Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Stress hat weitreichende körperliche Folgen, insbesondere für hochsensible Menschen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben einen Zusammenhang zwischen chronischem Stress und körperlichen Beschwerden wie Fybromyalgie, chronischer Müdigkeit und endokrinen Störungen aufgezeigt.In diesem Buch zeigt Susan Marletta Hart, dass unsere Einstellung zum Leben uns dabei hilft zu bestimmen, wie viel Stress wir erleben. Sie zeigt auf, welche Prozesse, Gedanken und Umgangsformen uns Spannung, Entspannung und Lebensfreude bringen können. Einfache Yoga-Übungen und Meditationen laden dazu ein direkt aktiv zu werden, um unmittelbar Erleichterung zu bringen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 279
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Originalausgabeist 2017 bei Uitgeverij Ten Have unter dem TitelHooggevoeligheid en Stress erschienen.
Susan Marletta Hart:
Lektorat: Otmar Fischer
Hochsensibilität und Stress
Coverfoto: © shutterstock.com/hofhauser
Übersetzung: Ursula Kremer
Umschlaggestaltung: Christiane Kurschildgen
© Aurum Verlag in Kamphausen
Typografie/Satz: Wilfried Klei
Media GmbH, Bielefeld 2018
Druck & Verarbeitung:
druckhaus köthen
www.kamphausen.media
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2018
ISBN Printausgabe: 978-3-95883-218-3
ISBN E-Book: 978-3-95883-219-0
Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.Weitere Informationen hierzu finden Sie unterwww.kamphausen.media
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen undsonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabesowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
SUSAN MARLETTA HART
Gelassen – jeden Tag
aus dem Niederländischenvon Ursula Kremer
Dieses Buch richtet sich an hochsensible Menschen, aber eigentlich ist das Thema für beinahe jeden interessant. Obwohl Hochsensible anfälliger sind für (chronischen) Stress, leidet gegenwärtig die Mehrheit der Menschen unter Stress. Ich fand dies Anlass genug, ein Buch über Hochsensibilität und Stress zu schreiben.
Stress ist Angst … und Angst ist Stress. Wenn ich eine Schlussfolgerung aus meinen Untersuchungen ziehen darf, dann diese: Stress ist allgegenwärtig, weil Angst allgegenwärtig ist. Angst konnten wir aus unserem heutigen Leben, trotz des zunehmenden Wohlstands, offensichtlich nicht oder kaum vertreiben. Wir leiden unter Stress, solange Angst unser Leben beherrscht. Andererseits bestimmt die Art und Weise, in der wir dem Stress begegnen und mit unserem Leben und dem der anderen umgehen, wie sehr wir unter Stress leiden. Wir können daher den Stress betrachten oder die Lebensfreude. Anstatt uns auf Leiden und Stress zu fokussieren, können wir exakt feststellen, welche individuellen und kollektiven Prozesse, Gedanken und Umgangsformen uns Freude, Genuss und Entspannung bereiten. Das alles untersuche ich in diesem Buch.
Ich wünsche dir viel Einsicht und Selbstliebe beim Lesen. Solltest du dann noch Fragen haben, kannst du mich über meine Webseite kontaktieren: www.susanmarlettahart.com.
Auf dieser Webseite findest du auch die langen Meditationen, die extra für dieses Buch gemacht wurden (und mit diesem Zeichen versehen sind). Was du schon beim Lesen lernst und was dich zur Einsicht anspornt, kannst du mit den Meditationen in dein Leben integrieren, so dass Entspannung, Selbstvertrauen, Lust und Freizeit dich täglich begleiten.
Susan Marletta Hart, Oktober 2017
Für diejenigen, die meine Lehrer warenund es noch immer sind:meine Kinder, meine Liebsten,meine Klienten, meine Kollegen,meine Engel und meine Führer …
Einleitung
1Was ist Stress?
2Folgen von chronischem Stress
3Was ist Hochsensibilität?
4Warum sind hochsensible Menschen empfindlich(er) für Stress?
5Der Stress- und Ruhenerv
6Das endokrine System und die Chakren
7Körperlichkeit und Lust
8Macht und Selbstbewusstsein
9Liebe und Assimilation
10Kommunikation und Sinnesreize
11Intuition und Bewusstsein
Epilog – Seelenreise
Fußnoten
Dank
Download der Meditationen
Über die Autorin
Wir sprechen häufig über Stress, und jeder weiß etwas über dessen Wirkung und Folgen für Körper und Geist. Weniger bekannt sind uns hingegen die physischen und mentalen Prozesse, die das Gegenteil von Stress bewirken. Was ist eigentlich der Gegensatz von Stress? Auf der Suche nach einer Antwort bin ich auf ein ganz neues Wissensgebiet gestoßen, das einen faszinierenden Zusammenhang aufzeigt. In diesem Buch berichte ich, was ich entdeckt und gelernt habe. Unter anderem, welches die drei wichtigsten Aspekte des Gegenteils von Stress sind, nämlich: Selbstvertrauen, Lust und Freizeit. Ich erkläre, welche Organe davon betroffen sind, und stelle den Zusammenhang mit einer gesunden Lebensweise her. Außerdem erkläre ich einige körperliche Prozesse aus Sicht einer biologisch-evolutionären Entwicklung und lege dar, wie freie Zeit im Laufe der Geschichte immer mit Freiheit zusammenhing.
Sich selbst zu befreien, ist ein wesentliches Thema in diesem Buch, besonders sich selbst zu befreien von einem permanenten Stressgefühl. Überreizung ist ein wichtiges Thema, denn sie ist eine der Ursachen für Stress. Ich werde jedoch darlegen, dass (chronischer) Stress nicht nur mit Überreizung zusammenhängt, sondern dass es noch weitere Gründe dafür gibt, dass man in einem Zustand chronischer Überreizung steckenbleibt. Ich gebe dir Anleitungen, Übungen und Tipps an die Hand, mit denen du dich bewusst aus der abwärts gerichteten, chronischen Stressspirale befreien kannst.
Menschen wiederholen gern, was andere gesagt haben, daher greifen wir oftmals auf dieselben Geschichten, Theorien und Tipps zurück. In diesem Buch vermittle ich neue Einsichten, indem ich auf teilweise vergessene oder missverstandene Kenntnisse zurückgreife, aber auch auf Wissen, das bewusst verborgen wurde, weil die Einsichten damals nicht zur vorherrschenden Moral passten.
Richte dich auf ein Abenteuer mit neuen Fakten ein. Wusstest du zum Beispiel, dass Stress machtlos und willenlos macht? Und dass Gefühle von Machtlosigkeit ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Grund dafür sind, dass man Stress empfindet? Und wusstest du auch, dass es Menschen gibt, die aus Stress Nutzen ziehen?
In diesem Buch erkläre ich so einfach wie möglich, was Wissenschaftler schon lange wissen und wie sinnvoll es ist, dass du selbst auch über diese Kenntnisse verfügst. Außerdem erhältst du eine Antwort auf die Frage, wie du es verhindern kannst, in eine Abwärtsspirale von chronischem Stress und Ohnmacht zu geraten oder immer tiefer zu sinken. Solltest du dich schon in dieser Spirale befinden – was nicht unwahrscheinlich ist, denn etwa sechzig Prozent aller Menschen klagen über Stress –, dann zeige ich dir, wie du wieder herauskommst.
Neben Hintergrundwissen und Theorie liefere ich dir einfache (Bewusstseins-)Übungen, die helfen, Stress abzubauen. In den letzten Kapiteln biete ich dir auch erprobtes (manchmal geheimes) Wissen in Form von Übungen an. Meiner Überzeugung nach versteht man am besten, wie ein Prozess wirkt, wenn man weiß, was man tut, indem man Kenntnisse erwirbt und Einsicht in ein Muster gewinnt. Denn Wissen ist Macht, und Einsicht ist Transformation – die ultimative Antwort auf das Gefängnis, das Stress seinem Wesen nach ist.
Lieber Stress,
wir sollten uns trennen.1
Stress, Stress, Stress …! Wie viele Bücher, Internetseiten und Trainingsprogramme mögen auf dem Markt sein, die darüber informieren, was man bei Stress tun sollte? Jede Woche erscheinen neue Artikel, die uns erzählen, was Stress ist und wie schlecht er für uns ist. Man könnte fast glauben, wir fänden Stress nicht einmal so schrecklich; schließlich beschäftigen wir uns ständig damit. Mögen wir insgeheim dieses aufputschende Gefühl? Wollen wir nicht auch manchmal schön umtriebig sein, eine Herausforderung annehmen und unter Arbeitsdruck durchs Leben rasen? Gibt uns Stress nicht auf die eine oder andere Weise das Gefühl, dass wir wirklich leben? Besonders in städtischen Gebieten und in manchen Berufsgruppen gehört es zum guten Ton, vielbeschäftigt zu sein. Die ländlichen Gebiete und das Nichtstun haben den Status der Langeweile. Stress gleicht verdächtig dem Flow, dem Gefühl, wunderbar geschäftig, konzentriert und inspiriert zu arbeiten. Stress verleiht einem außerdem den Status, gesellig zu sein; schließlich hat man viele Termine und ist auf der Arbeitsstelle unersetzlich. Insgeheim hat der Stress viele angenehme Seiten.
Aber wann wird der Flow zum Stress? Und wann schlägt der Stress in eine physische oder psychische Erkrankung um, über die wir keine Kontrolle mehr besitzen? Wenn das Burn-out-Syndrom zuschlägt oder unser Körper mit Entzündungen reagiert. Wenn wir nur noch müde, müde, müde sind oder wenn unsere phantastischen Pläne und Ideen und unser Genörgel an allem und jedem kein Ende finden. Wenn Stress sich als unkontrollierbar und chronisch entpuppt, dann haben wir auf einmal ein echtes Problem. Heutzutage geben zwei von drei Menschen an, regelmäßig unter Stress zu leiden. In verschiedenen Studien wurde festgestellt, dass im Durchschnitt mehr als sechzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung behaupten, regelmäßig bis häufig bei der Arbeit unter Stress zu stehen. Darin stimmen deutsche, belgische, niederländische, schweizerische und englische Studienergebnisse weitgehend überein.2
Als Grund geben Menschen meist Zeitdruck an, schlechte Vorgesetzte, Unsicherheit über die Beständigkeit ihrer eigenen Funktion und Leistungsdruck. In den vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl derer, die mit einem Burn-out-Syndrom zum Arzt gingen, um dreißig Prozent gestiegen.3 Auch junge Leute leiden regelmäßig unter Stress: In einer Untersuchung von Een Vandaag zeigt sich, dass sechs von zehn interviewten Jugendlichen (sechzig Prozent) wöchentlich ein- oder mehrmals Stress wegen schulischer oder familiärer Angelegenheiten haben. Auch Schulkinder stehen in zunehmendem Maße unter Stress und Zeitnot.4
Forscher, Krankenkassen und Politiker sehen in der Zunahme von Stress eine alarmierende Entwicklung. Eltern, die zu Hause bleiben oder in Teilzeit arbeiten, haben es auch nicht einfach: Schlafmangel, Einsamkeit oder die Kombination von Arbeit und Familie fordern ihren Tribut. Im Jahr 2010 litten in den Niederlanden im Durchschnitt 10 Prozent der Mitarbeiter unter Burn-out, im Jahr 2013 waren es bereits 12 Prozent. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Stress in unserem heutigen Leben zu einem wichtigen Faktor geworden ist.
Was ist gut und weniger gut an unserem emsigen Leben, und in welcher Hinsicht leiden hochsensible Menschen – eine andere Bezeichnung für hochempfindsame Menschen – noch mehr darunter als andere?
Fragt man die Fachleute, dann fliegen einem schon bald physiologische, anatomische und chemische Begriffe um die Ohren: Cortisol, Adrenalin, Sympathikus, Hypothalamus, flight-or-fight, Amygdala …! Für die allermeisten unter uns bleibt die Sache mit dem Stress in einer derartigen Terminologie reichlich abstrakt. Kein Wunder, wir hören kaum zu und vergessen es schnell wieder. Wir drehen noch eine Runde im Fitnesscenter und buchen ein abwechslungsreiches Wochenende zur Entspannung, nicht wissend, dass wir gerade dadurch unseren Körper noch mehr stressen. Wir brauchen andere Antworten, um richtig wachgerüttelt zu werden.
Ich werde im Anschluss noch erklären, was Stress aus physiologischer Sicht ist, und werde dabei hin und wieder Fachtermini verwenden – das lässt sich nicht vermeiden –, aber ich hoffe, dich zu einer interessanteren Geschichte mitzunehmen. Eine Geschichte mit einer historischen und gesellschaftlichen Perspektive, so dass du erkennen kannst, wieso Dinge sich selbst erhalten. Stress ist nämlich nicht nur ein physischer und mentaler Prozess, sondern auch ein sozialer. Stress spielt eine wesentliche Rolle im sozialen System, in dem du funktionierst. Um das zu durchschauen und alle Aspekte offenzulegen, ist etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit erforderlich. Daher dieses Buch! Aber denke daran, die Begriffe sind nicht so wichtig wie die Schlussfolgerungen, die du aus der Geschichte ziehen kannst. Also lerne nicht die Begriffe auswendig, sondern achte vor allem auf die Schlussfolgerungen.
Kurz zusammengefasst: Stress ist eine erhöhte Wachsamkeit des ganzen Körpers. Das nennt man in der Fachsprache auch Arousal, was so viel bedeutet wie Aufregung. Stress ist ein Zusammenspiel von Nervenbahnen, Sinnen, Gehirn, Hormonen, Muskeln und vitalen Organen – der ganze Körper ist involviert. Die physiologischen Reaktionen auf Stressreize werden als eine Notreaktion des Körpers angesehen, der drohenden Gefahren die Stirn bietet. Eine andere Bezeichnung ist Kampf-oder-Flucht-Reaktion, auch oft in Englisch verwendet als flight-or-fight response. Dennoch stimmt das nicht ganz, denn auch normale Tätigkeiten wie Sport erhöhen die Aktivität des Nervensystems, das von einer übermäßigen Stressreaktion betroffen ist. Wenn wir etwas tun, wenn wir in Aktion kommen, wenn wir beschäftigt sind und unsere Muskeln anspannen, aktivieren wir diesen Mechanismus.
Verschiedene Körperteile sind von den Stress- beziehungsweise Entspannungsvorgängen betroffen, von der Blase und den Nieren bis hin zu ganz kleinen Drüsen im Gehirn. Die Stoffe werden über die Blutbahn im ganzen Körper verbreitet. Die Bauchspeicheldrüse zum Beispiel – sie liegt neben dem Magen – produziert vorübergehend mehr Insulin, das notwendig ist, um Zucker (Glukose) freizusetzen, um aktiv und fit zu sein. Die Blase bekommt ein Zeichen, kein Wasser zu lassen, man wird wacher und hat vorübergehend ein geringeres Schlafbedürfnis. Auch die sinnliche Wahrnehmung verändert sich: Die Pupillen werden kleiner, man spürt weniger Schmerzen, und normalerweise bekommt man eine Art Tunnelblick. Das heißt: Man vergisst Dinge um sich herum, die man nicht mehr so wichtig findet, weil sie nichts mit der Gefahr zu tun haben. So vergisst man zum Beispiel, etwas zu genießen oder etwas Nettes zu jemandem zu sagen, weil es in der jeweiligen Stresssituation nicht effektiv ist. Dabei nimmt die normale Blut- und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn ab, wodurch mehr assoziative und komplexere Gedanken zeitweise blockiert werden. Da ist schon was los!
Der Teil des Körpers, der für die Koordination von „Reaktion auf Gefahr“ zuständig ist, wird in der Fachsprache als „sympathisches Nervensystem“ bezeichnet.
Bei einer Stressreaktion von kurzer Dauer koordiniert dieses Nervensystem drei Aktionen, die der Körper nacheinander durchläuft:
1. eine Alarmphase von kurzer Dauer,
2. eine Widerstandsphase,
3. eine Erschöpfungsphase.
Die Alarmphase: Das sympathische Nervensystem, das Adrenalin und Noradrenalin freisetzt, ist davon betroffen. Man wird von Noradrenalin und Adrenalin wach und manchmal auch ein wenig nervös; das ist die eigentliche Stressantwort. In der Alarmphase spricht man von einem kurz andauernden verringerten Widerstand des Körpers. Der Körper ist in dem Moment empfänglicher für Krankheiten und Angriffe von außen.
Wachsamkeit und Widerstandsphase: Ungefähr 20–30 Minuten später reagiert das Trio Hypothalamus–Hypophyse–Nebennierenrinde. Dann ist der Widerstand gegen Stress erhöht, der eigentliche Schutz tritt in Kraft. Außerdem wird der Körper darauf vorbereitet, sich wieder langsam vom Stress zu erholen, nach dem Motto „Die Luft ist vermutlich rein, aber wir sollten immer noch auf der Hut sein“. Im Auftrag des Hypothalamus wird in rhythmischen Impulsen (etwa 7–10 Mal am Tag) ein adrenocorticotropes Hormon ausgeschüttet, das die Nebennieren veranlasst, den bekannten Stoff Cortisol zu produzieren. Cortisol stimuliert den Stoffwechsel.
In dieser Phase ist das Immunsystem aktiv, und man ist gut gewappnet gegen eine erhöhte Gefahr, sodass man sich nicht zu sehr fürchten muss. Manchmal fällt einem auf, dass die anfängliche Panik nachlässt. Man bleibt jedoch in einem erhöhten wachsamen und aktiven Zustand.
Komplette Entspannung, Erholung und eventuell Erschöpfung: Dein Körper kann sich nun sicher fühlen. Alle Aktivitäten wurden gestoppt.
Mithilfe des freigesetzten Cortisols können Körper und Geist wieder ihre ursprüngliche Homöostase (Gleichgewichtszustand) erlangen. Verdauung, Schlaf-wach-Rhythmus und die Abwehr finden wieder in ihren normalen Zustand zurück. In der Erschöpfungsphase verringert sich der Widerstand wiederum. Der Körper ist müde von der Aufregung, ist fertig mit Kampf und Verteidigung, er braucht dringend Ruhe. Es ist leicht verständlich, dass man in dieser Phase empfänglicher für eine Grippe ist, aber auch für mentale Attacken. Man ist sensibler für Kommentare von anderen und kann nicht so viel ertragen, am liebsten würde man sich wieder ins Bett legen.
Das ist zwar prima, aber das nächste Problem, eine stressige Herausforderung, steht schon wieder bevor. Man kann sich dann nicht erlauben, erneut Kraft zu schöpfen. Es ist leicht vorstellbar, dass Menschen in unserem superschnellen Leben im 21. Jahrhundert nicht die Zeit haben, alle drei Phasen geruhsam zu durchlaufen. Körper und Geist bekommen fast keine Chance, wieder zum normalen Basisniveau zurückzukehren. Dass wir uns nicht genügend erholen, ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass wir auf lange Sicht psychische und physische Beschwerden haben werden. Das Immer-weiter-So ist ein übles Phänomen unseres modernen Lebens.
Es gibt im Wesentlichen vier Reaktionen auf Stress, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben. Sie sind nicht nur vom Ausmaß der Gefahr (lebensbedrohlich oder unangenehm) abhängig, sondern auch vom jeweiligen Charakter. Wir Menschen sind nicht alle gleich, und daher reagieren wir auch unterschiedlich auf Bedrohung und Gefahr.
a) Man schlägt wie ein Wilder um sich, wird böse, aggressiv und verteidigt sich, so gut man kann (Kampfreaktion).
b) Man versteckt sich in einer Ecke, macht sich selbst so klein und unsichtbar wie möglich. Das ist Erschrecken und Erstarren.
c) Man kann auch ganz schnell weglaufen und auf mannigfaltige Weise versuchen, der Gefahr zu entkommen (Fluchtreaktion).
d) Zum Schluss gibt es noch das Unterwerfungsverhalten: Man zeigt deutlich, dass der andere der Chef ist, indem man sich erniedrigt und sich selbst kleinmacht.
Erkennst du dich in einer der vier Reaktionen wieder? Bist du der Typ, der bei jedem Konflikt heftig um sich beißt, oder eher der Typ, der sich versteckt? Alle Reaktionen sind möglich, es kann auch passieren, dass du in einer Situation eher so reagierst und in einer anderen eher anders. Ich zum Beispiel kann, wenn ich etwas völlig ungerecht finde und es wirklich darauf ankommt, meinen Mund weit aufreißen und sehr böse reagieren. Ist die Situation allerdings nur leicht bedrohlich und nur unangenehm, bin ich eher der Typ, der „flüchtet“; dann ziehe ich mich lieber zurück.
Interessanterweise werden meistens zwei der vier Reaktionen, Flüchten und Kämpfen, in einem Atemzug genannt – als Kampf-oder-Flucht-Reaktion –, aber die physiologischen Prozesse sind verschieden und die körperlichen und geistigen Folgen meistens auch. Kämpfen ist fast immer gefährlicher, du kannst verwundet werden oder dabei sterben. Aber du kannst dir auch vorstellen, dass Flüchten auf lange Zeit gesehen ungesünder ist, weil der Körper die freigesetzte Energie nicht mehr so nötig hat und sie verbrennt. Beim Erstarren ist das noch extremer: Das Herzrasen und der freigesetzte Zucker bleiben ungenutzt. Die Unterwerfung ist auch eine passive Aktion, auch wenn sie weniger passiv ist als das Versteifen und Erstarren.
Es ist verständlich, dass Kämpfen und Sich-Unterwerfen aus evolutionärer Sicht männliche Reaktionen auf Gefahr sind, während Flüchten und Erstarren eher weibliche Reaktionsweisen sind.
Vom Flüchten, Erstarren und Unterwerfen werden wir buchstäblich träger, kleiner und steifer. Wir verlieren unsere Flexibilität, verkrampfen, machen uns selbst klein und werden starr im Denken und Handeln. „Vor Angst versteifen“ heißt das. Man wird nicht nur im Ganzen passiver, sondern man isoliert häufig die „Erstarrung“ in einem Teil des Körpers. Das sind die Teile, die bei einer späteren Therapie wieder nach oben kommen können. Der erstarrte Teil bleibt als solcher bestehen, wenn darauf keine bewusste Form von Entspannung und Heilung folgt. Angst kann sich ums Herz legen, Sorgen können den Darm verstopfen, Trauer und Leid kann auf die Brust drücken – und alle Energie steigt nach oben, in den Kopf, der wie ein Verrückter versucht, die Kontrolle zu behalten. Jeder Körperteil kann faktisch das Trauma in sich verschließen.
Man reagiert übrigens nicht immer gleich. An meinem eigenen Beispiel zeige ich, wie ich abhängig von der Art der Gefahr verschiedenartig reagieren kann. Das ist ganz normal: Die meisten Menschen reagieren in außergewöhnlichen Gefahrensituationen (ein Anschlag, eine Naturkatastrophe, eine Kriegssituation) mit kühlem Kopf und bringen sich selbst und andere wie im Autopilot-Modus in Sicherheit. Obwohl das auch auf einer Flucht sein kann, ist es viel eher eine Kampfreaktion, weil man handelt und nicht passiv erstarrt.
Im Allgemeinen hat man häufiger mit Situationen zu tun, die nicht dramatisch oder lebensbedrohlich sind und dennoch als (leicht) bedrohlich wahrgenommen werden. Man muss beispielsweise vor Publikum sprechen, oder man ist verantwortlich für eine Reorganisation im Betrieb, oder die Entlassung droht, oder man verspätet sich bei einem wichtigen Termin. Auf relativ geringe Sorgen und Unannehmlichkeiten reagiert die Mehrheit der hochsensiblen und bedachtsamen Menschen eher nach dem Muster des Flüchtens oder Erstarrens. (Im vierten Kapitel kommen wir noch einmal darauf zurück.) Stress nimmt für Menschen, die zum Flüchten oder zum Erstarren neigen, einen anderen Verlauf als für die „Kämpfer“.
Dieses Buch wird hauptsächlich die Erstarrungsreaktion (b) und die Unterwerfung (d) behandeln, weil die meisten Menschen bei geringeren Gefahren wie Arbeitsstress, Ehestreit usw. auf diese Weise reagieren.
Wie reagierst du, wenn du in die Enge getrieben wirst? Schluckst du alles, frisst du alles in dich hinein oder giftest du andere um dich herum heftig an? Bist du schnell beleidigt, oder fühlst du dich schuldig und nimmst dir jede Kritik sehr zu Herzen? Vergräbst du dich tief in die Kissen deines Betts, um zu vergessen, was du alles tun musst? Fertigst du ständig Listen an und versuchst auf diese Weise, die Kontrolle über dein ganzes Leben zu behalten? Gibst du schnell auf, wirfst du das Handtuch oder gehst du auf die Barrikaden?
Es gibt viele verschiedene Reaktionsmuster, wenn eine Situation unangenehm wird oder ausufert. Es ist auch möglich, dass du mehrere der oben genannten Reaktionsmuster in verschiedenen Situationen anwendest. Reaktionsmuster werden auch als Schutzmechanismen bezeichnet oder als Coping-Verhalten. Es sagt etwas aus über deinen Charakter und wie du Probleme auf deine Art und Weise angehst. Manchmal sind diese Muster nützlich, ein anders Mal nicht, dann benachteiligen sie dich selbst und/oder einen anderen.
Was ist dein Stil?
Denke kurz über deine Reaktionen nach. Blicke auf dein Leben zurück. Neigst du eher zum Kampf oder zur Flucht? Oder neigst du dazu, dich zu unterwerfen oder zu erstarren?
Kämpfen: Ich wehre mich, reagiere knallhart, schlage um mich, ich werde schnell aggressiv, ich schlage auf jemanden ein, verteidige mich und mache dem anderen klar, wer recht hat oder hier der Chef ist.
– Das tue ich, wenn ich ………………………………………………………………………………………………….
Flüchten: Ich laufe aus der schrecklichen Situation weg, antworte nicht mehr, ich komme nicht wieder auf einen Streit oder Konflikt zurück, ich beende die Beziehung schnell.
– Das tue ich, wenn ich ……………………………………………………………………………………………………
Erstarren: Ich werde sofort still, laufe rot an, ich spüre, wie mir der Angstschweiß ausbricht, ich mache mich ganz klein und unsichtbar, ich komme nie mehr zurück, ich stottere.
– Das tue ich, wenn ich …………………………………………………………………………………………………….
Unterwerfen: Ich rede dem anderen nach dem Mund, ich lasse ihm seinen Willen, ich tue so, als hätte ich nichts bemerkt (auch wenn es beleidigend ist), ich bemühe mich, dem anderen gefällig zu sein.
– Das tue ich, wenn ich ………………………………………………………………………………………………………………………………
Du darfst nicht alles glauben, was du denkst.
Loesje
Überreizung wird von hochsensiblen Menschen als wichtigste Ursache für Stress genannt. Ich bin da anderer Meinung. Der wahre Verursacher von Stress ist die darunterliegende Angst. Dadurch kann sogar ein Fest Stress bereiten, weil wir uns einer Situation ausgesetzt fühlen, in der wir, wie wir aus Erfahrung wissen, viele unangenehme Gefühle haben werden. Wir sind weniger vom Arbeitsdruck gestresst als durch die Tatsache, dass wir zu wenig Einfluss auf den Arbeitsprozess – und dabei auf unser eigenes Wohlbefinden – ausüben können. Viele Menschen klagen über volle Terminkalender, aber der wirkliche Stress wird tatsächlich dadurch verursacht, dass sie keine oder zu wenig Kontrolle darüber haben, sie fühlen sich ihm ausgeliefert. Probleme in der Familie erzeugen Stress, sobald wir merken, dass wir da nichts machen und nur ohnmächtig zuschauen können. Die wahre Ursache für Stress ist meistens nicht ein umtriebiges Leben, sondern das Gefühl im Verborgenen dahinter, nämlich die Machtlosigkeit, die wir gegenüber unserem eigenen Leben empfinden.
In der Arbeitswelt spricht man auch von Traglast und Tragkraft: Ist die Last größer als die Kraft, fühlen wir uns ohnmächtig. Es ist nicht so sehr die viele Arbeit und die vielen Reize, sondern deine persönliche und unbewusste Reaktion darauf: Es weckt in dir Erinnerungen an Machtlosigkeit. Die Art, wie du auf ein geschäftiges Leben reagierst, hängt ursächlich vom bis dahin erfahrenen Stress ab. Das solltest du dir unbedingt merken!
Die wirkliche Ursache für Stress ist nicht ein vielbeschäftigtes Leben. Es ist die Machtlosigkeit, die wir dabei empfinden. Das Gefühl, keinen Einfluss auf die Umstände in unserem eigenen Leben zu haben, ist der stärkste Anreiz für Stressreaktionen.
Ich spreche bewusst von Erinnerungen, weil du aus einem bestimmten Bezugsrahmen heraus reagierst. Dieser Bezugsrahmen wurde früh in deinem Leben angelegt, in der Kindheit oder sogar noch früher: als Baby im Bauch der Mutter. Der Körper vergisst nämlich nichts, und anhand jener Erinnerungen entwickelt er Standardreaktionen. Das geschieht schon im Mutterleib: Pränataler Stress beeinflusst laut der Psychobiologin Rothenberg5 die Anzahl der Cortisolrezeptoren im Hippocampus, einem kleinen Areal im Gehirn, das für Stressreaktionen zuständig ist. Laut Rothenberg bestimmt also früher Stress die Empfänglichkeit für Stress im späteren Leben. Jemand, der viel unter Stress leidet, findet das Leben per definitionem stressig, aber das kommt von den physiologischen Reaktionsmustern, die bereits früh angelegt wurden.6 Der Stress beginnt möglicherweise noch früher: Es gibt inzwischen immer mehr Beweise dafür, dass du durch deine DNA – das genetische Material, das du von deinen Eltern erhältst –, Traumata weitergibst.7
Ein Kind kann nicht sich selbst und seine Situation mit den Augen eines Zuschauers betrachten; es erleidet die Situation. Es befindet sich mittendrin und versucht, mit möglichst wenigen Verletzungen davonzukommen. Meistens geht es hier ums „Erstarren“. Ein Kind kann es sich kaum erlauben zu „kämpfen“. Sich gegen die Menschen zu wehren, die es ohne Vorbehalte liebt, käme dem Kind einfach nicht in den Sinn. Instinktiv spürt es, dass das Risiko von Verstoßen und Abweisen (worauf der Tod folgen kann) zu groß ist, und außerdem weiß es meist nicht einmal, dass die Situation ungewöhnlich ist. Man kann ein Kind, das angstvolle und stressige Situationen erlebt hat, ruhig als ein traumatisiertes Kind bezeichnen, das gilt vor allem für ein hochsensibles Kind. Ob das Trauma groß oder klein ist, die körperlichen Prozesse sind die gleichen: Das Kind wird ängstlich sein und mit Erstarren reagieren. Außerdem wird das Kind sein Trauma und seine Reaktionen darauf in erster Linie nicht als Trauma wahrnehmen. Es kennt es nicht anders. Es kennt nur einen gestressten Körper und wird auf alle neuen Situationen und Umstände, seien sie nun bedrohlich oder nicht, aufmerksamer reagieren, unruhiger und angespannter sein. Es hat zum Beispiel einen leichteren Schlaf, fühlt sich andauernd ungeschützt, sein ganzes Wesen, das Sein wird für das Kind sozusagen zu einer ständigen Traumareaktion. Es ist gewissermaßen auf Angst und Stress programmiert.
Mir ist es auch so ergangen. Als ich jung war, hatte ich einen Körper, der gestresst war. Ich kannte es nicht anders. Ich vermute sogar, ich wurde damit geboren, weil meine Mutter, ein gestresstes Huhn von Natur aus, kurz vor der Empfängnis mit einem kranken Kind konfrontiert wurde. Mein um ein Jahr älterer Bruder hatte eine Bluterkrankheit und musste regelmäßig ins Krankenhaus, während meine Mutter mit mir schwanger war. Zuerst dachte man an Knochenkrebs, aber es war Hämophilie, eine lebenslang andauernde Krankheit. Meine Mutter nahm diese Tatsache nicht leichtfertig auf, fürsorglich, wie sie von Natur aus ist. Während ich in ihrem Bauch wuchs, stand sie Ängste aus um ihren Jüngsten, ihren einzigen Sohn. Dazu stieg die Angst in ihr auf, ich könnte auch daran erkranken, als sich herausstellte, dass es eine Erbkrankheit war. Du kannst dir vorstellen, dass mein kleiner Leib sozusagen auf Stresshormonen wuchs.
Ich glaube, ich habe lange nicht gespürt, dass mein Körper etwas stressig angelegt war. Auch aufgrund anderer Ereignisse wuchs ich als hochsensibler, sehr wachsamer, vielbeschäftigter Teenager auf, der nur schwerlich zur Ruhe kommen konnte. Immer innerlich mit erhöhter Spannung, immer mit empfindsamem Blick lesend, wie es meiner Mutter und anderen Menschen in ihrer Umgebung ging.
Viele Menschen haben eine schlechte Starterfahrung, wodurch sie nicht wissen, dass ihr Körper bereits in jungen Jahren gestresst wurde. Man kann in den ersten Lebensjahren schon schwierige Dinge mitmachen.
Maria ist Mutter von sechs Kindern, arbeitet als Coach für Eltern und Kinder und bezieht momentan Krankengeld wegen einer schweren Erkrankung. Im Jahr 2001 wurde eine Autoimmunerkrankung, die Basedow-Krankheit, bei ihr festgestellt. Seit zwei Jahren wird sie wegen Eierstockkrebs behandelt.
Als Kind war ich oft krank und fühlte mich schon anders als die anderen Kinder. Als Kleinkind und Kindergartenkind hatte ich oft Ohren- und Halsschmerzen. Mit vier Jahren bin ich beinahe ertrunken. Auf der Grundschule hatte ich vor allem Bauchschmerzen und Gelenkrheuma. Meine Ursprungsfamilie bot mir keine sichere Umgebung, weil meine Eltern sich häufig stritten. Manchmal trank mein Vater zu viel, und meine Eltern gingen oft aus, dann waren wir Kinder allein.
Maria definiert sich selbst als ein Kind, das schon früh die Rolle eines Erwachsenen übernehmen musste, weil ein Elternteil nicht imstande war, die Elternrolle angemessen auszufüllen.
Ich nehme an, meine Mutter hatte bereits während der Schwangerschaft und meiner Geburt Stress wegen der nicht so guten Beziehung mit meinem Vater. Er war häufig nicht da, auch bei meiner Geburt blieb er weg.
Leonie (48) studierte Mensendieck-Therapie an der Fachhochschule und arbeitete einige Jahre als Therapeutin. Nach ihrem dreißigsten Lebensjahr wurde sie berufsunfähig. Ihr Hausarzt stellte Fibromyalgie fest. Kennzeichnend für die Fibromyalgie sind Muskelschmerzen und druckempfindliche Stellen am ganzen Körper. Der Muskelschmerz nimmt für gewöhnlich nach Überlastung zu oder wenn man der Kälte ausgesetzt ist. Das Syndrom geht häufig mit verschiedenen anderen Beschwerden wie Schlafstörungen, Müdigkeit, Muskelsteife und Kopfschmerz einher.
Ich fühle mich jeden Tag todmüde, habe Muskelschmerzen und bin lustlos aufgrund depressiver Verstimmungen.
Diese Krankheit macht das Leben für Leonie und ihren Mann schwierig. Sie haben großen finanziellen Stress, weil Leonies Mann in den Krisenjahren seine Stelle verlor.
Ich wurde sehr „behütet“ und sehr altmodisch erzogen. Zu Hause wurde nie über Emotionen gesprochen oder das, was man fühlte. Dafür war kein Platz; vor allem meine Mutter verbarg das sofort. Wenn ich meine Mutter schon mal wegen schwieriger Dinge fragte, antwortete sie hartnäckig: „Ach, das wird schon.“ Aber in meiner Schulzeit war meine Mutter depressiv.
Natürlich hat das eine Auswirkung auf die Entwicklung der hochsensiblen, stillen Leonie.
Auf der Grundschule wurde ich jahrelang geärgert und ausgeschlossen. Ich vermute, ich habe dadurch eine Art posttraumatische Belastungsstörung bekommen.
Als junge Erwachsene war ich ganz einsam und traurig. Eine Liebesbeziehung, die negativ endete und durch die ich viel Liebeskummer hatte, ging in eine Depression über. Es dauerte viel zu lange und wollte nicht enden. Ich war depressiv, apathisch und besorgt. Im Rückblick zeigte ich ein Vermeidungsverhalten. Meine Stressabwehr sorgte dafür, dass ich alles unter Kontrolle haben wollte. Überall hatte ich Zettelchen, ich begann zu überkompensieren, arbeitete hart. Ich wollte alles richtig machen und war wie der Teufel auf der Hut vor Kontrollverlust und Fehlern.
In dem Moment ist es wichtig zu verstehen, dass Stress ganz oft zusammenhängt mit Angst und Machtlosigkeit und dass man auf diese Gefühle programmiert sein kann. Die Programmierung sorgt dafür, dass man in seinem Leben als Erwachsener mehr Stress erlebt als jemand, der weniger oder gar nicht darauf programmiert ist. Man sucht sozusagen selbst nach Erfahrungen, die genauso stressig und beängstigend sind, eben weil man so programmiert ist. Es ist die Art und Weise, wie der Einzelne im Erwachsenenalter auf Stress reagiert, die den Stress am Leben hält.
Würde man ohne Stress reagieren, käme einem das sehr fremd und neu vor. Man würde sich selbst schon bald als „erleuchtet“ wahrnehmen, als einen ausgesprochen gelassenen Menschen. Man reagiert dann mit einem dicken Buddha-Bauch und einem Buddha-Lachen auf alles und jeden um einen herum. Verstanden?
Vielleicht denkst du, warum hören wir nicht einfach auf damit, uns zu stressen? Wir leben doch nicht mehr im Urwald mit Löwen und Bären? Wir finden auch nicht mehr hinter jedem Baum eine giftige Schlange, und die Geschäfte sind vollgestopft mit Nahrung; die Angst, an Hunger zu sterben, ist in der westlichen Welt auch keine Urangst. Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Es gibt mindestens fünf Gründe dafür.
Nichts auf der Welt ist so wunderbar ansteckend wie schlechte Laune.8
Charles Dickens
Ein Grund dafür ist, dass der Mensch mehr Interesse an negativen als an positiven Nachrichten hat. Wir reagieren gern und intensiv auf negative Reize, mehr als auf positive. Das zeigt sich auch in der Wirkung der Medien. Wenn irgendwo auf der anderen Seite der Welt ein Terroranschlag verübt wurde, sind wir geschockt und reagieren heftig darauf. Wir tun das nicht, wenn an derselben Stelle eine große Menschenmenge zusammenkam, die erfolgreich für Frieden oder gleiche Rechte demonstrierte. Ein schrecklicher Präsident erregt unser Interesse; ein guter Präsident, der sein Land voranbringt, fesselt uns weniger. Sogar wenn etwas in unserer direkten Umgebung passiert oder uns selbst betrifft, rühren uns positive Nachrichten über Taten von Liebe, Mitleid und Freude weniger, wir neigen dazu, mehr Aufmerksamkeit den schlechten Ereignissen in Weitweggistan zu widmen. Wie absurd!
Diese Wirkung wurde von John Cacioppo untersucht, einem Forscher der Ohio State University. Mithilfe des MRT maß er die Gehirntätigkeit von Probanden, während er ihnen Fotos zeigte, von denen bekannt ist, dass sie positive Gefühle auslösen, zum Beispiel von einem Ferrari, einem Palmenstrand oder einer Pizza. Danach zeigte er denselben Probanden Bilder, die negative Gefühle verursachen, wie ein entstelltes Gesicht oder eine tote Katze. Zuletzt sahen sie neutrale Bilder, zum Beispiel von einem Föhn oder einer Vase. Cacioppo betrachtete die elektrische Aktivität in der Großhirnrinde, wodurch er den Umfang der Informationsübertragung registrieren konnte. Das Gehirn reagierte stärker, mit einer größeren Zunahme der elektrischen Aktivität, auf negative Stimuli. Man kann daraus ableiten, dass unsere Haltung durch schlechte Nachrichten stärker beeinflusst wird als durch erfreuliche. Dieses Phänomen hat sich wahrscheinlich aus einem einzigen Grund in der Evolution durchgesetzt, nämlich um uns aus der Gefahrenzone zu halten. Seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte ging es ums Überleben. Daher ist unser Körper noch immer stark auf die Erwartung von Stress eingestellt, und wir sind deshalb immer in Bereitschaft, zu flüchten oder zu kämpfen. Dabei ist unser Kampf-und-Flucht-System so übereifrig, dass wir beinahe nicht mehr warten können, bis wir wieder in Aktion treten dürfen. Deshalb erscheinen wir manchmal wie süchtig nach physiologischen Reaktionen, die zum Stress und zur Spannung gehören, und wir finden immer seltener einen Ausweg aus den schädlichen Prozessen, die als Folge davon in unserem Körper auftreten.
Der zweite Grund besteht darin, dass sich unsere Wahrnehmung durch die physiologische Stressantwort verändert. In der ersten Alarmphase und in der erhöhten Wachsamkeitsphase wird die Welt als gefährlich, bedrohend und feindlich erlebt. Alles sieht bedrohlicher und gefährlicher aus. Hinter jedem Baum kann ein Bär lauern. Das erkennt man nur allzu gut am Verhalten eines chronisch gestressten Menschen. Bei Untersuchungen hat man herausgefunden, dass nicht nur die Außenwelt weniger rosig aussieht, sondern auch die eigene Person negativer wahrgenommen wird. Das hat schon bald Konsequenzen für den emotionalen Zustand jemandes, der angespannt oder gestresst ist. Wir sprechen dann auch von einem Tunnelblick.
Robert (51 Jahre) hat eine verantwortungsvolle Stelle als Betriebsleiter. Er hat lange Tage, reist viel und hat wenig Zeit, sich richtig zu entspannen. Er hat zwar ein gutes Gehalt, aber kein Privatleben, ist geschieden und hat keine Zeit, eine neue Partnerin zu suchen. Robert fühlt sich schon lange nicht mehr wohl in seiner Position, er fürchtet seine Gegner, die schon lange darauf waren, ihn auszustechen. Aber weggehen und selbst einen neuen Betrieb zu suchen, ist für ihn keine Option. Robert findet keine Lösungsmöglichkeit mehr, er sieht nur noch Bären auf seinem Weg. Obwohl er weiß, dass es stimmt, wenn jemand ihm erzählt, er könne schnell wieder eine neue Stelle finden, so ist die Wirkung der Physiologie in seinem Körper stärker: Angst hat ihn im Griff. Er macht sich große Sorgen und liegt Nächte hindurch panisch wach.