Inhaltsverzeichnis
Widmung
Es wirken mit
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
Für Jens, den Mann mit der Bluse
Es wirken mit
in den Hauptrollen:
ALVARO, ein Schutzengel
LENNART BÜCKEBURG, sein Schützling, auch der »Neue Prophet« genannt
TABEA, ein Vampirmädchen
JOY MERCEDES SPIX, zwölfjährige Tochter des Chefpathologen des Kriminaltechnischen Instituts Oberfrankenburg Nord
in den Nebenrollen:
OLEG, ein unscheinbarer Russe, der einer kriminellen Vereinigung angehört, die sich »Der Ring« nennt
VOLCHOK, genauso kriminell
TAMINO, Alvaros Vorgesetzter und ebenfalls ein Engel (genauer: ein Himmelskrieger)
MEO, auch ein Engel, Alvaros bester Freund (für Joy »Meo aus dem Wasserhahn«)
PROF. DR. KASIMIR SPIX, Joys Vater, Chefpathologe des Kriminaltechnischen Instituts Oberfrankenburg Nord
ONKEL HIERONYMOS, ein Vampir
EBERHARD FRITZ, ein Ermittler von außerhalb
neben den Nebenrollen:
LUKAS, der Klaus heißt
ACHIM, der König über alle Dorfprinzen von Oberfrankenburg-Sattlersteden
JASCHA, Engel für technisches Handwerk
NORMAN, Engel fürs Bürokratische
ARTHUR, eine geflügelte Lehrkraft
DIE SKRIPTOREN
IMANA, afrikanischer Hochgott der Pygmäen
IFA, afrikanischer Halbgott der Wahrsagekunst vom Stamm der Yoruba
HUITZILOPOCHTLI, der aztekische Kriegs-, Stammes-, Sonnen- und Taggott
NAUSITHOOS, atlantischer Halbgott
TLEPS, der kaukasische Gott des Eisens bei den Tscherkessen und Schutzherr der Schmiede
EO-IO, ein Gottkönig der Neandertaler
DR. HERBERT, Hausmeister der Burg Werthersweide
SHIGSHID, ein Halbmongole, der wie Oleg und Volchok dem »Ring« angehört
ERICH RUDOLPH HELMUTH HAMMERWERFER, auch »Rattlesnake Rolf« genannt, Vorsitzender des »Ringes« und Erster Kriminalhauptkommissar von Oberfrankenburg Nord
MORPHEUS HAMMERWERFER, Sohn von Rattlesnake Rolf
DER OLEANDERSTRAUCHPOLIZIST, ein Ordnungshüter mit Gartentick
und dann noch die, die man sich wirklich nicht merken muss:
BARBARA, Joys Stiefmutter
ELISABETH BUCHKRÄMER, Prof. Dr. Kasimir Spix’ rechte Hand
DR. MOLLING, Allgemeinmediziner
EIN MÄDCHEN
EIN ANDERES MÄDCHEN
KULINA
AMELIE SCHMIDT, eine Bestattungsunternehmerin, sowie ihr Praktikant
EIN GASTWIRT
EIN NOTARZT UND DIE SANITÄTER
LENNARTS ELTERN
JAKUP und ein paar andere Himmelskrieger aus Taminos Legion
OLGA URMANOV und ihr neuer Stecher
TABEAS MUTTER, IHRE GESCHWISTER UND DER VORARBEITER
DR. HERBERTS GROssVATER
DER BUSFAHRER
DER MANN, DIE FRAU UND DER JUNGE
DIE PONYPOLIZISTIN, Franziska Umbro, eine Ordnungshüterin mit Überbiss
ANDERE POLIZISTEN
OBERGEFREITER FRISCH UND PUNRAZ, sein Dackel
ANDRASTE, die keltische Schutzgöttin der Bären und des Krieges
DIVERSE DÄMONEN
EINE REINKARNIERTE SCHILDKRÖTE
und viele, viele mehr!
Erster Teil
Kapitel 1
Nordöstlich der Stadt, am Fuß der Hügelkette, auf deren höchstem Punkt die windschiefen Überreste der Klimburg tapfer der Schwerkraft trotzten, zirpten Grillen in der jungen Nacht. Vielleicht besangen sie die außergewöhnliche Geschichte der kleinen Stadt schräg unter der Autobahntalbrücke Frankenwald. Vielleicht lauschten sie auch der Meinung der Sterne auf ihren spindeldürren Knien, während sie die noch immer ungeklärte Frage mit ihnen diskutierten, warum das, was zwischen der Klimburg und Burg Werthersweide lag, Oberfrankenburg hieß. Oder aber sie tauschten den neuesten Klatsch aus den einzelnen Pfarrgemeinden aus. Wahrscheinlich jedoch buhlten sie einfach um die schärfsten Weibchen, und deshalb lassen wir die Grillen an dieser Stelle einfach instinktgesteuertes Insektengetier sein und wenden uns den wirklich interessanten Dingen zu, die das schmucke Vierzigtausendseelenstädtchen in dieser Augustnacht zu bieten hatte. Denn derer gab es ausnahmsweise einmal mehr als genug.
Während sich der Fuchsbau nahe der Abfahrt Oberfrankenburg Nord dank einer gelungenen Geburtstagsfeier eines verhältnismäßig großen Ansturms erfreute, brannte das Fachwerkgemäuer der Konkurrenz Zum Wilden Bock im Süden des Zentrums bis auf die Grundmauern nieder. Ohne Eile und unbeeindruckt von den eher halbherzigen Löschversuchen der freiwilligen Feuerwehr verzehrten die Flammen die heruntergewirtschaftete Wirtschaft vor den Augen eines hervorragend versicherten Wirtschaftseigentümers. Ein Ereignis, das jedoch nur wenige Oberfrankenburger ans Fenster lockte. Wer sich doch zu der kleinen Schar Schaulustiger gesellt hatte, dem stand weniger Angst und Schrecken ins Gesicht geschrieben als die bloße Erleichterung darüber, dass sich der Gastwirt nicht für eine laute und unberechenbare Gasexplosion entschieden hatte - es sei denn, entsprechender Zuschauer lebte noch nicht besonders lange hier und kannte den Eigentümer und die besonderen Sitten und Gebräuche Oberfrankenburgs nicht. Etwa, weil er ein Tourist war.
Und Touristen befanden sich in dieser lauen Sommernacht erstaunlich viele in dem Städtchen im Frankenwaldtal.
Aber nicht ein Einziger von ihnen hatte in eine der beiden bescheidenen Pensionen eingecheckt, über die die Stadt verfügte, und keiner der Fremden hatte seinen fünfunddreißigsten Geburtstag schon hinter sich; die meisten waren deutlich jünger, einige noch nicht einmal volljährig. Aus den auch zu später Stunde noch eintrudelnden Reisebussen privater Unternehmen oder aus den letzten Regionalzügen stiegen sie aus, oder parkten alte Bullis, rostige Vespas und Volkswagen auf dem noch warmen Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen, schulterten Schlafsäcke und Gepäck und legten die restliche Strecke zu ihrem eigentlichen Ziel, dem Trapperseestadion am westlichen Stadtrand, auf Schusters Rappen zurück. Lateinamerikanische Rhythmen schwappten dort wie akustischer Rum über die Mauern, die eigentlich nur bessere Zäune waren, und vermengten sich mit dem Rauch von Lagerfeuern, Zigaretten und diversen anderen Dämpfen und Dünsten, die aus der jüngst auf dem freien Feld zwischen Stadion, See und Schulzentrum errichteten Zeltstadt aufstiegen. Daraus wurde eine berauschende Brause, der zu widerstehen keiner dieser jungen Menschen in der Lage, geschweige denn willens war.
Auch nicht Lukas, der eigentlich Klaus hieß. Und auch nicht das Mädchen in seinem Arm.
Aber anders als die meisten Festivalgäste war Lukas, der Klaus hieß, ein waschechter Oberfrankenburger. Er hatte kein Zelt, sondern eine eigene Wohnung, was ihn in den großen blauen Augen des Mädchens trotz seiner fettigen Haare ungleich charismatischer erscheinen ließ. Kurz vor Mitternacht hatten sie die Zeltstadt verlassen, aber als sie nun sein Apartment in einem Vorort der Stadt erreichten, mogelte sich ein Hauch von Skepsis in ihre Stimme.
»Klaus König?«, erkundigte sie sich mit Blick auf das vergilbte, in sprödes Plastik eingefasste Schildchen rechts der Klingel. »Ich dachte, du wohnst allein, Lukas.«
Lukas, der Klaus hieß, zuckte die Schultern und bemühte sich, den Haustürschlüssel in das Schloss zu schieben; eine Herausforderung angesichts seines aktuellen Blutalkoholwerts.
»Tu ich doch«, nuschelte er. Ach, zur Hölle - ihr Dekolleté machte alles noch viel komplizierter. Außerdem ging sie bauchfrei; und dann dieses Röckchen! Pink, Lackleder. Zu mir oder zu dir, du Sau … Zu mir. Geht schneller.
»Aber du hast doch gesagt, du heißt Lukas!«, begehrte das Mädchen auf. Es klang ein bisschen beleidigt.
Klaus, der nicht Lukas hieß, verfehlte das Schlüsselloch ein weiteres Mal und fluchte leise. Schöne, volle Lippen, ein perfekter Kussmund … Wären nicht unablässig Geräusche aus Letzterem gekommen, hätte sie fast schon Helga sein können. Aber man konnte schließlich nicht alles haben.
»Scheiß drauf. Sind doch die gleichen Buchstaben drin«, erklärte er gleichgültig, während er den dritten Versuch einleitete.
Für einen Moment schien es, als wollte das Mädchen protestieren. Aber dann beließ sie es bei einem dümmlichen Grinsen, nahm ihm den Schlüssel aus der Hand, schob ihn zielsicher ins Schloss und drehte ihn. Sie war so was von nüchtern, registrierte Lukas, der Klaus hieß, beinahe staunend. Und das nach zwei Stunden Trapstock bei noch immer schweißtreibenden Temperaturen! Bier ein Euro, Eintritt frei. War sie dumm oder der Sonne zu lange ausgeliefert gewesen? Oder nur genauso geil wie er?
»Hast Recht, hört sich auch viel schöner an«, lachte das Mädchen.
Wie hieß sie eigentlich? Auch egal.
»Ach, du bist ja so süß!« Sie schlang die Arme um seinen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen feuchten Kuss ins Gesicht. »Und so kreativ!«, setzte sie begeistert hinzu.
Lukas (Klaus) unterdrückte den Reflex, sich über das Gesicht zu wischen, schob die Tür mit dem Fuß auf und trug sie in der Taille gepackt vor sich her durch den zugemüllten Flur in den einzig vorhandenen Wohnraum.
»Na, du inspirierst mich halt«, schmeichelte er, während er sie auf sein Bett fallen und sich danebenplumpsen ließ. Dann begann er sie ohne Umschweife zu entkleiden.
»Oh, du hast es aber eilig«, gluckste sie.
»Und wie.«
»Ich dachte, wir lernen uns erst mal kennen …«
»Sin’ doch dabei …«
»Hihihi …«
»Mmmmh …«
»Hmmmh …«
»Mmmmh … aaaah!«
Zu lange schon keine Frau, dachte Lukas ohne schlechtes Gewissen.
»Oh.«
Zu lange keine Frau, dachte das Mädchen voller Mitgefühl.
»Auch’ne Kippe?«, bot Lukas an.
»Äh … Duhuu?« Sie rappelte sich auf einen Ellbogen auf und musterte ihn aufmerksam.
»Hmh?« Er zündete sich eine Zigarette an.
»Woran denkst du?«
»Kennste nich’«, antwortete er und inhalierte einen tiefen, entspannten Zug.
Es schepperte, als das Mädchen aufsprang und dabei den Blechaschenbecher von der Matratze katapultierte. Und es polterte, als im Flur jemand auf einem Pizzakarton ausglitt, der dem unerwarteten Gast voran ins Wohn- und Schlafzimmer segelte. Irgendetwas klimperte hell und leise.
»Was soll das heißen: Kennst du nicht!?«, empörte sich das Mädchen.
»Hey, Klaus, altes Haus«, grüßte Achim, der sich wieder aufgerappelt hatte und nun in den Raum geschwankt kam. »Hast die Tür offen gelassen … Oho, was hast du denn da?«
Er nickte anerkennend, wobei die Glöckchen, die von seinem Schwarzwälder Bommelhut baumelten, erneut hell erklangen. Dabei schwenkte er eine Wodkaflasche in Richtung des Mädchens, das mit zornesroten Wangen nach weiteren Worten suchte, während sie ihre blanken Brüste unter einem Arm zu verbergen versuchte. Den Rock hatte Lukas ihr gelassen. Er hatte kaum gestört.
»Du … ihr …«, stammelte das Mädchen so hilflos wie wütend.
Lukas verdrehte die Augen und verrenkte sich nach dem Aschenbecher. »Kommste auch vom Festival?«, erkundigte er sich anstelle einer Antwort.
»Wollt gerade wieder hin«, antwortete Achim, König über alle Dorfprinzen von Oberfrankenburg-Sattlersteden, ohne seine anzüglichen Blicke von dem wohlgeformten Körper des Mädchens zu lösen. »Hab nur Proviant geholt. Auch’nen Schluck?«
Er bot ihr von dem Wodka an.
Das Mädchen maß Lukas einen Moment aus Augen, in denen sich Wut, Fassungslosigkeit und flehende Hoffnung um die Oberhand stritten. Letztlich siegte der Zorn; hektisch sammelte sie ihre Klamotten ein und baute sich, die Schuhe unter einen Arm geklemmt, vor ihm auf.
»Scheißkerl!«, fauchte sie und spie ihm ins Gesicht. Dann fuhr sie auf dem Absatz herum und stieß den König über die Dorfprinzen im Hinauseilen so derb mit dem Ellbogen in die Rippen, dass er für einen Moment ins Taumeln geriet.
»Hui … wild«, bemerkte Achim anerkennend, als er sein Gleichgewicht zurückerlangt hatte. »Heiße Nummer, ja?«
Lukas wischte sich seufzend die Spucke von der Nase. »Vergiss sie«, winkte er ab und streckte die Linke nach Achims Flasche aus.
»Spül das damit runter.« Sein Freund reichte ihm den Wodka und drückte ihm eine rosafarbene Pille in die Rechte.
Lukas tat wie ihm geheißen und grinste. »Und jetzt?«
»Arsch hoch und weiter!« Kichernd ließ Achim seine Glöckchen klimpern und warf dem Freund seine Jeans zu.
»Farben gucken.« Lukas klatschte nickend in die Hände und schlüpfte in seine Hose.
Während der König über alle Dorfprinzen von Oberfrankenburg-Sattlersteden seinem Gefährten auf dem kurzen Rückweg zum Stadion jedes Detail seines jüngsten Liebesabenteuers zu entlocken versuchte, stürzte sich Tabea an Onkel Hieronymos’ Seite von der fünfundzwanzig Meter hohen Turmspitze von Burg Werthersweide. Sie erblickte ein Meer aus kunterbunten Lichtern, Fackeln und Feuerstellen, das sich zu drei Seiten um das Stadion erstreckte, während sie voller Vorfreude auf das, was gleich kommen mochte, in die Tiefe segelte. Gleißendes Flutlicht verdrängte alle Schatten aus dem Trapperseestadion. Dumpfe Rhythmen drangen bis zu den jahrhundertealten, meterdicken Wehrmauern der Burg; mit jedem Flügelschlag, den Tabea zurücklegte, nahmen sie weiter zu und erreichten schon eine ohrenbetäubende Lautstärke, als sie noch Hunderte Meter vom Zentrum des Geschehens entfernt war.
Obwohl sie vor allem in flugfähiger Gestalt über ein buchstäblich animalisches Gehör verfügte, machte ihr der Lärm nichts aus. Im Gegenteil: Sie empfand den zunehmenden Schmerz, der sich in ihrem Kopf und ihrem Innenohr ausbreitete, als etwas Aufregendes, Abenteuerliches. Es war der Preis ihres Mutes, der Schmerz der Rasierklinge, die brennend durch ihre Fingerkuppe zuckte, ehe sie gleich feierlich lächelnd Blutsbrüderschaft schloss mit dem blühenden, leichtfertigen Leben. Es wäre unvollständig gewesen ohne ihn. Wie ein Zyklon 810 ohne allergikerfreundlichen Hepa-Filter. Tabea gluckste vor vergnüglicher Aufregung.
Sie musste nicht eigens einen Schulterblick in Hieronymos’ Richtung werfen, um zu wissen, dass der alte Griesgram vollkommen anders empfand. Onkel Hieronymos lachte nie. Im Grunde pendelte der alte Vampir immerfort zwischen drei Gemütszuständen: übellaunig, sehr übellaunig und außerordentlich übellaunig. Wenn Letzteres der Fall war, dann ging man ihm am besten aus dem Weg. Eigentlich ging man ihm am besten sowieso immer aus dem Weg - wenn man die Wahl hatte.
Ungünstigerweise hatte Tabea aber seit knapp einhundert Jahren keine Wahl, und so war sie ungemein erleichtert, dass Onkel Hieronymos, der nun direkt neben ihr flog, zumindest im Augenblick noch ein Stück weit entfernt schien von außerordentlich übellaunig. Sie schenkte ihm ein Lächeln, hoffte, dass es nicht allzu aufgesetzt wirkte, und betete zu allen gegenwärtigen Dämonen, dass sein Zustand noch eine kleine Weile anhielt, während sie ihr Augenmerk wieder auf das bunte Treiben in dem gewaltigen Zeltlager außerhalb der Stadionmauern richtete.
»Es war keine gute Idee«, unterbrach Hieronymos plötzlich den Lauf ihrer Gedanken, als hätte er darin gelesen, um herauszufinden, womit er sie zu welchem Zeitpunkt am härtesten treffen konnte. »Noch könnten wir umkehren …«
Das war bloß grammatikalisch ein Konjunktiv. Faktisch war es ein Beschluss, wenn nicht sogar ein Befehl, und da, wo Tabea ihr Herz unter der haarigen Brust vermutete (sie machte nur selten Gebrauch von der Möglichkeit, sich die Anatomie einer Fledermaus anzueignen, und fühlte sich noch immer jedes Mal fremd in dem kleinen, pelzigen Körper), verspürte sie plötzlich einen schmerzhaften Stich. Nein!, fluchte sie im Stillen. Nicht jetzt, nicht heute und nicht so! In einem runden Jahrhundert gewöhnte man sich an fast alles; Tabea hätte, nüchtern betrachtet, glatt voraussehen können, dass dieser langersehnte Ausflug genau so enden würde, weil der alte Vampir es gewiss von langer Hand gerade so geplant hatte. Vielleicht, weil er es liebte, boshafte Spielchen mit ihr zu treiben? Vielleicht aber auch nur, damit sie aufhörte, ihm auf die Nerven zu gehen? Aber sie hatte nicht nüchtern darüber nachgedacht, was Hieronymos nach Wochen dazu bewegt haben mochte, ihrem Bitten und Betteln plötzlich nachzugeben. Seit das Schicksal ihr Ende März dieses bunt bedruckte Flugblatt in die Hände gespielt hatte, war keine Nacht vergangen, in der sie ihm nicht damit wie mit einer hautsympathischen Anticellulitiswunderpanty vor der warzigen Nase herumgewedelt hatte:
TRAPSTOCK … Ein motziger Teenager hatte den Zettel verloren, während er seinen Eltern und kleinen Schwestern widerwillig durch die tristen Gänge und Kammern der Burg gefolgt war.
SAMSTAG, 04. AUGUST 2012 - FIRST OPEN-AIR SUMMER JAM OF OBERFRANKENBURG NORD -
REGIONALER REGGAE & INDEPENDENT
CONTEST IM TRAPPERSEESTADION - WOODSTOCK WAR GESTERN! JETZT GEHT’S RICHTIG AB!
Tabea hatte es als teuflische Fügung begriffen und in grenzenloser Dankbarkeit spontan darauf verzichtet, den Knaben regelwidrigerweise bis zum letzten Tropfen auszusaugen; wohl wissend, dass sich ihr eine solche Gelegenheit so schnell nicht wieder bieten würde. Hieronymos lehnte zunächst strikt ab. Aber dann - erst vor fünf Tagen, als sie schon damit drohte, alleine zu fliegen und die Burg für immer zu verlassen - hatte er ihrem Gequängel nachgegeben. Möglicherweise war der Umstand, dass sie sich seit annähernd vierzehn Tagen fast ausschließlich von abgestandenen Blutkonserven aus der pathologischen Abteilung der Universität Oberfrankenburg ernährten, nicht ganz unschuldig an seinem Sinneswandel. Davon jedenfalls war Tabea in ihrer Blauäugigkeit ausgegangen.
Jetzt aber trat die Skepsis die Tür eines finsteren Kämmerleins in ihrem Hinterkopf ein und schlug mit glühender Erkenntnis zu: Hieronymos hatte sie bloß ärgern wollen. Wenn man der Hölle direkt entsprungen war, kümmerten einen vierzehn Tage Instantkost ganz bestimmt nicht. Den ersten Lichtblick seit Jahrzehnten ganz dicht vor Augen, so lautete sein gemeiner Plan, und er würde sie zur Umkehr nötigen; einfach so, damit sie auch diese Nacht damit zubrachte, seinem verbitterten Geschwätz von der Ungerechtigkeit der Welt und seinen öden Geschichten von verlorenen Kriegen zwischen Himmel und Hölle zu lauschen - vorausgesetzt, er plante nicht noch ein weiteres Attentat auf ihre geschundene Seele.
Tabea biss die Zähne so fest zusammen, dass es in den Kiefern schmerzte. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück. Bei Frederikes feuerfesten Teflonpfannen - sie konnte all diese beinahe taufrischen, brandheißen Lustgestalten bereits riechen! Die laue Sommerbrise trug nicht nur den Rauch der Lagerfeuer zu ihr heran, sondern auch und vor allen Dingen den würzig-süßen Duft von warmem Schweiß. Sie waren so jung, so ganz anders als diese übergewichtigen oder drahtigen Kerle vom Seniorenkegelclub in der Dorfschenke. Oder als die schnatternden Puten, die dann und wann von einem Reisebus auf den Innenhof gespuckt wurden, damit Dr. Herbert sie für drei Euro pro Nase durch die düsteren Mauern der Burg führte, ehe der Busfahrer ihnen im Großen Saal Eierkocher und Rheumadecken zu Freudenhauspreisen unterjubelte. Und es waren so unglaublich viele …
Aber vielleicht war es doch eine echte Sorge, jammerte in ihrem Inneren ein erbärmlicher Rest Glaube an das Gute. Und wenn es so war, dann würde kindlicher Trotz Onkel Hieronymos in seiner Rolle der erfahrenen Autorität, die die schwere Last der Verantwortung trug, nur bekräftigen. Solange also die geringste Hoffnung bestand, musste Tabea Ruhe bewahren.
»Findest du?« Sie gab sich erstaunt und bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, der so freundlich war, wie es gerade eben ging. Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken auf der Suche nach einer geeigneten Strategie, um ihn umzustimmen. »Also wenn du mich fragst, ist es die beste Idee seit Langem«, begann sie. »Wann bekommt man schon mal so eine Gelegenheit - und das praktisch vor der eigenen Haustür! Zu viel kann man wohl trinken, doch trinkt man nie genug.« Sie nickte nachdrücklich. Am besten liefen die Geschäfte der Busfahrer auf Werthersweide erfahrungsgemäß, wenn gleich zu Beginn Handkes Himmbeergeist oder das Holunderwunder die Runde machten. Aber dazu musste man den Bus erst einmal in den Burghof gelenkt haben … »Wir trinken uns satt, Onkel Hieronymos. Pappsatt«, fügte sie geradezu penetrant aufmunternd hinzu. »Und dann füllen wir die Blutkonservensäckchen auf, bis sie so straff sind wie Elfriedes Birnenpo in Amelies Apfelpopohöschen! Anschließend fliegen wir heim und lassen uns den Rest der Nacht den Mond auf den vollen Bauch scheinen.« Tabea versuchte ihre weiteren Ausführungen mit ausladenden Gesten zu untermalen. »Hast du jemals so viele Menschen auf einem Platz gesehen? Sieh nur: Das ganze Stadion ist so voll wie ein Kissen mit Milben! Kannst du sie nicht auch schon riechen? Mmmh … Und sie sind alle so, soo -«
Weiter kam sie nicht. Als sie bemerkte, wie ihr Flugrhythmus ins Stocken geriet, fiel ihr wieder ein, dass ihre schlanken Arme in Fledermausgestalt (insbesondere fünfzig Meter über dem festen Boden) in allererster Linie der Fortbewegung dienten. Aber es war längst zu spät. Sie quiekte ein erschrockenes Ultraschallsignal und stürzte in die Tiefe: wie ein Stein, dem ein Kind einen Schweif aus buntem Krepp angeklebt hatte und der sich während seines Fluges aus dem Kinderzimmerfenster verzweifelt wünschte, ein federleichter Papierdrachen zu sein.
Als Onkel Hieronymos sie im nächsten Augenblick mit stahlharten, nadelspitzen Zähnen im Nacken erwischte und festhielt, bis sie endlich wieder in den richtigen Takt fand, wünschte sie sich, sie wäre wirklich so ein armseliger Kieselstein, an dem er sich seine dreimal verfluchten Zähne ausbiss.
»Autsch! Verflixt und zugenäht! Lass los, du tust mir weh …«, jammerte sie, als Hieronymos nicht gleich wieder von ihr abließ.
Der Vampir biss noch eine Spur fester zu und spie dann geräuschvoll einen speichelfeuchten Fellklumpen aus, den er ihr mit den Zähnen aus dem Nacken gerissen hatte. Dann antwortete er kühl: »Aus Schaden wird man klug.«
Aus ihrer Zeit als gewöhnliche Sterbliche wusste Tabea, dass man aus Schaden in der Regel eher arm, krank oder beides wurde, und das Brennen in ihrem Nacken bestätigte diesen Erfahrungswert. Aber sie verzichtete auf eine entsprechende Bemerkung und konzentrierte sich wieder auf die Menschenmenge im Stadion und darum herum. Die ummauerte Grünfläche mit der schlichten Zuschauertribüne lag jetzt direkt unter ihnen.
»Aber ich will heute keine Akademikerin mehr aus dir machen«, fügte Hieronymos zynisch hinzu. »Wir fliegen zurück.«
»Aber -«
»Kein Aber«, entschied der Vampir. »Ich habe nicht geahnt, wie groß dieses Fest werden wird. Es sind einfach zu viele. Das sind Jugendliche; junge, unberechenbare Hitzköpfe wie du. Der Teufel allein weiß, was sie mit dir anstellen, wenn du dich ihnen zeigst. Und es ist überall Licht - viel zu viel Licht!«
Er schnappte mit dem Maul nach einem Zipfel ihrer immerzu leicht mitgenommenen Schwingen, was in Ermangelung ausreichender Nervenenden zwar nicht wehtat, Tabea aber erneut aus dem Rhythmus brachte und zudem fürchterlich kränkte. Hieronymos schien sich tatsächlich um sie zu sorgen, registrierte sie fast staunend. Aber das änderte nichts an der Situation. Sie ließ sich nicht wie ein ungezogenes Schulmädchen behandeln, das man an den Ohren ins Rektorzimmer schleifte. Sie war kein kleines Mädchen mehr, und eine Schule hatte sie überhaupt nie besucht.
»Hör auf!«, schnappte sie und wand sich zappelnd gegen den neuerlichen Biss des alten Vampirs. Was sollte ihr denn so Schreckliches widerfahren? Streng genommen war sie doch schon tot! Und im Gegensatz zu Hieronymos musste sie das künstliche Licht dort unten auch nicht fürchten, denn sie war nur ein Vampir der zweiten Generation - eine schlechte Kopie vom Original quasi, das chinesische Pendant zum schnurlosen Damenrasierer Amazone Dreifach Plus für empfindliche Haut, mit dem sich auch Kartoffeln schälen ließen.
Tabea begann in einem heftigen Stakkato nach ihm zu treten. »Lass mich sofort los«, schimpfte sie. Tränen der Wut brannten in ihren Augen. »Oh, du bist ja so gemein, gemein, gemein, gemein!«
Es war längst nicht mehr Hoffnung, sondern bloße Hysterie, die ihre Glieder bewegte, als ihre nahezu filigranen Zehen tatsächlich auf pelzigen Widerstand trafen und Hieronymos seine Kiefer mit einem dumpfen »Uff!« aus ihrer Schwinge löste. Tabea überschlug sich mehrfach in der Luft, während Hieronymos ein Stück weit rückwärts flatterte und einen kurzen Moment benötigte, um fluchend in seinen Flugrhythmus zurückzufinden. Er fand ihn schnell - furchtbar schnell - wieder. Tabea blickte gehetzt über die Schulter zu ihm zurück, während sie steil und geschwind wie ein Pfeil in die Tiefe schoss. Dreißig Meter, zwanzig, fünfzehn …
Hieronymos holte auf; schon fühlte sie seinen kalten Atem an ihren Fersen. Er schnappte nach ihrem Fuß, aber dieses Mal würde er sie nicht erwischen. Noch einmal schoss sie ein Stück mit aller Kraft hinab - und dann war es auf einmal da, das rettende Licht der ersten Straßenlaterne.
Onkel Hieronymos bremste abrupt ab; nur Zentimeter, ehe er den Lichtkegel der Laterne erreichte, der unweigerlich sein Ende bedeutet hätte. Tabea hingegen nutzte ihre Eigenschaft, bloß ein Vampir zweiter Generation zu sein, gnadenlos zu ihrem Vorteil und suchte zur Sicherheit gleich das Zentrum des Kegels dicht unter der Neonröhre auf. Hektisch auf der Stelle flatternd, blickte sie sich um. Noch immer war sie Dutzende Meter vom Stadion entfernt. Dennoch tobte gleich unter ihr, was sie seit rund einhundert Jahren am allermeisten vermisste: das Leben.
Von allen Seiten schlugen ihr Stimmen und Geräusche entgegen. Der Bass, den der Wind aus dem Stadion hertrug, schien ihre Backenzähne auf und ab hüpfen zu lassen. Unter ihr verlangte eine Horde hitziger Jünglinge lautstark nach einer Frau, die Helga hieß. Über ihr brüllte Hieronymos, den das helle Licht, wäre er ihr hineingefolgt, unweigerlich in seine kleinsten biochemischen Bausteine zerlegt hätte, dass sie gefälligst zurückkommen solle. Aber Tabea dachte überhaupt nicht daran. Noch immer begriff sie den Schmerz als Preis des Lebens, als Pacht für diesen Platz unter der Laterne, der ihr diesen herrlichen Ausblick bot: auf all die unverbrauchten, wohlgeformten Körper, auf die zahllosen lebensfrohen Gesichter, auf diese unschuldigen, neugierigen, oftmals abenteuerlustig funkelnden Augen.
Und dazu solch ein Duft! Tabea roch frisches, gesundes Blut unter warmer Menschenhaut. Parfümierte Haut, verschwitzte Haut, männliche und weibliche Haut. Haut von solchen, die gerade noch ein Bad genommen hatten, und von anderen, die offenbar seit Tagen auf die Reinigungswirkung von Luftfeuchtigkeit vertrauten … Ein jeder roch vollkommen anders als alle anderen, aber ein jeder duftete auf seine spezielle Weise ebenso verführerisch wie der ganze Rest.
»Wenn du jetzt gehst«, donnerte Hieronymos’ Stimme durch das irrsinnige Getöse, »dann gehst du für immer, hörst du?«
Tabea beschloss, später einfach zu behaupten, sie habe ihn nicht verstanden, spannte entschlossen ihre daumennagelgroßen Muskeln und stürzte sich in einer steilen Kurve ins Ungewisse - in das größte Abenteuer ihres Lebens.
Klaus, der sich lieber Lukas nannte, sah seine erwünschten Farben. Mehr als das: Der Wirkstoff in seinem Blut offenbarte seinen weit geöffneten Augen schillernde, miteinander verschmelzende Muster von einer Intensität und Leuchtkraft, die seinen Geist beinahe überforderten, die seine Nerven zu überreizen drohten. So stellte er sich das Sterben vor: Mit einem Schlag, das hatte er einmal gehört, gab das Gehirn alles frei, was sich an Belohnungssubstanzen auftreiben ließ, um dem Dahinscheidenden einen letzten, unvergleichlichen Kick zu verpassen, der seiner Seele den Abschied von dieser trüben, stumpfen Welt erleichterte. Endorphine oder so was. Genau so fühlte sich Lukas, während sein Körper mechanisch neben Achim auf das Stadion zutorkelte. So, als stürbe er. Sterben war schön.
Als die Droge weit genug nachließ, dass er die Welt um sich herum wieder wahrnahm, kotzte der König über die Dorfprinzen von Sattlersteden gerade leidenschaftlich gegen eine Straßenlaterne, und unmittelbar vor Lukas’ Gesicht materialisierte sich eine ganz und gar bezaubernde Nymphe aus dem Nichts. Irgendwo hinter seiner verschwitzten Stirn hob ein fahler Neunmalklug mit Zylinder einen kreidebeschmierten Zeigefinger und belehrte ihn dahingehend, dass Nymphen zum ersten reine Märchenwesen waren und zum zweiten nicht aussahen, als hausten sie für gewöhnlich in einer Gruft. Aber Lukas ließ den kleinen Klugscheißer links liegen. Für ihn war sie eine Nymphe mit ihrem blauschwarzen, seidig glänzenden Haar, der fast weißen, makellosen Haut und ihren weichen, geschwungenen Gesichtszügen. Volle, rote Lippen verhießen intensive, heiße Küsse, und die zu weiten, staubigen Klamotten, die im sommerlich warmen Wind um ihren Körper flatterten, vermochten ihre mädchenhaften und dennoch sehr weiblichen Kurven nicht vor seinen erweiterten Pupillen zu verbergen. Nymphe war ein schönes Wort. Alles, was schön war, passte zu dieser Erscheinung.
Lukas erschrak einen Moment, als ihn der kleine Neunmalklug mit dem erhobenen Zeigefinger höhnisch darauf hinwies, dass er hackenbreit und die Erscheinung demnach möglicherweise tatsächlich bloß eine solche war. Eine Erscheinung, eine Einbildung, eine Fata Morgana mit Werbevertrag bei der Praline oder der Coupé. Immerhin lächelte ihm die Nymphe jetzt zu, und ihr Lächeln war eindeutig so voller lüsterner Gier und Leidenschaft, als wollte sie gleich in einer symbolischen Geste eine Hand heben und den Mittelfinger mit der Zungenspitze massieren. Aber das tat sie nicht.
Stattdessen trat sie dicht an Lukas heran - so dicht, dass er ihren erstaunlich kühlen, aber zweifelsohne realen Atem auf seiner vor Erregung glühenden Haut fühlen konnte. Mit gespreizten Fingern strich sie durch seine Haare und zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich hinab. Sein Reißverschluss bewies höchste Markenqualität, als ihre gierigen Lippen seinen Hals liebkosten. Sie war … Helga.
Dann biss die Nymphe zu.
Unfähig, sich zu regen, als hätte er nicht den ganzen Tag bloß Wodka und Bier, sondern flüssiges Plastilin zu sich genommen, das sich jetzt schlagartig erhärtete, stand er wie zur Salzsäule erstarrt da und registrierte voller hilflosem Entsetzen, wie alle Lebenskraft aus seinem Körper pulsierte. Voller unersättlicher Gier sog ihm die Nymphe das Blut aus der Halsschlagader.
Lukas, der Klaus hieß, starb. Sterben war nicht schön.
Und Tabea sah Farben, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Kapitel 2
Gar nicht so weit weg von alledem und doch in unerreichbarer Ferne blickte der Engel Alvaro mit einem zufriedenen Lächeln auf den Neuen Propheten hinab. Mit einem Anflug von Stolz betrachtete er den Auserkorenen, welchen zu beobachten und gegebenenfalls aus der Patsche zu ziehen seit nunmehr achtzehn Erdenjahren seine ehrenwerte, zumeist durchaus angenehme Aufgabe war. Der Junge hatte sich von einem schmächtigen, bleichen Würmchen mit riesigen, ängstlich in die Welt glupschenden Augen und unbeholfenen Fingerchen zu einem ausstrahlungskräftigen, stattlichen Burschen gemausert. Und er, Alvaro, sein persönlicher Schutzengel, kam nicht um die eitle Erkenntnis herum, maßgeblich an seiner hervorragenden Entwicklung beteiligt gewesen zu sein.
Die ersten Zweifel, ob der Herrgott wohl auf das richtige Pferd gesetzt hatte, waren schnell vom Sturm der Fähigkeiten des Engels hinweggeweht worden - er hatte schon wahrhaft schwierigere Kandidaten betreut. Menschen, deren erklärtes Ziel es gewesen war, den Kommunismus in der Türkei einzuführen, oder solche, die baren Fußes durch Alaska stampften, um den Eskimos und Seerobben eine Abwandlung des Hinduismus zu predigen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Allein der Allmächtige (und vielleicht auch Tamino) wusste, warum um alles in der Welt ausgerechnet die Verrücktesten unter den Irren nur zu oft unter die Obhut eines persönlichen Schutzengels gestellt wurden. Dennoch hatte Alvaro bislang jeden noch so schwierigen Fall gemeistert (abgesehen von der Sache mit dem türkischen Kommunisten - er bemühte sich nach wie vor, das Drama von Anatolien gänzlich aus seinen Erinnerungen zu verdrängen), und der Engel maßte es sich nicht an, nach dem Warum zu fragen. Das war Politik. Damit hatte er nichts am Hut.
Mit diesem Jungen jedoch verhielt sich alles anders. Der Neue Prophet war weder wahnsinnig noch durch einen unglückseligen Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Wie könnte er auch? Der Herrgott hatte ihn von der ersten Zelle an geplant.
Ein Knabe aus ärmlichen Verhältnissen hatte es sein sollen: der Sohn eines Tischlers und einer Jungfrau. Denn ungeachtet der Tatsache, dass bislang bloß ein einziges Seiner Tischlerkinder nachhaltige Erfolge aufzuweisen hatte, pflegte der Allmächtige ein Faible für Tischler und Jungfrauen. Vielleicht war das einfach so eine Macke von Ihm. Oder es hing damit zusammen, dass es keinen Kulturkreis gab, in dem Tischler oder Jungfrauen besonderen Gefahren wie politischer Verfolgung, Ausschluss aus dem gesellschaftlichen System oder Exorzismus ausgesetzt waren. Jedenfalls hatte es unter allen Propheten und Heilsbringern, die Er in den vergangenen viertausend Jahren in der Menschenzivilisation ausgesetzt hatte, bemerkenswert viele Burschen gegeben, die einer solchen Verbindung entstammten. Seine himmlischen Heerscharen also knüpften ohne Diskussionen an diese selten unterbrochene Tradition an und begaben sich auf die Suche.
Es war keine einfache Aufgabe gewesen. Die Zunft der Tischler war eine vom Aussterben bedrohte Art. Die wenigen, die überhaupt noch auffindbar waren, bestritten ihren Lebensunterhalt überwiegend mit dem Zimmern hölzerner Särge, was allgemein als eher unpassend für das angestrebte Ziel empfunden wurde. Die übrigen mussten aus unterschiedlichen persönlichen Gründen ausgeschlossen werden. Alternativ zog man schließlich einen attraktiven jungen Mann heran, der zwar kein echter Tischler war, sich aber allem Anschein nach ausreichend auf dieses Handwerk verstand. Der Späher Salvadore trieb ihn im Lager eines großen Möbelhauses auf: Zusammen mit einigen anderen jungen Männern in gelb-blauen Uniformen war er damit zugange, Berge aus Papier, Latten, Spanholzplatten, Schrauben und Schaumstoff mittels eines einzigen, S-förmigen Werkzeugs in Stühle und andere Kleinmöbel zu verwandeln - was die himmlischen Herrschaften zu respektvollem Staunen veranlasste. Die Mehrheit setzte sich gegen ein paar kleinere Proteste erzkonservativer, zukünftiger Klinkenputzer durch. Und auch der Meister gab der Entscheidung nach einer kurzen Bedenkzeit Seinen Segen.
Selbst Jungfrauen waren in diesen Tagen rar gesät, aber um den Bogen nicht zu überspannen, suchte man mit aller Verbissenheit, bis man sich schließlich auf eine Hauswirtschaftsschülerin einigte, die man bis zu ihrer Volljährigkeit mit abwechselnd kränkelnden Familienangehörigen segnete, damit sie zu beschäftigt war, ihre Unschuld vorzeitig zu verlieren. Das war gewiss nicht die feine Art, hatte aber den wünschenswerten Nebeneffekt, dass sich der Fähigkeitenkatalog der Jungfrau um eine Reihe von Eigenschaften erweiterte, über die eine gute Mutter auf jeden Fall verfügen sollte. Schließlich wollte man den kleinen Heiland in guten, erfahrenen Händen wissen. Als Norman, der eigentlich fürs Bürokratische zuständig war, Tischler und Jungfrau schließlich an einem späten Nachmittag in einem Fahrstuhl der Oberfrankenburger Stadtverwaltung zusammenführte, hätte keine noch so vollgeschissene Windel mehr die Nasenflügel der Hauswirtschaftsschülerin zum Kräuseln gebracht.
Jascha, ihr geflügeltes Technikgenie, manipulierte mit wenigen Handgriffen die Notrufanlage und verschweißte die Spulen des Aufzugs mit den Zugseilen, nachdem sich die Türen hinter den beiden füreinander Bestimmten geschlossen hatten. Noch bevor der Abend hereingebrochen war, waren aller Ärger, alle Angst und die Hilflosigkeit auf den knapp zwei Quadratmetern Fahrstuhl zuerst der Resignation und schon bald darauf flutschigen Freuden gewichen, derer man sich aus der Vogelperspektive höchst zufrieden erfreute.
Neun Monate später gebar die Frau des Tischlers einen etwas mickrigen, aber gesunden Jungen, dem sie den wohlklingenden Rufnamen Lennart zudachte. Und noch am selben Tag war die Entscheidung unter Taminos vergeblichem Protest gefallen: Er, Alvaro, der sich bereits unter größten Mühen als Schutzengel für erstaunliche Persönlichkeiten wie Mutter Theresa sowie den niederländischen Exhotelier und überzeugten Greenpeace-Aktivisten Dirk Richard de Huur profiliert hatte, durfte einen maßgeblichen Teil zum Gelingen des göttlichen Planes beitragen! Da sollte mal einer bescheiden bleiben: Tamino hatte ja keinen Schimmer, wovon er dauernd sprach!
Sein Vorgesetzter stand in diesen Minuten nur wenige Schritte von ihm entfernt und tat, als gäbe es nichts Dringlicheres zu tun, als dem jungen Meo einen weit ausgreifenden Vortrag über den irdisch-ethischen Wert einer Sternschnuppe zu halten. Tatsächlich fand Tamino darin zweifelsohne nur einen weiteren Vorwand, um Alvaro aus messerscharfen Augen zu beobachten und mit spitzen Ohren zu lauschen, ob er nicht etwa ein verräterisches Geräusch von sich gab, das ihn als unbrauchbar für seinen höchst anspruchsvollen Job enttarnte - ein Husten etwa, oder gar ein Niesen. Aber da konnte er warten, bis er schwarz wurde, dachte Alvaro trotzig. Zwar hatte er sich in der Tat schon einmal geräuspert, und ein anderes Mal (ihm schauderte bei der Erinnerung daran) hatte er eine seltsame Spannung im Lendenwirbelbereich verspürt, die erst verschwunden war, nachdem er einige Male mit den Fingernägeln über seine seidenzarte Haut gefahren war. Juckreiz war das Wort, womit die Lehrer im Anatomieunterricht diese Empfindung bezeichneten. Eindeutige Vorboten der allseits gefürchteten Vermenschlichung, ganz gewiss. Aber ungeeignet war er deshalb noch lange nicht. Bloß erfahrener. Er fühlte ein bisschen mit denen, die er bewachte, und das konnte doch nicht so verwerflich sein!
Doch diese Meinung behielt Alvaro lieber für sich, denn der hochgewachsene, himmelskriegsgestählte Tamino hoffte noch immer auf einen Vorwand, unter dem er ihm seinen verantwortungsvollen Posten abknöpfen konnte. Alvaro vermied es ohnehin grundsätzlich, mit ihm zu reden, denn Tamino war einer der wenigen mit direktem Draht zum Herrn. Es war recht anstrengend, sich jedes Wort, das man sagen wollte (und vor allem die möglichen Auswirkungen entsprechenden Wortes auf den weiteren Verlauf der eigenen Karriere), mindestens viermal zu überlegen.
Alvaro blickte von Tamino zurück auf den Neuen Propheten. Dieser hatte inzwischen sämtliche Überlegungen, die ihm heute durch den klugen Kopf gegangen sein mochten, eingestellt und erfreute sich der Privilegien seiner jüngst erreichten Volljährigkeit. Letztere war zwar in diesen Tagen längst keine gesellschaftliche oder gar gesetzmäßige Bedingung mehr, um sich mit Gleichgesinnten in einem Gasthaus zu treffen und sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Aber bisher hatte sich die mühsame Auswahl des Elternhauses ausgezahlt, denn die Jungfrau, die seit achtzehn Jahren und neun Monaten keine mehr war, war durch ihre stetig kränkelnden Familienangehörigen über die Dringlichkeit einer gesunden Lebensweise schmerzlich aufgeklärt worden, so dass der Junge in einem Umfeld militanter Antialkoholiker und Nichtraucher aufgewachsen war. Außerdem pflegte sie unverzüglich in Tränen auszubrechen, sobald ihr Sonnenschein entgegen ihren Vorstellungen von einem Musterknaben handelte, woraufhin die Tischleralternative in der gelb-blauen Uniform die Kontrolle verlor und dem Bengel nach guter alter Schule das Fell über die Ohren zog. Kurz: Der Neue Prophet hatte sich bislang schlicht nicht getraut, auch nur an einer Schnapsflasche zu riechen.
Aber wozu hatte man Freunde?
Während der ersten Stunden der Überraschungsparty, die sein langjähriger Freund Max zu seinem Ehrentag organisiert hatte, hatte der Neue Prophet mit sichtbarem Unwohlsein über ein Glas Wasser gebeugt an einem der zahlreichen Tische gesessen und das laute, feuchtfröhliche Treiben seiner ehemaligen Schulkameraden und der übrigen Gaststättengäste mit teils verlegenen, ab und an gar entsetzten Seitenblicken quittiert. Irgendwann aber war dann dieses dunkelhäutige Mädchen hinzugekommen. Alvaro war sie völlig fremd; einer der Jungen hatte sie mitgebracht. Hübsch war sie: groß, schlank, vollbusig und … leidenschaftlich. Ja, das war das Adjektiv, das ein Mensch wahrscheinlich benutzen würde. Alles, was sie tat oder sagte, war so ausstrahlungskräftig. So sinnlich. Als sie den Propheten zum Gruß in die Arme geschlossen hatte, da war es schon mehr als eine bloße Umarmung gewesen. Genau einen Lidschlag zu lang und einen Deut zu eng. Der Leibeshüter hatte bemerkt, wie dem Propheten die Schamesröte ins Gesicht geschossen war - obgleich er eigentlich vor Jahren dafür gesorgt hatte, dass er sein natürliches Interesse am anderen Geschlecht bis auf weiteres verlor. Aber dieses Mädchen war eine taktisch geschickte, brandheiße Falle. Sie nippte nicht an ihrem Whiskybecher, sie liebkoste das Glas. Und irgendwie war es ihr tatsächlich im Laufe des Abends gelungen, den Propheten dazu zu überreden, ebenfalls ein paar Gläser zu küssen. Außerdem hatte sie nach und nach diverse Kleidungsstücke abgelegt.
Mittlerweile trug sie nur noch ein knappes Hemdchen auf der schwarzen Haut, und einen Rock, für den sie vor ein paar hundert Jahren noch ein feuriges Ende gefunden hätte. Der Alkohol hatte den Knaben von natürlicher Scham und schmerzhaft erlernter Furcht vor Weibsbildern im Allgemeinen befreit und ließ ihn in diesem Moment spielerisch am Hemdchen des Mädchens zupfen, während er dem Kellner mit der anderen Hand seinen leeren Becher zum Umtausch in ein volles Glas reichte und Max ausgelassen Beifall klatschte.
»Er sollte das nicht tun.«
Alvaro schrak zusammen, als Taminos Stimme plötzlich in unmittelbarer Nähe erklang. Er hatte nicht bemerkt, wie der Himmelskrieger seinen Vortrag über astronomische Erscheinungen beendet hatte und zu ihm herangetreten war. Nun ärgerte er sich darüber, dass dieser direkt hinter ihm stand und ihm buchstäblich über die Schulter guckte. Er mochte es nicht, kontrolliert zu werden - von Tamino am allerwenigsten. Aber er ließ sich seinen Groll nicht anmerken, sondern zuckte nur milde lächelnd mit den Achseln.
»Er ist heute achtzehn geworden. Sie zelebrieren das alle so«, erklärte er.
»Er ist aber nicht sie alle«, beharrte Tamino kopfschüttelnd. »Was wäre denn, wenn er vom Hocker kippt und sich das Genick bricht? Oder wenn sie … du weißt schon.« Er deutete naserümpfend in Richtung des Mädchens. »Sie könnte eine schlimme Krankheit über ihn bringen. Oder gar schwanger werden. Dann wäre alles umsonst gewesen. Windeln wechseln, Hausaufgaben kontrollieren, schuften für die Familie, Elternabende und Wochenendausflüge … dazu ist nicht er bestimmt.«
»Dein Vertrauen ehrt mich«, seufzte Alvaro, wobei nun doch ein wenig Ärger in seiner Stimme mitschwang. »Ich habe immer ein Auge auf ihn - selbst wenn er schläft. Und ich weiß, wann ich eingreifen muss und wann ich ihn einfach ein wenig sein lassen kann, was er ist: ein Mensch. Ein sehr junger Mensch, der noch vieles lernen muss.«
»Wollen wir es hoffen«, entgegnete der Himmelskrieger wenig überzeugt. »Obwohl ich zu bezweifeln wage, dass sich in dieser Kaschemme irgendetwas Sinnvolles lernen lässt. Was sind das für Leute?« Sein Blick heftete sich an drei sichtlich betrunkene, breitschultrige Gestalten, die am Tresen um die nächste Runde würfelten.
»Sie gehören nicht dazu«, antwortete Alvaro gezwungen geduldig. Er sandte Meo, der einige Flügelschläge entfernt zurückgeblieben war und offenbar nicht recht etwas mit sich anzufangen wusste, einen hilfesuchenden Seitenblick. »Fremde Russen. Gewöhnliche Alkoholiker, nehme ich an. Gasthausinventar.«
»Gasthausinventar«, wiederholte Tamino verächtlich und schüttelte seine goldblonde Lockenpracht. »Nennt man das so, wenn man im Herzen bereits ein Mensch ist und sich am liebsten dazusetzen würde?«
»Du bist ungerecht!«, fiel Meo ein, der Alvaros stummen Hilfeschrei registriert hatte und ebenfalls an die Schwelle getreten war. Alvaro war ihm dankbar, denn ihm selbst hatte eine Antwort auf der Zunge gelegen, die zwar passte, ihn aber mit hoher Wahrscheinlichkeit unverzüglich seinen Posten gekostet hätte. Als Schutzengel lernte man nämlich im Laufe der Zeit noch ganz andere Begriffe als Gasthausinventar. Außerdem war Taminos Kaschemme auch nicht ganz ohne. »Alvaro hat noch nie einen Fehler gemacht«, fuhr Meo in seinem jugendlichen Mut voller Überzeugung fort. »Er ist der erfahrenste, aufmerksamste, gewissenhafteste -«
»Noch nie?«, fiel Tamino ein und tat, als müsse er sich bemühen, nicht schallend aufzulachen. Aber dann bekam sein Gesicht einen verständnisvollen, nachgiebigen Ausdruck. »Du weißt es nicht besser, Meo. Sicher hat dir Alvaro nichts davon erzählt. Als Ismael in Anatolien gesteinigt wurde, warst du noch nicht auf der Welt.«
»Ismael war vollkommen verrückt. So, wie er sich verhalten hat, hätte er sich auch gleich Hängt mich! auf die Stirn schreiben können. Außerdem habe ich parallel zu ihm ein siamesisches Zwillingspärchen in China betreut«, verteidigte sich Alvaro zwar bestimmt, aber nicht ganz so energisch wie angemessen, denn die Geburtstagsparty des Propheten steuerte offenbar auf ihren Höhepunkt zu. Der Gastwirt hatte die Musik herauf- und das Licht herabgedreht, zwei der Partygäste tanzten mit Billardqueues zwischen den Stühlen umher, die betrunkenen Russen zankten um einen Satz Bierdeckel, und das Mädchen schwang seine verführerischen Hüften im Takt der Musik auf dem Tisch vor dem Propheten. In diesen Sekunden streifte sie ihr letztes Hemdchen ab, und darunter trug sie ein ausgesprochen knapp bemessenes Bustier aus … Zuckerbonbons!
Der Prophet rieb sich ungläubig die Augen, und Alvaro musste sich beherrschen, um nicht ebenso zu reagieren. Trotz aller Disziplin klangen die Stimmen Taminos und Meos auf einmal dumpf und unwirklich, während er den Knaben dabei beobachtete, wie er dazu ansetzte, die regenbogenbunten Perlen vom Busen der Afrikanerin zu knabbern, nachdem er sein Whiskyglas in nur einem, offenbar sehr ermutigenden Zug geleert hatte. Beiläufig registrierte er, wie der Krieger dem jungen Engel einen Arm um die Schultern legte und ihn ein Stück von ihm wegzog, um ihm detailliert und in leicht verschwörerischem Tonfall zu berichten, was Alvaro über den türkischen Kommunisten geflissentlich für sich zu behalten pflegte. Doch das beunruhigte ihn nicht weiter. Meo vergötterte ihn regelrecht. Und er mochte Tamino auch nicht.
Ebenfalls nur am Rande nahm er zur Kenntnis, dass die betrunkenen Russen ihren Zwist schlagartig vergaßen und sich der Reihe nach zu dem Mädchen umwandten; einer stand sogar auf, um sie gänzlich unverhohlen anzustarren, und Alvaro schämte sich ein wenig dafür, den Kerl tatsächlich ein ganz winziges bisschen verstehen zu können. Das war nicht eben tugendhaft, und schon gar nicht erlaubt, aber so war es nun einmal. Wenigstens hatte der Schutzengel dem Russen einen guten Vorwand für seinen intensiven Blick voraus: Er musste auf den Propheten aufpassen. Er durfte gar nicht wegsehen, während der angeschwipste junge Mann ein erregt hartes, tiefschwarzes … Wie war das Wort doch gleich? Nun - wie er irgendetwas freiknabberte jedenfalls.
An der dem Tresen gegenüberliegenden Seite des Raumes schwang die Eingangstür auf. Der Schutzengel vergewisserte sich flüchtig, dass keine potenzielle Gefahrenquelle, sondern lediglich ein gut gelauntes, unpassend ordentlich gekleidetes Pärchen über die Schwelle trat und im Nebel des verqualmten Raumesinneren verblasste. Dann konzentrierte er sich wieder pflichtbewusst auf seinen Schutzbefohlenen.
Nun wuchs der Prophet über sich selbst hinaus und sprang zu der Schwarzen auf den wackeligen Tisch - offenbar war er zu dem Schluss gelangt, dass er eine Menge Zeit und Mühe einsparen konnte und außerdem seinem Zahnarzt entgegenkäme, wenn er einfach die Träger des Bustiers durchbiss. Sie ließ es lachend geschehen und belohnte seinen glorreichen Einfall, indem sie mit gespreizten Fingern durch sein drahtiges, schulterlanges Haar fuhr. Das erste Trägerchen war schnell geschafft, und unter dem begeisterten Gejohle der Gäste kullerten Dutzende lebensmittelechter Perlen über den Tisch und auf den Boden hinab. Von Alkohol, Erfolg und der allgemeinen Ausgelassenheit berauscht, öffnete der Prophet den Mund und beugte sich erneut vor, um das zweite Gummiband zügig zu kappen.
Dann stürzte er plötzlich, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, vornüber vom Tisch, riss das halbnackte Mädchen mit sich zu Boden und begrub es unter anderthalb Zentnern gehegter und gepflegter, auf einmal mir nichts, dir nichts lebloser Körpermasse.
Nun begab sich Folgendes, was einige Zeilen der Beschreibung in Anspruch nehmen wird, tatsächlich aber Inhalt nur weniger Sekunden war: Der Russe, der plötzlich eine offenbar schallgedämpfte Handfeuerwaffe in der Linken hielt, stieß einen ungehörigen Fluch aus und machte einen Satz nach vorn, noch bevor die ersten Schreie einer schnell aufblühenden Massenpanik erklangen. Seine beiden Gefährten (längst nicht so betrunken, wie es anfangs den Anschein gehabt hatte) schwangen sich von ihren Hockern, bewaffneten sich ebenfalls mit halbautomatischen Pistolen, die in den Innentaschen ihrer gepolsterten Lederjacken verborgen gewesen waren, und folgten dem verschwitzten Kerl, der sich - seine Waffe am ausgestreckten Arm vor sich her
Copyright © 2010 by Rebecca Hohlbein Copyright © 2010 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Martina Vogl Herstellung: Helga Schörnig
eISBN 978-3-641-05012-2
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