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Karen Ollrogge

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Beschreibung

Gelingt es Ella, sich zu finden, oder verliert sie sich in der Welt der Drogen? Das mitreißende Debüt der erst 17-jährigen Karen Ollrogge Ella ist 16. Sie wächst recht behütet in einem beschaulichen Stadtteil von Berlin auf, ihre Familie ist intakt, sie ist eine gute Schülerin, hat Freundinnen und ist in ihrem Leben bisher von größeren Katastrophen verschont geblieben - von außen betrachtet könnte die Gymnasiastin ganz zufrieden sein. Doch das ist sie nicht. Sie fühlt sich durchschnittlich, ihr Leben erscheint ihr langweilig und vorbestimmt. Ella gelingt es nicht, einen rechten Sinn in alledem zu finden, was da vermeintlich auf sie wartet. Auf der Feier einer Mitschülerin lernt Ella den 18-jährigen Chris kennen. Obwohl sie anfangs nicht genau weiß, was sie von ihm halten soll, verliebt sich das schüchterne Mädchen in den gut aussehenden Jungen. Die beiden treffen sich und Chris nimmt sie mit zu seinen Freunden, zeigt ihr, wie man trinkt, raucht und kifft. Anfänglich ohne große Begeisterung - eigentlich hat sie mit Partys und Drogen nicht viel am Hut - macht Ella mit und findet immer mehr Gefallen daran, sich einfach treiben zu lassen und für den Moment zu leben. Doch nach und nach gerät sie in eine Abwärtsspirale: Ella ist immer weniger zu Hause, vernachlässigt die Schule. Sie isst nicht mehr richtig, beginnt, sich eigenes Gras zu kaufen, und macht auch vor härteren Drogen nicht halt. Die Nachricht über die schlimme Krebserkrankung ihres Vaters erreicht sie emotional gar nicht mehr wirklich. Zu weit hat sie sich von ihrer Familie und ihrem alten Leben entfernt. Als auch Chris aus ihrem Leben verschwindet, stürzt ihre kleine Welt allmählich endgültig in sich zusammen. Es beginnt ein Kampf, der Ella so ausweglos erscheint wie das Leben selbst. Und lohnt es sich überhaupt zu kämpfen, wenn man nicht einmal mehr weiß wofür? In ihrem Debütroman HIGH reflektiert die junge Berliner Autorin Karen Ollrogge die Schwierigkeiten und Sorgen ihrer Generation. Wie findet man seinen Weg in einer Gegenwart, in der eigentlich alle Möglichkeiten offenstehen, doch nichts wirklich erstrebenswert erscheint? Eindringlich, poetisch und aufrüttelnd.

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Seitenzahl: 384

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Karen Ollrogge

HIGH

Roman

INHALT

Für Viktorian

Prolog

Ist der Sinn verloren, dann das Leben. Ist das Leben verloren, dann die Liebe.Laotse

Langsam verschwammen die Wassermassen vor meinen Augen. Die Moldau nahm immer mehr Farben an, sie flackerten auf wie helle Lichter. Es sah so aus, als ob sie von einer unsichtbaren Kraft angezogen würden, und es bildete sich ein alles verschlingender Farbstrudel.

Gelb, rot, blau, türkis, lila – alles wurde von dem Strom erfasst. Ein sanfter Luftzug kitzelte meinen Nacken, und es fühlte sich an wie ein Kuss des Himmels. Schwerelos blickte ich in die Tiefe. Ich war fasziniert von der Schönheit der Landschaft. Ich hätte für immer hierbleiben mögen. Hier auf dem Dach einer heruntergekommenen Kaserne in Prag. Ich brauchte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Leise flüsterte ich dem Wind zu, dass er die Zeit anhalten solle, doch er schien mich nicht zu verstehen.

Wie hypnotisiert blickte ich auf den Himmel, die Bäume und den Fluss, die von hellen Farbsprenkeln bedeckt waren. Es war, als ob ein Gemälde Monets zu Leben erwacht wäre, allein um mir seine unendliche Schönheit zu beweisen.

Ich fühlte mich so sorglos. Wie hätte auch etwas Schlimmes in einer so wunderschönen Welt geschehen können?

Von irgendwoher kam ein Lichtstrahl und leuchtete in die unendliche Tiefe der Nacht. Er tastete sich durch die Dunkelheit wie ein Raubtier auf Beutezug. Meine Sinne waren aufs Äußerste geschärft, in diesem Moment hätte ich es mit jedem aufnehmen können. Ich war unbesiegbar, stark und schnell zugleich, mit den Reflexen einer Raubkatze. Ich hörte jeden Grashalm, jedes Blatt, jeden Wassertropfen. Ja, ich konnte sogar den Atem meiner Freunde hören, obwohl ich sie schon vor langer Zeit verloren hatte. Aber das war nicht wichtig, letztendlich war alles egal. Ich hatte mich und meine Farben. Ich war glücklich.

Lachend ließ ich meinen Kopf in den Nacken fallen und nahm dabei jedes kleine Detail wahr. Das Lachen klang unnatürlich laut in der Stille der Nacht, doch ich hatte das Gefühl, dass alles mit mir lachte.

Ich blickte auf den einzigen Stern, der am Himmel zu erkennen war, und schickte ihm all meine Gedanken. Wie musste es wohl als Stern sein? Plötzlich tat er mir unglaublich leid, wie er da so einsam in der Nacht funkelte. Ich wollte zu ihm, ihm sagen, dass er nicht alleine war. Mit einer fließenden Bewegung sprang ich auf und stellte mich an den Rand des Daches.

Dann breitete ich meine Arme aus und schrie.

Kapitel 1

Die Mittelmäßigkeit verurteilt meist alles, was ihren Horizont übersteigt.François de La Rochefoucauld

Wie ein aufgebrachter Bienenschwarm wuselte meine Familie herum. Hektische Hände zupften Kleid und Haare meiner Cousine zurecht, die den Fehler begangen hatte, sich dem Rest der Familie bereits vor der Trauung zu zeigen. An ihrer Stelle wäre ich schon längst ausgerastet, aber sie schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Sie lächelte ihrem Hofvolk zu und gab knappe Anweisungen, die alle so rasch wie möglich zu befolgen versuchten. Ich hatte mir einen Platz in der Ecke des kleinen Zelts gesichert, das eigens dafür aufgestellt worden war, dass sich die Braut darin auf ihren großen Tag vorbereiten konnte. Der Mann, den meine Cousine am heutigen Tag an sich binden wollte, tat mir schrecklich leid. Charlotte war gerade mal dreiundzwanzig, sieben Jahre älter als ich, und ich kannte wirklich keine anstrengendere Person als sie.

Meine Tante betrat das Zelt und ein Aufschrei des Glücks entfuhr ihren Lippen. Wahrscheinlich war sie froh, dass sie endlich ihre Tochter los wurde. Eine ältere Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, verscheuchte mich von meinem Platz. Ich stand etwas deplatziert im Raum und schaute mich um. Meine Finger fuhren über den vergoldeten Spiegel, der zum ersten Mal an diesem Tag nicht von der eitlen Braut in Anspruch genommen wurde, und ich betrachtete meine etwas hilflos wirkende Gestalt. Ich bin nie wirklich groß gewesen, aber gerade sah ich noch mal um einiges kleiner aus, als ich tatsächlich war. Meine 1,70 Meter schienen um zehn Zentimeter geschrumpft. Ich hoffte, dass es nur an dem Spiegel lag. Meine blonden Haare waren hochgesteckt, nur eine kleine Strähne hatte sich gelöst und schmiegte sich an mein Gesicht. Da meine Mutter nichts von zu viel Make-up hielt, färbte einzig Mascara meine sonst braunen Wimpern schwarz. Das schwarze Kleid stand mir ganz gut, auch wenn ich von einer Modelfigur weit entfernt war. Aber es machte sich schon ein wenig bemerkbar, dass ich vor Kurzem darauf umgestiegen war, mich hauptsächlich von Obst und Gemüse zu ernähren. Mein Ziel waren 51 Kilo. Ich war gerade dabei, einen kleinen schwarzen Strich, der wahrscheinlich von dem Mascara kam, von meiner Wange zu wischen, als die elegante Gestalt Charlottes im Spiegelbild erschien.

»Na Cousinchen, wie geht es dir?« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange, ohne mich wirklich zu berühren und betrachtete sich im Spiegel.

Ich wusste nicht, ob sie tatsächlich eine Antwort erwartete, und nickte etwas unbeholfen. »Und dir an deinem großen Tag? Hast du schon kalte Füße?«

Sie lachte hell, meiner Meinung nach etwas zu hell, aber das war ja Geschmackssache. »Wieso sollte ich? Alles ist perfekt geplant. Ich habe meine Traumhochzeit. Nachher holt uns eine Kutsche ab, alle, die da sein sollten, sind da, und die Kirche ist wunderschön.«

Ich lächelte leicht gequält und verkniff mir zu sagen, dass das nicht unbedingt meine Kriterien wären. Aber solange eine Kutsche kam, konnte ihr der Bräutigam ja egal sein. Sie bewunderte noch ein paar Sekunden ihr Spiegelbild und drehte sich dann zum ersten Mal richtig zu mir um.

»Kannst du mir einen Gefallen tun? Irgendwo dahinten müsste eine Kamera liegen.« Sie wies mit der Hand auf eine Ecke, wo sich die unterschiedlichsten Utensilien häuften. »Kannst du ein paar Fotos machen? Es kommt zwar auch noch ein Fotograf, aber ich finde, gerade die spontanen Fotos haben manchmal so etwas Natürliches.«

Ich nickte und sie tat ganz begeistert.

»Danke schön, Ella, das ist echt lieb von dir.« Sie hauchte mir erneut einen Luftkuss zu und tauchte wieder im Gewusel ihres Hofstaates unter.

Etwas angenervt suchte ich nach der Kamera und fand sie in einem Kasten mit leeren Wasserflaschen. Achtlos war die schöne digitale Spiegelreflex dort einfach hineingeworfen worden. Ich machte erst mal die Linse sauber. Auch wenn ich nicht wirklich Ahnung von Kameras hatte, so war ich doch froh, dass ich wenigstens etwas zu tun hatte, und begann, wild herumzuknipsen.

Als ich genug von den aufgeregten Frauen hatte, die meine Cousine umgarnten, als wäre sie ihre Bienenkönigin, wollte ich das Zelt verlassen und stieß dabei fast mit dem Pfarrer zusammen. Ich nuschelte ein kurzes »Entschuldigung« und er lächelte warm zurück. Irgendwie hatten Gläubige etwas an sich, was sie mir sofort sympathisch machte. Er fragte die Braut, ob sie bald anfangen könnten, und meine Tante nickte anstelle Charlottes geschäftig.

Die Glocken läuteten, und wie immer befiel mich ein bedrückendes Gefühl bei dem dumpfen Klang. Ich hielt Ausschau nach meinem Bruder, aber er und meine Eltern waren in der Menge der Hochzeitsgäste untergegangen. So setzte ich mich alleine in die letzte Reihe der Kirche. Charlotte hatte nicht übertrieben, als sie die Kirche gelobt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich hier auch Fotos machen sollte, und schaltete sicherheitshalber den Blitz aus. Irgendwie kam mir moderne Technik in Kirchen generell falsch vor, aber ich hatte zu große Angst vor Charlottes Reaktion, wenn ich ihr sagte, dass ich in der Kirche keine Fotos gemacht hatte. Meine Augen schweiften über die prachtvollen, mit Gold geschmückten Wände und blieben an dem gekreuzigten Jesus hängen. Wie musste es wohl sein, für seinen Glauben zu sterben? Hatte er wirklich so sehr auf Gott vertraut, dass er sich sicher war aufzuerstehen? Was hätte ich nur dafür gegeben, in meinem Leben so einen Sinn zu spüren. Einfach zu wissen, dass es nicht unnötig war, auf der Erde zu verweilen, dass man nicht so unbedeutend war wie ein Sandkorn am Strand.

Die Musik begann und für einen Moment schloss ich meine brennenden Augen. Der Bräutigam schritt nach vorne, und man konnte seinem Blick entnehmen, dass er es kaum erwarten konnte, die Trauung endlich hinter sich zu bringen. Am Altar angekommen blieb er stehen und nun betrat auch die Braut die Kirche. Alle taten überrascht und entzückt, als meine Cousine in all ihrer Pracht den Gang entlangschritt, aber eigentlich kannte jeder alles bis ins kleinste Detail. Nichts war überraschend an ihrem weißen Barbietraum. Ich zwang mich zu einem Lächeln und erhob mich genauso wie der Rest der Gemeinde. Sich ihrer Wirkung ganz genau bewusst, genoss die Braut jeden kleinen Schritt. Sie hatte sich bei ihrem Vater untergehakt, der steif und mit ausdrucksloser Miene neben ihr herging. Vermutlich war ihm der ganze Zirkus eher unangenehm. Ich zoomte an sein Gesicht heran und machte noch ein Foto. Wenn schon, denn schon.

Die Trauung begann, und ich wusste an jedem Punkt des Zeremoniells genau, was als Nächstes kommen würde. Wie vorbestimmt doch alles war. Nicht nur der Ablauf der Trauung, sondern eigentlich das gesamte Leben. Man hat nie eine Wahl. Schon alleine darauf, dass und von wem man geboren wird, hat man keinen Einfluss, und wenn man ehrlich ist, geht es danach auch nicht besser weiter. Hatte mich je jemand gefragt, ob ich in den Kindergarten wollte? Oder in die Schule? Und genauso wenig würde ich eine andere Wahl haben, als mein Abitur zu machen, zu studieren und dann zu arbeiten. Und dann kamen halt noch irgendwann Mann, Haus und Kind. Aber vielleicht machte ich es mir auch selbst schwer. Ich konnte schließlich die Schule abbrechen und nur noch die zehnte Klasse beenden. Doch so war ich nicht, ich würde meinen vorgezeichneten Weg gehen, egal wie sehr mir das eigentlich widerstrebte.

Ich blickte auf meinen abgeblätterten Nagellack und nahm erst jetzt wahr, dass ich die ganze Zeit daran gekratzt hatte. Meine Mutter würde nicht glücklich sein. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Brautpaar, das der Predigt des Pfarrers lauschte.

»… Die Liebe ist wachsam und erlahmt nicht, sie kennt keine Furcht, sie wird nicht beunruhigt. Die Liebe leuchtet auf wie eine helle Flamme und eine brennende Fackel …«

Das Brautpaar lächelte sich an, doch ich kam nicht umhin zu denken, dass das nur gespielt war. Die Worte des Pfarrers waren schön, aber auch irgendwie kitschig. Liebe. Als ob es so etwas tatsächlich gab. Wie oft ich doch schon diese Diskussion geführt hatte, wie oft ich doch schon versucht hatte, die anderen davon zu überzeugen, dass das alles nur eine große Lüge war. Eine Lüge unserer Kultur, erfunden in Geschichten, die wiederum andere prägten, bis jeder davon überzeugt war, dass sie stimmten. Mir war durchaus bewusst, dass ich mir mit dieser Ansicht keine Freunde machte, und ich sagte auch jedem, dass ich hoffte, irgendwann eines Besseren belehrt zu werden, aber im Moment erschien mir meine Ansicht die einzig richtige zu sein. Es war für mich einfach unvorstellbar, dass man sich selbst aufgab, um nur noch mit dieser einen Person zusammenzuleben.

Allerdings war mein jetziger Lebensstil ja auch nicht so viel besser. Eigentlich war er sogar ziemlich langweilig. Ich stand jeden Tag auf, ging zur Schule, traf mich mit Freunden und ging dann wieder ins Bett. Eine Routine, die ich seit zehn Jahren nicht verändert hatte.

Ich lauschte wieder den Worten des Pfarrers, der begonnen hatte, den 1. Korinther vorzulesen. »›Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.‹ So steht es im 1. Korinther 13, dem Hohelied der Liebe. So bitte ich nun auch euch, euer Liebesbekenntnis abzulegen …«

Ich betrachtete das Gesicht Charlottes und kam nicht umhin zu denken, dass sie solchen Sätzen nicht gewachsen war. Sie, die doch in Wahrheit an nichts anderes dachte als an das Geld ihres künftigen Mannes. Doch Charlotte war nichts anzumerken, ihr Lächeln blieb süß wie die ganze Zeit, und als sie ihr »Ja, ich will« aufsagte, klang ihre Stimme klar und fest. Vielleicht tat ich ihr auch unrecht und sie war wirklich selbst davon überzeugt, dass sie den Mann an ihrer Seite liebte. Wer war ich denn, dass ich mir überhaupt ein Urteil erlaubte?

Die Ringe wurden ausgetauscht, und ich machte erneut Fotos, die aber wegen der weiten Entfernung alles andere als scharf waren. Der Pfarrer sprach noch ein paar Abschlussworte, und als die Musik erneut erklang, erhob sich die Gemeinde noch einmal, während das Brautpaar die Kirche verließ. Ich legte meine Jacke über den Arm und folgte den anderen nach draußen an die Luft. Das Sonnenlicht war so hell, dass ich einige Zeit brauchte, um mich daran zu gewöhnen und wieder alles zu erkennen. Ich sah mich ein wenig in der Menge um und fand meinen Bruder wieder.

Er grinste. »Na, gut geschlafen?«

Ich ignorierte seine Frage und stellte mich mit ihm zusammen in die Schlange der Wartenden, um dem Brautpaar zu gratulieren. Immer wieder wurden wir von älteren Menschen begrüßt, die ich höchstens flüchtig kannte.

Nachdem sich die Massen langsam aufgelöst hatten, machten wir uns auf den Weg zum Auto, wo unsere Eltern bereits auf uns warteten. Meine Mutter fragte, ob nicht mein Bruder fahren wolle, und etwas widerwillig gab mein Vater Moritz den Schlüssel. Sichtlich stolz ging der zur Fahrertür. Etwas skeptisch setzte ich mich nach hinten, es war das erste Mal, dass Moritz mit dem Auto meines Vaters fuhr. Meine Mutter setzte sich zu mir nach hinten und sagte, ich solle mich bloß anschnallen. Das Auto setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und meine Mutter schrie kurz auf. »Der Gang, Sebastian, zeig ihm doch noch mal, wie das mit dem Gang-Einlegen funktioniert!«

Wütend drehte sich Moritz um. »Ich weiß schon, wie das funktioniert.«

Etwas holperig, aber dennoch sicher parkte er aus der Lücke aus. Meine Mutter stöhnte und ich schaute genervt aus dem Fenster. Wir fuhren durch kleinere Straßen und meine Mutter rief Moritz die ganze Zeit Anweisungen wie »Rechts!«, »Links!« oder »Achtung!« zu, obwohl diese eigentlich komplett unnötig waren. Sie machte uns alle so irre, dass mein Bruder sich mehrmals verfuhr, was meine Mutter nur zu noch mehr Zwischenrufen verleitete. Ich hatte Mühe, sie nicht anzumeckern, sie solle endlich mal leise sein. Es war also kein Wunder, dass wir die Letzten waren, die am Haus meiner Cousine ankamen. Sie hatten sich eine schicke kleine Villa in der Nähe des Wannsees gekauft, beziehungsweise Charlottes Mann hatte sie gekauft. Moritz und meine Mutter fingen an, darüber zu diskutieren, ob wir nun tatsächlich einen so großen Umweg gefahren waren, und ich ging vor, die Stimmen der beiden Streitenden im Rücken.

Drinnen winkte mich Michelle, meine gleichaltrige Cousine, zu sich, und ich ließ mich auf den leeren Stuhl neben ihr fallen. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und schob mir ein Glas Sekt hin. »Na, wie geht es dir?«

Ihre Stimme klang fremd, und ich überlegte, wie lange ich sie nicht gesehen hatte. Es mussten fast zwei Jahre gewesen sein. Ich lächelte. Wie ich diese Frage hasste. Was blieb einem denn da anderes übrig, als zu lügen?

»Eigentlich ganz gut, es ist nur gerade alles etwas stressig mit der Schule. Ich sitze die ganze Zeit an meinem MSA-Vortrag und habe trotzdem das Gefühl, dass ich nicht vorankomme«, leierte ich den Text herunter, mit dem ich in letzter Zeit immer auf die Wie-geht-es-dir-Frage antwortete. »Wie weit bist du denn damit?«

Ich sah sie an und merkte sofort, dass ich das falsche Thema angesprochen hatte. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

»Ich habe noch gar nicht angefangen. Aber es ist sowieso nicht so wichtig, ich wiederhole wahrscheinlich die zehnte Klasse, dann habe ich noch Zeit.«

Ich suchte nach einem Anzeichen, dass das ein Witz war. Ich fand keines.

»Das ist doch gut, dann kannst du dir wenigstens noch über alles klar werden. Wir sind sowieso zu jung für so wichtige Entscheidungen«, versuchte ich, meine Bestürzung zu überspielen.

Michelle grinste über meine Unsicherheit. »Komm, erheb dich! Wir sprechen einen Toast aus, ich will endlich trinken.«

Und schon stand sie, bewaffnet mit einem Sektglas und einer Gabel, die sie laut klirrend daran stieß.

»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Verwandte und Unbekannte. Meine geliebte Cousine Ella möchte gerne einen Toast auf unser Brautpaar aussprechen. Ich bitte um Ruhe, ihre Stimme ist nicht so laut.«

Damit übergab sie mir das Wort. Perplex starrte ich sie an. War das ihr Ernst? Meine Gesichtsfarbe wechselte von Blass zu Rot. Was sollte ich denn jetzt sagen? Ich zitterte so sehr, dass der Sekt über meine Hand schwappte. Sag etwas, Ella, ermahnte ich mich selbst.

»Vielen Dank, Michelle.« Meine Stimme klang unnatürlich hoch. Sehr gut, Ella, das war doch schon mal ein Anfang, mach einfach weiter. Aber was konnte man noch sagen? Alle meine Gedanken schienen wie weggeblasen. Ich fühlte mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht, unfähig mich zu bewegen. Ich räusperte mich. Alle starrten mich mit erwartungsvollem Blick an.

»Ja, warum sollte ich hier eine große Rede schwingen? Ich glaube, es reicht aus, wenn ich sage: Auf unser Brautpaar, auf dass die beiden ein Leben voll wildem Sex, Liebe und Gesundheit haben!«

Stille.

Langsam begriff auch ich meine Worte. O Gott, hatte ich das wirklich gesagt? Hatte ich gerade tatsächlich meine Familie aufgefordert, auf den wilden Sex ihrer Enkelin, Tochter und Schwester anzustoßen? Wenn es überhaupt ging, wurde meine Gesichtsfarbe noch röter. Die Stille zog sich eine Ewigkeit hin, doch dann hoben alle ihr Glas und wiederholten meine Worte.

»Auf wilden Sex, Liebe und Gesundheit!«, leierten sie lachend im Chor und schnell kippte ich mir die sprudelnde Flüssigkeit in den Mund. Wieder einmal fiel mir auf, dass mir Alkohol überhaupt nicht schmeckte.

Michelle bekam sich fast nicht mehr ein vor Lachen und wir setzten uns wieder.

»Vielen Dank auch«, zischte ich ihr zu.

»Ach komm schon, ich glaube nicht, dass jemals jemand so einen guten Toast bekommen hat wie deinen eben. Spätestens in dreißig Jahren, wenn es in allen anderen Ehen langweilig wird, werden sie dir für den wilden Sex danken.«

Nun musste auch ich grinsen. Ich hoffte nur, dass man meinen Fauxpas so schnell wie möglich vergessen würde.

Nachdem wir gegessen hatten, überredete mich Michelle zu einem Spaziergang. Ich war froh, dass ich endlich von dem verführerisch duftenden Buffet wegkam, denn es fiel mir schwer, nur bei Salat zu bleiben. Wir liefen an den schicken Häusern vorbei, und schon wieder überfiel mich ein bedrückendes Gefühl, als ich daran dachte, dass auch ich irgendwann in so einem Kasten leben würde.

Michelle kramte in ihrer Tasche und fand schließlich das, was sie suchte. Sie holte eine kleine viereckige Packung heraus, und ich brauchte einige Zeit, bis ich verstand, dass es sich dabei um Zigaretten handelte. Geübt zündete sie sich eine an und hielt mir dann die Packung hin. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht gewusst, dass sie rauchte, und aus irgendeinem Grund war ich darüber fast ein bisschen schockiert. In meiner Stufe rauchten zwar auch schon einige, aber mit denen hatte ich eher wenig zu tun.

Ich erinnerte mich daran, dass meine Mutter mir eine Woche zuvor erzählt hatte, Michelle sei das schwarze Schaf der Familie geworden. Damals hatte ich ihren Worten keine Beachtung geschenkt, aber plötzlich verstand ich, was sie meinte. Ob meine Mutter wohl auch wusste, dass meine Cousine rauchte?

Wir setzten uns auf eine Bank. Michelle zog an ihrer Zigarette und pustete den Rauch in den Himmel.

»Was ist passiert?«, durchbrach ich die Stille.

Verwirrt blickte sie mich an.

»Ich meine, was ist passiert, dass du dich so verändert hast? Vor zwei Jahren noch sind wir an Rauchern vorbeigegangen und haben demonstrativ gehustet. Vor zwei Jahren noch hattest du einen Notendurchschnitt von 1,6 und wir haben zusammen mit deinen Eltern Urlaub in Österreich gemacht. Was ist geschehen, dass jetzt plötzlich alles so anders ist?«

Sie überlegte einen Moment und starrte auf das Geäst eines abgestorbenen Baumes.

»Die Zeit. Das ist passiert.«

Ihre Stimme klang gebrochen, und ich dachte schon, dass das ihre endgültige Antwort war, als sie erneut zu sprechen begann.

»Ich weiß nicht, es gibt nicht wirklich einen Grund. Es ist ja nicht so, dass sich wirklich etwas verändert hat, ich bin ja jetzt nicht abgestürzt oder so. Ich bin nur älter geworden und meine Freunde halt auch. Mit sechzehn trinkt man, raucht man. Da ist nichts weiter bei. Ich kann auch gar nicht verstehen, was meine Eltern da für einen Mist erzählen, von wegen ich wäre ganz schlimm geworden. Klar bleibt man mal länger weg, übertreibt ein bisschen und bereut am nächsten Tag das eine Glas zu viel. Eigentlich habe ich nichts getan, es ist von alleine passiert. Ich wurde schlechter in der Schule, bekam andere Freunde, fing an zu rauchen. Da ist kein Geheimnis, es ist nicht schwer, »das schwarze Schaf« zu werden. Es geht schneller, als man denkt. Ich habe mir nicht vorgenommen, dass es so kommt, aber auf manche Dinge hat man einfach keinen Einfluss.«

Sie hatte sehr schnell gesprochen, und mich überkam das Gefühl, dass sie sich schon oft darüber Gedanken gemacht und sich ihre kleine Rede zurechtgelegt hatte. Aber ich wusste, dass sie unrecht hatte. Man hat immer eine Wahl, egal, worum es geht. Niemand muss die zehnte Klasse wiederholen oder mit dem Rauchen anfangen, wenn er es nicht will.

Es war nicht so, dass ich direkt eine Abneigung gegens Rauchen oder Trinken hatte, ich hatte es einfach überhaupt nicht mit Michelle in Verbindung gebracht. Also nickte ich nur, anstatt zu antworten.

»Ich weiß, du verstehst mich nicht, aber das ist nicht schlimm. Irgendwann wirst du es auch tun, glaub mir mal. Irgendwann wirst du anfangen zu rauchen, zu trinken, und dann werde ich dir sagen, dass ich es dir ja gesagt habe. Ich meine ja nicht, dass du komplett abstürzen wirst, aber jeder macht auf die eine oder andere Weise seine Erfahrungen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich werde ich meine Erfahrungen machen, aber nicht auf diese Weise. Ich habe mich unter Kontrolle, ich weiß, was ich tue.«

Michelle lächelte, und ich fühlte mich plötzlich wie ein kleines naives Kind, das die Welt erklärt bekommt. Vielleicht hatte sie recht, es würde bestimmt mal passieren, dass ich ein Glas zu viel trank, aber bei ihr klang es so, als ob ich gar keine andere Wahl hatte, als all das zu machen, was sie gerade machte. Michelle drückte ihre Zigarette aus. Sie richtete sich auf und streckte sich.

»Lass uns wieder zu den anderen gehen, sie vermissen uns bestimmt schon.«

Auch wenn ich das stark bezweifelte, stimmte ich zu und folgte ihr. Nach unserem Gespräch fühlte ich mich Michelle irgendwie näher; und selbst wenn ich von ihrem Lebensstil vielleicht nicht so begeistert war, musste ich zugeben, dass ich ihn auf eine Art interessant fand. Ein wenig beneidete ich sie auch, dass sie alles so leicht nahm.

Inzwischen hatten die Erwachsenen sich bereits ausgiebig dem Alkohol gewidmet, entsprechend gelöst war die Stimmung. Ich stellte mich zu meinem Opa und verfolgte belustigt, wie er mit der ganzen Überzeugungskraft eines Fabrikchefs versuchte, einer Freundin der Braut zu erklären, dass es absolut unmöglich sei, guten Whisky mit Eiswürfeln zu trinken. Ich verkniff mir ein Grinsen und ließ die verzweifelte Frau mit meinem echauffierten Opa alleine.

Es war bereits 23 Uhr, als wir endlich erschöpft ins Auto fielen. Mein Vater hatte den ganzen Abend über nichts getrunken, damit er fahren konnte, und war dementsprechend schlecht gelaunt.

Meine Mutter seufzte selig, als sie sich in das weiche Polster sinken ließ. »Ach, das war doch ein schöner Abend. Ich weiß gar nicht, warum wir solche großen Familienfeste nicht wieder öfter machen. Bis vor zwei Jahren haben wir das doch auch fast wöchentlich hinbekommen.«

Mein Bruder sagte, er glaube nicht, dass wir tatsächlich jede Woche eine Hochzeit gefeiert hätten, aber das war meiner Mutter herzlich egal.

»War es denn auch für dich nett, Ella?«

Ich nickte. »Es war echt schön, Michelle mal wiederzusehen, sie hat sich so verändert.«

Meine Mutter drehte sich zu mir um. »Ja, das hat sie. Ich habe heute ganz schreckliche Geschichten von ihrer Mutter gehört, ich weiß gar nicht, wie sie ihrer Tochter das alles erlauben kann. Ich an ihrer Stelle hätte schon viel härter durchgegriffen oder es einfach überhaupt nicht dazu kommen lassen. Das Mädchen ist kaum noch zu Hause – und sie hat jetzt sogar einen fünfundzwanzigjährigen Freund, wusstest du das?«

Ich murmelte irgendetwas Uneindeutiges, weil ich wusste, dass meine Mutter diese Art von Konversation am liebsten mit sich selbst führte und alle anderen somit zu ihren Zuhörern verdammte. Ich blickte aus dem Fenster und dachte an Michelle. Es war erstaunlich, wie sehr Menschen sich verändern konnten, und das eigentlich ohne richtigen Grund. Und doch war sie ja irgendwie das gleiche blonde Mädchen, das damals nicht einschlafen konnte, wenn nicht mindestens eine Lampe im Zimmer leuchtete. Die Fahrt dauerte genauso lange, wie der Monolog meiner Mutter anhielt, und ich war froh, als wir endlich zu Hause ankamen und ich in mein Zimmer flüchten konnte. Sofort schaltete ich meinen Computer an. Fünf ungelesene Nachrichten wurden mir bei Facebook angezeigt. Eine war von meiner besten Freundin Maja, die mich fragte, ob ich »es« schon gesehen hatte. Typisch Maja.

Was soll ich gesehen haben?, schrieb ich zurück.

Aber die Frage erübrigte sich schnell, da ich als Nächstes die Einladung zu einer Veranstaltung vorfand. Mein Herz schlug schneller.

Ich feiere am Samstag meinen 17. Geburtstag und würde mich freuen, wenn ihr dabei seid. Deswegen habe ich einen Raum in einem Jugendclub in Charlottenburg gemietet, der uns von 21 bis 6 Uhr zur Verfügung stehen wird. Die genaue Adresse werde ich noch bekannt geben. Für Getränke und Essen ist gesorgt, alles andere müsst ihr aber selbst mitbringen. Bestellungen gebe ich sonst an Chris weiter, wenn ihr wollt. Na dann, ich freue mich auf euch! Svea.

Sofort schrieb ich Maja, dass ich jetzt wusste, was sie meinte. Es war die erste Feier in einem Club für uns. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, so aufgeregt war ich. Was zog ich da an? Was machte ich mit meinen Haaren? Musste ich Svea etwas schenken? Und was meinte sie überhaupt mit »Bestellungen«?

Ein leises »Plopp« ertönte und eine Nachricht von Maja erschien. »Also darfst du hin?«

Mist. Daran hatte ich überhaupt noch nicht gedacht. Die Feier begann um 21 Uhr und ich musste eigentlich spätestens um 22 Uhr zu Hause sein.

Verzweifelt huschte ich ins Bad zu meiner Mutter, die sich gerade abschminkte, und setzte meinen Hundeblick auf. »Mama?«

Sie zeigte keine Regung.

»Nächsten Samstag ist eine Feier, wo ich hin möchte, kann ich da hingehen?«

Meine Mutter schaute in den Spiegel und wischte weiter ungerührt ihre Mascara ab. »Ja klar, warum auch nicht?«

Das war ja leicht gewesen. Doch ich kannte meine Mutter inzwischen gut genug, um zu wissen, dass es nicht lange dauern würde, bis ihr »Aber« kam.

»Solange du um 22 Uhr wieder hier bist, habe ich damit doch kein Problem.«

Verzweifelt stöhnte ich auf. »Aber da hat es doch noch überhaupt nicht richtig begonnen. Dann brauche ich da gar nicht erst hinzugehen.«

Meine Mutter beendete ihr Abschminken und fing an, sich mit ihrer Antifaltencreme einzuschmieren. »Na, warum diskutieren wir dann überhaupt noch?«

Wie ich meine Mutter doch liebte. Ich ballte meine Hand zu einer Faust und atmete tief durch. »Bitte Mama, es ist mir wirklich sehr wichtig.«

Eigentlich stimmte das noch nicht einmal, aber ich wusste, dass es Maja ziemlich viel bedeutete. Ich kannte Svea überhaupt nicht so gut und wahrscheinlich würden da lauter fremde Gesichter sein, aber es ging mir ums Prinzip. Alle durften länger draußen bleiben und ich wollte auch wenigstens ein Mal in einen Club gehen. War das zu viel verlangt?

Letztendlich hatte ich es wahrscheinlich der Müdigkeit und den Promille meiner Mutter zu verdanken, dass wir uns darauf einigten, dass sie mich um Mitternacht abholen würde. Das war ihr letztes Wort. Immerhin besser als nichts.

Das Problem war nur, dass wir noch eine ganze Woche warten mussten, und wenn es um so etwas wie eine Feier ging, war Maja wirklich gut darin, Panik zu schieben. Schon am Montag begrüßte sie mich beim Volleyballtraining mit den Worten »Nur noch fünf Tage«. Wir joggten am Ende, damit wir uns ungestört unterhalten konnten.

»Ich weiß nicht, ob wir da wirklich hingehen sollten, ich glaube, das ist nichts für mich«, jammerte ich.

»Du bist verrückt, das ist die Chance, das wird perfekt!«

Es war typisch Maja, dass sie sich da so reinsteigerte, aber ich musste zugeben, dass sie mich ein wenig ansteckte. Zwar war es natürlich nicht die erste Feier, auf die wir gingen, aber es war die erste in einem Club und zumindest ich würde so gut wie niemanden kennen, weil ich Svea auch nur durch Maja kannte, die erstens auf einer anderen Schule und zweitens einen Jahrgang über mir war.

Die Woche zog sich endlos hin. Am Freitag stand unser Plan: Sie würde am Samstag zu mir kommen, wir würden uns fertig machen, was essen und dann in den Club gehen. Meine Mutter würde uns um zwölf abholen und Maja würde bei mir schlafen. Der Plan schien perfekt.

Kapitel 2

Verliebtsein ist nur ein außerordentlicher Fall von freiwilliger Blindheit.Honoré de Balzac

Es war die Nacht der Nächte. Jedenfalls kündigte Maja so unseren Abend an. Sie saß in Jogginghose auf meinem Bett und lackierte sich ihre Fingernägel. Rot. Was sonst? Ich versuchte währenddessen, meine noch nassen Haare durchzukämmen, und riss mir dabei die Hälfte aus. Nebenbei lief der Fernseher, aber weder Maja noch ich würdigten ihn eines Blickes. Wir waren viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Langsam fing ich an zu verzweifeln. Maja bemerkte meine skeptischen Blicke in den Spiegel und lachte.

»Ich kenne niemanden, der so merkwürdig in einen Spiegel schaut wie du. Sei doch mal zufrieden mit dir, du bist einfach mal der schönste Mensch, den ich kenne.«

»Sagt der schönste Mensch, den ich kenne, und verschmiert dabei seinen Nagellack.«

Maja fluchte und versuchte, ihre Nägel zu retten. Ich wusste, dass sie es nur gut meinte, aber sie konnte noch so oft meine Figur, meine Haare und mein Aussehen loben, ich würde ihr trotzdem nicht glauben. Allein durch Worte wurde man nicht schöner. Außerdem fand ich es unnötig, dass gerade Maja so etwas sagte, weil sie einfach tausend Mal hübscher war als ich. Sie war groß und schlank, hatte braune lockige Haare und große braune Augen, die immer perfekt geschminkt waren. Manchmal war ich schon etwas neidisch auf ihr Aussehen. Aber ich hatte ja andere Qualitäten, wie meine Mutter immer sagte.

Es waren bereits zwei Stunden vergangen, als wir endlich so einigermaßen mit uns zufrieden waren. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nicht so viel Zeit für mein Aussehen verschwendet.

Wir kamen um genau 21.05 Uhr im Club an, bis auf Svea und drei Freunde von ihr, die ich nicht kannte, war noch niemand da. Ich umarmte Svea zur Begrüßung und überreichte ihr Majas und mein Geschenk. Sie war sichtlich verwirrt über das Geschenk, wahrscheinlich, weil es nicht die Form einer Flasche hatte, sondern ein Buch war. Ich blickte Maja etwas sauer an, weil sie mich leise auslachte. Sie hatte mir von Anfang an gesagt, dass ein Buch unpassend war, aber ich hatte darauf bestanden. Vielleicht hätte ich doch besser auf sie hören sollen. Svea führte uns zu den Getränken und drückte jeder ein Bier in die Hand. Wir setzten uns zu den anderen Mädchen auf das Sofa und ich schaute Maja enttäuscht an.

Sollte das etwa die Nacht der Nächte sein? Aber Majas Augen schienen mir zu sagen: »Warte es ab, da kommt noch was.«

Aber da kam erst mal nichts und das auch ziemlich lange.

Die Mädchen, die mit uns auf dem Sofa saßen, rekelten sich ab und zu mal und schmissen sich immer dann in Pose, wenn ein Junge den Raum betrat, aber sonst sahen auch sie etwas gelangweilt aus.

Es war bereits 22 Uhr, als die Feier langsam losging. Der DJ begann aufzulegen und es wurde Discolicht angemacht. Es wirkte wie ein Startschuss, und allmählich begannen die ersten, zu dem nervig flackernden Licht zu tanzen. Ich konnte Maja ansehen, dass sie auch unbedingt auf die Tanzfläche wollte. Als sie merkte, dass ich keine Anstalten machte, meinen Allerwertesten zu bewegen, sprang sie ohne mich auf und tanzte mit den Mädchen, die vorher mit uns auf dem Sofa gesessen hatten. Zwar konnte ich es Maja nicht wirklich übel nehmen, aber etwas angenervt war ich schon. Vielleicht war es nur Neid. Ich hätte mich nie einfach so wie sie auf die Tanzfläche zu irgendwelchen fremden Menschen stellen und mit ihnen herumspringen können.

Ganz allein saß ich auf dem riesigen Sofa und hielt mein immer noch fast volles Bier fest. Wenigstens hatte ich so eine Ausrede dafür, dass ich nicht tanzte. Interessiert schaute ich mich um. Der Raum, der mir vorhin noch so groß vorgekommen war, schien nun viel zu klein. Die meisten tanzten, aber es gab auch einige, die an der Seite standen und versuchten, die laute Musik mit ihren Stimmen zu übertönen und ein Gespräch zu führen. Mein Sofa stand ganz in der Nähe der kleinen Bar, wo immer mehr Menschen, angezogen von dem Alkohol, sich bedienten. Svea hatte auf einen Barkeeper verzichtet und so experimentierten die Jungen hinter dem hohen Tresen herum. Sie spielten sich alle so schrecklich auf, wie sie die Flaschen fünf Zentimeter hoch warfen und Applaus dafür verlangten, aber die Mädchen, die auf der anderen Seite des Tresens standen, schauten ihnen tatsächlich bewundernd zu.

Es setzte sich keiner neben mich, und ich war eigentlich ganz froh darüber, hätte ich doch sonst Small Talk führen müssen, den ich so verabscheute. Ich kannte außer Svea und Maja fast niemanden auf der Feier, höchstens vom Sehen. Mit der Zeit wurde es immer stickiger in dem Raum, und ich musste feststellen, dass es eine gute Idee meiner Mutter gewesen war, uns bereits um zwölf abzuholen.

Ich sagte mir einfach, dass es eine Erfahrung war, dass ich jetzt immerhin wusste, dass solche Feiern nichts für mich waren, aber dadurch fühlte ich mich auch nicht wohler. Zwei Jungen setzten sich auf das Sofa gegenüber und fingen an, lautstark zu diskutieren. Ich beobachtete, wie sie immer heftiger wurden, und plötzlich drehte sich einer zu mir um. »Was meinst du, Whisky mit oder ohne Eiswürfel?«

Entgeistert starrte ich sie an. Hatten sie sich wirklich wegen einer solchen Kleinigkeit gestritten? Ich erinnerte mich daran, was mein Opa immer sagte. »Eiswürfel zerstören den Geschmack.«

Der eine Junge schaute den anderen triumphierend an. Sie versuchten, mich einzubeziehen in ihr Gespräch über Whiskysorten, und da ich ja eigentlich absolut keine Ahnung hatte, schaute ich mich etwas hilflos um. Wieso kam nie Rettung, wenn man sie brauchte?

»Ich hol mir noch was zu trinken«, versuchte ich der Diskussion zu entkommen und stand auf.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Meute und griff nach einem Bier. Ich hatte zwar keinen Durst und mochte normalerweise auch kein Bier, aber wenigstens stellte es eine Beschäftigung dar, die Flasche zu öffnen, zumal ich keinen Flaschenöffner fand. Ich kramte in jeder Schublade, aber es war weit und breit keiner zu finden.

»Darf ich?«, ertönte plötzlich eine melodische Stimme hinter mir und irgendjemand griff nach meinem Bier.

»Hey!« Empört drehte ich mich um und blickte direkt in die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie waren von einem ganz klaren Blau – wie das Meer in der Karibik.

»Keine Angst, ich wollte es dir nicht klauen«, grinste der zu den Augen gehörige Junge, öffnete das Bier mit einem Feuerzeug und reichte es mir dann wieder.

Ich brachte ein kurzes »Danke« hervor und nahm es entgegen. Der Junge nickte und öffnete sein eigenes Bier. Dabei fielen ihm seine blonden Haare leicht ins Gesicht, und unwillkürlich zuckte es in meiner Hand, sie ihm wegzustreichen. Ich bemerkte, dass ich leicht zitterte, als er sich wieder mir zuwandte.

»Woher kennst du Svea?«, fragte er mich, und es schien, als würde meine Antwort ihn unheimlich interessieren. Warum sprach er mit mir? Er kannte mich doch überhaupt nicht, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich auf irgendeine Art und Weise interessant wirkte.

»Durch eine Freundin.« Das war zwar nicht die geistreichste Antwort, aber immerhin hatte ich überhaupt eine zustande gebracht.

»Du tanzt nicht sonderlich gerne, oder?«, fragte er.

Ich wurde rot. Hatte er mich etwa beobachtet, oder woher wusste er das? Wenn ja, musste er gesehen haben, wie ich die ganze Zeit alleine auf dem Sofa gesessen hatte.

»Nein, das alles ist nicht unbedingt mein Ding.«

Er lächelte leicht und stellte sein Bier ab. »Würdest du trotzdem mitkommen, wenn ich dich darum bitten würde? Ich habe meinen Freunden versprochen, dass ich nur kurz etwas trinke.«

Ich stellte mein Bier ebenfalls ab und nickte. Verdammt, warum nickte ich nur? Warum folgte ich ihm, als er sich zwischen den Tanzenden hindurchschlängelte?

Während wir uns einen Weg zu seinen Freunden bahnten, drehte er sich auf einmal um, so, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Ella«, erwiderte ich mit heiserer Stimme.

Seine Augen verengten sich leicht, so als durchforste er sein Gedächtnis. Als ihm auffiel, dass er wohl noch nie meinen Namen gehört hatte, wurde seine Miene wieder weicher.

»Chris.«

Mein Gehirn begriff erst, als wir in der Mitte der Tanzfläche angelangt waren, dass das wohl sein Name war. Chris. Irgendwie hatte ich was Einfallsreicheres erwartet. Ich konzentrierte mich wieder auf meine Umgebung und erkannte sofort Chris’ Freunde, da sie eine ähnlich selbstbewusste Ausstrahlung wie er hatten. Sie passten irgendwie so gar nicht zu den verschwitzten, wild herumhüpfenden Teenagern um uns herum. Ich weiß nicht genau, was sie anders machten, aber sie schienen auf jeden Fall älter als die meisten zu sein, und sie hatten irgendetwas an sich, was sie mir sofort interessant machte. Den anderen im Raum schien es ähnlich zu gehen wie mir, ich hatte das Gefühl, dass alle ihnen neidische oder bewundernde Blicke zuwarfen. Und die meisten dieser Blicke waren Chris gewidmet.

Wir gesellten uns zu seinen Freunden. Die Mädchen schauten mich abschätzig an. Ich konnte förmlich spüren, dass sie sich fragten, warum er mich mitgebracht hatte. Ich dachte mir, dass ich das wirklich nicht nötig hatte, aber irgendetwas hielt mich dort. Dort auf der Tanzfläche, inmitten der Schwitzenden, im Kreis der Unerreichbaren. Wir tanzten, und bald waren mir die Blicke der Mädchen egal, ich war viel zu sehr auf das konzentriert, was meine Füße machten.

Als ich zwischendurch kurz aufschaute, traf mein Blick den von Chris. Ich wollte mich schnell abwenden, aber er zog mich so in seinen Bann, dass ich es nicht konnte. Er grinste und ich errötete. Es konnte doch nicht sein, dass ich mich wegen irgendeinem Schönling so albern aufführte! Ein Mädchen mit kurzem Kleid flüsterte ihm etwas ins Ohr und er lachte. Sie war dünn und unglaublich hübsch. Ihre langen braunen Haare umspielten ihren kleinen Kopf mit einer solchen Perfektion, dass ich nicht anders konnte, als sie darum zu beneiden.

Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich überrascht um. Svea.

»Endlich tanzt du auch mal«, schrie sie mir ins Ohr. Sie war verschwitzt und hatte sich offensichtlich ausgiebig an der Bar bedient. »Ich bin das Geburtstagskind, ein Tanz mit mir ist Pflicht!«, jaulte sie und drehte sich lachend in meine Arme.

Etwas peinlich berührt drehte ich mich um, aber Chris war verschwunden. Also hüpfte ich ein wenig lustlos mit Svea herum. Sie warf die ganze Zeit ihre Hände in die Höhe und sang lautstark die Lieder mit. Es war mir irgendwie unangenehm, nicht weil sie sich so aufführte, sondern weil ich mich einfach nicht in ihre Stimmung hineinfühlen konnte. Alle anderen waren ähnlich drauf wie Svea, nur ich versuchte, möglichst unauffällig von der Tanzfläche zu flüchten. Ich schaute mich die ganze Zeit nach Chris um. Ein paar Mal hätte ich schwören können, seine blonden Haare in der Menge der Tanzenden zu sehen, aber ich kam nie nah genug heran, um einen richtigen Blick auf ihn zu erhaschen. Wahrscheinlich vergnügte er sich mit der schönen Brünetten.

Plötzlich riss mich Maja aus meiner Trance und fragte mich, ob ich mit ihr auf Toilette gehen würde. Froh, endlich eine Aufgabe zu haben, willigte ich ein und folgte ihr in den kleinen Raum. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder in helles Licht zu blicken, das nicht flackerte, und ich rieb mir die gereizten Augen. Ich betupfte meine verschwitze Stirn mit nassem Klopapier und schaute Maja zu, wie sie ihren Lippenstift auffrischte. Dabei bemerkte sie nicht, dass sie die Hälfte daneben schmierte. Ich nahm ein Tuch und versuchte, das Lippenstiftdesaster zu beseitigen.

»Wie viel hast du schon getrunken?«, fragte ich sie besorgt, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

»Vielleicht zwei, drei Bier.«

Ich grinste und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich hoffte, dass es bei dieser Anzahl blieb.

»Hast du Luca gesehen?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. Luca war ein Junge, der zwei Semester über ihr war. Ich hatte ihn erst ein paar Mal flüchtig gesehen. Maja wollte schon lange etwas von ihm, aber er hatte, soweit ich wusste, seit ein paar Wochen eine Freundin.

»Maja, lass es lieber«, versuchte ich, sie vor einem großen Fehler zu bewahren, aber sie fuhr mich nur an: »Was ist? Ich habe dich doch nur gefragt, ob du ihn gesehen hast, nichts weiter.«

Ich hatte nicht sonderlich Lust auf eine Diskussion und wurde sofort beschwichtigend. Zu gut wusste ich, dass es böse enden konnte, wenn man Maja aufbrachte, und ich wollte nicht, dass wir uns wegen so einer Kleinigkeit stritten. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint. Lass uns wieder reingehen.«

Etwas versöhnt stimmte sie zu. Gerade, als wir die Toilette verließen, sah ich Chris, der zusammen mit der Brünetten aus dem Club ging.

»Gehen die etwa schon?«, fragte ich enttäuscht, aber Maja, die meinem Blick folgte, schüttelte den Kopf.

»Manchmal bist du echt naiv, Ella.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich sie leicht irritiert, aber Maja lächelte nur verschwörerisch.

Wir stellten uns an die Bar und ich holte mir erneut ein Bier, auch wenn ich bis jetzt noch keines ausgetrunken hatte. Ich stellte mich extra so hin, dass ich die Tür im Blick hatte und sehen konnte, falls Chris reinkam. Maja flirtete mit einem Jungen, der neben ihr stand, aber ich beachtete sie gar nicht. Bei jedem, der reinkam, setzte mein Herz einen Moment aus, doch es war nie Chris’ muskulöse Gestalt. Was sie da draußen wohl machten?

Ich war gerade dabei, mir die schlimmsten Fantasien auszumalen, als die beiden wieder reinkamen. Sie gingen sehr langsam, und die Brünette wirkte irgendwie schwerfällig – wenn ich mich nicht irrte, stützte Chris sie sogar etwas. Hinter ihnen kamen drei ganz gut aussehende Jungs herein. Ich erinnerte mich, dass sie unter den Tanzenden gewesen waren, und war froh, dass Chris und das Mädchen wenigstens nicht alleine draußen gewesen waren. Ich wandte mich wieder Maja zu, die gerade auf die Uhr blickte.

»Deine Mutter kommt bald, lass uns noch einmal tanzen«, schlug sie vor, aber mir war die Lust vergangen, und so verschwand sie alleine in der Menge.

Ich beobachtete, wie Chris und die hübsche Brünette sich auf ein Sofa setzten. Sie lachte die ganze Zeit überdreht und benahm sich, als ob sie ihm am liebsten gleich die Klamotten vom Leib reißen würde. Fasziniert beobachtete ich, wie sie sich immer wieder durch die Haare fuhr. Ihre Bewegungen waren ungewöhnlich langsam, sie wirkte wie in Trance. Plötzlich nahm Chris ihren Kopf in seine Hände und blickte ihr tief in die Augen, als ob er sie hypnotisieren wollte. Mit leiser Stimme redete er auf sie ein und hielt dabei ununterbrochen ihren Blick. Die Augen des Mädchens weiteten sich und sie ließ immer wieder ihren Kopf in seine Hände sacken. Verwirrt beobachtete ich das Schauspiel und bemerkte erst verspätet, dass Chris mir etwas zurief. Er fragte mich, ob ich ein Glas Wasser bringen könne, und schnell lief ich zur Bar, um ihm eins zu holen. Doch im Kühlschrank gab es nur alkoholische Getränke. Hektisch suchte ich nach einem Glas, um es mit Leitungswasser zu füllen, aber auch davon gab es weit und breit keine Spur. Ich hatte das Gefühl, dass es um Leben und Tod ging, dass es unglaublich wichtig war, dass das Mädchen Wasser bekam. Ich war den Tränen nahe.

Panisch nahm ich eine Bierflasche, leerte sie und füllte sie im Waschbecken. Dann hastete ich, so schnell ich konnte, zu den beiden hinüber und reichte Chris die Bierflasche. Ruhig nahm er sie entgegen und lächelte mich an. Das Mädchen war wie weggetreten und wiegte sich im Schneidersitz langsam hin und her. Der Junge setzte ihr die Bierflasche an die Lippen und zwang sie zum Trinken. Doch sie ließ das Wasser einfach wieder aus ihrem Mund laufen.

»Bitte, tu mir einen Gefallen und trink!«, sagte er eher streng als gefühlvoll, und in mir keimte die Hoffnung auf, dass zwischen den beiden über eine Freundschaft hinaus nichts lief.

Die Brünette blickte Chris treu in die Augen und schluckte nun endlich.

»Sie hat ein bisschen zu viel getrunken, aber es geht ihr gut. Ich würde fast sagen, es geht ihr mehr als gut«, erklärte Chris zu mir gewandt. Er grinste und entblößte dabei eine Reihe perfekter weißer Zähne. Ich hörte zwar die Anspielung, doch ich verstand sie nicht.

Er bedeutete mir, mich zu setzen, und begann zu plaudern. Ich versuchte, darauf einzugehen, aber es fiel mir schwer, hatte ich doch vor wenigen Augenblicken noch befürchtet, dass seine Freundin sterben würde. Und jetzt unterhielt er sich mit mir über das Wetter.

Ich wollte mich versichern, dass es der Brünetten wirklich gut ging, und musterte sie. Plötzlich blickte sie auf und schaute mir direkt in die Augen. Ihre Pupillen waren unglaublich groß, sie schienen fast das Grün der Iris zu verschlucken. Es war, als schaue man in einen dunklen Brunnen, mit einer so unendlichen Tiefe, dass er gänzlich leer erscheint. Es wirkte, als ob sie mich nicht einmal wirklich ansah, sie schien direkt durch mich hindurchzusehen. Ein eisiger Schauer überlief mich. Durch eine Berührung von Chris wurde ich in die Realität zurückgeholt.

»Ist alles okay bei dir?«

Stumm nickte ich. »Was ist mit ihr?«