Himmel zu vererben - Christa Rau - E-Book

Himmel zu vererben E-Book

Christa Rau

4,4

Beschreibung

"Ihre Tante vererbt Ihnen ein sehr großes Vermögen", sagt der Anwalt. "Aber nur unter der Bedingung, dass Sie zuvor ein Jahr lang als bewusste Christen leben." Alexa, Robert und ihr Sohn Simon stehen unter Schock, denn die verstorbene Tante hatte in nahezu ärmlichen Verhältnissen gelebt. Während sie versuchen, am Leben einer Kirchengemeinde teilzunehmen und sich wie Christen zu verhalten, kommt es immer wieder zu Turbulenzen im Familienalltag. Zugleich forschen sie fieberhaft nach der Quelle des Reichtums. Dabei stoßen sie auf die tragische Geschichte einer jüdischen Familie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Spannend und amüsant zu lesen - ein Roman auf den Spuren Gottes.

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Christa Rau

Himmel zu vererben

Roman

© 2016 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Eva-Maria Busch

Umschlagillustrationen: shutterstock

Umschlaggestaltung: Celina Friedland, Büro Friedland

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-7655-7390-3

1

Bei der leichten Berührung ihres Armes zuckte Alexa erschrocken zusammen. Erst in diesem Moment bemerkte sie den Fremden, der bis zu ihr in die vorderste Reihe der Friedhofskapelle gekommen war. Er beugte sich zu ihr hinunter und kam ihr so unangenehm nahe, dass sie seinen Atem in Ihrem Nacken spürte.

„Entschuldigen Sie bitte, Frau Grün. Mein Name ist Seemann, ich bin der Anwalt Ihrer Großtante.“

Der Mann sprach leise und sehr schnell, als hätte er ein dringendes Anliegen. Vielleicht hetzte ihn die Zeit, in wenigen Minuten sollte die Beerdigung beginnen.

„Wäre es möglich, dass Sie heute noch bei mir in meiner Kanzlei vorbeikommen? Ich möchte gern ein paar Angelegenheiten mit Ihnen besprechen!“

Irritiert sah Alexa ihm ins Gesicht, als wäre er ein Geist, der in dieser kleinen barocken Kirche hauste. In Sekundenschnelle versuchte sie, sich ein Bild von ihm zu machen. Er war ein Mann im mittleren Alter, sie schätzte ihn auf 45 Jahre. Er hatte kurze, dunkle Haare, eine randlose Brille, trug einen teuren schwarzen Mantel, war gepflegt und wirkte freundlich, mit einem leichten Hauch von Arroganz. Etwas an ihm erinnerte sie an einen Filmstar. Aber wieso ein Anwalt? Jetzt, heute, hier auf dieser Beerdigung? Was war so dringend, dass ein Anwalt es heute mit ihr besprechen musste? Ihr Blick wurde misstrauisch, als hätte er versucht, ihr einen fadenscheinigen, billigen Teppich für teures Geld zu verkaufen. Der Mann schien ihren Argwohn zu spüren.

„Vielleicht könnten wir am Ende der Feierlichkeiten über einen Termin sprechen?“

Er machte eine Pause, um zu sehen, ob Alexa ihn auch verstanden hatte. Noch immer lag Dringlichkeit in seiner Stimme.

„Ich werde am Friedhofstor auf Sie warten!“ Väterlich tätschelte er ihren Arm und bevor Alexa antworten konnte, verschwand er in den letzten Reihen.

Vorsichtig drehte sie sich nach ihm um, als wäre er ihr heimlicher Geliebter, den sie nicht mit einer unaufmerksamen Geste verraten durfte, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

In den Reihen hinter ihr saßen vereinzelt ältere und ganz alte Leute, alle in tiefes Schwarz gekleidet. Zusammengekauert in den Bänken sahen sie aus wie Krähen in den Ästen eines Winterbaumes.

Tante Sophia war alt und kinderlos gestorben und Alexa hatte schon vermutet, dass nicht allzu viele Gäste zu ihrer Beerdigung kommen würden. Nicht einmal ihr Mann Robert konnte dabei sein. Bereits seit fünf Tagen war er auf einer Geschäftsreise in Hongkong und würde erst an diesem Abend zurückkommen. Und Simon, ihr sechzehnjähriger Sohn, hatte es in einer pubertären Anwandlung abgelehnt, ohne seinen Vater auf die Beerdigung zu gehen.

Nun saß sie als einzige Verwandte vorne in der ersten Reihe und schlang fröstelnd die Arme um ihre schmalen Rippen. Die alte asthmatische Heizung der kleinen Friedhofskirche konnte der Kälte dieses Novembertages nicht trotzen.

Nervös strich sie sich ihre schulterlangen dichten, dunklen Haare aus dem Gesicht. Die Ohrringe aus weißen Glassteinchen schimmerten matt, wie Schneeflöckchen im Licht einer trüben Straßenlaterne. In ihren schmalen Gesichtszügen spiegelte sich Verwirrung. Was dieser Anwalt wohl damit gemeint hatte, dass er einige Dinge mit ihr besprechen wollte? Das klang sehr rätselhaft. Tante Sophia war eine kluge, freundliche Frau gewesen, die nie Wert auf irgendwelche Besitztümer gelegt hatte. Sie war wie eine Obdachlose gewesen, die nur durch Zufall an eine kleine Zweizimmerwohnung geraten war. Tagaus, tagein hatte sie mit denselben abgewohnten Möbeln, denselben ausgeblichenen Vorhängen, demselben Geschirr gelebt. Sie hatte über Jahrzehnte dieselben ausgewaschenen Kleider getragen, als sei dieses Leben auf der Erde nur eine Durchgangsstation, die sie irgendwie überstehen musste.

Ja, genau, dachte Alexa, das war ihr Leben gewesen: Eine Durchgangsstation, ein Warten darauf, zu ihrem Gott in den Himmel zu kommen. Und nun? War sie an ihrem ersehnten Ziel angekommen? Alexa konnte es sich nicht vorstellen.

Der Pfarrer, der durch eine Seitentür die Kapelle betrat, unterbrach ihre Gedanken. Er stellte sich unmittelbar neben den Sarg, den ein wunderschönes Bukett aus weißen Rosen schmückte. Alexa hatte es gestern bei der ortsansässigen Gärtnerei bestellt. Auch der große Kranz neben dem Sarg war mit weißen Rosen geschmückt. Lautlos sog Alexa den Duft von Tannen und Rosen ein.

Dann begann der Pfarrer seine Rede. Er hatte eine hohe, pfeifende Stimme und unterstrich seine Worte mit fahrigen Bewegungen seiner dürren Arme. Fast schien er aus einem Gruselkabinett zu kommen.

Alexa lief ein kalter Schauer über den Rücken. Verschüchtert zog sie ihren Kopf tiefer in den Mantelkragen. Draußen heulte ein scharfer Wind um die Ecke der Friedhofskapelle und die alten Kastanienbäume klopften mit ihren kahlen Ästen an die Fensterscheiben. Sie fühlte sich seltsam fremd, als wäre sie plötzlich in einen Horrorfilm geraten.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um gemeinsam Abschied zu nehmen von unserer lieben Verstorbenen, Frau Sophia Sammet. Sophia Sammet wurde 1910 in Michelsfeld geboren. Als Kind einer armen Bauernfamilie musste sie von klein an bei der harten Arbeit auf dem elterlichen Hof mithelfen.“

Die monotone Stimme des Pfarrers wirkte einschläfernd und Alexas Gedanken begannen abzuschweifen. Bilder zogen vor ihrem inneren Auge vorbei, als schlage sie die Seiten eines Fotoalbums um.

Da war der letzte Muttertag, als die Tante drei Tage bei ihnen zu Hause gewesen war und den Garten genossen hatte. Im Sommer der 95. Geburtstag der Tante mit der schönen Torte. Die Tante war noch wohlauf gewesen und geistig klar. Der letzte Besuch bei Sophia im September. Ihre innige Verbundenheit, Alexa liebte diese Frau mehr als ihre Mutter.

Die letzte Postkarte, die die Tante ihr geschrieben hatte, war genau an dem Tag, als der Winter begann, bei ihnen hereingeschneit. Sie sah vor ihrem inneren Auge die krakelige Schrift. Sophia schrieb ihr, wie sehr sie sich nach dem Himmel sehnte.

Und nun war sie also gestorben, ihre liebe Tante Sophia. Alexa stand noch immer unter Schock. Alles war so schnell und plötzlich gekommen: der Anruf vom Krankenhaus, dass die Tante mit Herzversagen eingeliefert worden sei. Dann, als sie sich zu einem Besuch aufmachen wollte, die Nachricht, dass die Tante gestorben war. Kein Wunder bei dem Alter, teilte ihr ein Arzt mit unbeteiligter Stimme mit. Und doch war es wie immer unfassbar, dass ein Mensch, den man so lange Jahre gekannt hatte, plötzlich nicht mehr da war. Die Beerdigung war das Letzte, was sie noch für Sophia tun konnte.

Bei den Erinnerungen begannen die Tränen zu fließen. Leise putzte sie sich die Nase.

Endlich war der Pfarrer mit seiner Rede fertig. Ein Lied wurde gesungen mit schaurig schwachen Stimmen, als klagten sterbende Wölfe hinter den dicken Kirchenmauern. Danach sprachen alle in leierndem Gleichmaß das Vaterunser und schon schritt die kleine Schar der Trauernden hinter dem Sarg her nach draußen. Das Geläut der einsamen Glocke im Turm begleitete die Tote auf ihrem letzten Weg.

Alexa zitterte vor Kälte, während sie den steinigen Weg entlangging. Der elegante schwarze Mantel, der sie zerbrechlich erscheinen ließ, und auch die hohen Stiefel hielten sie nicht warm. Sibirien kam ihr in den Sinn und ein Thermometer, das bis ganz nach unten gefallen war. Mit dem von der Kälte geröteten Handrücken wischte sie ihre Tränen fort, während sie gleichzeitig in der Manteltasche nach einem Taschentuch suchte.

Unauffällig und leise wie ein Schatten war der Anwalt auf dem schmalen Weg zur Grabstelle neben sie getreten und ihr erneut unangenehm nahe gekommen. Diskret reichte er ihr ein frisches Päckchen Taschentücher, als sei er ihr persönlicher Diener und um ihr Wohlbefinden besorgt. Sie schniefte ein leises Danke und der Mann raunte ihr „bis nachher“ zu.

Erschrocken blickte sie ihn an, entdeckte aber in seinem Gesicht nichts Böses. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ehe sie sich gefangen hatte, war er bereits wieder ein paar Schritte von ihr entfernt.

Irgendetwas war hier nicht ganz koscher. Wozu sollte Tante Sophia sich einen Anwalt genommen haben? Sie hatte nie einen Anwalt erwähnt, auch nicht andeutungsweise. Hätte es einen Anwalt gegeben, hätte sie von ihm gesprochen. Der Mann hatte sie gewiss angelogen! Da stimmte doch etwas nicht. Sie hatte das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein.

Den Rest der Beerdigung erlebte sie wie durch eine Nebelwand. Wäre doch nur Robert mit zu dieser Beerdigung gekommen. Dann hätte sie sich viel sicherer gefühlt. Sie versuchte sich zusammenzureißen. Sie musste auf ihren gesunden Menschenverstand vertrauen und sich eine Strategie zurechtlegen, um sich vor diesem angeblichen Anwalt zu schützen. Auf keinen Fall würde sie zu ihm ins Auto steigen, ein Auto konnte zur Falle werden. Sie wollte darauf achten, dass immer Menschen in der Nähe waren, wenn sie mit ihm sprach. Und sie durfte auch nicht mit ihm allein in ein Gebäude gehen.

Nachdem sie diese Vorsätze gefasst hatte, verspürte sie eine gewisse Erleichterung, als hätte sie den Fall schon gelöst. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie ihn, während der Pfarrer die letzten Worte am Grab sprach. Der Mann hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund, als würde er gar nicht richtig zur Beerdigungsgesellschaft dazugehören. Sie konnte nicht sagen, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. War er nur diskret, oder wollte er nicht gesehen werden?

Als der Sarg an dicken Seilen in die Grube hinuntergelassen wurde, hatte sie den Eindruck, dass der Mann weinte, ja sogar richtiggehend von Schluchzern geschüttelt wurde, als hätte er doch eine tiefe Verbindung zur Toten gehabt. Hatte er ihre Tante gekannt? Oder rührte ihn nur die Konfrontation mit dem Tod?

Sie musste ihren Blick von ihm lösen, denn nun kamen, zu einer schmalen schwarzen Schlange formiert, Leute auf sie zu, um ihr, als einziger Verwandten, ihr Beileid auszusprechen. Viele warfen kleine Blumensträuße, die im Wintergrau wie Lichter bunt aufleuchteten, ins offene Grab. Nachdem sie sich wieder ein bisschen gefasst hatte, lud Alexa jeden, der ihr die Hand gab, auf eine Tasse Kaffee ins Café „Zur Rose“ ein. Fast alle nahmen dankend an. An diesem kalten, grauen Novembertag schien es nichts Verlockenderes zu geben, als bei einem heißen Getränk zusammenzusitzen und die Gespräche mit ein paar leckeren Gebäckstücken zu versüßen.

Nach und nach verließen die Trauernden gemessenen Schrittes den Friedhof. Nur der Anwalt, der als Einziger im Hintergrund geblieben war und ihr nicht die Hand gegeben hatte, wartete geduldig an dem schweren Eisentor, das zur Straße führte.

Alexa kam als Letzte den Weg entlang. Jetzt, nachdem der Druck der Veranstaltung nicht mehr auf ihr lastete, blickte sie ihn viel mutiger an. Gut sah er eigentlich aus, dieser Anwalt, das musste sie zugeben. Groß war er, hatte ein angenehmes, glatt rasiertes Gesicht, aus dem intelligente Augen sie mit einem wachen Blick forschend ansahen. Sein seidiges Halstuch war geschmackvoll gemustert, die Schuhe blank poliert. Er wirkte nicht wie ein Verbrecher. Aber Alexa wusste, dass man sich in diesen Dingen leicht täuschen konnte. Also blieb sie vorsichtig.

„Wenn Sie es gestatten, begleite ich Sie auf dem Weg zum Café“, begann er höflich das Gespräch.

Alexa nickte andeutungsweise mit dem Kopf. Er sollte bloß nicht denken, dass sie schon auf ihn hereingefallen war. Sie zog ihre Schultern hoch, bis der Mantelkragen ihr Kinn berührte.

„Ich bin der Anwalt Ihrer Großtante und habe dieses Amt von meinem Vater übernommen. Mein Vater war bereits seit 1949 für Frau Sammet als Anwalt tätig. Die beiden kannten sich noch aus der gemeinsamen Schulzeit. Vor fünfzehn Jahren hat mich Frau Sammet damit beauftragt, ihr Testament zu verfassen. Sie hat es notariell beglaubigen lassen und meine Aufgabe ist es heute, am Tag ihrer Beerdigung, mit Ihnen die Einzelheiten zu besprechen. Wie ich schon sagte: Peter Seemann ist mein Name. Hier, bitte, das ist meine Visitenkarte!“

Er drückte ihr ein edel wirkendes Kärtchen in die Hand.

„Ich möchte Ihnen meine herzliche Anteilnahme am Tod Ihrer Tante aussprechen! Leider habe ich im Moment keine Zeit, mit Ihnen gemeinsam einen Kaffee zu trinken, ich habe geschäftlich noch etwas zu erledigen. Aber bitte kommen Sie doch nachher bei mir vorbei! Meine Kanzlei finden Sie in der Eichendorfstraße Nummer 12. Wenn Sie diese Straße zweihundert Meter weiter entlanggehen und dann rechts abbiegen, sind Sie gleich da.“

Schon standen sie vor der Eingangstür des Cafés und Peter Seemann verabschiedete sich mit einem leichten Nicken. Ohne dass sie ihm eine Antwort hätte geben oder überhaupt auch nur ein Wort hätte sagen können, eilte er mit schnellen Schritten davon, stieg in einen schwarzen Daimler und verschwand um die nächste Kurve.

Anwalt seit 1949, Testament vor 15 Jahren verfasst – das konnte doch nicht wahr sein. Es ergab keinen Sinn. Weshalb sollte eine alte mittellose Frau einen Anwalt bemühen? Alexa schüttelte sich, um das unangenehme Gefühl der Angst loszuwerden. Als ihr das nicht gelang, beschloss sie, den Wirt des Cafés und die anderen Gäste nach diesem Anwalt zu befragen.

Beim Betreten des Cafés schlug ihr wohlige Wärme entgegen. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe, rieb sich die steifgefrorenen Finger warm und sah sich suchend im Gastraum um. Die meisten der älteren Herrschaften saßen schon gemütlich beieinander und zwei freundliche Bedienungen schenkten heiß dampfenden Kaffee in die Tassen. Auf den Tischen standen Platten mit Hefekuchen und belegten Brötchen. Hinter den ernsten Mienen schwelte bereits eine dezente Fröhlichkeit.

Den Wirt entdeckte sie hinter dem Tresen. Es war ein beleibter, bärtiger Mann, der seine Hände unter einen weißen Schurz gesteckt hatte, sodass er ein bisschen aussah wie ein lustiger Gartenzwerg. Mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck beobachtete er das Geschehen in der Gaststube. Als Alexa zu ihm trat, begrüßte er sie freundlich.

„Guten Tag, Sie sind sicher Frau Grün. Wir haben gestern miteinander telefoniert. Wie Sie sehen, läuft hier alles bestens. Ich hoffe, Sie sind zufrieden!“

Alexa sah sich noch einmal in dem Raum um.

„Ja, vielen Dank. Es sieht so aus, als ob die Gäste sich wohlfühlen!“

Noch immer starrte sie in die Runde. Ein paar Gesichter kamen ihr bekannt vor, wahrscheinlich hatte sie den einen oder anderen der Gäste flüchtig auf den Geburtstagsfesten von Tante Sophia kennengelernt. Aber in diesem Moment hatte sie nicht das Bedürfnis, an die Tische zu gehen und sich auf einen Small Talk einzulassen. Die beiden letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen und sie fühlte sich einfach nur müde.

„Wenn es Ihnen recht ist, würde ich jetzt gerne die Rechnung bezahlen!“, meinte sie deshalb zu dem Wirt.

„Na, dann kommen Sie mal mit ins Nebenzimmer. Dort habe ich die Papiere schon vorbereitet!“

Alexa folgte dem Mann in ein kleines, über und über vollgestopftes Büro. Ordner, Zettel, Bücher, Kleidungsstücke, alles häufte sich in einem großen Durcheinander. Der einzige freie Platz war mitten auf dem Schreibtisch. Dort lag, das erkannte sie auf den ersten Blick, ihre Rechnung. Der Wirt trennte den Durchschlag ab, gab ihr das Original und Alexa holte ihren Geldbeutel aus der Handtasche, um ihm den gewünschten Betrag zu bezahlen. Zum Glück hatte ihr Mann Robert schon vor Jahren die Idee gehabt, extra für diese Beerdigung ein bisschen Geld anzusparen und auf ein Konto einzubezahlen, damit dieser Tag kein Loch in ihr Budget reißen würde. Es war ein angenehmes Gefühl, dass sie dem Wirt deshalb auch ein großzügiges Trinkgeld geben konnte. Freudestrahlend und ohne jeden höflichen Widerspruch nahm er es an sich.

„Ich möchte Sie etwas fragen“, wandte Alexa sich an den Wirt und hielt ihm die Visitenkarte von Peter Seemann unter die Nase. „Können Sie mit dieser Adresse etwas anfangen?“

Der Wirt kniff die Augen zusammen, als hätte er seine Brille vergessen, schaute kurz auf die Karte und nickte zufrieden. „Natürlich, das ist unser Anwalt Seemann. Den kennen alle hier in der Stadt. Eine feine Adresse und ein ausgezeichneter Anwalt. Was will der denn von Ihnen?“

„Das weiß ich leider auch nicht. Er möchte, dass ich ihn in seiner Kanzlei aufsuche. Und ich wusste nicht so recht, ob ich ihm trauen kann. Aber wenn Sie mir sagen, dass er ein guter, stadtbekannter Anwalt ist, dann kann ich wohl ohne Bedenken zu ihm gehen.“

„Wenn Sie möchten, kann ich Sie gerne in die Eichendorfstraße begleiten. Im Moment hätte ich Zeit. Das Geschäft hier im Café ist für mich heute gelaufen, da kann ich den Laden schon mal ein paar Minuten allein lassen.“

Hatte das Trinkgeld seine Wirkung getan?

„Wenn Sie mich begleiten könnten, wäre das sehr nett, vielen Dank!“, lächelte Alexa erleichtert.

Was immer dieser Herr Seemann auch von ihr wollte, Böses wahrscheinlich nicht. Aber in Begleitung dieses Mannes würde sie sich sicherer fühlen.

Der Wirt band seinen Schurz auf und streifte ihn über den Kopf. Dann griff er nach einer braunen Winterjacke, die über der Lehne eines Stuhles hing, zog sie an, steckte das Trinkgeld in eine der Jackentaschen und hielt ihr dann die Tür zum Gastraum auf. Mit einem Nicken deutete er an, dass er bereit war zu gehen.

Alexa machte noch eine kurze Runde von Tisch zu Tisch. Als sie sah, dass alle Gäste gut versorgt waren, nahm auch sie ihren Mantel, zog ihn über, und ohne recht zu wissen, wie ihr geschah, war sie mit einem fremden Mann unterwegs zu einem fremden Anwalt in einer Stadt, in der sie fremd war.

2

Inzwischen dämmerte es schon und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen, die der Regen vom Vormittag zurückgelassen hatte. Der Asphalt glänzte schwarz.

Der leutselige Wirt begann ein Gespräch. Er erzählte Alexa ausführlich von seiner Frau, die von ihrem ersten Mann verlassen worden war. Sie hatte ein Kind aus dieser Ehe und für ihre Scheidung hatte sie die Dienste von Anwalt Seemann in Anspruch genommen. Diese Geschichte beruhigte Alexa und erleichterte den Druck, der ihre Brust umklammert hatte, und sie begann, freier zu atmen.

Nieselregen setzte ein. Für einen Moment sehnte sich Alexa nach ihrem gemütlichen Sessel zu Hause in ihrem Wohnzimmer und nach einer Tasse Tee, um sich von den Anstrengungen der letzten Tage zu erholen. Hoffentlich würde der Anwalt sie nicht unnötig mit irgendwelchen Belanglosigkeiten hinhalten. Und wie war das mit der Bezahlung? Würde er für dieses Gespräch ein Honorar verlangen? Wie gut, dass Robert all die Jahre Geld zur Seite gelegt hatte!

Sie staunte nicht schlecht, als sie sah, in welch gehobenem Viertel der Mann seine Kanzlei hatte. Er wohnte in einer alten Stadtvilla, die äußerst geschmackvoll renoviert worden war. Am Gartentor prangte ein blank poliertes Schild mit seinem Namen. Peter Seemann, Anwalt.

Warum hatte Tante Sophia einen derart noblen Anwalt ausgesucht? Sie hatte doch sonst so bescheiden gelebt! Alexa war verwirrt. Was gab es wohl noch zu regeln? Gut, der Mietvertrag für die Wohnung musste gekündigt werden, vielleicht waren noch ein paar Rechnungen offen. Aber brauchte man dazu einen Anwalt? Für einen Moment durchzuckte sie der schreckliche Gedanke, dass Tante Sophia ihnen vielleicht einen großen Haufen Schulden hinterlassen hatte, aber diese Sorge schüttelte sie schnell wieder ab. So bescheiden, wie die Tante gelebt hatte, konnte sie sich unmöglich verschuldet haben. Und sie war auf keinen Fall eine Spielernatur gewesen. Der Gedanke daran, dass die kleine, alte Frau mit ihren zerschlissenen Kleidern in einem Spielkasino vor dem einarmigen Banditen hätte stehen können, entlockte ihr ein kleines, fröhliches Lächeln.

Es knirschte unter ihren Füßen, als sie einen kurzen Kiesweg entlangschritten. Dann standen sie vor der Haustür, die aus schwerem, poliertem Eichenholz geschnitzt war. Verunsichert durch ihre Unwissenheit zögerte Alexa, bevor sie auf die Klingel drückte. Sie warf noch einen kurzen Blick auf den freundlichen Wirt, der sich im Hintergrund hielt, ihr aber doch ermutigend zulächelte. Dann drückte sie zum Zeichen dafür, dass sie furchtlos sein wollte, lange und kräftig auf die Glocke und hörte, wie im Inneren des Hauses ein melodischer Dreiklang ertönte.

Der Anwalt öffnete persönlich mit einem strahlenden Lächeln, das aber sofort umschlug in ein irritiertes Staunen, als er den Wirt erblickte.

„Herr …?“ begann Alexa unsicher. Sie wusste nicht einmal den Namen ihres Begleiters.

„Pawlowski“, nickte der Wirt.

„Herr Pawlowski hat mich freundlicherweise hierher begleitet und mir den Weg gezeigt“, erklärte ihm Alexa.

„Vielleicht könnte ich drinnen warten, bis Sie mit Ihrem Gespräch fertig sind, dann kann ich Frau Grün wieder zu ihrem Auto bringen?“, fragte der Wirt.

„Wenn Frau Grün das möchte“, meinte Herr Seemann zögernd, trat einen Schritt zur Seite und machte eine öffnende Armbewegung, um beide hereinzubitten.

Alexa nickte. Es war ihr auf jeden Fall recht, wenn sie jemand in der Nähe wusste, der ihr jederzeit zur Hilfe kommen könnte. Er war ihr Rettungsanker.

„Wenn Sie möchten, könnte Herr Pawlowski in der Sitzecke im Flur warten, bis wir fertig sind!“, meinte der Anwalt zu Alexa. Und zu Herrn Pawlowski gewandt, sagte er in leiserem Ton, als ob Alexa es gar nicht hören sollte: „Sie erhalten von mir selbstverständlich eine Vergütung der Arbeitszeit, die Sie versäumen. Ich möchte alles tun, um Frau Grün unser Gespräch so angenehm wie möglich zu machen, und ich denke, Ihre Unterstützung tut ihr gut.“

Der Wirt grinste geschmeichelt, aber in Alexa keimte erneut Panik auf. Wollte der Anwalt tatsächlich für die Unkosten von Herrn Pawlowski aufkommen? Da stank doch etwas ganz gewaltig zum Himmel. Kein normaler Anwalt bezahlte ohne Grund Geld für einen Wartenden, der weder mit ihm noch mit seinem Fall etwas zu tun hatte. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Und wieso wollte er alles dafür tun, um das Gespräch angenehm zu machen? Sie hatte das Gefühl, als behandelte er sie irrtümlicherweise wie eine prominente Persönlichkeit. Zugleich fürchtete sie, dass hinter allem eine Hiobsbotschaft stecken könnte. Noch immer war sie wie ein ängstliches Reh, das den Jäger in seinem Hochstand ahnte. Aber in dem Moment, als sie das Haus betrat, siegte die Neugier über ihre Angst. Sie wollte endlich wissen, was los war.

Dicke, weiche Teppiche schluckten den Klang ihrer Schritte. An den Wänden der Eingangshalle hingen, wie es schien, teure Gemälde und es war angenehm warm. Der Anwalt nahm ihnen Mantel und Jacke ab und hängte sie an eine Garderobe. Herr Pawlowski steuerte zielstrebig auf die gemütliche Sitzecke zu, die in freundliches Licht getaucht unter einem großen Fenster wie eine Insel auf ihn wartete.

Alexa folgte dem Anwalt in sein Arbeitszimmer. Er bat sie, Platz zu nehmen und schloss mit einem soliden Klacken die Tür. Nachdem Alexa in einen tiefen, weichen Ledersessel eingesunken war, fragte er, ob sie gerne etwas zu trinken hätte. Während Alexa staunend auf die vielen massiven Holzregale starrte, die mit wertvollen Büchern bestückt waren, schüttelte sie den Kopf. Sie war zu aufgeregt, um etwas zu trinken, und wollte einfach nur noch wissen, was hier gespielt wurde. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie in einer so beunruhigenden Situation befunden. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

Der Anwalt setzte sich ihr gegenüber hinter seinen Schreibtisch und betätigte einen Schalter, um den Kronleuchter an der Decke aufleuchten zu lassen. Dann legte er sich verschiedene Akten und Dokumente auf dem Tisch zurecht.

„Liebe Frau Grün“, begann er, „ich habe Sie heute hierherbestellt, um Ihnen den Letzten Willen der verstorbenen Frau Sophia Sammet mitzuteilen. Sie hatte schon vor vielen Jahren zu mir Kontakt aufgenommen, um ihren Nachlass zu regeln und hat mit mir über die Jahre alles sorgfältig geplant. Heute ist also der Tag, an dem ich Sie auf die Testamentseröffnung vorbereiten kann.“

In Alexas Kopf begannen die Gedanken zu rotieren. Testamentseröffnung, seit Jahren geplant, Nachlass regeln, irgendetwas musste sie da doch falsch verstanden haben, oder nicht? Aber sie hatte keine Zeit nachzudenken, denn der Anwalt sprach bereits weiter.

„Frau Sophia Sammet hat über die Jahre hinweg ein beträchtliches Vermögen aufgebaut und hat Sie als ihre Großnichte, Ihren Mann und Ihren Sohn in einem Testament, das beim Notar vorliegt, als Erben eingesetzt!“

Hier unterbrach Alexa nervös den Anwalt. „Sind Sie sicher, Herr, äh, Seemann, dass wir tatsächlich von derselben Person sprechen? Ich meine, könnte es sein, dass eine andere Dame vielleicht den gleichen Namen trägt wie meine Tante?“

Alexa spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte keine Übung darin, einem Anwalt ihre Meinung vorzutragen. Es fühlte sich an, als steckte sie mitten in einer Prüfung.

„Ich will fragen, ob nicht vielleicht eine Verwechslung vorliegt …“

Jetzt war es gesagt. Innerlich fiel Alexa in diesem Moment ein Stein vom Herzen. Endlich hatte sie begriffen, was hier lief. Tante Sophia war verwechselt worden. Wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Wie dumm von ihr.

Erleichtert atmete sie auf. So etwas konnte natürlich schon mal passieren und sie würde es diesem Herrn Seemann nicht übel nehmen, wenn sie nur endlich aus dieser ganzen Sache wieder heil herauskam.

Sie rutschte auf die äußerste Kante ihres Sessels, bereit, möglichst schnell aufzustehen und zu gehen. Aber der Anwalt ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Mit ruhiger Stimme redete er weiter.

„Liebe Frau Grün, ich verstehe Ihre Zweifel, aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich keinesfalls um eine Verwechslung handelt. Ich war vorgestern persönlich im Krankenhaus, konnte die Tote mit eigenen Augen sehen und habe mir vom Arzt dazu noch ihren Tod schriftlich bescheinigen lassen. Und nachdem mir Ihre Tante schon ein paar Fotos von Ihnen gezeigt hat, bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass Sie Frau Alexa Grün sind.“

Vor Alexas innerem Auge zogen die Schnappschüsse, die sie Tante Sophia immer wieder geschickt hatten, vorbei. Sonnige Urlaubsmomente am Strand und in den Bergen und lustige Alltagssituationen, auf denen vor allem Simon zu sehen war. Sie bezweifelte, dass sie selbst auf diesen Bildern tatsächlich zu erkennen war. Dann nahm sie den fragenden Blick des Anwalts wahr, der auf ihr ruhte. Stumm nickte sie und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Sie war verwirrt. Und sie fühlte sich in diesem Moment wie eine Idiotin, peinlich beschämt.

„Aber Sie können gewiss sein, dass ich Ihre Personalien und auch die Ihres Mannes überprüfen lasse, bevor Sie Zugang zu Ihrem Erbe erhalten.“

Das Fragezeichen in Alexas Kopf wurde immer größer. Was ging hier vor sich?

„Wie ich schon sagte, hat Ihre Tante über die Jahre hinweg ein beträchtliches Vermögen angesammelt, das sie Ihnen vererben möchte. Allerdings können Sie dieses Erbe erst in einem Jahr antreten … und nur, wenn Sie sich im nun kommenden Jahr gewissen Bestimmungen unterwerfen. Das heißt, der Empfang des Erbes ist an genau geregelte Bedingungen geknüpft. Das Erbe wird Ihnen erst in einem Jahr ausbezahlt und nur dann, wenn Sie dem Testament Genüge leisten!“

Fragend sah er Alexa an, als ob er sich nicht sicher war, ob sie alles begriffen hatte.

„Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich etwas verwirrt bin“, meinte Alexa. In Wirklichkeit fühlte sie sich mehr als verwirrt. Sie fühlte sich so, als sei sie wieder eine Schülerin, die bei einer schweren Englischarbeit einfach die Worte nicht verstehen konnte. „Tante Sophia hat ein dermaßen bescheidenes Leben geführt, man könnte sogar sagen, sie hat ärmlich gelebt. Und Sie reden davon, dass sie ein beträchtliches Vermögen hinterlassen haben soll! Vielleicht könnten Sie sich etwas präziser ausdrücken? Was genau muss ich unter einem beträchtlichen Vermögen verstehen?“ Fragend sah sie den Anwalt an.

„Ich habe die strikte Anweisung von Frau Sammet, dass ich Ihnen auf keinen Fall die genaue Summe nennen darf, um die es sich in diesem Testament handelt.“

Alexa sah ihn an, als wäre er ein Außerirdischer. Warum nur diese Geheimnistuerei? Wieso wollte ihr der Anwalt nicht sagen, um wie viel Geld es sich handelte? Vielleicht hatte die Tante ja tatsächlich im Laufe der Jahre ein paar Tausend Euro zusammengespart. Aber deshalb war es doch nicht nötig, alles so dramatisch und geheimnisvoll zu machen.

Sie hakte noch einmal nach. „Vielleicht könnten Sie mir auf folgende Frage eine Antwort geben.“ Unsicher räusperte sie sich. „Könnten Sie vielleicht das Vermögen, das uns unsere Tante anscheinend hinterlassen hat und das Sie mit dem Wort ‚beträchtlich‘ beschrieben haben, könnten Sie das auch noch anders beschreiben? Ich meine, ist es nun ein kleines Vermögen, ein mittleres Vermögen, ein großes Vermögen oder ein sehr großes Vermögen?“

Der Anwalt schmunzelte. Irgendwie schien ihm dieses Gespräch Vergnügen zu bereiten.

„Ja, diese Frage kann ich Ihnen gerne beantworten und ich kann sie auch eindeutig beantworten. Es ist ein sehr großes Vermögen!“

„Ein sehr großes Vermögen“, wiederholte Alexa dümmlich. In ihrem Gehirn breitete sich Watte aus. Aber sie durfte jetzt nicht schlapp machen. Sie musste herausbekommen, was wirklich los war.

„Also, wenn ich Sie recht verstanden habe, hat Tante Sophia mir ein Erbe hinterlassen.“

„Das stimmt so nicht ganz!“, unterbrach sie der Anwalt. „Sie hat nicht nur Ihnen ein Vermögen hinterlassen. Das Erbe ist aufgeteilt zwischen Ihnen, Ihrem Mann und Ihrem Sohn. Jeder erhält einen Anteil. Sie, als die leibliche Nichte, erhalten den größten Teil, ja, aber auch der Anteil Ihres Mannes und Ihres Sohnes ist, wenn Sie so wollen, sehr groß!“

Stumm und völlig fassungslos starrte Alexa den Anwalt an.

Für einen Moment schwieg auch der Anwalt, wohl um Alexa die Chance zu geben, sich zu sammeln und seine Worte in sich nachklingen zu lassen. Dann aber schob er, nun auch ein bisschen nervös, wie es schien, seine Papiere hin und her und hustete leicht. „Vielleicht möchten Sie ja nun auch gerne wissen, an welche Bedingung das Erbe geknüpft ist?“

Alexa nickte stumm, überwältigt von dem eben Gehörten und noch nicht wirklich bereit, seinen weiteren Ausführungen zu folgen.

„Frau Sammet hat in langen Gesprächen mit mir folgende Bedingung festgelegt, die Sie als Familie dazu ermächtigt, das Erbe nach Ablauf eines Jahres anzutreten.“ Hier machte er noch einmal eine Pause, sah Alexa intensiv an und fuhr dann mit klarer Stimme fort: „Die Familie, die aus Alexa, Robert und Simon Grün besteht, erbt das gesamte Vermögen, so hat es Frau Sammet verfügt, wenn alle drei Mitglieder der Familie ein ganzes Jahr lang als bewusste Christen gelebt haben!“

Wow! Der Watteberg in Alexas Kopf platzte. Was hatte der Anwalt gerade gesagt? Sie hatte nichts davon verstanden.

„Oh, bitte, könnten Sie das, was Sie da eben gesagt haben, noch einmal wiederholen?“

„Aber gern!“ Der Anwalt lächelte verständnisvoll. „Ihre Familie wird das gesamte Vermögen von Frau Sammet erben, wenn alle drei Familienmitglieder ein Jahr lang bewusst als Christen gelebt haben.“

„Was ist denn das für ein Quatsch?“, entfuhr es Alexa. „Wieso sollten wir als Christen leben? Wir leben bereits als äußerst anständige Bürger. Und ich würde mich auch als christlichen Menschen bezeichnen. Reicht das denn nicht, um ein Erbe anzutreten?“ Alexa war völlig fassungslos.

„Ob Sie das Erbe antreten oder nicht, diese Entscheidung müssen Sie als ganze Familie treffen. Natürlich haben Sie Bedenkzeit, allerdings nur eine Woche. Falls Sie das Erbe nicht antreten wollen, wird das Vermögen aufgeteilt und geht an verschiedene christliche Organisationen und an zwei Missionare, mit denen Frau Sammet besonders eng in Verbindung stand!“

„Zwei Missionare“, stammelte Alexa erleichtert. „Von den beiden hat sie uns oft erzählt.“ Wenigstens etwas, das sie von ihrer Tante wusste … in dieser grotesken Situation, in der sie ihre Tante nicht mehr zu kennen schien. „Und wie, bitte schön, soll das aussehen? Wie lebt man ein Jahr lang bewusst als Christ? Sollen wir ab heute in der Kirche wohnen? Sie können sich denken, dass wir bereits ein Leben haben. Wir haben Freunde, unsere Berufe und unsere Hobbys. Wir können doch nicht ein neues Leben beginnen!“ In Alexas Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis.

„Ja, ein neues Leben! Das war wohl die Absicht von Frau Sammet. Aber wie Sie die Sache angehen sollen, dazu darf ich Ihnen keinen Hinweis geben. Natürlich hat Ihre Tante schriftlich ein paar Kriterien festgehalten, die für sie maßgeblich schienen und die eine gewisse rechtliche Grundlage schaffen. Aber die darf ich Ihnen nicht nennen. Es ist Ihnen völlig selbst überlassen, wie Sie dieses eine Jahr gestalten. Vielleicht müssten Sie dafür jemanden fragen, der bereits richtig als Christ lebt.“

„Wieso sollen wir die Kriterien nicht wissen?“

„Vielleicht wäre es dann zu einfach?“

Alexa versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fühlte sich in diesem Moment, als hätte man sie in ein Becken mit Wasser geworfen und sie müsste sich nun mühsam vom Boden aus nach oben kämpfen, um wieder Luft zu holen.

Die richtigen Fragen, ich muss jetzt die richtigen Fragen stellen, dachte sie verwirrt.

„Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, wir sollen als richtige Christen leben.“, hakte Alexa noch einmal nach und starrte den Anwalt unsicher an. „Was ist ein richtiger Christ?“

„Tut mir leid, ich darf Ihnen keine näheren Angaben machen. Ich habe die schriftliche Vereinbarung mit meiner Unterschrift besiegelt!“

„Aber Tante Sophia lebt nicht mehr!“ Ihr Einwand war fast schon verzweifelt.

„Denken Sie in aller Ruhe über Ihr Erbe und die Bedingung dafür nach. Am besten wäre es vielleicht, wenn wir das Gespräch für heute beschließen!“

„Nein, nein, die wichtigen Fragen sind ja alle noch offen! Woher sollte Sophia überhaupt ein Vermögen haben? Die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, ergibt keinen Sinn!“

„Woher der Reichtum stammt, weiß ich tatsächlich auch nicht. Nicht mal mein Vater kannte den Ursprung des Kapitals, obwohl ich ihn immer im Verdacht hatte, dass er zumindest ahnte, woher das Geld stammen könnte.“

Alexa starrte den Anwalt an, aber der starrte nur genauso zurück. Kein Licht wollte in die Sache kommen.

„Besprechen Sie die ganze Angelegenheit zu Hause mit Ihrem Mann und Ihrem Sohn! Und vielleicht wäre es möglich, dass Sie alle drei am Samstag noch einmal zu mir in die Kanzlei kommen, um mir Ihre Entscheidung mitzuteilen. Dann können wir auch alles Weitere besprechen und vielleicht schon notariell festhalten. Frau Sammet hat sich für Notar Raiser entschieden und ihn dazu angehalten, Ihren Fall in aller Kürze abzuwickeln, notfalls auch am Wochenende.“

„Am Samstag!“ Alexa seufzte tief auf. „Ja, das wäre eine wunderbare Idee! Ehrlich gesagt, fühle ich mich im Moment mit all dem, was Sie mir erklärt haben, ziemlich überfordert. Ich werde mit meinem Mann und meinem Sohn sprechen und tatsächlich am Samstag noch einmal zu Ihnen kommen. Welche Uhrzeit wäre passend?“

Der Anwalt nahm einen in Leder gebundenen Terminkalender in die Hand, der auf seinem Schreibtisch bereitlag. Nachdenklich runzelte er die Stirn.

„Ihre Tante hat mich immer fürstlich bezahlt. Ich würde mich gerne dafür revanchieren und Sie am Samstag um 12 Uhr zum Essen ins ‚Lamm‘ einladen. Anschließend könnten wir hier in meiner Kanzlei alles Weitere erledigen, wenn Sie bis Samstag schon eine Entscheidung getroffen haben.“ Während er sich eine kurze Notiz machte, sah er sie fragend an.

Die Worte „fürstlich bezahlt“ hallten in Alexa nach, während sie zustimmend nickte. Sie spürte, dass ihr ganzer Rücken sich verspannt hatte, und rappelte sich nur mühsam aus dem Sessel hoch. Als sie vor dem Schreibtisch stand, sah sie den Anwalt noch einmal eindringlich an.

„Nur damit ich wirklich nichts falsch verstanden habe: Meine Tante Sophia vererbt mir, meinem Mann und meinem Sohn ein großes Vermögen, wenn wir alle drei zusammen ein Jahr lang richtig als Christen leben? Die Kriterien dafür dürfen wir nicht wissen, aber sie liegen schriftlich fest.“

Der Anwalt nickte.

„Ein sehr großes Vermögen, um Ihre Definition zu benützen. Sie erben ein sehr großes Vermögen. Ja, Sie haben es richtig verstanden. Und am Samstag um 12 Uhr treffen wir uns im ‚Lamm‘ und Sie sind meine Gäste!“

Auch der Anwalt stand nun auf, kam um den Schreibtisch herum und gab Alexa feierlich die Hand. „Ich wünsche Ihnen derweil alles Gute und freue mich auf Samstag!“, meinte er noch und eilte zur Tür, um sie Alexa aufzuhalten. Alexa konnte nichts mehr sagen und stolperte kopflos aus dem Zimmer.

Draußen saß Herr Pawlowski, den sie völlig vergessen hatte, und schaute ihr erwartungsvoll entgegen. Sie konnte ihm nichts sagen, nickte ihm nur wortlos zu. Der Anwalt half ihr in den Mantel und während sie mit nervösen Fingern ungeschickt die Knöpfe schloss, beobachtete sie, wie Herr Seemann geschickt und mit verschwörerischer Miene einen Geldschein in die Jackentasche von Herrn Pawlowski steckte. Dann begleitete er beide bis zur Haustür, gab Alexa zum Abschied noch einmal feierlich die Hand, schlug Herrn Pawlowski kameradschaftlich auf den Rücken und winkte ihnen kurz nach, als sie den Kiesweg entlang zum Gartentor schritten. Dann standen sie endlich draußen vor dem Tor und machten sich auf den Weg zurück zum Café.

Pawlowski starrte sie neugierig an. „Und wie ist es gelaufen? War’s ’ne gute oder ’ne schlechte Nachricht?“

„Na ja, wie man es nimmt. Es war eine gute Neuigkeit und eine schlechte oder sagen wir, eine ungewöhnliche.“

„Ach, was denn nun? Erben Sie oder erben Sie nicht?“

„Wir erben, ja, aber nur, wenn wir als ganze Familie ein Jahr lang als Christen leben!“

„Hui, das ist ja ein Hammer. So schrullig war die doch gar nicht, die alte Frau, oder?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Wissen Sie was, für die hundert Euro von Anwalt Seemann begleite ich Sie auch noch zu Ihrem Auto!“

Alexa warf ihm rasch einen kurzen Blick zu. Hundert Euro! Mann, oh Mann! Das war heute kein schlechter Tag für Herrn Pawlowski.

„Könnten Sie dann auch noch nach den Gästen sehen?“

„Natürlich, das ist ja mein Beruf, das hätte ich sowieso gemacht.“

Alexa nickte erleichtert. „Sagen Sie den Leuten Grüße von mir!“ Sie hatte keine Kraft mehr für weitere Begegnungen.

„Wie lange brauchen Sie noch bis nach Hause?“

„Zwei Stunden!“, meinte sie knapp. Inzwischen war es schon ganz dunkel und es regnete stärker.

„Na, da passen Sie aber gut auf sich auf!“, meinte der Wirt und schon waren sie bei ihrem Auto, das noch auf dem Friedhofsparkplatz stand.

Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände, schüttelte sie heftig auf und ab und dann saß sie endlich im Auto, winkte dem Mann noch einmal zu und seufzte erleichtert auf. Es ging nach Hause.

Die Fahrt wurde anstrengender, als sie gedacht hatte, und zog sich in die Länge. Die Scheibenwischer kämpften mühsam gegen den starken Regen an. Der Abendhimmel war pechschwarz und Alexa konnte fast nichts sehen. Nur in gemäßigtem Tempo rollte sie auf der rechten Spur über die Autobahn. Sie fuhr auch deshalb langsamer als sonst, weil sie spürte, dass ihre Konzentration stark nachgelassen hatte – nach allem, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Wenn das stimmte, was dieser Anwalt Seemann ihr erklärt hatte, würde die ganze Geschichte ihr eigentlich ruhiges Leben kräftig durcheinanderwirbeln.

Wenn sie das Erbe antraten! Was wohl Robert und Simon von der ganzen Geschichte hielten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden mitmachen würden. Robert war beruflich stark eingespannt und hatte eigentlich keine Kraft, sich auf eine einschneidende Veränderung einzulassen. Und Simon? Er war sechzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät. Gerade weil sie zu ihm immer ein besonders enges Verhältnis gehabt hatte, war er in den letzten Wochen auf radikale Distanz zu ihr gegangen. Der Ablöseprozess hatte ihr ziemlich zugesetzt. Es fühlte sich an, als hätte man ihr ein Bein amputiert. Früher hatte Simon viel Zeit zu Hause verbracht. Jetzt trainierte er zweimal die Woche Hockey und den Rest seiner Freizeit schien er damit zu verbringen, mit seinen Freunden am PC zu chatten oder Spiele zu spielen. Ein Projekt, zusammen mit seinen Eltern, das war bestimmt das Letzte, was er im Moment wollte. Und außerdem: ein Sechzehnjähriger und die Kirche! Seine Freunde würden ihn verspotten. Nun gut, es winkte eine größere Summe Geld, aber würden er und sein Vater sich damit kaufen lassen?

Und sie selbst? Sie war Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus und verantwortlich für die gesamte Schmuckabteilung. Sie hatte dort viele nette Bekannte. Es ging ihr gut. Okay, ein bisschen langweilig war ihr das Leben in all den Jahren schon manchmal vorgekommen. Aber war das nicht bei allen so? Auch bei Christen? Lebten die nicht ganz besonders langweilig? Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht wäre es nicht schlecht, den Dingen mal auf den Grund zu gehen!

Ihre Gedanken kehrten zu Robert zurück. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, und sie hatte noch nicht herausfinden können, was es war. Er wirkte so, als stände er in den letzten Wochen völlig neben sich. Vielleicht wäre eine Veränderung für ihn doch nicht so schlecht? Die Sache mit dem Erbe wäre etwas, das sie als Ehepaar neu verbinden würde, es wäre ein gemeinsames Projekt. Und es wäre natürlich sehr verlockend, eine größere Summe Geld zu erben. Klar, wer wäre da abgeneigt? Aber wenn sie dafür ein Jahr lang Theater spielen mussten, war das dann den Preis wert?

Sie würden irgendwann die Wohnung von Tante Sophia räumen müssen. Robert hatte am Telefon gemeint, er würde sich dafür in den Weihnachtsferien Zeit nehmen. Auf jeden Fall mussten sie dort alles noch einmal genau unter die Lupe nehmen. Vielleicht gab es ja irgendeinen Hinweis darauf, woher die Tante das Geld hatte und wieso sie weder darüber geredet noch etwas davon ausgegeben hatte. Vielleicht gab es Bankauszüge oder Aktienbescheide oder etwas anderes, das Licht in diese mysteriöse Geschichte bringen würde.

Sie war nicht der Typ, der abenteuerliche Situationen liebte, und sie wusste noch gar nicht, ob ihr dieses Abenteuer, in das sie nun unfreiwillig geraten war, gefallen würde. Aber ein bisschen Adrenalin in den Adern wäre vielleicht doch ganz nett.

3

Im Halbschlaf hörte Robert die krächzende Lautsprecherstimme, die alle Passagiere aufforderte, sich anzuschnallen. Die Stimme teilte mit, das Flugzeug würde nun in den Sinkflug gehen und zur Landung ansetzen. Robert blinzelte nur und schloss dann schnell wieder seine Augen. Richtig wach wurde er erst, als sein Chef, der neben ihm saß, ihn leicht am Arm rüttelte.

„Herr Grün, bitte wachen Sie auf, wir sind fast zu Hause!“

Robert reckte sich und zwang sich, die Augen zu öffnen. Die fünf Tage in Hongkong waren ein anstrengender Marathon gewesen und hatten ihn ziemlich mitgenommen. Sie waren von Termin zu Termin gehetzt, das Essen dazwischen war unerträglich gewesen und die heißen Nächte unruhig und schlaflos.

Er legte seinen Gurt an und warf nebenbei einen Blick aus dem Fenster. Unter ihnen leuchtete bereits die Lichterflut von Stuttgart auf. Eigentlich freute er sich auf zu Hause und noch schlaftrunken wunderte er sich einen Moment lang, dass sein Unterbewusstsein ihm signalisierte, dass es irgendetwas gab, das seine Vorfreude trübte. Es war nicht die Tatsache, dass er auf seiner Geschäftsreise erfahren hatte, dass Tante Sophia gestorben war und er ausgerechnet an ihrer Beerdigung nicht da sein konnte. Nein, es war etwas Gravierenderes, Einschneidenderes. Und dann war die Erkenntnis mit einem Schlag wieder an der Oberfläche seines Bewusstseins: seine Sekretärin Kiara.

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