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Die Visualisierung von Gehirnprozessen hat in der Geschichte der Hirnforschung regelmäßig große Erwartungen geweckt. Cornelius Borck stellt mit der Registrierung elektrischer Hirnströme eine Aufzeichnungstechnik ins Zentrum seiner Untersuchung, mit der sich seinerzeit die Hoffnung verknüpfte, das Gehirn in seiner eigenen Sprache schreiben zu lassen und so seine Funktionsweise lesbar zu machen. Er verfolgt die vielfach widersprüchlichen Deutungen zur Elektroenzephalographie von den Versuchen des deutschen Psychiaters Hans Berger und seiner Veröffentlichung eines menschlichen EEG im Jahr 1929 bis zu ihrer internationalen Ausbreitung und Konsolidierung als klinische Diagnosemethode in der Mitte des 20sten Jahrhunderts. Borcks These lautet, daß die Schrift des Gehirns in lokalen Forschungskulturen je spezifische Konturen annahm, aus deren Widerstreit ein neues wissenschaftliches Objekt, das elektrische Gehirn hervortrat. Wenn sich in Borcks Analyse Differenzen und Divergenzen in der Hirnforschung als Effekte lokaler Interaktionen verschiedener Akteure erschließen, liefert er damit zugleich einen Beleg für die kulturelle Formbarkeit des Gehirns. Das elektrische Gehirn ist in einem historisch präzisierbaren Sinne erst das Produkt seiner elektrotechnischen Erforschung. Das Wissen vom Gehirn und Theorien über dessen Funktionieren sind von den Maschinen geprägt, denen sich dieses Wissen verdankt. Es stellt sich deshalb vielmehr die Frage, was sich eigentlich darin manifestiert, daß sich die erhobenen EEG-Befunde immer wieder den vorgelegten Theorien und Deutungen entzogen.
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Seitenzahl: 581
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»Wissenschaftsgeschichte«herausgegeben vonMichael Hagner und Hans-Jörg Rheinberger
Cornelius Borck
Eine Kulturgeschichteder Elektroenzephalographie
Gedruckt mit Unterstützungdurch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
ELEKTRISIERENDE HIRNBILDER
HANS BERGERS LANGER WEG ZUM EEG
Strom im Kopf
Forschungsstrategien eines konservativen Psychiaters
Das Maß der Psychischen Energie
Die Spur zum Strom
Verstärkte Schwankungen
Artefakte und Störungen
Einladung nach Stockholm
ELEKTROTECHNIKEN DES SEELENLEBENS
Kulturströme 1918-1933
Der Bioingenieur und die Psychodiagnostik
Nerven-Apparate und psychische Schaltkreise
Gedankenstrahlen und Radio-Telepathie
Konfigurationen der Elektrotherapie im Radiozeitalter
Die neusachliche Poesie der Hirnschrift
Die Experimentalisierung des Alltagslebens
TERRA NOVA: KONTEXTE ELEKTROENZEPHALOGRAPHISCHER EXPLORATIONEN
Epistemische Resonanzen und materiale Kulturen
Bergers weitere Fahrt durch die Hirnwellen
Lokaltermin in Berlin-Buch
Anerkennung mit britischem Understatement
Der Sprung über den Teich
Die Matrix der Ströme
VORWÄRTS UND VIEL VERMESSEN!
Zur kulturellen Praxis einer neuen Technik
Dynamiken der Standardisierung
Ein diagnostisches Panoptikum
Im Bann des Schocks
Das elektrische Gehirn in Auschwitz
BAUEN BASTELN DENKEN
Was verbirgt das EEG?
Die schnellen Schwingungen des Denkens
Das Konzert der Hirnströme
Höhenflüge eines deutschen Physiologen
Das Gehirn als kybernetische Maschine
Hirntheorien aus dem Modellbaukasten
PLÄDOYER FÜR EINE OFFENE EPISTEMOLOGIE
Literatur
Abbildungsnachweise
Dank
Personenregister
»Dunkelkammer der Psychiatrischen Klinik in Jena. Doppeltüren schließen den Raum schalldicht von der Umwelt ab. Eine bahnbrechende Entdeckung soll ausprobiert werden, die Professor Dr. Hans Berger, dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, gelungen ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung der Gedanken in Gestalt einer Zickzack-Kurve, um die elektrische Schrift des Menschenhirns.«1 Die Kurve der Hirnströme, die Registrierung der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns im Elektroenzephalogramm, war eine Sensation. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hatte eine Technik von geradezu wunderbaren Eigenschaften möglich gemacht. Dabei handelte es sich weder um eine Erfindung zur Erleichterung des Alltagslebens noch um ein neues Unterhaltungsmedium, nicht einmal ein medizinischer Nutzen war absehbar. Vielmehr versprach die Technik wissenschaftliche Aufklärung über einen ganz besonderen Aspekt des menschlichen Lebens: das Denken. »Man vergegenwärtige sich: ein Mensch sitzt über einer Rechenaufgabe; Drähte führen von seinem Gehirn in einen anderen Raum zu einem Registrierapparat. Hier sieht man nichts weiter als das Zickzack, das ein Zeiger auf einem Papierstreifen aufzeichnet, und doch weiß man genau, wann der Mann im Nebenzimmer zu rechnen begonnen hat, ob ihn die Arbeit sehr anstrengt und wann er mit der Rechnung zu Ende ist.« Das buchstäblich fantastische Potential der Erfindung, die 1930 offenbar gut zum zeitgenössischen Erwartungshorizont paßte, lud zu einander überbietenden Spekulationen ein: »Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben.« Im Moment der Erstbeschreibung zirkulierten die Zacken der Kurve als »Geheimzeichen« einer neuen Sprache, deren Entschlüsselung unmittelbar bevorzustehen schien – mit weitreichenden Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen.
Diese Vision ist nicht in Erfüllung gegangen. Hans Berger dürfte einer der ganz wenigen gewesen sein, die bisher einen Hirnstrombrief bekommen haben. Zu Weihnachten 1938 sandte ihm sein amerikanischer Kollege Herbert H. Jasper eine solche Nachricht. Auch ein in der Elektroenzephalographie nur wenig geübter Empfänger konnte in diesem seltenen Beispiel lesen, wie das Gehirn des Absenders zunächst vergleichsweise langsame Wellen produzierte, sich also wohl in einem Ruhezustand befand, bevor eine kurze Phase kleinerer Schwankungen in der zweiten Linie eine deutliche Aktivierung verriet, aus der sich deutlich lesbare Zeichen formten, bis schließlich in der letzten Zeile aus den Aktivierungswellen wieder langsamere Schwingungen wurden. (Abb. 1) Bergers Hirnstromkurven waren 1930 zwar als »elektrische Schrift« gefeiert worden, aber diesen geradlinigen Weg einer Einschreibung von Sinngehalten in die Zackenmuster hat die Arbeit an den Kurven offenbar nicht genommen. Überhaupt sollte es einige Zeit dauern, bis sich Bergers wissenschaftliche Kollegen ernsthaft für die Hirnströme und die neue Methode ihrer Registrierung zu interessieren begannen. Die bisweilen recht fantastischen Zeitungsberichte hatten bei kritischen Lesern sicher eher Skepsis ausgelöst, zumal sich ähnliche Sensationsberichte bisher immer als Scharlatanerie herausgestellt hatten. Selbstverständlich wußte man um die zentrale Rolle von elektrischem Strom in der Funktionsweise des Nervensystems seit den großen Erfolgen der Elektrophysiologie im 19. Jahrhundert. Aber gerade in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg hatte sich die Neurophysiologie darauf verlegt, immer präziser die elektrische Aktivität einzelner Nervenfasern und Nervenzellen zu charakterisieren. Welchen Sinn sollte es da machen, von Tausenden von Nervenzellen im Gehirn des Menschen eine Kurve ihrer Gesamtaktivität zu schreiben, zumal doch jedem Hirnareal eine ganz spezifische Funktion zuzusprechen war? Wenn Berger in seinen Veröffentlichungen schon selbst von Schwierigkeiten und Störungen schrieb, lag es viel näher, die ganze Sache für ein Artefakt zu halten.
Damit aus den Hirnströmen ein Gegenstand wissenschaftlicher Experimente werden konnte, mußten sie im Ausgang von vorhandenen Forschungskulturen anschlußfähig gemacht werden. Hier brachte die Bestätigung von Bergers Befunden durch den englischen Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian 1934 den Durchbruch. Das Elektroenzephalogramm (EEG), die Kurve der Hirnströme, wurde zur wissenschaftlich anerkannten Tatsache.2 Von diesem Moment an begannen EEG-Kurven und Hirnströme eine Reihe ernster Fragen zu stellen, einerseits gerade weil sie schlecht zum Wissen über die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen paßten, andererseits weil die Kurvenmuster eine auffällige Korrelation zu psychischen Prozessen zeigten. Vor allem in Amerika spezialisierten sich rasch etliche Forschungsgruppen auf die neue Methode und produzierten als »brain-wave factories« EEG-Registrierungen am laufenden Meter. Als wenig später auch noch eindeutig pathologische Kurvenmuster gefunden wurden, mit denen sich eine Reihe von Hirnerkrankungen mit bis dahin nicht gekannter Präzision diagnostizieren ließen, steigerte dies die Anwendung der neuen Methode weiter. Aber je mehr Kurven geschrieben wurden, je länger an der Entzifferung der Zacken im EEG gearbeitet wurde, um so hartnäckiger widersetzten sie sich einer Dechiffrierung und Einpassung in physiologische oder psychologische Theorien.
Abb. 1: Grußkarte in Hirnschrift von Herbert H. Jasper an Hans Berger zu Neujahr 1938.
Die Geschichte der Hirnströme stellt sich vielmehr als eine Abfolge weitgehend frustraner Versuche ihrer Entzifferung dar. Berger scheiterte an dem Versuch, spezielle Zeichen geistiger Arbeit dingfest zu machen. Die Kartographie der »Eigenströme« einzelner Hirnrindenareale am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch war nur so lange ein stabiles Projekt, wie sie sich strikt entlang des cytoarchitektonischen Forschungsprogramms von Oskar Vogt orientierte. Als Adrian mit dem EEG im Gehirn so idiosynkratische Rhythmen fand, daß sie die etablierten Theorien der Neurophysiologie zu unterminieren drohten, wechselte er vorsichtshalber wieder das Forschungsfeld. Jasper manövrierte sein Experimentalsystem, das eben noch schöne Weihnachtsgrüße generiert hatte, bei dem Versuch in eine Sackgasse, die Kurven und Zacken des EEG exakt an elektrophysikalischen und zellulären Prozessen auszurichten. Grey Walter hoffte, mit immer raffinierteren Visualisierungstechniken der Komplexität des EEG beizukommen, und landete statt beim elektrischen Gehirncode im Maschinenpark. Nach Ende des 2. Weltkriegs bündelte die Kybernetik für einige Jahre die Arbeit am EEG, und es schien, als gelinge mit der Konstruktion elektrischer Gehirne und psychischer Automaten ein Durchbruch. Dennoch blieben die neurophysiologische Genese und die psychophysiologische Bedeutung der Hirnströme, die das EEG so regelmäßig aufzeichnete, weiterhin umstritten.
Heute wird kaum noch im konventionellen EEG, wie es Berger der Öffentlichkeit vorgestellt hat, nach einem Schlüssel zur Funktionsweise des Gehirns gesucht. Die »decade of the brain«, das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, forcierte einen schon bestehenden Trend zu anderen Visualisierungsstrategien. Computer mit immer besseren Rechenleistungen konnten nun nicht nur menschliche Schachweltmeister bezwingen, sie filterten auch einzelne Zwischenschritte spezifischer Signalverarbeitungsprozesse aus den EEG-Kurven heraus. Die Neurophysiologie stieß mit der Identifizierung von Schleusenmechanismen an einzelnen Ionenkanälen immer tiefer in molekulare Dimensionen vor. Ihre größten Triumphe feierte die Hirnforschung in diesen Jahren sicher mit der Wiederbelebung von zwischenzeitlich längst für überholt erklärten morphologisch-topographischen Modellen. Neue Visualisierungstechniken konstruierten Bilder vom »Geist bei der Arbeit«,3 in denen die funktionell aktiven Areale des Gehirns nicht mehr Kurven schrieben, sondern als Aktivitätszonen aufleuchteten. Die Abkehr vom Paradigma der elektrischen Hirnschrift und das Revival der Lokalisationslehre schlugen sich auch in der Namenspolitik der Fachgesellschaften und Kongresse nieder, die in diesem Jahrzehnt ihren Gründungsnamen EEG fortfallen ließen, um den Anschluß an aktuellere Forschungsrichtungen nicht zu verlieren.4 Der zumeist gewählte neue Titel »Klinische Neurophysiologie« dokumentierte mehr als nur die gewachsene Distanz zur Grundlagenforschung. Die Absage an das EEG oder die Elektroenzephalographie sollte die alte Kurvenschreiberei in einen umfassenden Zusammenhang interdisziplinärer Forschungsmethoden aufgehen lassen, zugleich aber stutzte sie insgeheim die Erwartungen, die sich an ein solches Unterfangen legitimerweise stellen ließen: Heute wird vom Gehirn des Menschen keine Schrift aufgezeichnet; es gibt hier keine Aussicht mehr auf eine authentische Schrift, sondern nur noch Physiologie. Die Änderung des Namens dokumentiert so etwas wie die Rücknahme eines ungedeckten Wechsels, der lange auf das Versprechen der Elektroenzephalographie gezogen wurde, hier werde mit technisch objektiven Mitteln das Geheimnis der Seele entschlüsselt.
Damit ist das EEG beinahe ein historisch abgeschlossener Forschungsgegenstand geworden, auch wenn es nach wie vor ein Standardverfahren der neurologischen Diagnostik bleibt. Selbstverständlich gehen Forschungen zum EEG weiter, aber etwas hat aufgehört, das sich nicht leicht umreißen läßt. Diese Leerstelle ist vielleicht die kürzeste Formel für den Gegenstand dieser Arbeit. Die am Leitfaden der Entwicklung der Elektroenzephalographie konstruierte Geschichte der Hirnströme lokalisiert die »Aufschreibesysteme« (Friedrich Kittler) der elektrischen Hirnschrift in ihrem jeweiligen materialen Kontext, um die Dynamiken und die Effekte dieser Forschungen im Wechselspiel von Naturforschung und kulturell determinierter Wissensproduktion freizulegen. Hirnforschung als naturwissenschaftliche Selbstaufklärung des Menschen mag zwar in ihrer Geschichte oft naturwüchsig verlaufen sein, ist selbst aber kein naturgegebener Prozeß. Erst in einem komplexen Geflecht von Vorannahmen, tastenden Vorversuchen und Justierungen der Experimentalanordnungen materialisierten sich Hirnströme zu EEG-Kurven. Nur in einem weitgespannten Netz von technischen Voraussetzungen, apparativen Zurichtungen und parallelen Modellierungen entstanden die Knotenpunkte, an denen das EEG zu einem »epistemischen Ding« (Hans-Jörg Rheinberger) wurde, das plausible und handhabbare Fragen stellte. Die Arbeit an den Kurven schließlich generierte Phänomene, die um das EEG einen Wissensraum kristallisieren ließen, der neue Effekte bewirkte. Die vorliegende Kulturgeschichte des EEG zielt auf eine präzise Analyse der Form- und Adaptierbarkeit eines elektrotechnischen Aufzeichnungsverfahrens in lokalen Forschungskontexten, auf das dort produzierte Wissen und dessen Effekte.
Eine Rekonstruktion dieser Formierungsprozesse kann so die historische Bedingtheit eines scheinbar naturgegebenen wissenschaftlichen Objekts hervortreten lassen. Das EEG formte die Hirnströme zu einem elektrischen Gehirn, das nur zum Teil mit den Forschungsgegenständen anderer Zweige der Hirnforschung in Deckung zu bringen war. Ein wichtiges Merkmal des elektrischen Gehirns war seine Mittel- und Mittlerposition zwischen anatomischen Befunden und psychologischen Beobachtungen. Im Unterschied zur neuroanatomischen, elektrophysiologischen und psychologischen Forschung ließ sich mit der Elektroenzephalographie das Gehirn »bei der Arbeit« beobachten. Schon die Versuchsanordnung schien zu garantieren, im EEG mentale und psychische Phänomene am Ort des Geschehens studieren zu können, und damit setzte die Elektroenzephalographie die Vermittlung zwischen Gehirn und Geist in neuer Weise auf die Agenda der Forschung. Einer der Gründe für die über Jahrzehnte fortwirkende Produktivität des EEG, ohne daß dabei ein Konsens über die Funktionsweise des elektrischen Gehirns erzielt wurde, liegt vermutlich in der technischen Verschaltung von Gehirn, Geist und Maschine, womit der technische Fortschritt gleichsam in diese Wissenschaft eingebaut wurde. In immer weiteren Rückkopplungsschleifen stimulierte das EEG die Suche nach technischen Modellen, die umgekehrt dieser Forschung neue Impulse verliehen. Von den ersten Elektronengehirnen bis zur Konstruktion von brain-computer-interfaces weist die Geschichte des elektrischen Gehirns über die hier untersuchte Periode elektroenzephalographischer Forschungen hinaus.
Die Elektroenzephalographie ist ein Fallbeispiel für die komplexe Geschichte von Visualisierungsverfahren in der Hirnforschung. Die Untersuchung des Einflusses von Visualisierungs- und Meßtechniken auf die Entwicklung der Biowissenschaften ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Arbeitsgebiet in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte geworden.5 In zahlreichen Fallstudien ist gezeigt worden, wie neue experimentelle und instrumentelle Praktiken in spezifischen soziokulturellen Kontexten entstanden und wie diese lokalen Kulturen z.B. über die Festlegung von Darstellungs- und Interpretationskonventionen entscheidend auf die Formung und Stabilisierung neuer wissenschaftlicher Objekte eingewirkt haben. Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens – seien sie bildliche Darstellungen oder Theorien – tragen demnach nicht nur äußerlich die Spuren ihrer Genese; sie sind selbst Zeugnisse und Produkte ihrer Entstehungskontexte. Diese Kontexte wissenschaftlicher Entwicklungen, wie z.B. neuer Aufzeichnungsverfahren, sind zudem epistemologisch relevant: Ein wesentlicher Teil von Wirklichkeit und Geltung wissenschaftlicher Theorien und Objekte erklärt sich aus ihrer Geschichte.
Nach Eduard Dijksterhuis bildet die Geschichte der Wissenschaften nicht nur deren Gedächtnis, sondern ihr epistemologisches Labor.6 Dijksterhuis zielte auf eine Rehabilitierung des context of discovery gegenüber dem von der Wissenschaftsphilosophie ins Zentrum gestellten context of justification (Hans Reichenbach). Nur die detaillierte Analyse des Forschungsprozesses in seinem historischen Kontext erlaube Aufschluß über die Operationsweise wissenschaftlicher Rationalität. Science in the making ist längst zum zentralen Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte in ihren verschiedenen thematischen und methodologischen Ausrichtungen avanciert. In diesem Sinne begreift diese Studie die elektrotechnische Exploration von Gehirn und Psyche als Ort, an dem aus Hirnströmen ein elektrisches Gehirn geformt wurde. Als historische Epistemologie dieser Forschungen muß sie sich mit dem epistemologischen Programm der Fachwissenschaft selbst ins Verhältnis setzen, stellt doch die Hirnforschung bereits ihrem eigenen Anspruch nach ein epistemologisches Labor dar. Schon im 19. Jahrhundert arbeiteten Neuroanatomie und Neurophysiologie an einer Naturalisierung des Kantischen Apriori und reklamierten weitreichende philosophische Implikationen für ihre Forschung, weil sie die biologischen Bedingungen menschlichen Denkens und Handelns entschlüssele. In den 1940er Jahren prägte Warren S. McCulloch für seine Variante dieses Projekts den griffigen Terminus »experimentelle Epistemologie«.7 McCullochs experimentelle Epistemologie zielte darauf, mit einer Kombination von Elektroenzephalographie, Neurophysiologie, Neuroanatomie und mathematischer Logik menschliches Denken und Handeln empirisch-experimentell aufzuklären. Das Projekt konnte der Elektroenzephalographie allerdings nicht die Rolle einer leading science für die Nachkriegszeit sichern. Es blieb nur so lange attraktiv, wie die Kybernetik die aufgerufenen Wissenschaften zusammenhalten konnte. Fünfzig Jahre später hat sich heute eine neue Allianz von Kognitionswissenschaft, Philosophie des Geistes und Neurowissenschaften herausgebildet, die sich anschickt, mit dem Programm einer Naturalisierung des Geistes zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts zu werden.8 Neurophysiologische Beschreibungen der Korrelate mentaler Phänomene sollen so ausdifferenziert werden, daß sie den Status philosophisch hinreichender Erklärungen erlangen. Durchaus im Sinne von McCullochs experimenteller Epistemologie würde damit aus der Physiologie menschlicher Hirnfunktionen eine neue Mechanik des Geisteslebens, die »in den Gesetzen der Welt die Gesetze des Denkens wiederfände«.9 Eine solche Aufklärung des menschlichen Geistes über sich selbst markierte dann allerdings einen »epistemischen Bruch«, mit dem die von Gaston Bachelard unter diesem Begriff subsumierte historische Relativität wissenschaftlicher Theorien wieder zurückgenommen wäre.
Demgegenüber insistiert diese Studie auf der Unhintergehbarkeit von Geschichte im epistemologischen Labor der Hirnforschung, operiert es doch nicht nur notwendigerweise in der historischen Zeit, sondern ist selbst ein Produkt der Geschichte. Hirnforschung mag faszinierende wissenschaftliche Objekte und Theorien nach dem neuzeitlichen Modell naturwissenschaftlicher Objektivität ohne historisch indizierten Geltungsanspruch produzieren, aber über die Annahme oder Ablehnung ihrer Hintergrundtheorien entscheiden immer noch eine Vielzahl von Faktoren außerhalb des neurowissenschaftlichen Labors.10 An diesem Spannungsverhältnis setzt Canguilhems historische Epistemologie an, wenn sie die Historizität wissenschaftlicher Rationalität selbst in den Blick nimmt:
Das Wort »Epistemologie« bezeichnet heute die Hinterlassenschaft, um nicht zu sagen den Restbestand, jenes traditionellen Zweigs der Philosophie, den die Erkenntnistheorie darstellte. Seit die Beziehungen der Erkenntnis zu ihren Gegenständen immer stärker durch die wissenschaftlichen Methoden demonstriert wurden, hat die Epistemologie mit den philosophischen Voraussetzungen gebrochen und sich neu definiert, hat sie die Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht länger aus den apriorischen Verstandeskategorien abgeleitet, sondern aus der Geschichte der siegreichen Rationalität gewonnen.11
Eine historische Epistemologie, die in dieser Weise die erkenntniskritische Philosophie beerbt, bestimmt zugleich neu, in welcher Weise die Geschichte der Wissenschaften deren epistemologisches Labor ist. Denn die »Geschichte der siegreichen Rationalität« ist keine Abfolge immer perfekterer Theorien über die Welt am Maßstab einer zeitlosen Objektivität. Gerade die sciences studies haben aufgezeigt, wie Wissenschaftsentwicklung in lokale Forschungskulturen eingebettet, medial vermittelt und von vielfältigen Rationalitäten durchkreuzt wurde.12 In dieser Perspektive sind die Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften nicht weniger wahr als ihrem eigenen Erklärungsanspruch nach, aber der Geltungsanspruch der neurowissenschaftlichen, experimentellen Epistemologie wird selbst als Ergebnis bestimmter Entwicklungslinien der Hirnforschung lesbar. In diesem Sinne will die Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie durchaus die erkenntniskritischen Implikationen einer historischen Epistemologie der Hirnströme freilegen. Damit zielt sie nicht auf eine Kritik der Neurowissenschaften am Maßstab eines alternativen Modells vom Gehirn, wohl aber auf eine Kritik am hegemonialen Diskurs der Neurowissenschaften. Während Hirnforscher gelegentlich darüber sinnieren, ob das Gehirn überhaupt in der Lage sein kann, sich selbst zu entschlüsseln, weil es dazu doch vermutlich eines noch komplexeren Systems bedürfte, vertraut diese Studie darauf, daß der kulturelle Kontext der Hirnforschung immer schon reicher ist als alle darin generierten Hirntheorien und Gehirnmodelle.
Das Gehirn ist in den vergangenen zwei Jahrhunderten zu einem zentralen Ort wissenschaftlicher Selbstbefragung des Menschen avanciert. Diese Studie untersucht die Entwicklung und Verbreitung von Verfahren zur Registrierung der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht dabei die doppelte Frage, wie hier Wissen über das Gehirn produziert wurde und welche Effekte die Antworten, Konzepte und neuen Fragen dieser Forschungsrichtung zeitigten. Die wichtigsten Personen und Stationen aus der Geschichte der Elektroenzephalographie bilden bis heute den festen Bestandteil eines disziplinären Gedächtnisses. Aber eine Geschichte des hier produzierten Wissens steht aus.13 Wie kam es, daß ausgerechnet ein deutscher Psychiater das erste EEG veröffentlichte, und in welcher Relation stand es zur zeitgenössischen Faszination über die geheimnisvollen Wirkungen neuer Medientechniken? In welchen Koalitionen und in welcher Konstellation konnte aus Bergers Beobachtung der Hirnströme einer der aktivsten Bereiche der Hirnforschung der Jahrhundertmitte resultieren? Wie griff die Konstituierung von »normalen« bzw. »pathologischen« Kurvenmustern in bestehende Wissensordnungen vom Menschen ein? In welcher Weise hat das elektrische Gehirn schließlich zur gegenwärtigen Konjunktur der Neurowissenschaften beigetragen bzw. deren Forschungsrichtungen mitgeprägt?
Die Untersuchung setzt mit einer detaillierten Rekonstruktion des Experimentalsystems14 in Jena ein (Hans Bergers langer Weg zum EEG). Bergers Veröffentlichung des EEG war 1929 weder das Produkt einer zufälligen Entdeckung noch Ergebnis eines geradlinig zum Erfolg geführten Forschungsprogramms zu Hirnströmen. Vielmehr stand sie im Kontext von Bergers jahrzehntelangem Bemühen, psychische Prozesse mit physiologischen Methoden nachzuweisen. Seit der Jahrhundertwende hatte er immer wieder Versuche zum Nachweis der von ihm vermuteten »Rindenströme« unternommen, wenn die Arbeit mit anderen Verfahren wie der Gehirnvolumenregistrierung oder der intracerebralen Thermometrie nicht zum erhofften Nachweis einer speziellen »psychischen Energie« geführt hatte. Berger ging dabei von philosophischen Überlegungen und psychophysiologischen Fragen aus, die im wesentlichen von der Hirnforschung des 19. Jahrhunderts bestimmt waren. Die mikrohistorische Analyse dieses Experimentalsystems zeigt, wie Bergers Forschungsprogramm in einem komplexen und mühseligen Formungsprozeß erst allmählich an die Phänomene, die sich mit einer elektroenzephalographischen Versuchsanordnung registrieren ließen, angepaßt werden mußte. In gewisser Hinsicht erreichte Berger mit dem EEG zwar den erstrebten Ruhm, aber nicht das Ziel seiner Forschungen, denn auch das EEG war – trotz seiner auffälligen psychophysiologischen Regelmäßigkeiten – nicht der gesuchte Detektor für psychische Energie. Es lag in der Konsequenz dieser Ernüchterung, daß Berger an seinem Lebensende neue Forschungsprojekte am Rande der Neurowissenschaften konzipierte.
Die besondere Faszination der EEG-Forschungen wird nur vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen zum Verhältnis von Gehirn und Elektrizität plausibel. Bergers fast solipsistisch zu nennende Arbeit an Hirnströmen kontrastierte mit einem vielgestaltigen Kontext öffentlicher Auseinandersetzungen über die Beziehungen zwischen Elektrizität und Psyche, in die sie bei aller Abschottung dennoch eingebettet war (Elektrotechniken des Seelenlebens). Das Interesse, das Berger mit der Veröffentlichung seiner Kurven fand, ist deswegen nicht nur rezeptionshistorisch bedeutsam. Hinter der Begeisterung für Bergers Apparat scheint eine Partizipation der Öffentlichkeit an wissenschaftlichen Diskursen auf, die entscheidend zur Beobachtung von Hirnströmen beitrug, aber in der Wissenschaftsgeschichte mit ihrem Fokus auf akademischer Forschung oft vernachlässigt wird. Eine genauere Analyse der zeitgenössischen Repräsentationsmethoden des Psychischen, der Modellierungen des psychischen Apparats als elektrischer Maschine, der Projekte einer gezielten elektrischen Manipulation des Menschen und der Spekulationen über elektrische Kommunikation von Gehirn zu Gehirn, läßt darauf aufmerksam werden, wie das elektrische Gehirn zuerst im öffentlichen Raum in Möglichkeitsform Gestalt annahm. Bevor die elektrische Aktivität des Gehirns graphisch registriert und wissenschaftlich analysiert wurde, war das Gehirn längst als eine elektrotechnische Anlage konzeptualisiert und repräsentiert worden. In einer Kulturgeschichte der Hirnströme tritt damit der öffentliche Raum selbst als eine Art Labor hervor, in dem Konzepte zur Gehirnelektrizität vorgebracht, diskutiert und evaluiert wurden.
Die Elektroenzephalographie ist neben der universitären Neurophysiologie entstanden. Die mit der Röhrentechnik seit Ende des 1. Weltkriegs deutlich verbesserten technischen Möglichkeiten zur Registrierung kleinster bioelektrischer Signale hätten der Neurophysiologie ohne weiteres auch die Aufzeichnung eines EEG erlaubt. Aber sie lag nicht »in der Luft« als quasi natürliche Erweiterung und Übertragung vorhandener neurophysiologischer Experimentalstrategien auf das Gehirn. Damit Hirnströme zum Gegenstand der Hirnforschung werden konnten, mußte das EEG, das im Jenenser Labor entstanden war, zunächst anschlußfähig an bereits bestehende Forschungskontexte gemacht werden (Terra nova: Kontexte elektroenzephalographischer Explorationen). Das gilt für alle Orte, an denen begonnen wurde, zum EEG zu arbeiten, wenngleich in je spezifischer Weise, im Anschluß an lokale Forschungsprogramme. Für den jungen Physiologen Alois Kornmüller, der am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch als erster Bergers Forschungen aufgriff, dabei aber der lokalisierenden cytoarchitektonischen Hirnforschung Oskar Vogts verpflichtet war, schien eine einheitliche Kurve der Gehirnaktivität, wie Berger sie aufgrund seiner holistischen Überzeugungen propagierte, wenig sinnvoll. Er suchte statt dessen nach der elektrischen Aktivität einzelner Hirnregionen, mit denen sich die neuroanatomische Kartographie des Gehirns um physiologische Befunde ergänzen lassen sollte. Der britische Neurophysiologe Douglas Adrian wiederum war weder an psychischer Energie noch an cytoarchitektonischen Parametern interessiert. Für ihn lag die Herausforderung der EEG-Kurven darin, daß sie sich nicht mit dem universalen Code kurzer, abrupter Signale im Nervensystem in Einklang bringen ließen, den Adrian maßgeblich definiert hatte. Nach Adrians Reproduktion von Bergers Kurven begannen Mitte der dreißiger Jahre zahlreiche Labore binnen kurzer Zeit sich den EEG-Kurven zu widmen. Selbstverständlich galt auch für diese Labore, daß ihre Forschungen von bisherigen Forschungsfragen mitbestimmt wurden. Aber je mehr Forscher und Gruppen mit EEG-Experimenten begannen und je umfangreicher die publizierten Ergebnisse wurden, um so weiter entfernte sich die Elektroenzephalographie von bereits etablierten Forschungskontexten und um so eigenständiger formte sie sich entlang der mit dieser Methode gemachten Beobachtungen.
Das vielleicht markanteste Ereignis in der Geschichte der Elektroenzephalographie – nach der ersten Beobachtung dieser Kurve – war die mehr oder minder zufällige Registrierung eines stark auffälligen Kurvenmusters bei einer Epilepsie-Patientin. Das EEG zeigte eine auffällige Störung der elektrischen Gehirnfunktion, aus der sich der wichtigste klinische Anwendungsbereich der Elektroenzephalographie entwickeln sollte. Die EEG-Kurven epileptischer Anfälle bewirkten gleich in mehrerlei Hinsicht mehr als nur eine methodische Objektivierung der Diagnosestellung (Vorwärts und viel vermessen). Die im EEG beobachtete Störung der Hirnelektrik formte das gesamte Krankheitsbild der Epilepsien um. Aus einer Geistesstörung, die in die Zuständigkeit der Psychiatrie fiel, wurde eine neurologische Gehirnkrankheit. Dieser Erfolg setzte verschiedene biopolitische Imperative frei. Er veranlaßte, z.B. bei gesunden Angehörigen von Epilepsie-Patienten und bei vielen weiteren Gruppen nach auffälligen EEG-Mustern zu fahnden. Die biopolitische Dimension des mit der Elektroenzephalographie erschlossenen neuen Wissensraums manifestierte sich noch drastischer in der Suche nach pathologischen Kurvenmustern bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sowie bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Hier stellte die Elektroenzephalographie in Aussicht, soziale Ausgrenzungsmechanismen mit neurophysiologisch »objektiven« Befunden zu unterfüttern, und diente so einer biologischen Pathologisierung dieser Gruppen. Solche Projekte zeitigten nicht immer den Erfolg, den ihre Verfechter sich erhofft hatten, aber sie beförderten die Vorstellung, daß das Gehirn als elektrischer Apparat operiere, die bald von ganz anderer Seite aufgegriffen werden sollte. Mit der Einführung der psychiatrischen Schocktherapien fand das Konzept des elektrischen Gehirns seine therapeutische Konkretisierung als Kurzschluß im Kopf.
Während der Wissensraum des elektrischen Gehirns im klinisch-therapeutischen Bereich zunehmend konkrete Gestalt annahm, blieb die Frage offen, was das EEG eigentlich registrierte und wie es zu interpretieren sei. Sie lancierte Projekte, mit immer neuen Methoden der Visualisierung elektrischer Gehirnaktivität das Rätsel der Gehirnströme zu lösen (Bauen Basteln Denken). Der Psychologe Hubert Rohracher z.B. suchte in besonders schnellen Schwingungen nach Repräsentationen mentaler Prozesse. Alois Kornmüller fand in besonders langsamen Schwingungen den Indikator einer bevorstehenden Selbstabschaltung des Gehirns und plante, aus dem EEG ein Warngerät für Sauerstoffmangel bei Piloten im Kampfeinsatz zu machen. Norbert Wiener wiederum wollte in besonders regelmäßigen Schwingungen den Arbeitstakt des menschlichen Zentralrechners erblicken. Richard Jung vermutete in der Resonanz der Hirnströme das Geheimnis der Selbststeuerung des Gehirns. Die experimentelle Epistemologie der Hirnforschung mit ihrem Ziel, aus den Befunden der neurophysiologischen Hirnforschung die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu entschlüsseln, feierte erste Erfolge in Form von kybernetischen Hirntheorien, die menschliches Denken auf mathematische Funktionen reduzierten. Grey Walter hingegen konstruierte aus dem EEG eine Art »Gehirnfernsehen«, das vielmehr darauf abzielte, die Komplexität der Hirnprozesse zu veranschaulichen. Das Bauen und Basteln in der EEG-Forschung produzierte Hirntheorien gleich im Dutzend. Damit stellt sich aber die Frage, ob Modellbildungen in der Hirnforschung nicht grundsätzlich passager sind, weil sie Weisen eines »Sich-selbst-Verkennens« (Käthe Meyer-Drawe) manifest werden lassen.
Die Elektroenzephalographie hatte Hirnströme als Schrift fixiert und knüpfte damit an eine lange Tradition graphischer Verfahren in der Physiologie an. Visuelle Darstellungen sind in den Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert mit der Rhetorik propagiert worden, die Natur selbst ohne das störende Dazwischenkommen menschlicher Aktivitäten zu repräsentieren, von ihrer Selbstabbildung in der Photographie bis zu ihrer Selbsteinschreibung in den Kurven der instrumentellen Physiologie.15 Etienne-Jules Marey hatte bekanntlich seine »méthode graphique« als unmittelbare Wiedergabe der Sprache der Natur begründet.16 Gleichzeitig stand außer Frage, daß eine solche »Selbst-Repräsentation« der Natur nur in technischen Medien erfolgen konnte, die zwar von menschlicher Hand gebaut waren, deren Funktionieren aber im Gegensatz etwa zum Zeichnen nicht von der menschlichen Hand abhing. Technische Medien schienen aufgrund ihrer künstlichen Schreibtechnik in der Lage, Zeichen der Natur jenseits menschlicher Schrift- und Bildkonventionen zu produzieren. Diese Bewegung einer Aufhebung der Technik stützt sich heute auf eine Konvergenz von Auge und Computer, in der das Bild auf dem Computerbildschirm an die Morphologie eines Gehirns appelliert und damit das neue wissenschaftliche Objekt zum Mitbewohner unsrer Welt macht. Jenseits ihrer Neuheit scheint die Überlegenheit der gegenwärtigen Visualisierungsverfahren vor allem darin zu liegen, daß sie unmittelbar an traditionelle Hirnbilder anschließen, zeigen sie die Funktionsdaten doch nicht als kryptische Kurven, sondern als topologische Markierungen im »echten« Gehirn.17 Während das Gehirn im EEG die Spur seiner Tätigkeit selbst zu schreiben schien, konstituieren heute Computer eine komplexe, räumlich differenzierte Wirklichkeit des Gehirns. Möglicherweise wird deshalb eine Hybridisierung mit neuen Visualisierungstechniken wie der funktionellen Magnetresonanztomographie der Elektroenzephalographie zu einer Renaissance verhelfen, denn nach wie vor liefert nur eine Analyse elektrischer Potentiale in Echtzeit Daten der Gehirnarbeit.18
In der Medizin werden die modernen Visualisierungstechniken meist »bildgebende Verfahren« genannt und ihr Einsatz gar als »Bildgebung« bezeichnet, so als handele es sich um Techniken eines Demiurgen, der göttliche Geschenke verteile. Präzise verweist diese Sprache auf die Verschiebung des Aktivitätszentrums, sind die Bilder doch die schöpferischen Produkte von Computern. Die Gabe, die den Hirnforschern von den Computern überreicht wird, ist in ihrer Bildlichkeit so perfekt, daß diese Bilder neue Wirklichkeitsmodellierungen darstellen. Die Konjunkturen verschiedener Forschungsmethoden, die in den Neurowissenschaften einander ablösen, ohne daß die einst mit ihnen verbundenen Hoffnungen sich realisieren, wiederholen beständig die Figur einer Prolepsis.19 Die Neurowissenschaften eröffnen zwar immer neue, faszinierende Wissensräume, doch sie beschäftigen sich dabei im Grunde mit ähnlichen Problemen. Die zentralen Fragen der Hirnforschung waren spätestens seit dem 19. Jahrhundert formuliert, aber die jeweils aktuellen Hirntheorien waren stets noch zu kaum mehr als bloß thetischen Lösungen im Vorgriff auf einen vermeintlich bevorstehenden Durchbruch in der Lage. In diesem Erwartungshorizont, im chronischen Vorgriff auf eine Lösung »hinter der Kurve« (Gilles Deleuze), scheint ein nicht geringer Anteil der Faszinationskraft des Unternehmens Hirnforschung zu stecken. Auf einen Nenner gebracht, sind es weniger die theoretischen Annahmen und Zugänge und gerade nicht der philosophische Ast der Hirnforschung, welche die Dynamik bestimmen, sondern die praktischen, durch neue Technologien ermöglichten Einblicke und Eingriffe.
Kürzlich berichtete eine Berliner Forschungsgruppe ein bemerkenswertes Zwischenergebnis ihrer Arbeit an Systemen, die es gelähmten Patienten ermöglichen sollen, einen Computer allein mittels EEG-Signalen zu steuern.20 Auf der Suche nach einem geeigneten Steuersignal in der Summe der Hirnströme filterte die Gruppe alle Begleitströme heraus, bis ein sogenanntes lokalisiertes Bereitschaftspotential einer bevorstehenden motorischen Aktion genügend deutlich hervortrat. Die Computertechnik ließ sich so weit optimieren, daß mit hoher Zuverlässigkeit vorhergesagt werden konnte, ob eine Versuchsperson dabei war, ihre rechte oder linke Hand zu bewegen. Aber zugleich hatte sich die Steuerung merkwürdig verlagert, denn der Computer antizipierte eine Entscheidung, die von der Versuchsperson ihrem eigenen Bewußtsein nach erst noch vollzogen wurde, da das Bereitschaftspotential bewußten Prozessen einige Sekundenbruchteile vorausging. Vor dem Bildschirm, der die Berechnungen des Computers als eine Bewegung des Cursors nach recht oder links veranschaulichte, ertappte die Versuchsperson sich jetzt regelmäßig dabei, daß sie gerade jene Bewegung ausführen wollte, die der Computer bereits vollzogen hatte. Aus dem Modul zur individuellen Steuerung einer Maschine war offensichtlich eine Kommunikation zwischen Gehirn und Maschine geworden, in der das Ich der Versuchsperson dem Handeln seines Gehirns buchstäblich zuschauen konnte. Das Erschrecken, von dem eine der Versuchspersonen berichtete, vermischte sich sogleich mit Neugierde darüber, was hier eigentlich beobachtbar werde.
Der Strom der Wissenschaftsgeschichte hat fast alle Ansätze zur Fixierung der Hirnströme in sich aufgenommen. Weniger ein positives Wissen, das allemal oft zweifelhafte Effekte mit sich brachte, als vielmehr eine wissenschaftliche Produktivität scheint Markenzeichen der Geschichte der Hirnströme. Zu dieser Produktivität gehört die Irritation, wie sie EEG-Forschungen insbesondere dann provozierten, wenn sie selbstreflexiv wurden. Hier zeigt sich, wie Wissenschaft zuvörderst neue nicht vorausgesehene Fragen stellt, indem sie welche beantwortet. Wenn die Neurowissenschaften sich heute anschicken, zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts zu werden, liegt hierin vielleicht ihr besonderes Potential. Anstatt eines der »letzten Rätsel der Menschheit« zu lösen, tragen sie vielmehr dafür Sorge, daß das Gehirn des Menschen rätselhaft bleibt. Eine historische Epistemologie des elektrischen Gehirns wird zum Einspruch gegen eine Verengung der Perspektiven auf die aktuell dominierenden Formen und damit zum Plädoyer für eine offene Epistemologie.
1 Stadt-Anzeiger Düsseldorf vom 6.8.1930. Dieser Quelle sind auch die beiden folgenden Zitate entnommen.
2 Gerade für eine Rekonstruktion dieser allmählichen Anerkennung der Elektroenzephalographie liefert Ludwik Flecks »Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv« (Fleck 1980) also auch nach 70 Jahren ein gutes Raster, wenngleich die Analyse der materialen Kulturen einzelner Experimentalsysteme den Rahmen seiner Wissenschaftssoziologie verläßt.
3 Hagner 1996.
4 1995 änderte die Amerikanische EEG-Gesellschaft ihren Namen in The American Clinical Neurophysiology Society, seit 2001 tagt der Weltkongreß der internationalen EEG-Gesellschaft als International Congress of Clinical Neurophysiology, die Deutsche EEG-Gesellschaft ging noch einen Schritt weiter und heißt seit 1996 Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung.
5 Lynch und Woolgar 1990, Rabinbach 1990, Rheinberger und Hagner 1993, Howell 1995, Hess 1997, Galison 1997, Gugerli und Orland 2002.
6 Dijksterhuis 1969, S. 182.
7 Vgl. McCullochs biographische Bemerkung 1948 beim Hixon Symposium (Jeffress 1951, S. 32f.) und McCulloch 1964.
8 Die Formulierung greift den Titel von Dretske 1995 auf, ähnliche Titel indizieren eine Konjunktur (Kornblith 1985, Churchland 1989, Petitot 1999).
9 Bachelard 1988, S. 7. »Mechanik des Geisteslebens« hatte Max Verworn dieses Projekt bereits 1907 genannt.
10 Vgl. hierzu jetzt Hagner 2004.
11 Canguilhem 1989, S. 88.
12 Stellvertretend für einige Richtungen dieser Debatte: Longino 1990, Pickering 1992, T. Porter 1995, Daston 1999. Eine Sammlung wegweisender Arbeiten hat Mario Biagioli (1999) zusammengestellt.
13 Die wichtigsten Arbeiten zur Geschichte des EEG stammen bis heute von jenen Akteuren, die später zu Historikern ihres Feldes wurden, wie Richard Jung (1963, 1992), Mary Brazier (1961, 1988) oder Pierre Gloor (1969, 1974), Ausnahmen sind Breidbach 1997 und Millett 2001a. Die von Mary Brazier bereits 1950 vorgelegte umfassende Bibliographie zum EEG liefert dafür ein exzellentes Hilfsmittel, Collura (1993) hat die Instrumentenentwicklung beschrieben.
14 Ich übernehme den Terminus von Rheinberger 1992 und schlage damit seine Übertragbarkeit auf ein anderes Feld laborwissenschaftlicher Forschungen vor.
15 Vgl. Daston und Galison 1992, Chadarevian 1993, Brain 1996, Geimer 2001.
16 »Die Wissenschaft ist mit zwei Hindernissen konfrontiert, die ihren Fortgang hemmen: Die Mangelhaftigkeit unserer Sinne, Wahrheiten aufzudecken, und die Unzulänglichkeit unserer Sprache, auszudrücken und mitzuteilen, was wir erkannt haben. Ziel wissenschaftlicher Methodik ist es, diese Hindernisse zu überwinden. Die graphische Methode erreicht besser als alle anderen dieses doppelte Ziel. Denn sie kann erstens in diffizilen Untersuchungen kleinste Nuancen erfassen, die anderen Methoden der Beobachtung entgehen; und zweitens handelt es sich darum, den Verlauf eines Phänomens auszudrücken: diese Methode gibt die Phasen eines Phänomens mit einer Klarheit wieder, über die unsere Sprache nicht verfügt.« Marey 1878, S. i (Übersetzung C.B., Hervorhebung im Original).
17 Unter dem Slogan »Bilder statt Kurven! Visualisierung von EEG-Kurven« wirbt z.B. eine junge Berliner Firma für ihre Software zur Visualisierung von EEG-Daten als Hirnbilder, vgl. http://www.eemagine.com/Wista_article_German.htm (1.12.2004).
18 Pierre Gloor (1994) hat in seiner Berger lecture die neuen Visualisierungstechniken in Kombination mit neuen EEG-Verfahren entsprechend als Erfüllung von Bergers Vision eines naturwissenschaftlichen Einblicks in die Arbeit des Geistes gefeiert. Zur Konvergenz von EEG und neuen Visualisierungstechniken vgl. z.B. Erwin und Rao 2000.
19 Zum Folgenden vgl. Hagner und Borck 1999.
20 Blankertz et al. 2004.
Im Juli 1929 erschien im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten die Arbeit »Über das Elektrenkephalogramm des Menschen« von Hans Berger, der zum Herausgeberkreis dieser von Wilhelm Griesinger begründeten, führenden deutschen psychiatrischen Zeitschrift gehörte und zudem Direktor der Jenenser Universitäts-Nervenklinik war. In diesem Aufsatz berichtete Berger von einer langen Serie von Versuchen an Tieren und Menschen, elektrische Ströme des Gehirns aufzuzeichnen, als deren Resultat er schließlich eine typische Kurve kontinuierlicher, rhythmischer Stromschwankungen des Gehirns gefunden habe, für die er jetzt den Namen »Elektrenkephalogramm« vorschlage. Die Beobachtung und graphische Aufzeichnung von Hirnströmen waren seit geraumer Zeit Bergers großes Projekt gewesen, das er immer wieder in Angriff genommen hatte, sobald er andere Forschungen abgeschlossen hatte, so zuerst 1902 unmittelbar nach seiner Habilitation, dann 1907 nach Abschluß einer Arbeit über die Korrelate psychischer Zustände in Volumenkurven des Gehirns und 1910 nach einer Arbeit über Temperaturänderungen des Gehirns in Abhängigkeit von psychischen Leistungen. Alle diese Hirnstrom-Versuche an verschiedenen Tieren hatten aber nur zweifelhafte Resultate erbracht, so daß Berger seine Forschungen zunächst wieder auf greifbarere Ziele gelenkt hatte. Erst nachdem Berger 1919 die Leitung der Jenenser Nervenklinik übernommen hatte, begann er nochmals, sich mit der Registrierung elektrischer Gehirnaktivität zu beschäftigen, diesmal nicht im Tierversuch, sondern beim Menschen. Am 6. Juli 1924 gelang ihm, was er bis an sein Lebensende als ersten erfolgreichen EEG-Versuch feiern sollte. Gleichwohl zögerte Berger noch fünf weitere Jahre, bis er sich seiner Sache endlich sicher genug für eine erste Veröffentlichung glaubte. In diesen fünf Jahre registrierte er in fast 200 Versuchen mehr als tausend Gehirnstromkurven, deren Ergebnisse aber so schwankend blieben, daß er seine Beobachtungen immer wieder in Zweifel zog. Entsprechend erwartungsvoll notierte er am 25.7.1929, kurz nach dem Erscheinen seines Aufsatzes, in sein Tagebuch: »Das EEG ist jetzt in aller Hände!« (IV, 232).1 Bergers EEG war also alles andere als eine Zufallsbeobachtung, sie war das Produkt eines über fast drei Jahrzehnte andauernden zähen Ringens mit einem von vornherein festgesteckten Ziel vor Augen, nämlich der Registrierung elektrischer Gehirnaktivität beim Menschen.
Dieses immer wieder neu einsetzende Bemühen um eine Kurve, die zunächst nur als Wunsch existierte, läßt sich nicht einfach als Überwinden definierter technischer Schwierigkeiten oder als allmähliches Erwerben ausreichender Fertigkeiten im Experimentieren rekonstruieren. Es war vielmehr von einer sehr viel grundsätzlicheren Auseinandersetzung darüber gekennzeichnet, was überhaupt als Beobachtungsobjekt gefaßt werden sollte. Paradoxerweise blieb am Beginn seiner Experimente unklar, was als Effekt und was als Artefakt zählen sollte, weil Berger sehr genaue Vorstellungen vom EEG hatte, die sich mit den experimentell erzeugten Phänomenen nicht ohne weiteres in Einklang bringen ließen. Berger scheiterte wiederholt am EEG, weil die elektrischen Signale des Gehirns, die seine Registrierapparate auffingen, in den Worten Gaston Bachelards »Nachrichten aus einer unbekannten Welt« waren.2 Berger war mit einem »epistemologischen Hindernis« konfrontiert, dessen Widerständigkeit sich immer erst nachträglich als Vergangenheit von Irrtümern und falschen Erkenntnissen herausstellt, wie Bachelard argumentiert:
Nie ist das Reale das, »was man sich denken könnte«, sondern es ist immer das, was man hätte denken müssen. Das empirische Denken ist nachträglich klar, wenn das Instrumentarium der Gründe richtig eingestellt ist. […] Tatsächlich erkennt man gegen eine frühere Erkenntnis, indem man falsche Erkenntnisse zerstört und das überwindet, was im Geist selbst der Vergeistigung zum Hindernis wird.3
In einem langen Prozeß fortgesetzter Modifikationen mußten Erwartungen, Beobachtungen, instrumentelle Anordnungen, Untersuchungsbedingungen und die verschiedenen Teilschritte der Experimente erst so aufeinander abgestimmt werden, daß sie zusammen ein Experimental-system ergaben, in dem sich einigermaßen stabil jene Kurven aufzeichnen ließen, die sich erst allmählich als Hirnstromkurven herausschälten.
Eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse im Jenenser Labor scheint mir gerade deswegen in epistemologischer Hinsicht aufschlußreich, weil sich in diesem Fall gewissermaßen in der »Reinkultur« einer weitgehend isoliert verfolgten Forschungsarbeit die Wechselwirkungen zwischen Erwartungen, Störungen und Beobachtungen bzw. die Kette von daraus resultierenden, theoretischen wie experimentalpraktischen Modifikationen studieren lassen. Bergers in mehrerlei Hinsicht isolierte Versuchsräume in der Jenenser Nervenklinik waren die Brutstätte eines »epistemischen Dinges« (Hans-Jörg Rheinberger), eines noch unbeobachteten und unverstandenen, zunächst nur konkret imaginierten Objekts. »Wie vor allem sich jenes Gefühl eines Labyrinths ohne Ausgang vergegenwärtigen, jene unablässige Suche nach einer Lösung, ohne darauf Bezug zu nehmen, was sich inzwischen als die Lösung erwiesen hat – ohne sich von ihrer Existenz blenden zu lassen?«4 – Der französische Molekularbiologe François Jacob hatte das zu bewältigende wissenschaftshistoriographische Problem prägnant benannt, bevor das Studium von Forschungskulturen zum Thema der Wissenschaftsgeschichte wurde.5 Im Folgenden soll in diesem Sinne Bergers »investigative pathway« (Frederick Holmes) bis zur Veröffentlichung seiner ersten Mitteilung über das EEG rekonstruiert werden, ohne den erst aus der Zukunft bestimmten Erfolg einer bestimmten Experimentalanordnung auf die vorausgegangenen Versuchssituationen zurückzuprojizieren, also ohne die konkreten Verwerfungen und Verzweigungen in Bergers Experimentalsystem teleologisch im Lichte der schließlich realisierten Elektroenzephalographie zu ordnen. In seiner ersten Mitteilung zum EEG 1929 schilderte Berger seine Vorversuche und Probleme zwar ungewöhnlich detailliert, aber eine solche retrospektive Darstellung kann allenfalls erste Anhaltspunkte zur Identifikation der entscheidenden Knotenpunkte und Wendestellen dieses Projektes liefern, weil sie die Probleme notwendigerweise aus dem Gesichtspunkt eines erreichten Forschungsstandes bestimmt. Erst eine Analyse unveröffentlichter Aufzeichnungen eröffnet deshalb einen Zugang zur Konstruktionsgeschichte von Bergers Elektroenzephalographie. Dabei werde ich mich in mehreren rekursiven Schleifen immer näher an Bergers Experimentalpraxis heranbewegen, um schließlich einige wenige Episoden anhand erhaltener Tagebuchaufzeichnungen, Protokollnotizen und Reflexionen detailliert zu untersuchen.
In seiner ersten Veröffentlichung zum menschlichen EEG beschrieb Berger, daß er jedesmal kontinuierliche und regelmäßige Stromschwankungen registrierte, wenn er ein empfindliches Strommeßgerät mittels geeigneter Elektroden an den Kopf einer entspannt liegenden Versuchsperson anschloß. Berger beobachtete dabei zwei Grundrhythmen von Schwankungen: die »Wellen erster Ordnung« mit relativ großen, regelmäßigen Amplituden und einer Frequenz von ungefähr 11 pro Sekunde (also 90 σ, wie Berger mit dem damals gebräuchlichen Zeichen für Millisekunde schrieb) und eine kleinere, oft unregelmäßigere und schwächere Schwingungsform, die »Wellen zweiter Ordnung« von etwa 30 pro Sekunde. Diese kontinuierlichen elektrischen Schwingungen zeigten sich zwar als nicht ganz unabhängig von Herz-, Atem-, Puls- oder Muskeltätigkeit, aber sie waren von diesen dennoch eindeutig als ein eigenständiger Typ elektrischer Aktivität abzugrenzen, deren Quelle im Kopf, und zwar im Gehirn selbst liegen mußte, wie Berger sich in umfangreichen Serien von Kontrollexperimenten versichert hatte. In penibler Umständlichkeit formulierte Berger endlich auf der 41. Seite seines Aufsatzes als die Quintessenz seines Beitrages:
Ich glaube also in der Tat, das Elektrenkephalogramm des Menschen gefunden und hier zum ersten Mal veröffentlicht zu haben. Das Elektrenkephalogramm stellt eine fortlaufende Kurve mit ständigen Schwankungen dar, an der man, wie schon immer wieder hervorgehoben, die größeren Wellen erster Ordnung mit einer Durchschnittsdauer von 90 σ und die kleineren Wellen zweiter Ordnung von durchschnittlich 35 σ unterscheiden kann. Die größeren Ausschläge haben einen Wert von im Höchstmaß 0,00015-0,0002 Volt.6
Spektakulär an Bergers Bericht war keineswegs der grundsätzliche Nachweis von elektrischen Strömen im Gehirn. Bereits 1875 hatte Richard Caton über Hirnströme bei Tieren im British Medical Journal berichtet, und ein Prioritätsstreit über die Erstbeschreibung der spontanen, elektrischen Aktivität des Gehirns hatte dem Thema am Ausgang des 19. Jahrhunderts zu erneuter Aufmerksamkeit verholfen.7 1913 hatte Wladimir W. Práwdicz-Neminski schließlich Kurven solcher direkt aus dem Gehirn abgeleiteten Ströme als »Electrocerebrogramme« veröffentlicht.8 Gleichwohl hatte vor Berger keiner den nur scheinbar so naheliegenden Versuch unternommen, an den Kopf eines Menschen ein Galvanometer anzuschließen. Ein Grund dafür war vermutlich gerade die Entwicklung immer leistungsfähigerer Registrierinstrumente, denn damit verlagerte sich die Analyseebene der Neurophysiologie seit Ende des 1. Weltkriegs zunehmend auf die Kommunikation zwischen einzelnen Zellen und Fasern. Eine Stromableitung vom Gehirn als ganzem mit seinen Milliarden von Nervenzellen lag nicht nur außerhalb dieses Programms, sondern war im Lichte dieser Forschungen schlicht absurd. Bergers Verankerung in der klinischen Psychiatrie bzw. die damit verbundene geringe neurophysiologische Laborerfahrung mag einige technische Schwierigkeiten bei der Realisierung des EEG impliziert haben, sie erscheint vor dem Hintergrund dieser zeitgleichen Entwicklungen in der Neurophysiologie geradezu als dessen Möglichkeitsbedingung.9
Spektakulär an Bergers Experimenten war vor allem, daß seine technisch vergleichsweise einfache Versuchsanordnung trotz der erwiesenermaßen komplexen Struktur des Gehirns eine regelmäßige und einheitliche Kurve der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns aufzeichnete. Bergers Experimentalsystem zur Registrierung von Potentialschwankungen zwischen Stirn und Hinterhaupt vernachlässigte die enorme funktionelle Differenzierung der verschiedenen zwischen diesen Ableitepunkten gelegenen Hirnregionen und produzierte damit eine Kurve von verblüffender Stringenz. Dieser Gegensatz zwischen der Komplexität des Gehirns und der einfachen Form der aufgezeichneten Kurven blockierte zugleich die Rezeption von Bergers Elektrenkephalogramm. Denn 1929 war das EEG des Menschen kein plausibler Forschungsgegenstand der Neurophysiologie; es war ein epistemisches Ding in Möglichkeitsform, das nur verzögert und über adaptive Zwischenschritte zum Objekt der Neurophysiologie werden konnte.
Als Berger 1929 das EEG des Menschen publizierte, war er bereits seit zehn Jahren Direktor einer großen neuropsychiatrischen Universitätsklinik und hatte mit 56 Lebensjahren weit mehr als die Hälfte seines Berufslebens hinter sich. Seit seinen ersten Jahren klinischer Tätigkeit in Jena hatte Berger sich auf die graphische Registrierung von psychophysiologischen Phänomenen spezialisiert und war so zu einem Meister der Deutung von Kurven geworden, lange bevor er erfolgreiche Versuche mit der Elektroenzephalographie machte.10 (Abb. 2)
1873 in Neuses bei Coburg als Sohn des Arztes Paul Friedrich Berger und als Enkel des von ihm sehr verehrten Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert geboren,11 hatte Berger sein Medizinstudium in Jena 1897 beendet und war als Assistent in die dortige Nervenklinik eingetreten, wo er noch im selben Jahr mit einer histologischen Arbeit promovierte. Damals war Jena eine mit 700 Studenten eher bescheiden zu nennende Universitätsstadt mit kaum 20.000 Einwohnern, wo die Fabrik optischer Instrumente von Carl Zeiss und Ernst Abbe gerade einen ersten industriellen Aufschwung verbreitete.12 Die bekannteste Figur des intellektuellen Lebens im Jena der Jahrhundertwende war sicher Ernst Haeckel, der die Evolutionslehre in Deutschland predigte und mit seinem populären Buch Die Welträthsel die monistische Weltanschauung als »Band zwischen Religion und Wissenschaft« breiten Kreisen nahebrachte.13 Neben Haeckel zählte Bergers Förderer und Vorgänger in der Klinikleitung, Otto Binswanger zu den herausragenden Figuren Jenas. Binswanger war einer der angesehensten Psychiater seiner Zeit, zu dem Patienten aus ganz Europa kamen, darunter Friedrich Nietzsche, Johannes R. Becher und Harry Graf Kessler. – Später unter Bergers Leitung zog die Privatstation nur noch wenige Patienten von auswärts an, wozu die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse der Weimarer Republik sicher ebenso beigetragen haben wie Bergers Persönlichkeit, die von seinen Assistenten und Schülern einhellig als eher scheu und gehemmt beschrieben wurde.14
Abb. 2: Hans Berger an seinem Schreibtisch, 1927.
Mehr noch als Binswanger beeinflußte Theodor Ziehen Bergers Forschungen, der schon dessen Dissertation betreut hatte.15 Ziehen, selbst ein Grenzgänger zwischen Psychiatrie, Physiologie und Psychologie, hatte die graphische Registrierung physiologischer Parameter in Jena eingeführt.16 Der große Aufschwung der instrumentellen Physiologie durch die graphische Methode hatte Hoffnungen geweckt, mit Hilfe dieser Verfahren auch die Psychiatrie auf ein neues wissenschaftliches Fundament zu stellen.17 Ziehen war in seiner Habilitation der Frage nachgegangen, ob sich den Geisteskrankheiten typische Pulswellenveränderungen zuordnen ließen. Obwohl Ziehen die von ihm »aufgeworfene Hauptfrage [...] entschieden mit Nein« beantworten mußte, verwarf er diesen Forschungsansatz nicht, sondern ermunterte seine Assistenten zu weiteren Studien. Zusätzlich zur Pulswellenregistrierung, der Sphygmographie, sollte jetzt die Volumenregistrierung (Plethysmographie) etabliert werden, wobei Ziehen Berger die Effekte der damals üblichen psychiatrischen Pharmaka auf die Gehirndurchblutung untersuchen ließ, während sein Kollege Korbinian Brodmann mit psychophysiologischen Experimenten bei Registrierung des Armvolumens beginnen sollte.18
Bergers Teil der Studie entwickelte sich rasch zu seinem ersten und wegweisenden Gehirnkurven-Projekt. Methodisch lehnte er sich eng an das von dem italienischen Physiologen Angelo Mosso 1881 publizierte Verfahren der Gehirnvolumenregistrierung über einem Knochendefekt am Schädel an. Patienten mit krankheitsbedingten Schädellücken sollten auch bei seinen späteren Gehirnkurven Bergers bevorzugte Versuchspersonen bleiben. Berger konnte Mossos Methode bei einem Patienten der Jenenser Klinik erproben, bei dem zuvor wegen eines Tumorverdachts ein größerer Teil des Schädelknochens entfernt worden war, bei dem also das Gehirn an dieser Stelle direkt unter der Kopfhaut lag. Mit einer speziell angepaßten Kappe nahm Berger an dieser Knochenlücke die Schwankungen des Gehirnvolumens als Druckschwankungen in einem geschlossenen pneumatischen System auf, das über Luftschläuche mit einem Schreibarm verbunden war, so daß der Zeiger die Volumenschwankungen des Gehirns auf einer berußten Kymographentrommel einritzte. Simultan ließen sich weitere Kurven z.B. der Atmung, des Pulses oder des Armvolumens registrieren. Wie zuvor schon von Mosso und anderen beschrieben, zeigten auch Bergers Kurven regelmäßige Schwankungen des Gehirnvolumens, wobei sich die verschiedenen Einflüsse von Herztätigkeit, Atmung und Gefäßwiderstand anhand ihrer Frequenz als Wellen erster, zweiter und dritter Ordnung abgrenzen ließen. Bereits Bergers erste Arbeit zu Gehirnkurven kreiste also um Wellen und rhythmische Schwingungen, und er verwendete den weitaus größten Teil seiner Habilitationsschrift auf die Etablierung und Charakterisierung der Gehirnvolumenkurve als eines objektiven Parameters physiologischer Forschung. Bereits in dieser frühen Schrift evaluierte und optimierte Berger eine gehirnspezifische Kurve nicht im Hinblick auf etwaige, an ihrem Zustandekommen beteiligten, physiologischen Prozesse, sondern allein im gewählten Repräsentationsmedium, nämlich im Vergleich mit anderen, schon bekannten Kurvenlinien
Bergers nächste große Studie: Über die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, die er 1904 und 1907 in zwei Bänden mit jeweils separat gedrucktem, großformatigem Atlas veröffentlichte, war eine Fortführung seiner Forschungen für die Habilitation, indem er jetzt den Teil der Studie ergänzte, den Ziehen ursprünglich Brodmann zugeteilt hatte und den dieser aus methodenkritischen Erwägungen nicht vollendet hatte. Allerdings fielen in die Phase zwischen seiner Habilitation und dieser Fortsetzung so radikal andere Projekte wie seine ersten Experimente zu Rindenströmen und sogar Selbstversuche zur Übertragbarkeit akuter Geisteskrankheiten durch Injektion von Blutproben akut psychotisch erkrankter Patientinnen.19 1903 stellte die Arbeit an Gehirnvolumenkurven also bereits eine Rückkehr auf methodisch vertrautes Gelände nach dem Scheitern ambitionierter Neuansätze dar. Anlaß dafür war offenbar ein besonders verständiger Patient, der von einem versehentlichen Revolverschuß einen Schädeldefekt davongetragen hatte und Berger Gelegenheit bot, genaue Volumenregistrierungen in Relation zu psychischen Vorgängen und geistiger Arbeit durchzuführen. Außerdem hatte Bergers in dieser Zeit Alfred Lehmanns Die Körperlichen Äußerungen psychischer Zustände gelesen, das nachhaltig zum Vorbild werden sollte.20 Wenn er für seine nächste Studie sogar den Buchtitel des dänischen Physiologen übernahm, so deshalb, weil er darin seine ureigenste Forschungsfrage formuliert sah. Beide fahndeten im zweidimensionalen Repräsentationsraum graphischer Aufzeichnungen nach den Spuren der Seelentätigkeit. Berger teilte mit Lehmann neben dem Interesse für diese spezielle Form der Psychophysiologie auch die Annahme einer besonderen psychischen Energieform und außerdem einen Glauben an Telepathie.21
Lehmann hatte im ersten Band seiner Körperlichen Äußerungen psychischer Zustände die Arm-Plethysmographie als eine Diagnostik fremder Seelenzustände beschrieben. Der Plethysmograph, die Registrierung der schwankenden Blutfülle des Armes, sollte zum »Psychoskop« werden:
Sind alle diese Erscheinungen [die Bewußtseinszustände] erst untersucht und ihre charakteristischen Äußerungen festgestellt, so wird man am Plethysmographen ein wirkliches Psychoskop besitzen, einen Apparat, mittels dessen man mit nicht geringer Sicherheit den Gemütszustand einer Person zu diagnostizieren vermag.22
»Ich muß offen gestehen, daß diese Worte mich vor allem auch zu den ausgedehnten plethysmographischen Untersuchungen […] veranlaßt haben«, äußerte Berger anläßlich der Wiederaufnahme seiner Volumenregistrierungen, mit denen er Lehmanns Forschungsprogramm auf die Gehirnplethysmographie übertrug.23 Minutiös und eng entlang an Lehmanns testpsychologischen Vorgaben begann er, den Seelenhaushalt seines Patienten zu registrieren, die Kurve eines Lustgefühls (ausgelöst durch Zucker oder ein Geldgeschenk) bzw. von Unlust (ausgelöst durch schlecht schmeckende Tropfen auf der Zunge), die Kurve der Aufmerksamkeit (durch eine Berührung) und des Erschreckens durch Revolverschuß (bei diesem Schußverletzten) sowie die Kurven geistiger Arbeit beim Kopfrechnen. Feinste Veränderungen im Schwankungsmuster der Kurven interpretierte Berger als die graphischen Zeichen von geistiger Arbeit, Aufmerksamkeit, Erschrecken, Lust oder Unlust. Losgelöst von Fragen nach psychophysiologischen Mechanismen, wurde die Spur im Ruß des Kymographen zur Fährte psychischer Vorgänge. Die Vermittlung bestand vielmehr in der instrumentellen Kopplung durch die Versuchsanordnung, in der Reduktion des Experimentalsystems auf die Registrierung plethysmographischer Kurven in Abhängigkeit von psychischen Reizen. Berger fand stabile Unterschiede zwischen verschiedenen Testreizen, auf deren Dokumentation er sein Experimentalsystem fokussierte. (Abb. 3)
Die Registrierung solcher »physiologischen Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge« (wie er sich später ausdrückte) wurde Bergers Lebensprojekt, es läßt sich modellhaft bereits hier analysieren. Eine Rezension im Journal für Psychologie und Neurologie kritisierte Bergers Körperliche Äußerungen psychischer Zustände als »Gefühlssymptomatologie«, der jedwede physiologischen Fundamente fehlten.24 Für ihn dagegen waren – als Realisierung von Lehmanns Psychoskopie – die beobachteten Schwankungen des Hirnvolumens das Gegenstück testpsychologisch definierter Gefühlszustände, auf das er eine psychophysiologische Hirntheorie türmen konnte. Berger faßte die beobachteten rhythmischen Volumensteigerungen bei Lust und Konzentration als das graphische Korrelat der schon von Wilhelm Wundt beschriebenen Aufmerksamkeitsschwankungen und amalgamierte dies mit Max Verworns Stoffwechseltheorie psychischer Aktivität.25 Die aufgezeichneten Kurvenlinien waren Ausdruck eines psychogenen Stoffwechselprozesses, in dem rhythmisch der Biotonus so gesteigert würde, daß die Nervenerregungen bis ins Bewußtsein gelangten:
Abb. 3: Plethysmographische Kurven. Oben: Atemexkursionen, Mitte: Volumenschwankungen des Unterarmes, unten: Blutvolumenschwankungen im Kopf. Berger erläutert die Abbildung wie folgt: »Zwischen b und c, wohl an der mit einem Fragezeichen (?) bezeichneten Stelle, wird der ziemlich bedürftigen Versuchsperson ein Zehnmarkstück geschenkt. Man sieht an der Armkurve […] die Zunahme des Volumens, welches bei c einsetzt und jenseits d so hochgradig wird, daß sie die Atmungskurve auf der Schreibfläche erreicht […]. An der zu unterst geschriebenen Gehirnvolumkurve sieht man von c an eine sehr unbedeutende Abnahme des Volumens […] und eine leicht erkennbare und deutliche Zunahme der Höhe der einzelnen Pulsschläge des Gehirns, was auf eine Erweiterung der Gehirn-, speziell der Rindengefäße bei einem Lustreiz hindeutet.«
Abb. 4: Titelzeichnung von Hans Berger für seine letzte Veröffentlichung »Psyche«.
Durch die vaskuläre Welle werden also periodische Schwankungen in der Intensität minimaler psychischer Vorgänge in der Rinde bedingt. Wenn ich mich eines Bildes bedienen darf, so lodert die Fackel, deren Brand dem Ablauf der psychophysischen Vorgänge in der Hirnrinde entspricht, periodisch heller auf.26
Mit dieser postulierten Korrelation von Aufmerksamkeitsschwankungen und Gefäßwellen war Berger am Ziel seiner Kurvenexegese angelangt, er unternahm keinerlei Forschungen, diesen Zusammenhang experimentell aufzuhellen. Die graphische Methode stiftete den psychischen Vorgängen ihr physiologisch-objektives Existenzkriterium in Form registrierter Wellenmuster, und die Experimentalanordnung lieferte den physiologischen Zeichen die Dignität genau dieses Verweisungscharakters. Die Metapher der lodernden Fackel hingegen verdichtete sich für Berger zu einem so einprägsamen Bild der psychophysischen Prozesse, daß er auch bei seinen EEG-Arbeiten wiederholt darauf zurückgriff und noch seine letzte Veröffentlichung Psyche eigenhändig mit einer lodernden Fackel auf dem Titelblatt illustrierte.27 (Abb. 4)
Wie stark Bergers Experimentieren und vor allem seine Arbeit an Gehirnkurven von hirntheoretischen Spekulationen und weltanschaulichen Vorannahmen angeleitet waren, demonstriert sein Konzept einer besonderen psychischen Energieform, das er zur selben Zeit ausführlich theoretisch entwickelte und fortan wiederholt experimentell bearbeitete.28 1905, also genau zwischen dem Erscheinen der beiden Bände der Körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, begann Berger eine Psychophysiologie-Vorlesung zu übernehmen, die schon Ziehen in Jena bis zu seinem Weggang im Jahr 1900 gehalten hatte.29 Vielleicht war es nur eine zufällige Koinzidenz, aber im selben Jahr 1905 starb Ernst Abbe in Jena. Obwohl Berger damals zwar bereits habilitiert, aber noch nicht zum Professor ernannt worden war, betreute er Abbe ärztlich und besuchte ihn bis zum Tod beinahe täglich.30 Psychophysiologie war für Berger weniger die Lehre von der Funktionsweise der Sinnesorgane oder vom Übergang der Sinnesreize ins Bewußtsein als vielmehr der Name für experimentelle Untersuchungen über die Beziehungen zwischen psychischen und physiologischen Vorgängen unter Anerkennung ihrer ontologischen Eigenständigkeit. Im Gegensatz zu einer materialistisch gewendeten Assoziationspsychologie, wie sie z.B. von seinem Lehrer Ziehen vertreten wurde, für den alles Psychische lediglich eine Erscheinungsweise letztlich physiologischer Phänomene war, stand für Berger die Wirklichkeit und kausale Wirkmächtigkeit psychischer Vorgänge außer Frage. Psychologische Assoziationen und ihre physiologischen Substrate waren ihm »nur der notwendige Unterbau, auf dem sich der gewaltige Oberbau des Denkens im eigentlichen Sinne erst erhebt«.31 Als naturwissenschaftlich ausgebildeter Hirnforscher anerkannte er gleichzeitig die energetische Geschlossenheit aller Vorgänge in der Welt, wie sie im Energieerhaltungssatz von Robert Mayer formuliert worden war, dessen Schriften er sehr schätzte. Um diese Spannung zu vermitteln, favorisierte Berger eine spezielle Energieform psychischer Vorgänge, die auch naturwissenschaftlich nachweisbar sein sollte.
Energetische Beschreibungen psychischer Prozesse finden sich in den Psychologien von Wilhelm Wundt und William James bis Sigmund Freud und Henri Bergson; im Unterschied zu ihren Konzeptionen war Berger insbesondere an der Transformation zwischen verschiedenen Energieformen interessiert und suchte dafür nach Leitbildern.32 Lehmann, Bergers Gewährsmann für psychophysiologische Studien, gehörte zu denjenigen, die mit der Annahme einer eigenständigen Energieform psychische Vorgänge einer naturwissenschaftlichen Forschung zugänglich zu machen hofften. Wilhelm Ostwald propagierte im nahe gelegenen Leipzig eine »psychische Energie« als allgemeine Transformationskraft im Rahmen einer naturphilosophischen Universal-Energetik, die von Physik und Chemie über Psychologie und Sprache bis zum »Schönen und Guten« reichte.33 Obwohl Berger sich von derart ausholenden Spekulationen fernhielt, hat er in ähnlicher Weise in der Energie das »gemeinsame Band« aller Vorgänge in der Welt vermutet, von dem bereits Haeckel gesprochen hatte. Bei Kurd Laßwitz, dem historischen Epistemologen der Materietheorie und ersten deutschen Science-fiction-Autor, fand er schließlich unter dem Titel »psychophysische Energie« jene Konzeption, die psychophysische Energieumwandlung mit Bewußtsein zusammenzubringen suchte.34 Die Annahme einer besonderen Energieform als Medium psychophysischer Prozesse teilte Berger also mit einer Gruppe stark metaphysisch orientierter Wissenschaftler, die damit einem am Beginn des neuen Jahrhunderts offenbar weitverbreiteten Bedürfnis nach einer Harmonisierung von Naturwissenschaft und Lebensphilosophie entsprachen.
Bergers Interesse an »psychischer Energie« speiste sich noch aus einer zweiten Quelle, nämlich einer ungewöhnlichen Erfahrung während seiner Studentenzeit, die ihn von der Existenz telepathischer Vorgänge überzeugt hatte.35 Ein beinahe tödlicher Unfall bei einem freiwilligen Militärdienst 1893 hatte ihn seiner Meinung nach zum Sender telepathischer Signale gemacht, denn im selben Moment hatte seine Schwester weit entfernt zu Hause so schwere Sorgen über sein Schicksal entwickelt, daß sein Vater sich ohne weitere Veranlassung gezwungen sah, telegraphisch nach seinem Ergehen anzufragen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß das Spektrum der von Berger rezipierten Arbeiten zum Thema psychische Energie bis weit in okkulte Literatur hineinreichte und etwa die 1908 in den »Grenzfragen des Seelenlebens« erschienene Arbeit über Die Radioaktivität des Gehirns von Naum Kotik oder Richard Baerwalds Zusammenstellung Die intellektuellen Phänomene in Max Dessoirs »Urkunden des Okkultismus« umfaßte. Die Annahme einer besonderen psychophysischen Energie oder kurz einer »P.E.« wurde rasch zu einem festen Bestandteil seiner Weltanschauung, an dem er zeitlebens festhielt. Immer wieder erwog er, seine Anschauungen zur psychischen Energie gesondert in einem »P.E.-Buch« zu präsentieren. Erst nach seiner Emeritierung veröffentlichte er schließlich eine kleine Schrift Psyche, die mit ihren 32 Seiten wenigstens eine partielle Einlösung dieses Planes darstellte, dessen Grundgedanke bereits in einer Tagebuch-Notiz vom 10.3.1911 (II/227) fixiert war: »Die P.E. ist eben die herrlichste Energieform, welche ungeheuren Einfluß auf den Ablauf aller Vorgänge gewinnt, aber als solche vergänglich, in anderen Formen sich immer erhellend.«
Bergers Psychoenergetik übte hinsichtlich seiner Forschungspraxis eine Doppelfunktion aus. »P.E.« war Bergers idée fixe, die ihn immer wieder an den begrenzten Möglichkeiten physiologischer Aufzeichnungsverfahren verzweifeln ließ, aber sie war zugleich der feste Referenzpunkt seines Experimentalsystems und wurde so schließlich Teil der Möglichkeitsbedingungen der Elektroenzephalographie. Einerseits legitimierte sie seine Suche nach physiologischen Nachweisverfahren für psychische Prozesse, die überhaupt nur Sinn machte, wenn sich zwischen physischen und psychischen Prozessen unterscheiden ließ, psychische Prozesse aber letztlich doch zum Reich der Naturphänomene gehörten und nicht nur deren Epiphänomen darstellten. Andererseits lieferte die Psychoenergetik Berger auch eine neue Strategie bei seiner Suche. Denn mit der Annahme einer real existierenden, aber naturwissenschaftlich noch nicht näher charakterisierten psychischen Energie wurde der Energieerhaltungssatz ein objektives Nachweisprinzip psychophysischer Vorgänge. Bei exakter Bilanzierung aller energetischen Transformationsprozesse im Gehirn sollte wegen der strengen Gültigkeit des Energieerhaltungssatzes jenes Quantum psychischer Energie als zusätzliche Wärme hervortreten. In seinem nächsten Gehirnkurven-Projekt berechnete Berger präzisionsthermometrisch die Energie der geistigen Arbeit. Statt Gefäßwellen registrierte er nun Temperaturschwankungen im Gehirn. Berger wechselte zwar die Registriertechnik, aber er blieb im Repräsentationsraum graphischer Methoden.36 Obwohl die Temperaturmessungen sequentiell von Hand vorgenommen wurden und die abgelesenen Werte als Basis einer arithmetisch-quantitativen Analyse dienten, verzichtete Berger auch hier nicht auf ihre Darstellung in Form von Kurven.
Hatte Berger die Gehirnvolumen-Registrierungen im wesentlichen allein durchgeführt, so konnten diese neuen Untersuchungen nur in einem weitgespannten Netz von Kooperationen stattfinden. Beispielsweise fertigte der Leiter der Präzisionstechnischen Anstalten in Illmenau eigens für diese Versuche nach den Angaben von Berger ein spezielles Thermometer mit einem besonders langen und dünnen Fühler, der tief ins Gehirn hineinreichen konnte, und mit einer gedehnten Skala, um die Temperatur bis auf 1/100 °C exakt ablesen zu können. Zunächst erprobte Berger das Thermometer in einigen Tierversuchen an Hunden und Schimpansen, wobei dann eine Banane vorübergehend die Funktion des Geldgeschenks als Lust-Stimulus übernahm. Schon für diese Versuche, die gewöhnlich im Keller der Nervenklinik stattfanden, waren neben den Tierpflegern bis zu sechs Psychiater nötig, um die vielen und gleichzeitig erforderlichen Handgriffe und Beobachtungen auszuführen und zu koordinieren. Dann stellte sich wieder sein treuer Patient mit der Schußverletzung am Schädel zur Verfügung, bei dem zufällig gerade eine Punktion des Gehirns geplant war. Zunächst trainierte der Patient über eine Woche das Versuchsprotokoll bei rektaler Temperaturmessung, dann ging es in den Operationssaal der Chirurgischen Klinik von Geheimrat Bernhard Riedel, wo Binswangers Oberarzt Erwin Friedel die Punktion durchführte. Im Anschluß an die Punktion führte Berger das Thermometer in den Stichkanal und begann mit den psychophysiologischen Experimenten. Insgesamt fünf Ärzte und noch mehrere weitere Assistenten waren in die Durchführung der Versuche eingespannt (die nun wieder in der gewohnten Kombination von Kopfrechnen, provozierten Lust- und Unlustgefühlen und dem Erschrecken durch Revolverschuß bestanden), um den Probanden und die Thermometer zu beobachten bzw. die Ergebnisse zu protokollieren. Im Laufe der Studie wurden solche Versuche noch bei sechs weiteren Probanden zwischen drei und 53 Jahren durchgeführt, bei denen jeweils aus medizinischer Indikation eine Hirnpunktion vorgesehen war. Professorenkollege Rudolf Straubel von der Physik bewerkstelligte die komplizierten Berechnungen, die überhaupt erst von den ermittelten Temperaturwerten zu einer Bestimmung des Anteils der psychischen Energie am Gehirnstoffwechsel führen sollten. Bereits 1909 verfügte Berger, seit 1906 immerhin außerordentlicher Professor, also über erstaunliche Allianzen in Jena.37
Aber trotz dieser enormen Bündelung von Kräften entglitt Berger auf den letzten Seiten der Untersuchungen über die Temperatur des Gehirns der Zugriff auf das selbstgestellte Problem. Die Testreize hatten in den Versuchen zwar eindeutig zu einem isolierten Temperaturanstieg im Gehirn geführt, und Berger hatte aus diesen Daten die ausgelöste Stoffwechselsteigerung exakt berechnen lassen können. Aber Berger galten diese Zahlen so lange nichts, wie sie »nur« physiologische Effekte präzise bestimmten; er suchte nach der Differenz zwischen Nervenarbeit und Seelenleistung, und genau sie war in der ermittelten Summe untergegangen. In einer prägnanten Projektion seiner philosophischen Ambitionen auf die Scientific Community formulierte er sich selbst am Schluß des Buchs das Verdikt über diese Studie:
Können wir nun aus unseren Berechnungen über den kortikalen Umsatz bei intellektueller Arbeit auch nur ungefähr die von allen geforderte Äquivalentzahl für die P-Energie entnehmen? Wir können diese Frage unbedenklich mit Nein beantworten. Von dem Mehrverbrauch von 0,51 m.kg oder von 50.031.000 Erg pro Minute sind rund 40% als Wärme zu rechnen, die übrigen 60% enthalten neben dem Betrag für reine Nervenprozesse auch den Teilbetrag, welcher in P-Energie transformiert wird.38 [Hervorhebung C.B.]
Berger war es also nicht gelungen, die psychische Energie differentiell zu vermessen. Die Berechnungen hatten lediglich zu einem energetischen Grenzwert geführt, der die Summe der physiologischen und psychischen Nervenarbeit angab.
Mehr noch als die Arbeiten zu den Gehirnvolumenkurven kennzeichnete diese Studie eine unauflösliche Ambivalenz von Bergers Psychophysiologie, die auch in seinen späteren EEG-Arbeiten wiederkehren sollte. Bergers physiologisch instrumentierte Spurensicherung psychischer Prozesse zielte allein auf die Kurve, denn ihn interessierten nur die auf der Oberfläche des Schreibpapiers sichtbar gewordenen Phänomene und die Korrelation dieser Repräsentationen mit psychischen Prozessen. Als graphische Aufzeichnungen dokumentierten seine Kurven präzise wie nie zuvor Temperaturveränderungen des Gehirns. Aber das war für Berger nur der erste Schritt. Als Evidenz für eine ontologisch selbständige Existenz psychischer Prozesse blieben sie ambitiös und unfertig, nicht zuletzt deswegen, weil er nur nebulöse Vorstellungen darüber hatte, mit welchem Kalkül die psychische Energie aus den gemessenen physiologischen Veränderungen zu destillieren und das Leib-Seele-Problem zu lösen sein sollte. Noch in einer weiteren Hinsicht waren die Untersuchungen über die Temperatur des Gehirns ein Fehlschlag, denn sie brachten ihm alles andere als die langersehnte akademische Anerkennung außerhalb Jenas. Er hatte sein selbstgestecktes Ziel nicht erreicht und mit der Publikation des ermittelten Grenzwertes nicht einmal einen Achtungserfolg erzielt: »Ref. möchte im Interesse des Verfassers, dem die physikalischen Grundlagen für das ganze Experiment und für die rechnerische Verwertung der Ergebnisse – was ja auch gar nicht zu fordern ist – doch etwas ferne liegen, nicht näher eingehen.«39