Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ist mein Kind hochsensibel? Vielen Eltern stellt sich diese Frage. Susan Marletta-Hart gibt klare, einfühlsame, gut lesbare und trotzdem wissenschaftlich fundierte Antworten. Etwa 20 Prozent aller Kinder sind hochsensibel, normalerweiseohne Wissen der Eltern und Erzieher. Ihnen sind Stress, Lärm und grelles Licht oft zu viel, sie spüren regelmäßig das Bedürfnis allein zu sein, haben ein intensives Gefühlsleben, eine reiche Fantasie und lebhafte Träume. Sie werden leicht von der Stimmung, die andere ausstrahlen, beeinflusst. Was bedeutet das für meine praktische Erziehung? Susan Marletta-Hart erklärt, was Hochsensibilität ist, wie Sie sie bei Ihrem Kind erkennen und zeigt an praktischen Beispielen, wie Sie Ihr Kind unterstützen können, aus dieser vermeintlichen Schwierigkeiteine besondere Gabe zu machen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 287
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Originalausgabeerscheint 2013 bei Uitgeverij Ten Have, Baarn/NL unter dem Titel:Leven met hooggevoelige kinderen
Susan Marletta-Hart:
Lektorat: Andreas Klatt
Leben mit hochsensiblen Kindern
Coverfoto: © Fotoline – photocase.de
Übersetzung: Frank Ziesing
Umschlaggestaltung,
© Aurum Verlag in J. Kamphausen Verlag
www.weltinnenraum.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2013
ISBN Printausgabe: 978-3-89901-586-7
ISBN E-Book: 978-3-89901-610-9
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Susan Marletta-Hart
Bewusst unterstützen – einfühlsam erziehen
aus dem Niederländischenübersetzt von Frank Ziesing
Vorwort
Teil 1:
Den richtigen Nährboden für hochsensible Kinder schaffen
1 Hochsensibilität – auf den Spuren eines Phänomens
1.1 Das Besondere an hochsensiblen Kindern
1.2 Die Suche nach dem nächsten Kick
1.3 Löwenzahn- und Orchideenkinder
1.4 Wenn die Reize überhandnehmen
2 Hochsensible Elternschaft
3 Das zarte Kind – wenn die Sinne hellwach sind
3.1 Sehen
3.2 Hören
3.3 Riechen
3.4 Tasten
3.5 Schmecken
3.6 Der sechste Sinn
4 Das Spannungsfeld zwischen Innen und Außen
4.1 Körperliche Grenze
4.2 Gedankliche Grenze
4.3 Emotionale Grenze
4.4 Energetische Grenze
4.5 Grenze der Zeit
4.6 Soziale Grenze
5 Eine Gesellschaft, in der Hochsensibilität ihren Platz hat
6 Rezepte für ein glückliches Kinderleben
6.1 Sich geliebt wissen
6.2 Mit Sicherheit ins Leben starten
6.3 Zum ersten Schritt ermutigt werden
6.4 Übergänge achtsam gestalten
6.5 Schutzmechanismen Raum geben
6.6 Die Balance finden
6.7 Klare Grenzen setzen
6.8 Verständnis in hyperaktiven Phasen
6.8 Kompromisse
7 Hochsensible Kommunikation
8 Alte Schmerzen und Traumata
9 Das hochsensible Kind im Unterricht
10 Schlüssel zum Verständnis hochsensibler Kinder
Teil 2:
Praktische Tipps für herausfordernde Situationen
11 Frühe Kindheit
11.1 Hektik
11.2 Einschlafen
11.3 Verzagtsein
11.4 Übersinnliche Wahrnehmungen
11.5 Draußen spielen
12 Grundschulzeit
12.1 Empfindlichkeit
12.2 Den eigenen Weg entdecken
12.3 Zuckerspiegel im Sinkflug
12.4 Hänseln
12.5 Klassenreise
12.6 Einsamkeit
12.7 Auseinandersetzung mit dem Tod
12.8 Gefühllosigkeit
12.9 Hochbegabung
12.10 Sensible Jungen
12.11 Verantwortung schultern
12.12 Blitzableiter sein
12.13 Weltschmerz
13 Pubertät
13.1 Bauchschmerzen
13.2 Man selbst sein
13.3 Den eigenen Kern schützen
13.4 Umgang mit Kränkungen
13.5 Über die Stränge schlagen
13.6 Sich selbst akzeptieren
13.7 Verbunden mit allem und jedem
13.8 Klare Grenzen setzen
13.9 Psychische Probleme
13.10 Den Stand-by-Modus entdecken
Teil 3:
Übung macht den Meister
Vierzehn Übungen, Spiele und Meditationen für Eltern und Kinder
14.1 Schmetterlingsschraube
14.2 Boxen
14.3 Der Holzhacker
14.4 Der Stern
14.5 Das Männchen Bo im Bauch
14.6 Stampfen
14.7 Ha – hi – hi
14.8 Kuckuck
14.9 Barbapapa
14.10 Rollentausch
14.11 Batterie aufladen
14.12 Seid laut!
14.13 Das Pendel
14.14 Über Gefühle reden
14.15 Karnevalsumzug
14.16 Weißes oder goldenes Licht visualisieren
14.17 Avocado-Meditation
14.18 Visualisiere ein Krafttier
14.19 Energetische Fäden durchschneiden
14.20 Energetische Fäden durchschneiden (2)
14.21 Den eigenen Garten pflegen
14.22 Stehen wie ein Baum
14.23 Einpunktmeditation
14.24 Öffne dein Herz
15 Affirmationen
16 Das Wichtigste fürEltern und Betreuer hochsensibler Kinder
Test: ist Ihr Kind hochsensibel? – Ein Eltern-Fragebogen
Bibliografie
Über die Autorin
Als Therapeutin treffe ich auf hochsensible Menschen aller Altersklassen. Sie alle verbindet, dass sie sich bereits von Kindheit an irgendwie seltsam oder anders gefühlt haben und auch von ihrer Umgebung so gesehen wurden.
Bei Erwachsenen liegt der Schwerpunkt meiner Tätigkeit – neben der Aufarbeitung teilweise schwerer traumatischer Jugenderfahrungen – darin, den Glauben an die innere Stimme wieder aufzurichten, an die eigene Meinung, die eigenen Gefühle, die eigenen Überzeugungen und die eigene Intuition. Sensible Menschen, die ohne Kenntnis ihrer besonderen Charaktereigenschaft heranwachsen, verlieren nämlich fast immer einen großen Teil ihrer authentischen Persönlichkeit, sie haben ein niedriges Selbstwertgefühl und arbeiten sich oft endlos an ganz alltäglichen Situationen ab.
Diese Erwachsenen berichten fast alle, dass sie sich an unzählige unangenehme und einsame Situationen erinnern, in der Schulklasse, zu Hause, bei Verwandtschaftsbesuchen, im Schwimm- oder Sportunterricht, bei Geburtstagsfeiern oder auf Klassenreisen. Es waren bedrängende Situationen: Sie fühlten sich verlegen, ängstlich oder unsicher, hatten aber gelernt, ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen. In der damaligen Zeit sagte man einfach, dass ein Kind eben verlegen oder empfindlich sei, und damit hatte sich die Sache. Außerdem hatten die Menschen andere Sorgen, als sich Gedanken über die Innenwelt eines Kindes zu machen.
Heutzutage ist das anders, das geistige Wohl und die Entwicklung von Kindern wird von Eltern, Lehrkräften und Psychologen stärker beachtet. Moderne Eltern und Kinder pflegen im Vergleich zu früheren Generationen einen offeneren und demokratischeren Umgang miteinander. Es gibt mehr Respekt für gegenteilige Meinungen und Gefühle, und man braucht sich nicht mehr innerlich zu verbiegen, weil „es sich so gehört“. Glücklicherweise gibt es auch mehr Raum und Aufmerksamkeit für seelische Regungen von Kindern – und viel mehr Toleranz. Kinder dürfen heutzutage sie selbst sein und haben deutlich weniger unter autoritärer Erziehung zu leiden.
In meiner Praxis erlebe ich, dass hochsensible Kinder, die heute heranwachsen, einen großen Vorsprung gegenüber erwachsenen Hochsensiblen haben. Das merke ich auch an meinen Töchtern, denen ich von klein auf sagen konnte, dass sie Rücksicht auf bestimmte Eigenschaften ihres Charakters nehmen müssen. So entstand der Wunsch, dieses Buch zu schreiben. Außerdem sah ich in meiner therapeutischen Praxis, dass bei hochsensiblen Kindern trotzdem noch Probleme entstehen, was meist auf fehlende Kenntnis und Akzeptanz ihrer Sensibilität zurückzuführen ist.
Leben mit hochsensiblen Kindern ist für Eltern, Familienmitglieder, Betreuer und Lehrer bestimmt. Weil Hochsensibilität nicht immer erkannt wird. Weil schon kleine Anpassungen zu Hause oder in der Schule das Leben von HSPs (highly sensitive persons) viel angenehmer machen können. Weil es gut ist, hochsensible Kinder auf die Herausforderungen vorzubereiten, denen sie im Leben ausgesetzt sein werden. Doch wer sind nun diese Kinder mit hochsensiblem Charakter? Wie erkennt man sie, und wie verhält man sich ihnen gegenüber? Wie soll man sie aufziehen, damit sie sich gesund entwickeln? Diese Fragen versuche ich in diesem Buch zu beantworten. Genauso wie in meinen Büchern Leben mit Hochsensibilität, Leben aus dem Vollen mit Hochsensibilität und Achtsam leben mit Hochsensibilität nutze ich wieder viele Erfahrungsberichte, weil ich glaube, dass Praxis mehr sagt als bloße Theorie.
Sensible und mit Intuition begabte Kinder stehen in unserer lärmenden und schnelllebigen Gesellschaft in Schule, Familie und im sozialen Leben vor großen Herausforderungen. Sie brauchen Werkzeuge, um sich besser in ihrer Haut fühlen zu können. Außerdem können sie lernen, positiv mit ihren Wahrnehmungen umzugehen, und diese für sich selbst und für andere zu nutzen. Hochsensibilität hat von Natur aus nämlich eine nützliche Funktion.
Es ist nicht meine Absicht, nur auf den Problemen herumzureiten und die Qualitäten, die diese Kinder mitbringen, außer Acht zu lassen. Mein erstes Buch, Leben mit Hochsensibilität, hatte den Untertitel Herausforderung und Gabe. Ich glaube noch immer an diesen Satz, obwohl ich weiß, wie schwierig Hochsensibilität sein kann und wie viel dazu gehört, mit hochsensiblem Charakter stolz und glücklich zu sein. Das Kind, das in seiner Sensibilität keine Anerkennung und Betreuung bekommt, schwankt oft hilflos und einsam in einem großen Meer von Sinnesreizen. Gerade deshalb ist Verständnis und Hilfe für diese Kinder so essenziell.
Hochsensibilität braucht kein Problem zu sein, wenn Kind, Eltern und Lehrer wissen, wie mit dieser Eigenschaft umzugehen ist. Ich hoffe, dass Leben mit hochsensiblen Kindern dazu einen Beitrag leisten kann.
SUSAN MARLETTA-HART
St. Gallenkappel
Februar 2013
Modellierton
Im großen Atelier
liege ich: eine Handvoll Ton
Verlassen von den Händen, die mich kneteten
langsam kommt Kälte in mir hoch
Die Gefahren um mich herum, krauses Holz
wenn ich falle, piekst es mich gemein
Könnte Ton erröten, würde ich Farbe annehmen
wenn ich an das denke, was ich einmal werden soll
Das Modell einer Büste
eine Ehrerbietung für jemanden, der unsterblich werden soll
Dieses kleine Gedicht schrieb ich als Fünfzehnjährige. Erst Jahre später, als ich mehr über Hochsensibilität wusste, begann ich, meine eigene Metapher zu verstehen. Wie treffend stellte doch die Handvoll Ton, an der allerlei nicht dazugehörendes Material wie Hobelspäne hängen, meinen Kampf mit auf mich einströmenden Gedanken, Gefühlen, Geräuschen und anderen Reizen dar. Das Gedicht handelte also von Hochsensibilität! So fühlte ich mich damals, und so fühle ich mich eigentlich noch immer. Ständig bleibt an mir zu viel hängen; Dinge, die nicht zu mir gehören, die eine ganz andere Qualität haben, die Fremdmaterial sind. Und gleichzeitig möchte dieselbe Handvoll Ton gerne mitwirken am Zustandekommen von etwas Schönem, einer Skulptur, einem Werk, das Bedeutung hat und tröstet. Das ist das Spannungsfeld, in dem sich jede hochsensible Person, jedes hochsensible Kind bewegt.
Hochsensibilität ist eine vererbte Eigenschaft mit vielen Gesichtern. Die meisten Erwachsenen, die zu mir kommen, wirkten als Kinder auf ihre Eltern schüchtern, introvertiert oder überempfindlich. Manche Eltern fanden ein solches Kind pflegeleichter und machten sich keine weiteren Gedanken. Andere Klienten berichten hingegen, dass ihre Eltern sie als schwierig, unruhig und als Problemkind bezeichnet hatten.
Eingeführt wurde die Bezeichnung von der Psychologin Elaine N. Aron. Nach einer medizinischen Behandlung, auf die sie besonders stark reagierte, nannte die Krankenpflegerin sie „hochsensibel“. Diese Bezeichnung – damals noch kein Fachbegriff – faszinierte sie so sehr, dass sie sich entschloss, das Phänomen näher zu erforschen und seinen Ursachen auf die Spur zu kommen. Sie entwarf Fragebögen und untersuchte Versuchspersonen auf verschiedene Art, um die Merkmale von Hochsensibilität herauszufinden. Zunächst dachte sie an die Charaktereigenschaft Introversion, doch je mehr sie dies mit ihrer anwachsenden Eigenschaftsliste sensibler Menschen verglich, desto mehr zeigte sich interessanterweise, dass Sensibilität und Introversion nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Es gibt auch sehr sensible Menschen, etwa 30 Prozent um genauer zu sein, die sich nicht nur als sehr sensibel empfinden, sondern auch als extravertiert. Das führte zu Arons Entdeckung, dass Sensibilität in einem gesunden Charakter eine eigenständige Eigenschaft ist.
Die Bezeichnung „Hochsensibilität“ definiert Empfindsamkeit mehr von innen, während Carl Gustav Jungs Intro- und Extraversion eher Etiketten sind, die einer Persönlichkeit von außen aufgedrückt werden. In anderen Worten: Introversion beschreibt Symptome, während Hochsensibilität die Ursache erklärt. Laut Aron haben Hochsensible ein empfindlicheres Nervensystem, wodurch sie innere und äußere Reize gründlicher verarbeiten. Sie sind empfindlicher gegenüber Emotionen wie Schmerz und Freude und werden leichter überwältigt von Geräuschen, Gerüchen und visuellen und taktilen Reizen aus ihrer Umgebung. Sie benötigen im Allgemeinen mehr Ruhe und Verarbeitungszeit.1
1997 schrieb Elaine Aron ihr erstes umfassendes Werk über dieses Thema, The Highly Sensitive Person. Folgende Eigenschaften sind Aron zufolge zusammengefasst besonders charakteristisch:
• viele subtile Eigenschaften der Umgebung wahrnehmen,
• tief gehend über das Wahrgenommene nachdenken,
• mehr Zeit benötigen, um all diese Eindrücke zu verarbeiten.
Wichtig ist, dass Aron keine Wertung vornimmt. Hochsensible Kinder und Erwachsene haben nicht „bessere“ Sinnesorgane als andere, sie verarbeiten die einströmende Information lediglich tiefer und ausführlicher. Sie bemerken mehr Details, sowohl in ihrer Umgebung als auch in ihrem Innenleben.
Aron beschreibt die hochsensible Persönlichkeit auch als pause-to-check-Typ, d.h. als jemanden, der eine Pause einlegt, um nachzudenken (check) bevor er mit einer Handlung beginnt. Das heißt nicht, dass ein hochsensibles Kind wortwörtlich ständig stehen bleibt, denn viel von diesem Pausieren und Nachdenken spielt sich im Inneren ab. Das Kind kann auf vielerlei Art in Gedanken sein, um Möglichkeiten abzuwägen, Strategien durchzuspielen oder zu zweifeln. Dabei spielt häufig auch Angst eine Rolle.
Ein hochsensibles Kind kann man ein bisschen mit einem Vogel vergleichen, der Krümel auf der Terrasse aufpickt und zwischendurch immer wieder prüft, ob Gefahren lauern. Das hochsensible Kind rennt bedeutend seltener ungestüm in neue Situationen hinein. Es wägt eher die Nachteile und Gefahren ab, bevor es handelt.
Es gibt die Vermutung, dass das vorsichtige Naturell der hochsensiblen Persönlichkeit auf eine Zunahme neuronaler Verbindungen zurückgeht, die mit dem Erleben von Stress und Gefahren in Verbindung stehen. Tatsächlich bestätigen Forschungsergebnisse mehr und mehr diese Annahme (mehr dazu in Kap. 5).
Woher weiß ich nun, ob mein Kind hochsensibel ist? Schauen Sie sich die folgende Eigenschaftsliste an. Treffen etwa 14 Punkte auf Ihr Kind zu, können Sie davon ausgehen, dass es hochsensibel ist.
Hochsensible …
• bemerken viele Details und Finessen,
• mögen Veränderungen nicht so gerne, denn neue Situationen sind besonders stressig,
• erscheinen öfters schüchtern und zurückhaltend,
• können bei Überreizung ziemlich gefühlsbetont reagieren,
• lieben Routine und Vorhersagbarkeit,
• haben Zugang zu Informationen, die manchmal nicht sinnlich wahrnehmbar sind,
• haben eine reiche innere Erlebenswelt,
• träumen, fantasieren und überlegen viel und gerne,
• denken tiefschürfend über Dinge nach (diese Eigenschaft ist nicht dasselbe wie Hochbegabung),
• sind fürsorglich und aufmerksam, solange sie nicht überreizt sind,
• können Stimmungen anderer gut nachvollziehen,
• erreichen schneller als andere die Erschöpfungsschwelle,
• stören sich mehr als andere an körperlichen Unannehmlichkeiten,
• können träge erscheinen,
• sind sich ihrer selbst und der Interaktion mit anderen sehr bewusst,
• sind kreativ und erfinderisch,
• sind gerne in der Natur,
• haben schon in jungen Jahren Interesse an Religion und/oder Mystik.
Wie gesagt, keine zwei Kinder sind jemals gleich. Bei all den typischen Merkmalen gibt es immer auch Ausnahmen. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein hochsensibles Kind mehr ist als diese Eigenschaft. Neben Hochsensibilität hat jedes Kind weitere Eigenschaften. Aus Faktoren wie dem persönlichen Energieniveau, der Fähigkeit zur Selbstregulation und der Intelligenz ergibt sich Stück für Stück ein Gesamtbild der Persönlichkeit. Ist das Kind durchsetzungsstark oder lässt es sich schnell entmutigen? Ist es schnell abgelenkt oder kann es sich gut konzentrieren? Wie gefühlsbetont ist es in seinen Reaktionen? Welche Interessen hat es? Ist es ein Junge oder ein Mädchen, und welche Stellung hat es in der Familie? Hat es einen geselligen Charakter und ist es gerne unter Menschen, oder ist es eher ein Einzelgänger, der gefühlsbetonte Kontakte lieber meidet? Und vor allem, unter welchen Umständen wächst das Kind auf und welche Charakterpanzerungen und Schutzmechanismen entwickelt es notgedrungen, um in seiner Umgebung zu überleben? Die Persönlichkeit ist keine statische Identität, sondern wächst und entwickelt sich unter dem Einfluss verschiedener Faktoren.
Ist Hochsensibilität nun eine Eigenschaft oder ein Menschentyp? Die Antwort ist: Sie ist beides. Obwohl sie eigentlich nicht mehr als eine Facette des Charakters ist, sind Auswirkungen und Folgen dieser Eigenschaft so erheblich, dass man von einem Persönlichkeitstyp sprechen kann.
Das Komplizierte ist, dass es zwischen hochsensiblen Kindern auch wieder große Unterschiede gibt. Manche hochsensiblen Kinder haben ein starkes Bedürfnis nach Aktivitäten und Herausforderungen. Man bezeichnet sie in der Wissenschaft als Thrill oder Sensation Seeker. Erwachsene mit Thrill-Seeker-Temperament haben einen Hang zu Spannung und gefährlichen Dingen. Sie langweilen sich schnell, sind mutig und sie sind ständig auf der Suche nach neuen und intensiven Erfahrungen. Schon als Kind heckten sie gerne spannende und gefährliche Dinge aus, spielten am liebsten die Rolle vom Detektiv, Räuber oder Krieger. Statt ein Buch zu lesen, wollten sie lieber ihre Grenzen ausloten, auf Bäume klettern, Gokart fahren, und sobald sie etwas älter wurden, beginnen sie mit Fallschirmspringen oder Sportklettern. Sensation Seekers gehen physisch, sozial, gesetzlich und finanziell schneller Risikos ein und probieren auch eher Drogen und Alkohol aus, weil sie von Unbekanntem und von Spannung angezogen werden. Erstaunlicherweise müssen Hochsensibilität und Sensation Seeking als Eigenschaften einander nicht ausschließen. Ein Kind kann beide Eigenschaften haben.
Hochsensible Kinder, die gleichzeitig Thrill Seekers sind, finden häufig kaum Ruhe, sind gerne beschäftigt und suchen Herausforderungen. Sie sind unternehmungslustige Kinder, denen nicht so schnell bange wird. Durch ihr Bedürfnis nach Aktivität und ihre Aufgeschlossenheit können sie physisch und sozial gut entwickelt sein. Doch sie sind auch schnell müde, überschreiten leicht eigene Grenzen und spüren kaum, dass sie sich in Gefahr bringen oder erschöpft sind. Solche Kinder geraten mit größerer Wahrscheinlichkeit mit dem Gesetz in Konflikt, wollen herumreisen und sind in Gefahr, psychisch in Schwierigkeiten zu kommen, sobald sie chronisch überreizt sind. Bei der Suche nach ihren Grenzen überschreiten sie diese regelmäßig, als wäre das selbstverständlich. Ein gesunder Umgang mit den eigenen Grenzen ist eine große Herausforderung für diese Kinder und jungen Erwachsenen.
Alissa:
Ich bin ständig mit zehn verschiedenen Projekten beschäftigt. Und mit beinahe jedem Menschen kann ich fast überall Kontakt knüpfen. Obdachlose und Betrunkene sprechen mich immer an. Die Leute sagen, dass ich offen und lustig bin und denken, dass ich sehr selbstsicher bin. Ich weiß nur nicht, wie ich Kontakte unterbreche, wenn ich sie nicht mehr so toll finde. Oder wie ich die Sache oberflächlich halte und nicht noch stundenlang mit einem Gespräch beschäftigt bin (es wiederholt sich in meinem Kopf), und wie ich es vermeide, auf alles tiefgründig einzugehen. Inzwischen mache ich keine Verabredungen mehr bei mir zu Hause, weil ich Angst habe, dass ich Leute nicht mehr loswerde.
Die Mehrheit der hochsensiblen Kinder ist von deutlich besinnlicherer Natur. Sie mögen Ruhe und Übersichtlichkeit. Sie bleiben oft lieber zu Hause und puzzeln, malen oder lesen. Spannende Herausforderungen sind für sie das Ansammeln von Wissen, das Sorgen für andere und kreative Beschäftigungen. Diese Kinder erledigen ihre Aufgaben häufig schon beim ersten Mal gut und vermeiden es, große Risiken einzugehen. Sie haben jedoch oft große Schwierigkeiten in neuen Umgebungen, neigen zu Angst und Schüchternheit und sind in sozialen Situationen ungeschickt. Sie können gehemmtes oder zurückgezogenes Verhalten an den Tag legen und sind eher Denker als Handelnde. Die Herausforderung liegt für sie vor allem im Bereich sozialer Fähigkeiten, Freundschaften und Liebesbeziehungen.
Melanie sagt über ihre Schulzeit:
Ich unternahm Dinge gerne allein. Ich fühlte mich oft anders als andere, verstand deren Verhalten nicht und fühlte mich unbehaglich und fremd in ihrer Gegenwart. Ich hatte auch immer das Gefühl, dass sie mich nicht verstehen. Doch ich merkte, dass mir Aufgaben wie Schreiben und Malen oft besser als anderen lagen. So zog ich es vor, allein zu sein. Oft blieb ich in meiner eigenen Erlebniswelt mit meinen eigenen Fantasien und beobachtete, was um mich herum passierte. Ich fühlte mich wirklich anders als meine Freundinnen und Spielkameraden aus der Schulklasse.
Man kann sich vorstellen, dass sensible Kinder, die Spannendes suchen, auf andere Probleme stoßen als introvertierte Kinder, und dass beide auf die eine oder andere Art gefördert, stimuliert oder gebremst werden müssen. Für unternehmungslustige Kinder ist nichts so wichtig wie Selbstregulierung (rechtzeitig innehalten, eine Erholungspause einlegen und nicht ständig weiterrasen), sonst können Dinge leicht schiefgehen. Ruhige Kinder hingegen benötigen eher Ermutigung und Akzeptanz. Für beide gilt, genauso wie für normalsensible Kinder, dass sie zum Heranwachsen eine Umgebung brauchen, die sozial, gefühlsmäßig und körperlich behaglich ist, und in der die Balance zwischen Stimulieren und Beschützen auf die Bedürfnisse (und Grenzen) des Kindes abgestimmt ist. Fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Kinder haben Schätzungen zufolge ein sensibles Nervensystem, das sind nicht wenige. Aber es ist und bleibt eine Minderheit, und wir werden nun einmal als Gesellschaft durch die Mehrheit geformt. Das macht es für diese Kinder manchmal recht schwierig. Ohne Erklärung und Anleitung besteht die Gefahr, dass sie sich selbst nicht verstehen und ihr Potential nicht entfalten können, weder in sozialer noch in schulischer Hinsicht.
Jeder ist in der Lage, eine Runde durch den Park zu laufen. Aber nicht jeder hat einen derart athletischen Körper, dass er gleich einen Marathon gewinnt. So ist es auch mit der Sensibilität: (Fast) jeder Mensch kann Farben, Gerüche, Geschmäcker, Gedanken und Gefühle wahrnehmen, aber nicht jeder richtet permanent seine gesamte Aufmerksamkeit darauf. Mit der Intelligenz verhält es sich genauso: Das eine Kind meistert mit Leichtigkeit das Abitur, ein anderes beendet die Hauptschule nur mit Mühe. Solche Unterschiede zwischen Menschen werden allgemeinhin akzeptiert. Es wäre schön, wenn die Unterschiede im Sinnes- und Nervensystem gleichermaßen akzeptiert würden. Ich denke, dass Kinder, die jetzt geboren werden, dadurch mehr aus ihrem speziellen Talent machen könnten. Es passiert leider noch zu oft, dass hochsensible Kinder unter ihrem Charakter leiden, weil sie immerzu versuchen, sich einer Umgebung und einem Lebensstil anzupassen, die nicht zu ihnen passen. Das ist das größte Problem für Hochsensible. Je mehr hingegen ihre Hochsensibilität akzeptiert wird, desto besser können sie ihre speziellen Talente nutzen. Meiner Meinung nach wird die Gesellschaft als Ganze davon profitieren. Denn in der Evolution scheinen angeborene Unterschiede stets eine Funktion für die Gruppe zu haben.
Bruce Ellis und W. Thomas Boyce beschreiben in ihrer Studie Biological Sensitivity to Context, dass in Schweden bei Kindern zwei Charaktertypen unterschieden werden: maskrosbarn, das Löwenzahnkind und orkidé barn, das Orchideenkind.
Wer sich in der Pflanzenbiologie auskennt, weiß, dass Löwenzahn in fast allen Umgebungen wächst. Man findet ihn im strömenden Regen der Holländischen Polderlandschaft und in der trockenen Erde der Mongolischen Steppe. Der Samen des Löwenzahns nistet sich ein, schlägt Wurzeln und kommt zur Blüte, unabhängig von Bodenbeschaffenheit, Trockenheit, Hitze oder Regen. Er passt sich den Umständen an. Eine Fähigkeit, die nicht jede Pflanze hat. Orchideen beispielsweise benötigen ganz bestimmte Voraussetzungen, um zur Blüte zu kommen: eine bestimmte Feuchtigkeit, den richtigen Standplatz, genügend spezielle Nahrung und Licht. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, entstehen faszinierende Blüten. In wissenschaftlicher Terminologie werden derartige Blumen als highly reactive phenotypes2 bezeichnet. Solche Sorten sind in weit stärkerem Maß von Umgebungsfaktoren abhängig als andere, man kann auch sagen, dass sie durchlässiger sind. Sind die Umstände günstig, gedeiht die Pflanze, sind sie ungünstig, dann nicht.
Das scheint mir eine gute Analogie für den Unterschied zwischen normalsensiblen und hochsensiblen Menschen zu sein. Wenn bei hochsensiblen „Orchideen“-Kindern die Lebensumstände nicht ihren intrinsischen Bedürfnissen entsprechen – oder im ungünstigsten Fall traumatisch sind –, dann kommen diese Kinder nicht zur Blüte. Sie sterben zwar nicht so schnell wie Pflanzen, entwickeln aber unter Stress starke psychische und biologische Reaktionsmechanismen, die sie auf Dauer krank machen und zersetzen.
Bevor Reizüberflutung eintritt, sendet jeder Körper Warnsignale aus: „Pass auf! Das wird zu viel!“ Zu den wesentlichen Lektionen für ein hochsensibles Kind gehört es,
• zu lernen, diese Signale wahrzunehmen und zu verstehen,
• zu lernen, eigene Grenzen zu fühlen und zu setzen,
• und nach einer Überreizung wieder ins Gleichgewicht zu gelangen.
Hochsensibilität muss kein Problem sein, wenn Kind und Eltern wissen, wie mit dieser Eigenschaft umzugehen ist.
Eine Klassenreise oder ein lautes Fest, ein voller Spielplatz, ein Essen in der Schulkantine mit unbekanntem Geschmack oder einkaufen gehen in der Stadt: Das sind Situationen, die die meisten Kinder nicht überfordern; viele Kinder genießen sie sogar. Bei hochsensiblen Kindern hingegen können sie zur Überreizung führen und starke Reaktionen hervorrufen. Je mehr (Unerwartetes) in der Umgebung eines hochsensiblen Kindes passiert, desto stärker reagiert es, und desto schneller gerät es in eine reaktive Grundstimmung. In seinem Innern ist es dann ununterbrochen damit beschäftigt, Reize zu verarbeiten, auch wenn man das von außen nicht ahnt.
Strategien, die Kinder einsetzen, um diesen unangenehmen Zustand fortwährenden Reagierens zu durchbrechen, sind beispielsweise, sich Tagträumen hinzugeben, oder einen Teil des Wachbewusstseins auszublenden, wodurch sie abwesend wirken. Kinder können auch versuchen, die Situation zu bewältigen, indem sie Konflikte angehen oder überaktiv werden oder indem sie – wenn es irgend möglich ist – aus der Reizsituation weglaufen.
Bei hochsensiblen Kindern entsteht oft recht schnell eine leichte Form von Überreizung. Man merkt es daran, dass das Kind weniger geistesgegenwärtig reagiert, in Schweigen verfällt oder, im Gegenteil, überaktiv und unangenehm wird. Manche Kinder wirken dann wacher, andere träger und verträumter. Manche Kinder brauchen ohnehin mehr Zeit für Alltagstätigkeiten wie Ankleiden, Waschen und Essen, und sie sind auch in der Schule und beim Erledigen der Hausaufgaben langsam. Andere sensible Kinder können aber auch blitzschnell sein, zum Beispiel im Erkennen von Zusammenhängen, und fühlen sich deshalb oft gelangweilt. Natürlich spielen dabei Intelligenz, Lebhaftigkeit und weitere Eigenschaften eine Rolle. Zwei Kinder gleichen sich niemals vollkommen. Dementsprechend unterscheiden sich die Strategien, mit einer Überflutung an Reizen und Informationen umzugehen: Eine davon ist, sich oft zu beklagen – es ist zu heiß, zu kalt, zu stressig, zu wild, zu dunkel, es juckt, das ist eklig, der Käse stinkt, der Mann hat einen komischen Schnurrbart, die Schokostreusel sind nicht die gleichen wie letztes Mal, das Waschetikett im Pullover kratzt. Gelegentlich haben hochsensible Kinder an allem etwas auszusetzen.
Manche hochsensiblen Kinder und Kleinkinder weinen viel. Sie reagieren quengelig, hochemotional oder widerspenstig. Manche Kinder ziehen sich so sehr in ihre eigene Fantasiewelt zurück, dass sie sich nicht einmal mehr durch laute Geräusche aufschrecken lassen. Sie ziehen es oft vor, allein zu spielen, sich in Videospiele oder Bücher zu vertiefen, damit ihre Erlebenswelt klein und übersichtlich bleibt. Wie widerspenstig oder übertrieben einem ihre Reaktionen auch erscheinen, so geht es doch oft um Details, die sie stören. Wenn man selbst hochsensibel ist, versteht man das wahrscheinlich besser. Für normalsensible Eltern oder Betreuer erscheint ein hochsensibles Kind oft wie ein Simulant oder Nörgler.
Schwierig und gefährlich wird es, wenn Reize immer wieder negativ erlebt werden, denn dann steht die gesunde geistige, gefühlsmäßige und körperliche Entwicklung des Kindes auf dem Spiel. In der Schule müssen diese Kinder oft unter großen Mühen ihr Bestes geben, und wenn zu Hause der Haussegen schief hängt, wenn ein Elternteil krank ist, wenn aus irgendeinem Grund ungenügend für das Kind gesorgt wird, wenn es häusliche Gewalt oder Missbrauch gibt, dann wird das hochsensible Kind besonders stark leiden. Jedes Kind entwickelt sich am besten in einer harmonischen und liebevollen Umgebung, doch ein sensibles Kind leidet unter Unruhe und schlechter Stimmung mehr als ein weniger sensibles Kind. Das Kind mit dem sensibelsten Temperament nimmt in einer ungesunden häuslichen Situation oder in der Schule oft die Rolle eines Blitzableiters ein: Unbemerkt zieht es negative Energie an.
Viele Reize, die tagsüber nicht oder nur unvollkommen verarbeitet werden, drücken sich in lebendigen Träumen aus.
Ich hatte immer unglaublich viele Träume und die waren so intensiv, dass meine Mutter sich wunderte, wie ich so etwas träumen konnte. Ganze Geschichten träumte ich und die waren so wirklich für mich, dass ich manchmal den halben Tag brauchte, um mich davon zu erholen. Ziemlich anstrengend. Früher hielt ich meine Gefühle oft verschlossen, so, als würde ich nichts mehr fühlen. Scheinbar verarbeite ich viel über Träume. In Zeiten von Anspannung und Stress träume ich häufig von roten Zügen.
(Monika, 48 Jahre alt)
Wie viel von unserer Traumwelt nach dem Aufwachen erinnert wird, hängt neben unserer Fantasie von der Fähigkeit und Übung ab, tagsüber darüber zu reden – und nicht zuletzt vom Zeitpunkt des Traums und des Erwachens. Wir alle träumen, aber nicht jeder erinnert sich daran. Manche Menschen haben von Natur aus lange, lebendige Träume. Träume sind faszinierend und informativ. Sie können prophetisch sein, luzide (d.h. man ist sich während des Traums bewusst, dass man träumt) und es können auffällige Parallelen zwischen der Traumwelt und der Wirklichkeit auftreten. Es gibt auch viele Bücher über die Symbolik von Träumen. Wie jeder andere auch, wird Ihr hochsensibles Kind in seinen Träumen einen großen Teil der logischen und weniger logischen Informationen des Tages sammeln, sortieren und verarbeiten.
1 Elaine N. Aron, The Highly Sensitive Person; How to Thrive When the World Overwhelmes You, 1996, p. 12
2 Boyce and Ellis, Biological Sensitivity to Context, Current Directions In Psychological Science, Volume 17, Number 3, 2005.
Um Kindern Grenzen setzen zu können, sollte man seine eigenen Grenzen kennen, respektieren und mitteilen. Man setzt Kindern nicht nur aus pädagogischen Erwägungen Grenzen, sondern auch aus Eigeninteresse. Man setzt Grenzen nicht nur, um die Kinder zu schützen oder um der Etikette zu genügen, sondern weil man selbst auch eine Toleranzgrenze hat.
Deshalb möchte ich kurz auf das Thema hochsensible Eltern eingehen: Vielleicht wissen Sie es schon länger oder es ist Ihnen beim Lesen dieses Buch klar geworden, dass Sie selbst auch hochsensibel sind! Und was für sensible Kinder gilt, gilt auch für hochsensible Erwachsene. Hochsensibel zu sein und Kinder zu haben, ist eine enorme Herausforderung. Oft genug haben mir junge Hochsensible anvertraut, dass sie sich fast nicht daran wagen, Eltern zu werden.
Reizempfindlichkeit ist in einer Familiensituation eigentlich nicht optimal. In Familien passiert ständig Unerwartetes, es gibt viel Lärm und als Eltern muss man besonders in den ersten Jahren praktisch vierundzwanzig Stunden täglich bereitstehen. Kinder nehmen einen ständig in Anspruch, und das ist für viele sensible Eltern eine Prüfung. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist, und ich wage zu behaupten, dass Elternschaft für Hochsensible schwieriger ist als für normalsensible Menschen. Als hochsensibles Elternteil, und auch als hochsensible Lehrkraft, werden die eigenen Grenzen gehörig auf die Probe gestellt. Man wird die Grenzen gut beachten müssen, vor allem in Hinblick auf die Tatsache, dass man als hochsensibles Elternteil wahrlich schneller seine Grenze erreicht als normalsensible Eltern.
Es ist also von großer Wichtigkeit,
• dass Sie sich ihrer erhöhten Empfindlichkeit, Ihrer Erschöpfungsgrenze und Ihres persönlichen Toleranzniveaus bewusst sind,
• dass Sie einer Überreizung so gut wie möglich vorbeugen,
• dass Sie diese Besonderheit ausreichend anderen mitteilen,
• und dass Sie sich kreative Lösungen ausdenken, die das Reizniveau auf einem erträglichen Maß halten.
Hochsensible Eltern reagieren auf Kinder stärker als normalsensible Eltern, einfach, weil der innere „Aus-Schalter“ schlechter erreichbar ist. Sie sehen, hören, fühlen, riechen … kurz: sie nehmen ständig wahr. Eine enorme Disziplin ist nötig, um nicht zu hören, nicht zu sehen, nicht zu reagieren, und für die meisten ist das einfach nicht möglich. Und als sensibles Elternteil oder sensible Lehrkraft reagiert man nicht nur mehr, sondern ist auch empfindlicher und schneller erschöpft. Man kommt also, ob man will oder nicht, schneller an die unangenehme Grenze der Überreizung. Das gilt es zu erkennen und zu akzeptieren. Das sollten Sie nicht leugnen, auch nicht weiterhin dagegen ankämpfen. Sprechen Sie darüber mit Ihrem Partner. Wenn der nicht hochsensibel ist, wird er es anfangs vielleicht nicht verstehen oder nicht glauben wollen. Trotzdem ist es gut, stets aufs Neue um Beachtung für Ihre Andersartigkeit und die daraus entstehenden Bedürfnisse zu bitten. Wenn Ihr Partner hochsensibel ist, dann wird ihm bald auch ein Licht aufgehen und er oder sie wird eigene Reaktionen und eigenes Verhalten dann aus einer neuen Perspektive sehen können.
• Erklären Sie auf jeden Fall immer, was mit Ihnen passiert und organisieren vor allem Sie selbst Ihr Leben so, dass Sie ausreichend Hilfe, Unterstützung und Ruhe bekommen.
• Seien Sie sanftmütig mit der Stimme in Ihrem Kopf, die sagt, dass Sie sich nicht so anstellen sollen.
• Planen Sie jeden Tag Zeit für sich selbst ein, Zeit zum Ausruhen, zur Reizverarbeitung, zum Entspannen und zum Regenerieren. Haben Sie keine Zeit für sich selbst und ist Ihr Alltag ständig überfüllt, müssen Sie sich klar machen, dass Sie das auf Dauer mit Ihrem hochsensiblen Charakter nicht durchhalten.
• Seien Sie eigensinnig und entwickeln Sie spezielle Familientraditionen und Lebensformen, die Ihre Empfindlichkeit berücksichtigen. Das ist vielleicht aus Sicht anderer unüblich, doch wenn es für Sie funktioniert, sollten Sie zu sich und Ihrer Entscheidung stehen.
Viele sensible Eltern fühlen sich schuldig und empfinden sich als zu wehleidig. Sie versuchen rigoros weiterzumachen, ohne sich zu schonen, denn sie wollen nicht als schwierig oder umständlich angesehen werden. Es ist für hochsensible Menschen nicht immer einfach oder selbstverständlich, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse an erste Stelle zu setzen. Alle möglichen eingefahrenen Muster halten Sie davon ab, sich selbst zu schützen, etwa:
• Ich darf mich nicht unnötig anstellen.
• Ich muss immer zur Verfügung stehen.
• Ich muss immer alles alleine machen.
• Mutter zu sein ist nun einmal schwierig.
• Nachher wird es besser, anders, schöner, …
• Ich hab es selbst gewählt, nun muss ich die Konsequenzen tragen.
• Was bin ich doch undankbar.
Vielleicht haben Sie noch weitere Sätze in Ihrem Kopf, die das Pflicht- und Schuldgefühl nähren. Fragen Sie sich einmal:
• Stimmen diese Überzeugungen wirklich?
• Woher kommen diese Muster?
• Welche Überzeugungen, welche Mantras oder Affirmationen (wiederholende positive Sätze) kann ich stattdessen nutzen?
Hier einige Vorschläge:
• Ich bin hochsensibel und das ist in Ordnung.
• Ich darf mich ausruhen, wenn ich ein Bedürfnis dazu verspüre.
• Ich darf jederzeit, wenn ich es brauche, um Hilfe bitten.
• Mutter/Vater zu sein ist toll, ich fühle mich frei und froh.
• Ich sorge dafür, dass ich diesen Moment genieße.
• Alles, was dem Genuss im Wege steht, gehe ich sofort an.
• Ich überlege mir Lösungen, um es mir selbst leichter zu machen.
• Ich wusste nicht, dass es so schwierig ist, Kinder aufzuziehen. Da ich es nun weiß, kann ich mir konstruktive Lösungen ausdenken und es mir einfacher machen.
• Ich bin dankbar und ich mag mich.
Caroline, eine hochsensible Mutter, sagt:
Was ich schwierig finde, ist, dass ich ständig in Beschlag genommen werde und dass ständig Geschnatter und Gewusel um mich herum ist. Während ich doch ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe und Harmonie habe. Ich bin von der Unruhe im Haus schnell überwältigt, müde und irritiert. Für andere ist der Umgang mit mir manchmal schwierig. Mein Kind ist sehr extravertiert, ich bin hingegen introvertiert. Also redet es den ganzen Tag und fordert ständig Reaktionen von mir. Ich kann damit noch immer nicht umgehen. Ich muss lernen, meine eigenen Grenzen zu respektieren und diese meinem Kind klarzumachen. Das ist richtig Arbeit. Einen ganzen Tag allein mit meinem Kind, etwa im Urlaub, verkrafte ich nicht. Das ist nicht der Hauptgrund, aber doch einer der Gründe, warum ich nur ein Kind bekommen habe. Auch wenn ich es immer noch bedaure, dass ich nicht mehr Kinder habe – mehr hätte ich absolut nicht verkraftet.
Genauso wie für hochsensible Kinder ist auch für hochsensible Eltern ein guter Kontakt zum eigenen Körper unentbehrlich. Man muss eine Beziehung zum Körper eingehen und lernen, ihn als Kompass, als Thermometer und als Karte zu nutzen. Der Körper sagt einem immer, wie es einem geht, aber man muss schon lernen, darauf zu achten. Als Hochsensibler sollten Sie sich mehr als andere um ihren Körper und dessen Bedürfnisse bemühen, um sich ausreichend zu „inkarnieren“. Das bedeutet, rechtzeitig, regelmäßig und ausreichend essen, schlafen und sich bewegen. Bevor es einem richtig klar wird, ist man nämlich als hochsensible Person nicht mehr geerdet, und merkt zu spät, dass man müde und überreizt ist, oder man lässt andere die eigenen Grenzen verletzen. Neben der richtigen Versorgung seines Körpers hilft es aber auch, über das zu reden, was sich gut anfühlt und was sich nicht gut anfühlt. Dadurch lernt man nicht nur, auf seine Körpersignale zu achten, sondern auch die eigenen Grenzen nach außen deutlicher zu machen. Etwa: Das ist noch okay, aber das nicht mehr.
Als hochsensibles Elternteil bemerken Sie wahrscheinlich viel von dem, was in Ihrem Kind vor sich geht. Sie haben gute Antennen für seine Bedürfnisse und Unsicherheiten. Das ist für Ihr Kind natürlich ein schöner Vorteil. Sie werden dem Kind, wenn sie aus Liebe handeln, beistehen und es immer so akzeptieren, wie es ist. Achten Sie aber auf den Fallstrick Verschmelzung und auf die Verwirrung darüber, welches Gefühl zu wem gehört. In diesem Zusammenhang könnten die Übungen am Ende des Buches auch für Sie als hochsensibles Elternteil passend sein.