Hingabe - Martin Scherer - E-Book

Hingabe E-Book

Martin Scherer

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Beschreibung

Immer wieder hören wir heute, dass Leidenschaft, Eros und Intimität im Verschwinden begriffen seien und wir in völlig entromantisierten Zeiten lebten. Der Wunsch nach unverbindlichem Matching habe die Suche nach dem Glück im und mit dem Anderen verdrängt. Martin Scherer lässt sich von solchen Befunden nicht beeindrucken. Stattdessen sucht er nach einem Gegengewicht zur Beliebigkeit unseres spätmodernen Zeitgeistes. Ein fast schon in Vergessenheit geratener Begriff, der für pure Anti-Ökonomie steht, soll ihn dabei leiten: Hingabe. Im Zustand der Hingabe verwandelt der Mensch sich in einen Liebhaber, der sich in einem Anderen verliert, um sich zugleich im bedingungslosen Erleben zurückzugewinnen. Auch wenn wir hier meist vor allem an Erotik denken, lässt sich Hingabe als tätige Verschwendung von Aufmerksamkeit, Zeit und Energie auch anderswo finden. Kunst und Wissenschaft etwa, aber auch die Sammelleidenschaft sind Paradebeispiele dafür. Es bedarf nur dieser einen paradoxen Stärke: für etwas schwach werden zu können.

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Reihe zu Klampen Essay Herausgegeben von Anne Hamilton

Martin Scherer,

1966 in München geboren,studierte Philosophie, Psychologie und Alte Geschichte. Nach der Promotion arbeitete er im Journalismus, unter anderem als Kulturredakteur beim Magazin »Focus«. Von dort wechselte er in die Buchbranche und ist seit 2010 als Verlagsleiter tätig. Zuletzt ist von ihm erschienen »Der Gentleman. Plädoyer für eine Lebenskunst«.

MARTIN SCHERER

Hingabe

Versuch über die Verschwendung

zu KlampenESSAY

Für Malva

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Kassandras toter Winkel

Narren der Liebe

Kraft der Schwäche

Entblößung

Ewigkeit auf Zeit

Literaturhinweise

Prolog

WARUM Hingabe?

Gilt die Frage dem Beweggrund für diese Schrift, so fällt das Antworten noch leicht. Der Reiz des Themas liegt in seiner Herausforderung. Hingabe scheint als Wort vertraut und wohlklingend dazu. Gefühle wie Rührung oder Bewunderung schwingen mit, wenn jemand als hingebungsvoll beschrieben wird. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Sogleich wird klar: Die Hingabe zählt zu jenen bekannten unbekannten Phänomenen, die zwar Assoziationen wecken, sonst aber im Halbdunkel bleiben. Also etwas mehr Licht.

Das Wort mag für manche altmodisch klingen. Zeugnisse von Hingabe jedoch sind keineswegs nur antiquarisch zu beziehen. Die Zeiten für große und folgenschwere Leidenschaften sind wohl nie vorbei. Gewisse Menschen werden immer ihre Passionen kompromisslos ausleben, und wenn es sein muss sogar bis zur Entfremdung von allen Normen und Tabus. Ihrem Temperament folgend haben sie es aufgegeben, unbeschadet in den Verhaltensmustern einer nüchternen und unterkühlten Realität ankommen zu können. Sie leben deshalb in eine andere Richtung.

Zielt die Warum-Frage jedoch auf die Ursachen, welche Hingabe bewirken, dann entsteht fast zwangsläufig eine Verlegenheit. Dieses Phänomen lässt sich sehr wohl beschreiben, aber mitnichten erklären oder herleiten. Da ist kein Schaltplan, der Motive für Gesten und Taten der Hingabe mechanisch und umfänglich abbilden könnte. Überall bleiben Einzelfälle und, ja auch, Rätsel übrig. Sie verlangen nach Beobachtung und Beschreibung statt nach einer wie auch immer methodisch gearteten Analyse. Wenn man von der Hingabe erzählen will, sind Herleitung, Einteilung und Kategorie allenfalls Nebenwerte.

In der Sprache der klassischen Metaphysik könnte die Hingabe als causa sui gelten, als ein Ereignis, welches seinen Grund einzig und allein in sich selbst hat. Ihr geht weder ein äußerlicher Auslöser noch eine Willensentscheidung voraus. Es wird also darauf zu achten sein, wie Hingabe sich zeigt. Auf bewertende Vergleiche sei von vornherein ganz verzichtet: eine stärkere oder schwächere Hingabe wird ebenso wenig zu bemessen sein wie eine Klassifikation jener Objekte, denen sie gilt, Sinn ergibt. Jeder Akt der Hingabe spricht für sich.

Der Rest ist trotzdem nicht Schweigen. Dafür ist die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Menschen, die eine bestimmte Form der Selbstvergessenheit an den Tag legen, einfach zu reizvoll. Und es scheint auch so etwas zu geben wie ein Grundmuster, welches den verschiedenen Spielarten und Ausformungen der Hingabe eingewoben ist.

Hingabe, so wird der Refrain dieses Essays lauten, bedeutet Verschwendung und Selbstentblößung. Mit der Hingabe verwandelt sich der Mensch schlagartig in einen Liebhaber. Die erste Assoziation gilt natürlich der Erotik. Aber Hingabe muss nicht nur geschlechtlich konnotiert sein, ihre Objekte erscheinen ebenso mannigfach wie ihre Ausdrucksformen. Wir sehen Hingabe an einen Partner oder an ein Kind, aber auch an Kunst oder Wissenschaft. Es braucht nur immer diese eine paradoxe Stärke: für etwas schwach werden zu können.

Wer sich hingibt, verschwendet sich. Selbsterhaltung, Stolz, Souveränität, alle diese Ansprüche scheinen dann außer Dienst gestellt. Insofern wagt, wer sich mit dem Phänomen Hingabe beschäftigt, immer auch einen Versuch über die Verschwendung. Dabei darf der Hinweis nicht fehlen, dass dieser Ausdruck eher affirmativ, keineswegs aber kritisch gemeint sein soll. Verschwendung wird im Sinne der Verausgabung, des durchaus charmanten Kontrollverlustes in Sachen Profit und Eigennutz verstanden. Wer jemals fünf Stunden in der Küche stand, um etwas zu erschaffen, was später binnen Minuten von allen Tellern verschwunden sein wird, weiß intuitiv um Glanz und Würde eines langen Vorspiels. Mit der Hingabe nimmt sich der Mensch eine Auszeit vom ökonomischen Bewusstsein – und die Welt kann sich, für Augenblicke wenigstens, von ihrer Verdinglichung erholen.

Tatorte für dieses abweichende Verhalten gibt es offenbar viele. Digitale Suchmaschinen spüren Hingabe als Zauberwort esoterischer Zirkel auf. Aber auch eine Szene, welche körperliche Liebe als mehr oder minder schmerzhaftes Machtspiel praktiziert, scheint diesem Begriff durchaus verbunden. Ein anderes Beispiel führt von den Randgebieten des mehrheitsfähigen Geschmacks in die Mitte des allseits Beliebten. So basieren alle Krimis in gewisser Weise auf dem Prinzip Hingabe. Die Protagonisten, üblicherweise der Detektiv oder das beliebte Duo vom Kommissariat, widmen sich dem einen Fall, riskieren dafür oft und anscheinend auch bereitwillig ihr Leben, geben alles bis in die tiefe Nacht für des Rätsels Lösung, ganz zu schweigen von den Konflikten mit starrsinnigen Vorgesetzten, die nur zu gerne belehren, blockieren und ausbremsen. Eine Mission im Zeitraffer. Leser und Zuschauer lassen sich von dieser Fiktion nur zu gerne faszinieren. Als hätte jeder Polizist diese endlose Zeit ausschließlich für das eine Verbrechen, dem er sich mit Scharfsinn, Geduld und Leidenschaft widmen könnte. Keine Ruhe bis zur endgültigen Auf klärung. Wir ahnen, dass der Alltag multipler Sachbearbeitung im Schichtdienst anders aussehen muss. Aber Hingabe macht jede Geschichte zu einer größeren.

Enzyklopädische Begabungen könnten irgendwann Zeugnisse von Hingabe aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen zusammentragen und zu einer Art Kulturgeschichte der Selbstlosigkeit verarbeiten. Für diese Mammutaufgabe trägt diese kleine Schrift allenfalls das Vorwort zur Präambel bei. Wohl finden sich einige Schlaglichter zurück in die Historie, dazu Fundstücke aus Literatur, Kunst und Film. Das alles aber versteht sich, um noch einmal das Krimi-Genre zu bemühen, nur als erste und hoffentlich auch schon heiße Spur. Es geht um die Rekonstruktion eines mitunter manischen Eigensinns, der jeder kollektiven Identität zuwiderlaufen muss. Sympathisch könnte daran jene arglose Weltfremdheit anmuten, welche sich ganz von ihrer Passion bestimmen lässt und dem meisten anderen gegenüber extrem vergesslich ist. Ohne Zweifel, Hingabe ist abgehoben – vom Gewöhnlichen und Konventionellen ebenso wie vom Zaghaften und Leidenschaftslosen. Sie kann sich auch nicht abnutzen, da sie ohnehin keinem Nutzwert unterliegt.

Um hier schon einigem vorzugreifen und eine kleine Thesen-Kette zu knüpfen: Hingabe bedeutet Absehen von Absicht; sie verlangt Maßlosigkeit bei der Verschwendung von Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit.

Hingabe kann nur transitiv sein. Das wiederum unterscheidet sie von der Liebe, die auch als Selbstliebe sich offenbaren kann. Aber Selbsthingabe? Das wäre absurd.

Hingabe ist keine Befindlichkeit, kein inneres Brodeln, sie ist nur als Tat, als Vollzug beschreibbar. Und sie steht als gar nicht flüchtig erlebter Zustand für das Gegenteil von Schwärmerei, Gefühlsstau oder Ergriffenheit.

Der hingebungsvolle Mensch hält, indem er jegliche Distanz zu seinem Liebesding beseitigt, den Rest der Welt auf Distanz. Hingabe geschieht in einer eigenen Sphäre. Was sie an die Umwelt ausstrahlt, zeugt von reiner Anarchie.

Hingabe bedeutet Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugleich. Ihr geht keine Entscheidung voraus, auch keine Abwägung von Für und Wider. Uns hingebend vergessen und verlieren wir uns vielleicht sogar, aber wir gewinnen uns doch gleichsam als aufgeladenes Erlebnisbündel zurück. Der Mensch in der Hingabe erfährt so etwas wie reine Gegenwart. Die mystische Weltliteratur weiß nur zu gut um diese Epiphanie.

Nur noch ein Wort zur nicht vorhandenen Methode: Die hier praktizierte Art und Weise dieses Thema zu verhandeln, könnte man philosophisch nennen – wenn Philosophie denn heißt, die Dinge gründlicher nicht zu verstehen.

Kassandras toter Winkel

DIE ersten Nachrufe beweisen noch kein Ableben. Das lässt hoffen für die Liebe. Aber auch für all ihre Begleiterscheinungen, Facetten und Spielarten.

Das Theater kennt den Einsatz der Mauerschau. Von oben herab schildert ein Beobachter dramatische Geschehnisse, die dem direkten Sichtfeld des Publikums verborgen bleiben. Oftmals ist es die Drohkulisse einer herannahenden feindlichen Heerschar, die bei den gebannt Lauschenden für Unbehagen sorgen soll. An dieses Stilmittel mag sich erinnert fühlen, wer aktuelle Beschreibungen der Gesellschaft studiert. Es scheinen böse Mächte am Werk, die gerade eine Urfähigkeit des Menschen auslöschen. Unüberhörbar beklagen diverse Zeitkritiken das Verschwinden von Leidenschaft, Eros und Intimität. All das aber sind Beinamen der Liebe, und eben diese soll vom Aussterben bedroht sein. Die Soziologin Eva Illouz, der Publizist Sven Hillenkamp, die Philosophen Peter Trawny und Byung-Chul Han scheinen einig in der Diagnose, die letzterer wie folgt pointiert: »Die vom Können beherrschte Leistungsgesellschaft, in der alles möglich, alles Initiative und Projekt ist, hat keinen Zugang zu Liebe als Verletzung und Passion.«1

Leben wir Heutigen also in Zeiten, die sich von aller Leidenschaftlichkeit entfremdet haben? Reduziert sich die reale Ordnung auf Nutzen, Taktik, Kalkül und Vorteilssucht? Schenkt man den Diagnosen etwa der Genannten Glauben, so erleben wir gerade eine Art psychosoziale Zeitenwende. Unsere Emotionen, eigentlich eine Sphäre verlässlicher Unberechenbarkeit, scheinen plötzlich in den Fängen der Krake Kapitalismus. Lust reimt sich auf Gewinn. Das vormals innerste Bedürfnis, die Suche nach Glück und Erfüllung im Anderen, schrumpft auf die Unverbindlichkeit eines Matching. Das Bett ist nur noch eine Börse.

Für diesen Befund spricht zugegeben einiges. Es scheint, als sei die Liebe tatsächlich nur das Licht eines erloschenen Sterns. Eva Illouz, die wohl bekannteste und einflussreichste Vermesserin der gegenwärtigen Liebeslebensverhältnisse, sieht nicht nur unser Handeln und Bewusstsein den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen, sondern auch unser Sehnen und Fühlen. So luzide ihre Analysen zum Einfluss von Ökonomie und Massenmedien auf die emotionale Biographie ausfallen, so vehement kritisiert sie die manipulativen Absichten hinter den vielfältigen Offerten und Produkten der Psycho-Industrie. Romantik und Begehren waren gestern, heute regiert auf den digitalen Liebes- und Sexualmärkten das freie Spiel von Angebot und Nachfrage.2 Die Zeitgenossen quält dementsprechend die chronische Unsicherheit ob des je eigenen Marktwertes. Kein Werther mehr, nirgends. Stattdessen Bluffer und Profiloptimierer zuhauf. Die Kolumbusfahrt zur großen Liebe fällt wegen kompletter Windstille aus.

In dieses Panorama passen auch bizarre Phänomene auf dem Feld der Partnersuche. Zum Beispiel jene Veranstaltung, die eine der Feingeistigkeit unverdächtige Psychologin ersann und gegenwärtig äußerst erfolgreich in singlereichen Großstädten exerziert. Die Matching-Party basiert auf einer dubiosen Typenlehre. Ein sogenannter extrovertierter, konkreter, organisierter Fühlentscheider etwa erhält einen Button in einer bestimmten Farbe, um dann Ausschau nach einer gleichfarbig geschmückten Maid zu halten. Das Axiom dahinter, so lässt die Veranstalterin wissen, lautet: Jeder ist beziehungsfähig, am besten allerdings mit so ähnlich wie nur möglich strukturierten Menschen.

Als wäre irgendwer nicht trostloser als niemand.

Nichts könnte, was Denkgewohnheiten anbelangt, verräterischer sein als die Sprache. Allein das Wort Beziehung, aus dem Begriffsbaukasten des Funktionalismus stammend, leugnet jede Passion, ignoriert jede Tragik und schockfrostet mit seiner schnoddrigen Kälte. Beziehungen hat man, führt man, beendet man. Es passt oder eben nicht. Diese Redensart scheint symptomatisch für das »Zeitalter der allgemeinen Ernüchterung« (Peter Trawny). Dem gegenseitigen Taxieren scheinen immer weniger Grenzen gesetzt. Künftig könnte sich das Matching sogar im Genlabor abspielen, sollte irgendwann die Qualität bestimmter Erbanlagen transparent und zur gegenseitigen Begutachtung vorliegen. Besonders Risikoscheue unter den Beziehungswilligen dürften dankbar das biologische Apriori potentieller Partner einfordern.

Apropos Ernüchterung: Gibt es ein markanteres Indiz für den Mangel an Sinnlichkeit als die permanente Rede in der ersten Person? Die Ich-Form des Bewertens, Bekennens und Bekundens verrät etwas Wesentliches im gegenwärtig dominanten Sprachspiel. Es scheint, als gäbe der Geschmack den Geist auf. Einen gebildeten Menschen, aber auch einen erotisch anspruchsvollen wird man immer daran erkennen, dass er das Wort Ich tunlichst vermeidet. Ebenso wird er wenigstens ein kurzes Unbehagen empfinden, wenn er wieder einmal Sie lieben sich anstatt des grammatikalisch korrekten Sie lieben einander