, dass es einem vorkam, als hätten sie die Sonne am Morgen etwas höher gehängt. Ich hatte meinem Schwager versprochen, ihn zum Flughafen zu fahren, was ich schon bereute, als ich die Tür meines Autos öffnete und von der Hitze überrollt wurde.

Vor dem Flughafen saßen die Taxifahrer wie tot in ihren Wagen. Ich setzte meinen Schwager ab, sah ihn noch im Rückspiegel winken, und als ich wieder auf die Straße schaute, lief mir ein greiser Mann vors Auto. Lächelnd und mit erhobener Faust.

Ich bremste scharf. Kurz vor den Knien des Mannes kam ich zum Stehen, aber er beachtete mich gar nicht. Dann trat hinter ihm eine Frau auf die Straße, einen Rollkoffer hinter sich herziehend, ebenfalls winkend. Der Mann lief um mein Auto herum und stieg hinten ein. Die Frau öffnete die Tür auf der anderen Seite, stellte ihren Koffer auf die Rückbank, setzte sich daneben und sagte, sie wären jetzt so weit.

Ich – wahrscheinlich unter Schock – fuhr los, ohne nachzufragen, und sah in diesem Augenblick eine kleine Gruppe neben dem Flughafeneingang stehen, die mit bunten Spruchbändern, auf denen »Erich will kommen« stand, und schwarzrotgoldenen Fähnchen den ehemaligen Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik begrüßen wollte. Von Erich Honeckers Ankunft in Santiago hatte ich in der Las Últimas Noticias gelesen, und als ich mich umdrehte, begriff ich sofort. Er und seine Frau saßen aufgrund eines unglücklichen Zufalls hinten in meinem Auto.

Was sollte ich tun?

Ich fuhr erst mal weiter.

Ich hatte selber nach dem Pinochet-Putsch Mitte der 70er Jahre aus Chile fliehen müssen und war für einige Jahre in der DDR untergekommen. Daher verstand ich die Sprache, hatte sie aber lange nicht gesprochen. Ich sah über meine Schulter und sagte in brüchigem Deutsch: »Guter Herr, ich glaube, es handeln sich hier um eine Missstände.«

Honecker lächelte milde, sah aus dem Fenster und sagte, das sei wohl nicht zu übersehen, aber in der Deutschen Demokratischen Republik hätten sie gewiss auch ihre Sorgen gehabt. Insofern sehe er da kein Problem.

Ich antwortete: »Nein, nein. Ich meine, ich bin keine Farrer.«

Honecker legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: »Da machen Sie sich mal keine Sorgen, guter Mann. Der Bäcker ist ja auch kein Elektriker und der Dachdecker kein Schlosser, aber das ist auch gar nicht notwendig. Jeder muss seiner Aufgabe so gut es geht nachkommen.«

Ich nahm einen neuen Anlauf und sagte: »Es stimmt, aber könne Sie sage, wo es hingeht?«

Honecker lehnte sich zurück. Ich beobachtete ihn im Rückspiegel. Er verschränkte die Arme, schaute etwas resigniert zu Margot und gab zurück: »Nun, das kann zurzeit wohl niemand sagen.«

Ich probierte es ein allerletztes Mal: »Nein, nein. Die Frage ist: Was ist Ziel?«

Augenblicklich hellte sich Honeckers Miene auf. »Unser Ziel«, sagte er mit optimistisch-kämpferischer Stimme, »ist der Sozialismus!« Aber da müsse man jetzt eben geduldig sein nach den Ereignissen der vergangenen Jahre. Das werde seine Zeit brauchen.

»Da vorne links«, sagte Margot.

Wir bogen ab in das Stadtviertel La Reina im Osten von Santiago.

»Sie sind ein kluger Mann«, sagte Honecker. Er lobte meine Deutschkenntnisse und mein Interesse an Politik und gesellschaftlichen Fragen. Das sei für einen Chauffeur geradezu außergewöhnlich. So etwas habe er in vierzig Jahren nicht erlebt.

»Hier können Sie uns rauslassen«, sagte Margot.

Ich hielt auf dem Gehweg vor einer Einfahrt, schleppte die Koffer zur Tür und wollte mich verabschieden, da fragte Margot, ob ich noch einen Moment Zeit hätte.

Im Wohnzimmer nahm Honecker seinen Hut ab, räusperte sich und sagte in ungewöhnlich feierlichem Ton: »Mein lieber Genosse. Meine Frau und ich sind zu der Auffassung gelangt, dass wir Sie und Ihre Dienste hinsichtlich der Gewährleistung unserer Mobilität im Sinne der sozialistischen Idee, aber im Speziellen natürlich auch zum Zwecke der Erreichung des Planziels unserer Versorgung …« – an dieser Stelle geriet er ins Stocken und schien nach den passenden Worten zu suchen – »… wir, nun ja, würden Sie also gerne, gewissermaßen, fragen wollen …«

»… ob Sie unser Fahrer werden möchten«, sagte Margot.

Erich Honecker nickte. Für einen Moment standen wir sprachlos da. Dann gestikulierte ich hilflos, sagte, das sei natürlich eine große Ehre. Ich war ja tatsächlich arbeitslos, aber das Angebot kam doch überraschend. Ich sagte: »Ich glaube, ich musse erst mal denken.«

»Nicht Sie, WIR müssen danken«, sagte Margot, griff sich meine Hand und umschloss sie mit ihrer anderen. Erich Honecker sah mich an wie ein stolzer Vater. Margot schlug vor, darauf nun erst einmal anzustoßen. Wir öffneten eine Flasche Sekt.

So merkwürdig es klingt: Seit jenem Tag war ich der Privatchauffeur der Honeckers und bin es mehr als zwanzig Jahre geblieben.

In dieser Zeit kam ich den beiden so nah wie kein anderer. Ich erlebte ihre nicht immer ganz friedlichen Diskussionen über ihr politisches Erbe, Streitigkeiten über Suppeneinlagen am Mittagstisch und wurde Zeuge, wie die beiden gemeinsam mit ihrem Leibarzt den vorgetäuschten Tod Honeckers planten. Die ständige Belagerung durch die Journalisten, die Angst vor der Auslieferung an den Klassenfeind und nicht zuletzt der Wunsch zu erfahren, wer zu seiner Beerdigung kommen würde – das alles ließ ihm keine andere Wahl.

Damit er glaubhaft einen Sterbenskranken abgab, verordnete Margot ihm zweimal täglich Abführmittel. Vor dem Badezimmerspiegel trainierte Honecker stundenlang die starre Mimik eines Todgeweihten (erfreulicher Nebeneffekt: Er wurde beim Pokern immer besser).

Am 28. Mai 1994 waren schließlich alle Vorbereitungen getroffen. Erich Honecker konnte sterben.

Eingeweiht in den Plan waren nur seine Familie, sein Leibarzt Dr. Puccio, sein Nachbar Hugo Campos und ich.

Das hier vorliegende Tagebuch beginnt an seinem offiziellen Todestag, dem 29. Mai 1994. Der Großteil von Honeckers Aufzeichnungen stammt aus den 16 in Leder gefassten Heften, die er in der kleinen Holzkommode unter dem Gartenfenster seines Arbeitszimmers aufbewahrte.

Er bekritzelte aber auch Notizblöcke, Schulhefte, Rechnungen und – seine Augen wurden immer schlechter – manchmal auch seinen Schreibtisch. In den späteren Jahren tippte er seine Tagebucheinträge oft am Computer. Die Dateien speicherte er ohne erkennbare Ordnung, was die Rekonstruktion zu einer schwierigen Aufgabe gemacht hat.

Dieses Buch zeigt nur eine kleine Auswahl der Aufzeichnungen aus Erich Honeckers Nachlass. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll lediglich Einblicke in die Gedanken eines Mannes geben, der die Fäden der deutschen Geschichte in einer bedeutenden Zeit über viele Jahre in seinen zittrigen Händen hielt.

Jorge Nicolás Sanchez Rodriguez*Santiago de Chile, 14. März 2016

Anmerkung zum Kapitel

* Aus dem Spanischen übertragen von Daniel Wichmann und Ralf Heimann.

1994

30. Mai Ich bin tot. Offiziell zumindest.

Ich habe mich zusammen mit Margot zu diesem Schritt entschlossen, weil er uns unausweichlich erschien. Mittlerweile liegt eine Klage beim Berliner Verfassungsgericht vor, wegen »Rechtsbeugung« (was soll das sein?) und »Strafvereitelung im Amt«. Die westdeutsche Justiz lässt nichts unversucht, um unser politisches Erbe mit übler Hetze in den Schmutz zu ziehen. Die Massenmedien des Gegners hatten ihre sogenannten Journalisten sogar bis in unseren Garten geschickt. Ich wurde belauscht und überwacht und konnte mich nicht frei bewegen. Nein, so kann kein Mensch leben wollen.

Margot hat mich gebeten, meine Gedanken in diesem Tagebuch niederzuschreiben. Diesem Wunsch will ich gerne entsprechen, denn natürlich soll die Nachwelt die unwiderlegbare Wahrheit erfahren. Außerdem bleibe ich auf diese Weise geistig in Form, solange ich hier, am anderen Ende der Welt, zum Nichtstun verdammt bin.

Deutsche Kommunisten haben schon einmal in der Geschichte den Weg ins Exil gewählt, um später siegreich in die Heimat zurückzukehren – als »Gruppe Ulbricht«, die nach dem Sieg der Roten Armee über das faschistische Deutschland einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden gründete. Und so wie der Hitlerfaschismus untergegangen ist, geht auch die kapitalistische BRD ihrem Ende entgegen. Es ist einzig und allein eine Frage der Zeit!

Margot und ich warten nun auf das Staatsbegräbnis. Wollen wir hoffen, dass alles gutgeht. Der nette Herr, der uns freundlicherweise seinen Leichnam zur Verfügung gestellt hat, sieht mir leider in keiner Weise ähnlich. Hatten wir überhaupt mit ihm geklärt, wie er bezahlt wird? Ich hoffe, seine Familie verlangt kein Westgeld.

2. Juni Nur einen Tag nach meinem Tod hat ein westdeutscher Journalist Margot vor unserem Haus aufgelauert. Sie kam gerade von einem Blumengeschäft und hatte eine Vase in der Hand. Der junge Mann stellte sich ihr in den Weg und fragte, was sie denn da gekauft habe. Margot wurde wütend und rief, die Urne ihres Mannes sei nicht mal unter der Erde, da stünden sie schon wieder wie die Hyänen vor ihrer Haustür. Der Mann machte ein Foto und verschwand. Heute berichtet ein unsägliches Klatschblatt: »Margot Honecker bewahrt Asche ihres Mannes zu Hause auf«, wie sie mir soeben berichtet.

Außerdem hat Margot mir mitgeteilt, dass die chilenische Regierung mein Begräbnis organisieren wird. Sie will sich nun um die Liste der Staatsgäste bemühen, die bereits zugesagt haben. Bisher haben sie ihr aus Versehen lediglich ein leeres Blatt zugefaxt. Sie will das nun klären.

3. Juni Margot und unser treuer Leibarzt Dr. Puccio haben mich in eine Privatklinik gebracht. Hier werde ich mich erholen, bis Ruhe eingekehrt ist. Die Klinikleitung hat mir ein Zimmer im ersten Stock zugewiesen. Vor der breiten Glasfront liegen die Ausläufer Santiagos. In der Mitte erheben sich majestätisch die weißen Plattenbauten, die mich ein wenig an Jena-Lobeda erinnern. Das Klinikpersonal weiß selbstverständlich nichts von meiner wahren Identität. Konspiration ist schließlich Ehrenpflicht des Kommunisten im Untergrund. In der Krankenhausakte steht mein alter Deckname Marten Tjaden, den ich vor sechzig Jahren auf der Flucht vor den Nazis angenommen hatte. Es war Margots Idee, Tjaden wiederauferstehen zu lassen. Sie sagte, ich solle mich daran erinnern, wie damals alles ausgegangen ist. Ich habe mich dann erinnert, wie ich der Geheimen Staatspolizei in die Arme lief und für zehn Jahre ins Gefängnis wanderte – und war doch etwas skeptisch. Aber Margot hatte eher an die Zeit danach gedacht, und so überzeugte sie mich.

Die Gedanken an meine Zeit im Gefängnis ereilen mich in diesen Tagen immer wieder, zumal frische Erinnerungen an die Kerker von Moabit hinzugekommen sind. Zum Glück konnte Schwester Isabel mich heute Nachmittag ein wenig ablenken. Das Kissen in meinem Nacken war verrutscht, und leider bin ich noch so schwach, dass ich alleine nicht hinter meinen Kopf greifen kann. Deshalb habe ich den Knopf am Rollwagen neben meinem Bett gedrückt. Die Schwester kam sogleich herbei und beugte sich mit ihrem ganzen Oberkörper über mich, um das Kissen wieder zurechtzurücken. Plötzlich spürte ich ein intensives Kribbeln an einer Stelle, mit der ich mich gemeinhin gar nicht mehr beschäftige. Und ich gestehe, nicht ganz unabsichtlich ist mir das Kissen danach noch zwei weitere Male verrutscht.

7. Juni Krenz hat sich per Telefon bei Margot gemeldet. Sie berichtete, erst hätten ihm die Worte gefehlt, dann habe er gestottert, es tue ihm sehr leid, was mit mir passiert sei, und als Margot gerade antworten wollte, habe er gefragt, ob sie noch wisse, wo sein alter Fahrradanhänger stehe. Den hätte er uns doch damals ausgeliehen. Da hat Margot aufgelegt.

8. Juni Margot hat mir einen Pappkarton voller Briefe aus der Heimat mitgebracht. Es sind ausnahmslos gutgemeinte und freundliche Zuschriften von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik. Die Genossin Helga Hartmann aus Magdeburg zum Beispiel schreibt, sie sei bestürzt und fassungslos über meinen Tod. »In der ganzen Stadt herrscht Trauer. Wir vermissen unseren Freund und Genossen Erich. Nie wieder war unser Leben so schön wie in unserer guten alten Deutschen Demokratischen Republik.« Was für eine liebenswerte und sympathische Frau. Ihre Handschrift erinnert mich sogar ein wenig an die von Margot.

9. Juni Heute Morgen wollte der Oberarzt von mir wissen, ob ich privat krankenversichert bin. Das weiß ich leider gar nicht. Mit dieser Frage habe ich mich seit Jahrzehnten nicht beschäftigt. Wenn ich nun überlege, kann ich mich allerdings nicht erinnern, an meinen freien Tagen jemals zu einem Arzt gegangen zu sein. Meines Wissens kam unser Hausarzt immer in mein Büro. Insofern kann privat versichert eigentlich nicht richtig sein. Es müsste also immer noch unsere Staatliche Versicherung sein. Margot hat mir das auch noch einmal bestätigt. Soeben hat der Oberarzt mir nun die Nachricht überbracht, dass es bei der Bettenbelegung einen Engpass gibt. Heute Abend bekomme ich einen Zimmergenossen.

10. Juni Das Essen in der Klinik macht mir zu schaffen. Frittierte Teigtaschen und Maiseintopf. Wie soll ich so je wieder zu meinem alten Gewicht finden? Ich habe Margot gebeten, mit der Klinikleitung über den Speiseplan zu sprechen. Es wird doch wohl möglich sein, wenigstens einmal in der Woche einen Broiler mit Kartoffeln und Mettendchen serviert zu bekommen. Auf meinen Auslandsreisen war das in all den Jahren doch auch nie ein Problem. Schwester Isabel würde sich sicher um meinen Wunsch kümmern, wenn sie nur meiner Sprache mächtig wäre. Heute Morgen kam sie mit einem sanften Lächeln herein, um die Bettwäsche auszuwechseln. Ich bin zwar schon wieder etwas bei Kräften, aber von ihr lasse ich mich immer wieder gerne stützen. Als sie mit allem fertig war, hat sie mir ein Glas Wasser eingegossen und mir über den Arm gestreichelt. Kurz danach hat Margot mich besucht. Sie war sauer, weil der neue Pyjama mit Joghurt bekleckert war.

12. Juni Zur Mittagszeit lag pünktlich der Essensplan für die kommende Woche auf meinem Tisch. Ich habe ihn abgezeichnet und mit ein paar Anmerkungen zurückgehen lassen.

13. Juni Einer der wenigen Vorteile an meiner Situation ist die Tatsache, dass ich nun endlich Zeit finde, die westdeutschen Zeitungen ausgiebig zu studieren und auszuwerten. Früher hat Frau Kelm1 mir das Wichtigste ausgeschnitten und praktisch zu einer neuen Zeitung zusammengeklebt. Die war natürlich dünner, und ich konnte weder in Ruhe die Sportseiten lesen oder ein Kreuzworträtsel lösen, noch hatte ich Gelegenheit, einen Blick auf die Panorama-Seite zu werfen, für die ich erst in den letzten Monaten eine stetig wachsende Begeisterung entwickelt habe. Hier im Krankenhaus unterhalten sie einen sogenannten Lesezirkel, und heute sind die ersten deutschen Ausgaben vom April angekommen. Zum ersten Mal habe ich nun zum Beispiel die Illustrierte Focus gelesen. Meinem ersten Gefühl nach spielen Fakten in diesem Heft keine allzu große Rolle. Ich bin der Meinung, da könnten sie etwas mehr an die Leser denken. Mit vielen Namen bin ich überhaupt nicht vertraut. So ist vor kurzem ein gewisser Kurt Cobain gestorben. Die Titelseiten sind voll davon. Bzw. waren es im April. Auf einem Foto hat der junge Mann ein bisschen Ähnlichkeit mit Hildegard Grützmann, die sich in Wandlitz lange um unsere Wäsche gekümmert hat. Aber die ist auch schon vor etlichen Jahren gestorben.

14. Juni Margot kam, um die schmutzige Wäsche abzuholen. Das Lila in ihren Haaren ist nun beinahe vollständig herausgewachsen. Ich frage mich, ob wir hier in Chile so ohne weiteres an die erprobten Produkte aus unserem VEB Kosmetik-Kombinat Berlin kommen werden. Ich hoffe es sehr, denn derzeit erinnert mich meine Frau leider immer mehr an meine Schwiegermutter.

15. Juni Heute Morgen kam ein junger Arzt herein, um mir die Ergebnisse der Untersuchung mitzuteilen, zu der ich mich hatte drängen lassen. Der junge Mann schaute in seine Mappe, blätterte vor und noch einmal zurück, dann sagte er hocherfreut, ich sei bei bester Gesundheit – und damit auch wieder vollkommen reisetauglich. Der Krankentransport sei bereits organisiert. Ich würde gleich abgeholt und zum Flughafen gebracht. Man erwarte mich mit Freuden in Berlin. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich einen Schlauch im Mund. Neben meinem Bett stand ein anderer Arzt. Er sagte, es tue ihm leid. Ich sei wohl verwechselt worden.

16. Juni Nach Jahren ist es nun also gelungen, den Kaufhauserpresser Dagobert dingfest zu machen, wie ich der Bild-Zeitung vom 23. April entnehme. Margot und ich haben in den vergangenen Jahren ja immer amüsiert beobachtet, wie er die Westberliner Polizei an der Nase herumgeführt hat. Ich erinnere mich noch gut, wie ich Margot damals sagte: Wenn Kohl und Strauß uns nicht bei der Devisenbeschaffung behilflich sein können, dann müssen wir uns eben an diesen Dagobert halten. Das KaDeWe hat er um eine halbe Million erleichtert. Das hätte uns damals fürs Erste schon weitergeholfen. Mielke hat auf mein Anraten hin sofort seine Leute auf den Erpresser angesetzt. Sie fanden auch recht schnell heraus, dass es sich um diesen Funke handelt. Er stand ja sogar im Telefonbuch. Aber die Kontaktaufnahme gestaltete sich doch schwierig. Einmal wäre es dann fast zu einem Treffen gekommen. Aber am vereinbarten Treffpunkt im Wald hatte er alles mit Stolperdrähten versehen. Und bei jedem falschen Schritt lösten Mielkes Agenten Leuchtraketen, Knallkörper und einmal sogar ein Tischfeuerwerk aus. Nur Funke war nirgends zu sehen. Der letzte Versuch, sich mit ihm zu treffen, scheiterte, weil Mielkes Agent auf einem nassen Parkplatz in einen Haufen Hundekot trat, ausrutschte und sich das Steißbein brach. Später stellte sich heraus: Damit hatte Funke gar nichts zu tun. Dennoch gaben wir unsere Kontaktanbahnungsversuche auf. Allein die Telefongebühren und Fangschaltungen hatten Kosten im Gegenwert eines gutgefüllten Lösegeldkoffers verursacht.

17. Juni Die zwei Wochen in der Klinik sind schneller vergangen, als ich es mir erhofft hatte. Heute werde ich entlassen. Leider kann ich nicht sagen, dass ich mich vorbehaltlos über die Rückkehr in unser Reihenhaus freue.

18. Juni Zu meiner Rückkehr und Begrüßung hat Margot die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik im Flur neben der Treppe gehisst. Beim Abendessen haben wir zusammen die Internationale gesungen. Danach musste ich ihr beim Spülen helfen. Ungewohnt, nach den zwei Wochen in der Klinik. Margot sagt, sie wünscht sich mehr Unterstützung im Haushalt. Ich habe versprochen, ihr in Zukunft öfter beim Staubsaugen zur Hand zu gehen. Das habe ich früher im Büro oft selbst gemacht, um die Langeweile totzuschlagen. Ansonsten war der Haushalt nie meine Stärke. Das hat ja zum Glück alles Günter Mittag geregelt. Ich habe Margot vorgeschlagen, dass wir uns um eine Hilfskraft bemühen. Sie hat unseren Jorge vorgeschlagen, den jungen Mann, der uns von Zeit zu Zeit fährt. Wir werden ihn fragen.2

19. Juni Margot hat den Hausverwalter angewiesen, eine japanische Satellitenschüssel aufs Dach zu montieren, wie wir es aus Wandlitz gewohnt sind. Seit vorgestern empfangen wir über hundert Fernsehprogramme, unter anderem Kanäle, die ausschließlich Reklame zeigen. Ich muss sagen, dass ich den Reiz solcher Sendungen lange Zeit verkannt habe. Diese sogenannten Telehändler bieten dort zahlreiche Produkte an, die im Handel nicht erhältlich sind. Ich habe gleich zu Margot gesagt: »Siehst du, das gibt es auch im Kapitalismus.« Vielleicht sollte man also doch nicht alles verteufeln, was aus dem Westen kommt. Der »Bauch-weg-Gürtel« etwa scheint mir doch eine vernünftige Erfindung zu sein. Abends bin ich dann auf dem Sportkanal hängengeblieben. Die Batterien der Fernbedienung waren leer. So musste ich mir das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft ansehen. Es hat mich nicht überrascht, dass Matthias Sammer der beste Spieler der deutschen Mannschaft war – auch wenn ich zugeben muss, dass ich fast eine Träne verdrücken musste, als ich sah, wie dieser talentierte junge Genosse die Hymne des Klassenfeinds intonierte.

9. Juli Aus dem Fernsehen habe ich erfahren, dass unser alter Wegbegleiter Kim Il-Sung nicht mehr lebt. Vor nicht einmal vier Jahren hatte er noch angeboten, uns bei sich aufzunehmen. Wir hatten damals darüber nachgedacht, uns dann aber doch dagegen entschieden, weil Margot der Auffassung war, die Zustände in seinem Land kämen der einer Diktatur gleich. Und jetzt ist er tot. So schnell kann das gehen. Wir kannten uns ja nun schon seit vielen Jahren. Ich kann auch eigentlich nichts Schlechtes über ihn sagen. Privat war er ja ganz anders, als man ihn aus dem Fernsehen kannte. Manchmal war er geradezu albern. Einmal hat er bei einem gemeinsamen Abendessen unsere Brillen vertauscht. Plötzlich sah er aus wie Margot. Minutenlang saßen wir da und aßen, ohne dass mir irgendetwas auffiel. Ich flüsterte Margot zu, sie solle nicht so schmatzen. Sie antwortete nicht. Erst, als ich meine Hand auf ihr Bein legte, bemerkte ich den Irrtum. Kims Oberschenkel war ja nun doch etwas kräftiger.

18. Juli In den westlichen Zeitungen bezeichnen sie unsere schöne Deutsche Demokratische Republik nun schon zum wiederholten Male als Bananenrepublik. Ich muss doch sagen, dass mich dieses Prädikat angesichts der zugegebenermaßen nicht immer zufriedenstellenden Versorgungssituation, mit der wir zu kämpfen hatten, im Nachhinein mit großer Zufriedenheit erfüllt. Margot und ich sind der Auffassung, dass wir unser Planziel bei aller Bescheidenheit auch in dieser Hinsicht sicherlich mehr als übererfüllt haben.

19. Juli Nach dem ersten Besuch bei unserem neuen Nachbarn Campos habe ich den Eindruck gewonnen, dass der sozialistische Bruderkuss in Chile nicht die gleiche Beliebtheit besitzt wie in unserer Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion.

21. Juli Jorge muss das Skatspielen gewissermaßen vom Pik auf lernen. Unsere gegenwärtige finanzielle Situation lässt es leider nicht zu, dafür eine weitere Kraft einzustellen. Aber ich bin zuversichtlich und gebe gerne zu, dass auch mir dieses Spiel zu Beginn nicht leichtgefallen ist. Auf einer Dienstreise habe ich damals in der Gaststätte »Grand« im thüringischen Altenburg sechs Genossen beim Skat beobachtet und war an diesem Spiel gleich interessiert. Ich habe dann sofort eine Generalabsolution erteilt und den Skatbrüdern in Altenburg in einem Telegramm durch den Parlamentspräsidenten mitteilen lassen: »Sofern dieses die Kombinationsfähigkeit entwickelnde und die Phantasie anregende Skatspiel als Mittel der Entspannung zu sinnvoller Freizeitgestaltung genutzt wird, darf jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Leidenschaft pflegen und Skatfreund werden.« Einige altgediente Genossen haben natürlich gemurrt. Es handele sich um ein Spiel, das durch die unterschiedliche Wertigkeit der Farben und Zahlen Klassengegensätze vertiefe; zudem sei der »König« ein feudalistisches Relikt, das in einem sozialistischen Staat keinen Platz haben dürfe. Ich habe diesen Nörglern und Renegaten dann jedes Jahr ein neues Skatspiel in ihre Zellen nach Bautzen liefern lassen.

25. Juli Ein Busfahrer aus Eisenach hat geschrieben und wünscht sich von Margot einen Geburtstagsgruß für seine Frau Helene. Aus alter Gewohnheit griff ich in die Schublade unter meinem Schreibtisch, um einen Briefbogen hervorzuholen, fand dort aber nichts. Ich rief gleich Margot herbei, doch die hatte keinerlei Verständnis für meine Aufregung. Ob ich der guten Frau denn den Schreck ihres Lebens einjagen wolle? Wer wolle denn schon, dass ihm ein Toter zum Geburtstag gratuliert?

Ich werde mich wohl noch daran gewöhnen müssen, dass ich nun keine repräsentativen Aufgaben mehr übernehmen kann. Die Briefbögen hat Margot den Kindern aus der Nachbarschaft geschenkt. Auf meinen Einwand, dass sie ja nun womöglich in meinem Namen Briefe in die ganze Welt schicken, hatte Margot keine Antwort. Sie riss mir den Eisenacher Brief aus der Hand. Die Glückwünsche will sie nun selbst schreiben. Ich will hoffen, dass mein Ableben für sie nicht nur ein Vorwand war, mir auch noch die letzten Befugnisse aus der Hand zu nehmen.

4. August Margot erwartet Besuch. Vier Frauen von der sozialistischen Partei in Chile haben sich angekündigt. Seit Tagen spricht sie nun von nichts anderem als diesem so genannten Kaffeekränzchen. Es ist grauenvoll. Kaffeekränzchen hier, Kaffeekränzchen da. Wenn ich dieses Wort nur höre, durchfährt mich ein kalter Schauer. Ich nehme es ja nun schon mit großem Gleichmut hin, dass ich bei der Durchsicht unserer alten Fotoalben auf jeder zweiten Seite an Egon erinnert werde. Da muss ich ja nun wirklich nicht auch noch ständig seinen Namen hören.

17. September Hier in Chile ist wirklich alles im Überfluss vorhanden. Seit wir in Santiago wohnen, verabreicht Margot sogar den Pflanzen die doppelte Menge Wasser. Aber den Blumen scheint die kapitalistische Maßlosigkeit nicht sonderlich gut zu bekommen. Die Geranien auf der Terrasse lassen seit Tagen die Köpfe hängen. Der Gummibaum hat zwei Blätter verloren. Im Sinne der Übererfüllung des Planziels eines florierenden Vorgartens werden wir das Gießwasser wohl oder übel neu rationieren müssen. Jorge wird einen zentralen Verteilungsplan erstellen.

2. Oktober Überall auf der Welt wählen sie in letzter Zeit neue Staatspräsidenten. Burundi, Kiribati und jetzt Brasilien. Ich muss sagen, es juckt mich doch ein wenig in den Fingern. So eine Aufgabe könnte ich mir durchaus noch einmal vorstellen, falls sich irgendwo eine Perspektive ergeben sollte. Die Schweiz böte gute Voraussetzungen: Ein übersichtliches Land, in Europa ausreichend isoliert, und wenn wir die Finanzindustrie ins Volkseigentum überführen könnten, hätten wir ein gewisses Maß an Startkapital zur Verfügung, um mitten in den Bergen eine sozialistische Republik aufzubauen. Natürlich müssten wir uns an die regionalen Gegebenheiten anpassen. Den Zirkel im Wappen könnte man zum Beispiel durch einen Skilift ersetzen. Auf freie Wahlen würde ich mich allerdings auch dort unter keinen Umständen einlassen wollen. Und diese ständigen Volksabstimmungen müssen den Bürgern doch selbst auf die Nerven gehen, denke ich mir.

17. Oktober Margot und ich sind sprachlos. Nun haben sie Kohl in der BRD tatsächlich noch eine weitere Amtszeit zugestanden – und das, obwohl er ja zweifellos als einer der Hauptverantwortlichen für die sogenannte deutsche Einheit anzusehen ist. Fast genau fünf Jahre nach dieser Tragödie müssen wir nun feststellen: Kein einziges seiner Versprechen hat sich bewahrheitet. Auf den Gegenbesuch, den er bei meiner Staatsvisite 1988 angekündigt hatte, warten Margot und ich zum Beispiel bis heute. Und wenn ich daran denke, wie oft meine Reise in die BRD damals über Jahre hinweg immer wieder aus den fadenscheinigsten Gründen verschoben wurde, haben die Gespräche unsere Erwartungen letztlich nicht erfüllt. Mir war immer daran gelegen gewesen, dass beide deutsche Staaten sich endlich auf Augenhöhe begegnen, aber mit Kohl war das nicht zu machen. Schon bei unserem Empfang vor dem Bundeskanzleramt sah ich von ihm kaum mehr als seine Brusttasche. Und es ist uns natürlich auch nicht entgangen, dass uns nicht dieselben protokollarischen Ehren gewährt wurden wie Besuchern aus anderen souveränen Staaten. Der rote Teppich vor dem Kanzleramt zum Beispiel kam mir kaum länger vor als der Läufer hier bei uns im Flur. Auch den Sauerbraten, der uns auf Schloss Benrath serviert wurde, mussten wir als protokollarischen Affront verstehen. Aus unserer Sicht war die Reise ein einziger Spießrutenlauf. Kohl brachte das Gespräch immer wieder auf diesen angeblichen Schießbefehl. Aber was sollte ich ihm dazu sagen? Meines Wissens gab es den lediglich im Sturm unserer Fußballnationalmannschaft. Aber selbst da hat sich ja niemand dran gehalten. Ich muss wirklich sagen: Unsere Gespräche hat das damals belastet. Und wie wir von Anfeindungen, Beleidigungen und unterschwelligen Manipulationsversuchen begleitet wurden. Unvorstellbar. Sogar in der U-Bahn-Station ließen sie bei meiner Ankunft durch die Lautsprecher durchsagen: »Zurücktreten, bitte!«

2. November Die Uhren in Chile scheinen ja doch etwas langsamer zu gehen als in unserer Deutschen Demokratischen Republik. Auch hier begebe ich mich direkt nach dem Frühstück in mein Büro, wie ich es immer getan habe, und zeichne in alter Gewohnheit dringliche Beschlüsse und Akten ab. Doch wenn ich das erledigt habe, ist es an vielen Tagen noch immer kaum 9 Uhr.

6. November Margots Blutdruck macht, was er will. Ich kann ihr Gezeter nicht mehr ertragen. Heute Mittag habe ich ihr gesagt: »Wenn das nicht aufhört, werde ich gehen.« Natürlich weiß Margot, dass sich mir da nicht viele Möglichkeiten bieten. Hämisch fragte sie: »Wo willst du denn hin?« Leider neige ich in solchen Situationen doch zu Überreaktionen. Ich antwortete: »Wenn alle Stricke reißen, mache ich eben rüber. In die BRD.« Das saß. Seitdem hat sie nicht mehr mit mir gesprochen.

7. Dezember Unser Nachbar Campos hat uns einen Weihnachtsbaum vor die Tür gestellt. Er ist ein sehr netter Mann. Er spricht sogar fließend Deutsch, aber manchmal übertreibt er es doch ein wenig. Margot hat den Baum freundlich abgelehnt, doch er schien das nur als Geste der Höflichkeit zu verstehen. Er trug die Tanne an ihr vorbei ins Wohnzimmer und baute sie in der Ecke auf. Dann ging er nach Hause und kam mit einer Kiste Baumschmuck zurück. Auf die Spitze hat er eine Jahresendflügelfigur gesetzt. Der Baum glitzert nun wie Mielkes Orden in der Mittagssonne. Die einzige Frage lautet: Was sollen wir damit? Manchmal wünsche ich mir, wir hätten das Weihnachtsfest einfach aus dem Kalender gestrichen, wie Ulbricht es schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen hatte. Aber das ließ sich nicht machen. Das Christkind und der Nikolaus wären arbeitslos gewesen. Mit unseren Prinzipien hätte sich das nicht vereinbaren lassen.

22. Dezember Von Margot habe ich erfahren, dass auch Sonja und Robbie sich die kapitalistische Tradition des Weihnachtsfests angeeignet haben. Von mir wird nun erwartet, dass ich mich an diesem Ritus ebenfalls beteilige. Da hat man sich über fünfzig Jahre seines Lebens im Sinne des Sozialismus mit aller Kraft gegen die Verlockungen des Konsums gestemmt. Und nun, zum Ende seines Lebens, wird man dazu verdammt, mit der Kreditkarte in die Stadt zu fahren und sich einem regelrechten Kaufrausch hinzugeben. Margot hat mir einen Zettel geschrieben: Sonja wünscht sich Duftwasser der Marke Chanel. Bei sich selbst hat Margot etwas kryptisch mit einem roten Herzen vermerkt: »Du weißt doch, was mir am meisten Freude macht.« Natürlich weiß ich das, aber benötigt sie zum willkürlichen Herumkommandieren irgendwelche Hilfsmittel? Unser Enkel Robbie wünscht sich offenbar einfach Geld. Nur wie viel, das hat Margot leider nicht dazugeschrieben. Dieser Zettel ist mir wirklich alles andere als eine Hilfe. Aber ich wäre ja nicht über all die Jahre Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands geblieben, wenn ich nicht in der Lage wäre, derartige operative Probleme auch alleine, gewissermaßen ohne fremde Hilfe, erfinderisch zu lösen. Ich habe Jorge die Kreditkarte in die Hand gedrückt, ihm Margots Aufzeichnungen gezeigt und ihn gebeten, sich selbst einige Gedanken zu machen. Er hat für Margot eine schöne Seife gekauft und für Sonja ein Duftwasser mit einem ähnlich klingenden Namen, aber einem viel günstigeren Preis. Robbie werden wir wie gewünscht Geld schenken. Jorge hat einen sogenannten Scheck besorgt. Nur den Betrag müsste Robbie dann gefälligst selbst eintragen – das wird man ja wohl erwarten können, wenn er es schon nicht für nötig hält, uns rechtzeitig über seine Wünsche zu informieren.

31. Dezember In den Jahresrückblicken zeigen sie die Bilder von meiner beschwerlichen letzten Fahrt zum Krankenhaus. Das hätte böse enden können. Ich sah wirklich übel aus. Leider versuchen die Westmedien auch bei dieser Gelegenheit, unser sozialistisches Erbe zu verunglimpfen. Der Reporter sagte, ich sei uneinsichtig gewesen bis zum Schluss. Ich frage mich: Welche Einsicht hätten sie denn erwartet? Dass der Kapitalismus die Menschen glücklich macht? Bei Margot und mir kann ich das nicht feststellen. Wobei es heute Abend schön war. Sonja hat drei Flaschen Rotkäppchen-Sekt gekauft. Viel zu viel, wie ich fand, aber jetzt sind doch alle Flaschen leer. In alter Tradition haben wir den Jahreswechsel zwei Stunden früher gefeiert, weil zu dieser Zeit in Moskau das neue Jahr begrüßt wird. Danach schießen sie dann in Berlin die Raketen in die Luft. Dann haben wir drei Stunden später ein weiteres Mal angestoßen, um das neue Jahr in Chile zu feiern. Leider etwas zu früh. So mussten wir später ein weiteres Mal trinken. Ich bin leicht beschwipst. Margot schnarcht.

Anmerkung des Herausgebers

1 Elli Kelm war Honeckers langjährige Sekretärin.

2 An diesem Abend erhielt ich einen Anruf von Margot Honecker. Sie bestellte mich in ihr Haus. Man begrüßte mich geradezu überschwänglich. Erich Honecker trank nie viel Bier, aber an diesem Abend holte er drei Flaschen aus dem Keller. Dann kamen sie gleich auf das Angebot zu sprechen. Margot fragte, ob ich mir vorstellen könne, ihnen in Zukunft auch im Haushalt zur Hand zu gehen. Ich überlegte nur kurz und sagte gleich zu. Erich Honecker dankte mir im Namen des Sozialismus und schlug vor, meine Anstellung mit einer feierlichen Runde Skat zu begehen.

1995

1. Januar Mein Gesundheitszustand hat sich leider wieder verschlechtert. Heute Morgen hatte ich großen Durst, mir war unwohl und ich hatte starke Kopfschmerzen. Margot ging es ganz ähnlich. Ich hoffe, wir haben uns nichts eingefangen.

30. Januar Der Gemüsehändler im Viertel hat Margot eindringlich vor dem chilenischen Leitungswasser gewarnt und ihr geraten, zum Trinken ausschließlich Mineralwasser zu verwenden, das er natürlich selbst verkauft. Ich habe Margot nun noch einmal darüber aufgeklärt, dass der Kapitalismus mit all seinen Verlockungen ja nun leider auch sehr häufig im Mantel der freundlichen Fürsorge daherkommt. Und ich habe ihr in aller Deutlichkeit gesagt: Ich werde dieses imperialistische Mineralwasser auf keinen Fall trinken. Und wenn ich nicht seit Tagen diese Malaisen mit dem Magen hätte, würde ich die Kisten eigenhändig wieder zurück in seinen Gemüseladen schleppen.

5. Februar Wir sind glücklich, dass wir in Jorge so einen treuen Verbündeten gefunden haben. Ja vielleicht sogar einen Freund – etwas, das ich nie haben konnte. In meinem Umfeld hatten es ja alle auf meine Ämter abgesehen. Natürlich hätte ich so manches Mal auch gern über private Dinge gesprochen – wenn ich mich dienstags mit Mielke traf, um die Lage des Landes zu bereden zum Beispiel. Mielke war ja äußerst wissbegierig. Vor allem, wenn es um unsere Tochter Sonja ging. Er wusste aus meinem privaten Umfeld aber ohnehin so viel, dass ich kein gutes Gefühl dabei hatte, ihn auch noch an meinen persönlichen Gedanken teilhaben zu lassen. Günter Mittag war an allem interessiert, was Margot betraf, wobei das gar nicht mein eigener Eindruck war, sondern auch der von Mielke. Krenz war vielleicht der Einzige aus dem Politbüro, der abends in Wandlitz auch mal zu uns kam und klingelte – abgesehen von Mittag, aber der war meist schon da, wenn ich aus Berlin kam. Allerdings – das muss man auch sagen – kam Krenz immer nur dann, wenn keine Gefahr bestand, Margot im Haus anzutreffen. Meistens wollte er gleich in den Keller, um meine Videosammlung zu durchstöbern.

Jorge hingegen spielt abends mit uns am Küchentisch Skat – mittlerweile ganz passabel sogar –, hat uns mit seiner Heiterkeit schon manches Mal zum Lachen gebracht – und neulich habe ich mit ihm ein Gespräch unter Männern geführt. Ich habe ihm anvertraut, dass es gewisse Bedürfnisse gibt, die auch ein Vorsitzender des Staatsrats und Erster Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in seinen einsamen Stunden zu Hause verspürt – und dass ich in diesem Zusammenhang immer große Sympathien für die BRD-Schauspielerin Uschi Glas gehegt habe, was mich schon einige Male in verzwickte Situationen gebracht hat. Ich erinnere mich vor allem an diese zerknitterte Bildmontage, die Margot damals in meiner Schublade gefunden hat. Jemand hatte den Kopf von Uschi Glas auf den Körper einer unbekleideten Frau geklebt. Margot ließ sich nur schwer davon überzeugen, dass ich mit alldem nichts zu tun hatte, was ich mit letzter Sicherheit allerdings selbst gar nicht sagen konnte. Recht enttäuscht war ich dann jedoch, als es mir endlich gelungen war, über Umwege eine Kopie ihres Filmes »Zur Sache, Schätzchen« zu ergattern. Da hatte der Titel mehr versprochen, als der Film – im Wesentlichen ein humoristisches Machwerk von geringem humanistischem Wert – halten konnte. Meine Zuneigung zu Frau Glas aber blieb. Jorge versicherte mir, er könne mich verstehen. Er hat mir einige Hefte mitgebracht, die ich nun in einem Karton unter meinem Bett aufbewahre.1

16. Februar Hier in Chile ist es seit Tagen so heiß, dass man es selbst im Schatten hinter dem Haus kaum aushält. Es ist eine regelrechte Zumutung, Margot bei diesen Temperaturen beim Umgraben der Beete zusehen zu müssen. Der Schweiß rinnt mir nur so den Rücken runter. Ich habe Margot mehrfach darauf aufmerksam gemacht und sie gebeten, mit der Gartenarbeit bis zum frühen Abend zu warten, aber auf mich nimmt sie wieder einmal keinerlei Rücksicht. Das ist wirklich typisch Margot.

14. März Mir fehlt doch sehr die Jagd hier in der neuen Heimat. Ich erinnere mich oft an das Revier in Drewitz, die Genossen, die mich begleitet haben, und die Nachbarn, die uns immer freundlich begegnet sind. Nie haben wir eine Beschwerde gehört, und immer hat die Natur uns reichlich Wild vor die Flinte getrieben. Manchmal dachte ich, ich könnte auch blind ins Gebüsch zielen und hätte immer noch einen Hirsch getroffen. Aber ich will gar nicht tiefstapeln. Ich war ein ganz passabler Jäger. Ich kann mich nicht an eine Treibjagd erinnern, an deren Ende ich in all den Jahren nicht die längste Jagdstrecke vorzuweisen gehabt hätte.

Leider erinnere ich mich aber auch an einen unschönen Zwischenfall. An einem Sonntag im Oktober begleiteten mich die Genossen aus dem Politbüro ins Jagdrevier. Es war ein sonniger Nachmittag, in den ersten Stunden hatten wir nur wenig Glück gehabt. Dann entdeckte ich einen mächtigen Zwölfender, der wie angebunden an einer Tränke stand. Kurz bevor ich schießen konnte, stieß er einen lauten Brunftschrei aus. Ich erschrak dermaßen, dass mir das Fadenkreuz verrutschte, sich ein Schuss löste und ich auf der anderen Seite der Tränke einen Treiber erwischte. Er war sofort tot. Allerdings waren Mielke und Willi Stoph sich sicher, den Mann kurz zuvor bei sehr klaren Republikfluchtandeutungen beobachtet zu haben. So wurde aus diesem tragischen Erlebnis für mich doch noch eine einzigartige Erfahrung. Mielke verlieh mir für die Vereitelung der Republikflucht den Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Gold.

19. März Ein Autohändler in Santiago hat fünf Millionen Pesos von unserem Konto abgebucht. Wir sind nun etwas ratlos. Margot hat dort gleich angerufen. Der Verkäufer sagte, ein junger Mann hätte sich einen grünen Kleinwagen ausgesucht und mit einem Scheck bezahlt. Wir werden das mit unserer Bank klären müssen.

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