Leben mit Hochsensibilität - Susan Marletta-Hart - E-Book

Leben mit Hochsensibilität E-Book

Susan Marletta-Hart

4,8

Beschreibung

Etwa 20 Prozent aller Menschen sind hochsensibel, normalerweise ohne es zu wissen. Das Einzige, was sie wissen, ist, dass sie seit ihrer Kindheit irgendwie anders waren als andere Menschen. Ihnen sind Stress, Lärm und grelles Licht oft zu viel, sie spüren regelmäßig das Bedürfnis allein zu sein, sie haben ein intensives Gefühlsleben, eine reiche Fantasie und lebhafte Träume. Ebenso werden sie leicht von der Stimmung, die andere ausstrahlen, beeinflusst.Susan Marletta-Hart erklärt auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrung und anschaulich dargelegten Forschungsergebnissen, was Hochsensibilität ist, und zeigt an praktischen Beispielen, wie man diese vermeintliche Schwierigkeit zu einer besonderen Gabe macht und sie bewusst in Stärke verwandelt.

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Die Originalausgabeerschien 2003 bei Uitgeverij Ten Have, Baarn/NL unter dem Titel:Leven met hooggevoeligheid. Van opgave naar gave.

Vollständige E-Book-Ausgabe der beiJ.Kamphausen Verlag & Distribution GmbHerschienenen Printausgabe

Susan Marletta-Hart:

Coverfoto: © Martina Taylor – fotolia.com

Leben mit Hochsensiblität

Umschlaggestaltung,

Übersetzung: Frank Ziesing

Typografie/Satz: Wilfried Klei

Lektorat: Adele K. Gerdes

Druck & Verarbeitung:

© Aurum Verlag in J. Kamphausen Verlag

Westermann Druck Zwickau

& Distribution GmbH, Bielefeld 2009

Datenkonvertierung E-Book:

[email protected]

Bookwire GmbH

www.weltinnenraum.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN E-Book: 978-3-89901-535-5ISBN Printausgabe: 978-3-89901-203-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Susan Marletta-Hart

Leben mit

Hochsenbilität

Herausforderung und Gabe

aus dem Niederländischenübersetzt von Frank Ziesing

Einleitung

1 Hochsensibilität, eine Charaktereigenschaft

1.1 Kennzeichen der Hochsensibilität

1.2 Suchst du Abenteuer oder Ruhe?

1.3 Eine sozialgeschichtliche Erklärung

1.4 Mehr Verständnis für diese Eigenschaft ist nötig

1.5 Stress und Anpassungsstrategien

2 Körpererfahrung

2.1 Dein Körper als dein Haus

2.2 Nerven und Sinnesorgane

2.2.1 Hunger

2.2.2 Berühren

2.2.3 Riechen

2.2.4 Sehen

2.2.5 Hören

2.2.6 Energien

2.3 Sylvias Bedürfnis, nicht zu fühlen

2.4 Häufung

2.5 Erdung

2.6 Marleens Fähigkeit, zu „wissen“

2.7 Entspannung und Ruhe

2.8 Grenzen setzen

2.9 Angst und Unruhe lokalisieren und akzeptieren

2.10 Meditieren: vom Denken und Wollen zum Sein

2.11 Übungen und Tipps

3 In der Welt stehen

3.1 Einleitung

3.2 Kontakt zu anderen Menschen

3.2.1 Bedürfnis nach echtem Kontakt

3.2.2 Probleme mit Kontakten

3.2.3 Bindungsstrategien

3.2.4 Schüchternheit

3.2.5 Das Dilemma: allein oder mit anderen zusammen sein?

3.2.6 Selbstsicherheit

3.2.7 Zusammenfassung

3.3 Berufsleben

3.3.1 Probleme im Berufsleben

3.3.2 Marion, Anke, Sophie und Ramon

3.3.3 Die Fallstricke für Hochsensible

3.3.4 Berufung

3.3.5 Noch einmal: Erden

3.3.6 Zusammenfassung

3.4 Übungen und Tipps

4 Qualitäten

4.1 „Beobachtungsbegabt“

4.2 Inspiration

4.3 Stärke in Sanftmut

4.4 Schöpferische Tätigkeit, die Kunst der Kreativität

4.5 Intuition und paranormale Begabung

4.6 Das Gefühl von Verbindung

4.7 Achtsamkeit und Intensität

4.8 Zusammenfassung

4.9 Übungen

5 Hochsensible Kinder

5.1 Ein besonderes Kind

5.2 Verarbeitungsprozesse

5.3 Probleme hochsensibler Kinder

5.3.1 ADHS

5.3.2 Neue-Zeit-Kinder / Indigo-Kinder

5.4 Was brauchen hochsensible Kinder?

5.4.1 Liebe und Bestätigung

5.4.2 Ermutigung

5.4.3 Ruhe

5.4.4 Aufrichtigkeit in der Kommunikation

5.4.5 Grenzen und Struktur

5.4.6 Inspiration im Schulunterricht

5.5 Wann geht es schief?

5.6 Tipps

5.7 Hochsensible Kinder haben meistens folgende Eigenschaften

6 Therapien und Strategien

6.1 Kurzzeit- und Langzeitüberreizung

6.2 Körperliche oder psychische Probleme

6.3 Kurzzeitige Überreizung und Gleichgewicht

6.4 Strategien, um kurzzeitiger Überreizung zuvor zu kommen

6.4.1 Mache inneres Gleichgewicht zu einer Priorität in deinem Leben

6.4.2 Akzeptiere, dass du überreizt bist

6.4.3 Ändere deine Denkweise

6.4.4 Speziell für Sensation-Seekers

6.4.5 Nimm an einem Yoga-, Tai-Chi oder Qi-Gong Kurs teil

6.4.6 Erlerne Meditationstechniken

6.4.7 Achte auf deine Nahrung

6.5 Langzeiteffekte von Überreizung

6.6 Was tun bei lang andauernder Überreizung?

6.7 Therapiemethoden

6.7.1 Diverse Formen der Psychotherapie

6.7.2 Haptonomie oder Haptotherapie

6.7.3 Kreativ- oder Kunsttherapie

6.7.4 Bachblütentherapie

6.7.5 Klassische kognitive Verhaltenstherapie

6.7.6 Spirituelle Therapieformen

6.7.7 Geistheilen

6.7.8 Craniosakrale Therapie

6.7.9 Shiatsu-Massage

6.8 Kontakt zu deinem Hausarzt

6.9 Sind Arzneimittel hilfreich?

6.9.1 Serotonin

6.10 Zusammenfassung und Tipps

6.11 Menschen, die hochsensibel sind

Anmerkungen

Literatur und Internetseiten

Literatur

Internetseiten

Für Mara und Francesco

Einleitung

Am selben Tag, an dem mir eine Kollegin ein Buch von Elaine Aron gab, erhielt ich von einem Psychotherapeuten einen Artikel über Hochsensibilität. „Auch so sensibel?“ stand dort in fetten Lettern, und weiter ging es mit: „Sind Ihnen Stress, Lärm und grelles Licht schnell zu viel? Haben Sie ein intensives Gefühlsleben, eine reiche Phantasie und lebhafte Träume? Spüren Sie regelmäßig das Bedürfnis, allein zu sein? Finden Sie ein ‚gewöhnliches‘ Arbeitsverhältnis und die Fahrt von und zur Arbeit ermüdend? Werden Sie leicht von der Stimmung, die jemand ausstrahlt, beeinflusst? Sind Sie manchmal grüblerisch oder depressiv? Wurden Sie schon einmal ‚schüchtern‘ oder ‚empfindlich‘ genannt?“ Ich war verblüfft – und auf der Stelle interessiert.

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon eine Weile dabei, mich bewusst weiterzuentwickeln – im Streben nach mehr Selbstsicherheit und Glück. Was ich an diesem Tag an Informationen zur Hochsensibilität bekam, schien mir vieles auf den Punkt zu bringen – und es berührte mich zutiefst. Es waren Erkenntnisse der amerikanischen Wissenschaftlerin, klinischen Psychologin und jungianischen Psychotherapeutin Elaine Aron. Nach ihren Untersuchungen ist Hochsensibilität eine Eigenschaft von 15 bis 20 Prozent aller Menschen und Tiere. Diese werden „zarter besaitet“ geboren, ihr Nervenapparat nimmt mehr Details wahr und Reize werden intensiver und umfassender verarbeitet.

Ein hochsensibler Mensch kann so stark in eine Erfahrung oder eine Beziehung zu einem anderen Menschen eintauchen, dass er sich darin verliert. So stark, dass es unerträglich wird. Jede Emotion wird intensiv gespürt; die kleinste Unstimmigkeit wird wahrgenommen. Hochsensibel zu sein ist sowohl aufreibend als auch bereichernd, beängstigend als auch spannend, verbindend als auch trennend. Weil ein Hochsensibler so viel sieht, hört, riecht, schmeckt und vor allem fühlt, wird er schneller von etwas gefesselt und ermüdet auch schneller.

Seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem Begriff bedeutet „Hochsensibilität“ für mich so etwas wie „zusätzliche Möglichkeiten“. Nicht nur, dass sich mir dadurch auf dem beruflichen Gebiet neue Wege eröffneten, ich sah vor allem ganz persönlich die Chance, ausgeglichener und glücklicher zu werden. Hochsensibilität bietet meiner Meinung nach vor allem die Möglichkeit eines besseren Zugangs zu verborgenen Schätzen der Weisheit. Für mich bedeutet dies die tiefe Erfahrung von Gesundheit und Glück. Wer hochsensibel ist, will oft anhalten, wenn der Rest der Welt beschleunigt, will Besinnung, wenn andere blind auf Gewinnmaximierung aus sind, will der Stille lauschen, wenn andere nicht schweigen können. Diese Haltung birgt die Chance, die tiefen Wahrheiten und Geheimnisse des Lebens, zumindest einige, zu ergründen. Denn dazu muss ein Mensch fähig sein – sich einzufühlen und einzuleben in das, was er noch nicht kennt. Hochsensible Menschen haben diese Anlage – und darin liegt ihre Chance auf Gesundheit und Glück.

Heute ist Hochsensibilität für mich kein Problem mehr. Seitdem ich dieses Phänomen das erste Mal verstanden habe, ist es zu einer Kraft geworden, die ich in verschiedenen Lebensbereichen bewusst einsetze. Diese Kraft möchte ich mit meinen Lesern teilen. Hochsensibilität mag anfangs als große Herausforderung erscheinen – doch sie kann für jeden zur Gabe werden.

Mir ist bewusst, welches Risiko ich eingehe, ein Buch für hochsensible Menschen zu schreiben. Die größte Gefahr ist die Stigmatisierung dieser Menschen: Man beschreibt bestimmte Kennzeichen und ermöglicht so die Eingruppierung von Menschen nach gewissen Kriterien. Natürlich wird es Menschen geben, die einer solchen Eingruppierung mehr als skeptisch gegenüberstehen und sich heftig gegen Verallgemeinerungen wehren. Diese Gefahr ist ja auch gegeben: Während die Unterschiede zwischen Menschen, wenn es sich um Haut- und Haarfarbe, Körperform und -größe usw. handelt, offensichtlich sind, taucht doch stets die Erwartung auf, dass Gefühle und Empfindungen im Grunde gleich seien. Solch eine Erwartung ist fatal, besonders wenn man sich ihrer nicht bewusst ist. Hochsensible Menschen haben nicht nur Gemeinsamkeiten – sondern mindestens ebenso viel, worin sie sich unterscheiden.

Dennoch hoffe ich, ein Buch zu diesem Thema ist willkommen. Ich habe bemerkt, dass die meisten Hochsensiblen es nicht so wichtig finden, einer Gruppe anzugehören, sondern vor allem Wert auf das legen, was damit zusammen hängt: akzeptiert zu werden, wie sie im Wesen sind. Das Erkennen der eigenen Hochsensibilität ist für viele, die es mir beschrieben, eine Form von Nach-Hause-Kommen. Zum ersten Mal spüren sie ein – nie zuvor gekanntes – Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Lose Puzzleteile finden nun einen sinnvollen Zusammenhang; darin kann eine elementare Daseinsberechtigung liegen. Viele hochsensible Menschen haben sich lange danach gesehnt. Sie erleben dieses Nach-Hause-Kommen wie eine Katharsis.

Zum Nach-Hause-Kommen gehört auch das Gefühl des Zusammenströmens – mit jenem großen Strom, der das Leben selbst ist. Dazu gehört, sich nicht mehr als das Hindernis zu erleben, das sich selbst und anderen im Wege steht, sondern fortan die kostbare, ja nahezu heilige Kontinuität seiner selbst und der Welt zu erfahren – mit seiner Eigenart Anschluss an das größere Ganze finden. Die eigene Erfahrung wird wertvoll. Man kann beginnen, an jenem Haus zu bauen, welches man sein Zuhause nennen wird. Für viele ist die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität ein Ausgangspunkt für Heilung, für das Heilen alter Brüche, das Beheben jener Schäden, die man sich selbst durch Unkenntnis und Unverstand zufügte.

Das Werk der Pionierin Elaine Aron wird von vielen wertgeschätzt. Ich denke, hochsensible Menschen in aller Welt sind ihr zutiefst dankbar für das, was sie in Gang brachte, für die Erkenntnisse, die sie sammelte, und die Untersuchungen, die sie durchführte, und dass sie dies bereitwillig mit dem Rest der Welt teilte. Ich schulde ihr Dank, denn ich baue auf ihren Einsichten auf.

Im Unterschied zu Elaine Aron betone ich in meinem Buch indes die eigene Körpererfahrung, und zwar aus taoistischer und zen-buddhistischer Sicht. Darin wurde ich geschult. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie heilend es ist, über den Körper zu emotionaler und geistiger Gesundheit zu gelangen. Erdung, Gleichgewicht und Ruhe sind dabei Schlüsselworte. Durch Erdung und das Finden von Gleichgewicht und Ruhe lernte ich einen Seinszustand kennen, der meine Hochsensibilität kanalisierte und zur Gabe machte. Ich lernte, dass in der Einheit von Körper, Geist und Seele das Potential zur Gesundheit liegt.

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Masseurin und Shiatsu-Therapeutin fiel mir auf, dass viele Menschen, auch Hochsensible, verhältnismäßig unbewusst und unwissend mit ihrem Körper umgehen. Die Probleme, die sich ihnen stellen – wie beispielsweise Wohlstandskrankheiten – entstehen durch das Unvermögen, den Signalen des Körpers zu lauschen, kombiniert mit der Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Ich staune darüber immer wieder: Die meisten Menschen betrachten ihren Körper wie einen Gebrauchsgegenstand, wie einen Wagen, der schlicht zu funktionieren hat. Wenn der Körper nicht mehr funktioniert, wird er einem Arzt ausgeliefert, der an ihm herumschneiden und herumdoktern darf, in der Hoffnung, der Motor möge bald wieder laufen… Die meisten Menschen gehen distanziert, unachtsam und geringschätzig mit ihrem Körper um.

Hochsensible Menschen wissen zwar häufig, dass eine andere Haltung besser wäre – doch sie beherrschen diese ungenügend, da sie ihnen nicht beigebracht wurde. Hochsensible sind vielfach sehr gut im Erspüren dessen, was andere benötigen; doch gleichzeitig tendieren sie dazu, ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Das ist ein typisches Problem: Bei vielen Hochsensiblen fand ich eine schlechte Verbindung zum eigenen Körper und zur Erde, zusammen mit einem ungenügenden Gefühl für Abgrenzung.

Das Wissen um Gesundheit und Glück, um Ausgeglichenheit und das Einfach-Da-Sein kann man nicht lernen, sondern muss man zutiefst erfahren. Ich hatte in meinem Leben das Glück, eine Lehrmeisterin zu treffen, Joyce Vlaarkamp, die mit ihrer ganzen Existenz Zen ausstrahlte. Sie lehrte vor allem durch ihr lebendes Beispiel, dass das Wissen um das Wohlbefinden nicht durch unser Denken zustande kommt, sondern durch Erfahrung. Um ein Beispiel zu geben: Bei der Shiatsu-Ausbildung sind die Meridiane die Basis der technischen Kenntnisse; das ist unumgänglicher Lernstoff. In vielen Ausbildungskursen, die ich in den Niederlanden und der Schweiz besuchte, lernten die Teilnehmer von der ersten Stunde an eifrig den Verlauf dieser Bahnen auswendig. Meine Ausbilderin hingegen ging anders vor. Sie präsentierte den Verlauf der Meridiane nicht als theoretischen Lehrstoff, sondern als etwas, dessen Wesen tief gefühlt werden sollte. Sie arbeitete mit Methoden, die unseren Lerneifer kanalisierten, unsere Rastlosigkeit beruhigten, unseren Kontakt zur Erde und zum eigenen Körper verbesserten und uns so energetische Erfahrungen ermöglichten. Sie lehrte uns durch Körpererfahrung. Und sie zeigte mir, wie weit ich doch bis dahin auf Denken und Wollen gegründet gelebt hatte, statt auf körperlichem Sein. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn in unserer Gesellschaft werden Verstandesfähigkeiten von der Wiege an stimuliert und gefördert.

Masunaga, der Begründer des Zen-Shiatsu, sagt dazu: „Das Bewusstsein, das die Dinge trennt, befindet sich in der entwicklungsgeschichtlich jungen Großhirnrinde. Je intensiver das System der Großhirnrinde funktioniert, desto stärker fällt das lymphatische System und damit unser Urinstinkt zurück. Je kultivierter, gebildeter und selbstbewusster ein Volk wird, desto abgestumpfter wird das Lebensgefühl dieses Volkes. Und so entfremden wir uns, je kultivierter wir werden, umso mehr vom gesunden Leben.“

Meine Begegnung mit der östlichen Spiritualität ist eine Begegnung mit dem, was den Dingen innewohnt – und mit Integration. Ich glaube nicht so sehr an die Wichtigkeit von Erleuchtung. Ich denke, die Aufgabe des Menschen liegt in der Welt: im Finden des Göttlichen in sich selbst und in der Integration von Körper und Geist, Licht und Schatten, männlich und weiblich. Das unterstreicht auch C.G. Jung in seiner Individualtheorie. Ich versuche, dafür zu sorgen, dass das Urgefühl nicht ganz verloren geht. Das ist sozusagen meine Lebensregel. Ich glaube, dass uns die Erkenntnisse des Taoismus und des Buddhismus viel nützen können, wenn es darum geht, gesunde Ausgeglichenheit im Leben zu finden: die Ausgeglichenheit zwischen Denken, Handeln, Fühlen und Sein, zwischen männlichen und weiblichen Kräften in uns, zwischen innen und außen, unten und oben, zwischen Eigeninteresse und Gruppeninteresse.

Eine der wichtigsten Einsichten, die ich in den letzten Jahren hatte, ist: Erkenntnis benötigt Zeit. Und Glück und Gesundheit sind nichts, was man erzwingen könnte. Es ist vielmehr eine Lebensweise, die durch Weisheit wächst, und diese nimmt offenkundig zu, wenn man sich ihr respektvoll öffnet. Letztendlich geht es darum, Vertrauen in die natürlichen Prozesse zu haben. Veränderungen kann man weder durch Zwang hervorrufen noch durch das Wegsperren eines Teils der eigenen Persönlichkeit – sondern nur über Integrationsprozesse, die stets damit beginnen, dass man zunächst akzeptiert, was ist.

Ich danke allen Hochsensiblen, die bereit waren, sich von mir interviewen zu lassen, oder auf andere Art ihre Hochsensibilität mit mir geteilt haben. Dank ihrer Erfahrungen konnte ich meine Ideen testen und ausbauen. Besonderen Dank schulde ich Etty für das Lesen der Kapitel, ihre Kritik und ihre Empfehlungen, basierend auf ihrer Kenntnis klassischer Psychologie und ihrer eigenen Erfahrung als Hochsensible.

SUSAN MARLETTA-HART

Februar 2003

1 Hochsensibilität, eine Charaktereigenschaft

„Nach 40 Jahren Kampf habe ich endlich einen Modus gefunden, mit mir selbst zu leben. Ich verstehe heute, wer ich bin. Merkwürdig, zurückzublicken und zu erkennen, dass ich so wenig von mir selbst begriff. Jetzt lerne ich, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Ich falle zwar immer mal wieder auf die Nase, aber dann stehe ich auch wieder auf. Ich weiß, dass ich auf dem rechten Weg bin. Eine neue Gelassenheit ist über mich gekommen, die den Platz meiner früheren Streitsucht eingenommen hat. Ich brauche mich nicht mehr so zu beweisen.“

„Es fühlt sich gut an, zu wissen, dass mehr Menschen so sind wie ich. Die Bekanntschaft mit dem Begriff ‚Hochsensibilität‘ war für mich wie eine Offenbarung. Als ich zum ersten Mal darüber las, war ich stark beeindruckt, da ich mich zu hundert Prozent wiedererkannte. Ein Freund hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Schon beim Hören des Begriffs fühlte ich eine Wärme in mir aufsteigen. Das bin ich, darum geht es. Nun betrachte ich mich selbst mit den Augen eines Bewunderers. Angst hat Erstaunen Platz gemacht. In mir findet eine wunderbare Metamorphose statt.“

„Jahrelang fragte ich mich verzweifelt, was mit mir los sei: Von außen betrachtet lief alles wie am Schnürchen, aber im Inneren erlebte ich das Gegenteil. Ich fühlte mich oft depressiv und ratlos. Ich fand mich egozentrisch, obwohl das doch nichts anderes als äußerste Notwendigkeit war, um mich nicht ganz zu verlieren. Jetzt verstehe ich es im Licht meiner Hochsensibilität. Ich bin so oft über meine Grenzen gegangen. So häufig wurde ich meinen eigenen Empfindungen entfremdet, dass es eine immense Aufgabe war, mich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen.“

„In meinem Leben ist ein Wirbelsturm losgebrochen – wohl sanft und liebenswürdig, doch trotzdem mächtig – der mein bisheriges Leben völlig über den Haufen wirft. Und zwar ausnahmslos zum Guten. Aus einer stets vorherrschenden Unsicherheit, Unruhe und dem ständig kritischen Blick auf mich selbst hat sich meine Lebenshaltung um 180 Grad geändert. Meine Angst vor Kritik an meiner zu sanften, zu gefühlsbetonten, zu verträumten Art hat einer neuen Selbstbetrachtung Platz gemacht. Es fühlt sich zwar alles noch etwas unsicher an, etwa wie: ‚Träume ich oder bin ich schon wach?‘ Doch tief in meinem Inneren fühle ich meine Basis, nämlich das sichere Wissen: Ja, das passt zu mir, so bin ich.“

Wiedererkennen und Einsicht. Die Zusammenhänge werden sichtbar und Veränderung wird angestoßen. Das ist der Anfang eines neuen Selbstbilds und einer neuen Wertschätzung der eigenen Person. Derartige Erfahrungen machen vielleicht auch Sie beim Lesen dieses Buchs. Vielleicht verspüren auch Sie Gefühle des Zu-Hause-Ankommens, des Wiedererkennens und der Selbstakzeptanz. Unter Umständen denken Sie dann zum ersten Mal: „Ich dachte immer, ich sei anders – und nun scheinen viele Menschen so zu sein wie ich!“ Während der Recherchen für dieses Buch war ich immer wieder gerührt von Menschen, die aufrichtig froh reagierten. Durch diese Gefühle habe ich mich leiten lassen. Darum habe ich nie an der Notwendigkeit gezweifelt, das Thema Hochsensibilität vielen bekannt zu machen, und ich bin dankbar, dieses Buch geschrieben zu haben.

1.1 Kennzeichen der Hochsensibilität

Was ist Hochsensibilität eigentlich genau? Bei dieser Frage kommt man nicht um das Werk von Dr. phil. Elaine N. Aron herum. Sie prägte den Begriff Hochsensibilität und machte ihn bekannt; sie machte Hochsensibilität zum Thema ihres Lebenswerks. Auf ihren grundlegenden Untersuchungen bauen sowohl meine als auch viele andere Arbeiten auf. Nach Arons Erkenntnissen tritt das Phänomen der Hochsensibilität bei 15 bis 20 Prozent der Menschen auf, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Durch Untersuchungen mit Säuglingen, Kindern und Erwachsenen und durch Gespräche mit Menschen, die sich selbst als überdurchschnittlich empfindlich beschrieben, sammelte sie umfassend Informationen. Weiter sichtete sie die bereits vorhandene psychologische Literatur zu diesem Bereich. Schließlich entwickelte sie – aus der Verbindung ihrer wissenschaftlichen Perspektive mit der Jung’schen Analytischen Psychologie – ein Rahmenmodell, in dem Hochsensibilität sehr genau definiert werden kann. In den folgenden Kapiteln werden wir einzelne Aspekte dieses Modells der Reihe nach kennenlernen.

Hochsensibilität beginnt bei den meisten Menschen mit dem Gefühl, anders als andere zu sein – ohne dieses Gefühl konkreter benennen zu können. Doch auch wenn sie zumeist nur schwer Genaues über diese Empfindung sagen können: Es ist eine Erfahrung, ein Gewahrsein, das ihnen reichlich ‚quer sitzen’ kann und das oft (nicht immer) zu Schwierigkeiten und Problemen führt. So sehr, dass manche sich manchmal verzweifelt fragen: Bin ich vielleicht verrückt?

Doch Sensibilität hat wenig mit Verrücktheit zu tun. Sensibilität ist eine Eigenschaft des Nervensystems, der Informationsverarbeitung im Körper und im Gehirn: Irgendwo im Verarbeitungsprozess, zwischen dem Eintreffen eines Sinnesreizes und seiner Verarbeitung im Gehirn, läuft es bei hochsensiblen Personen anders als bei den meisten Menschen. Die Informationsverarbeitung eines Hochsensiblen arbeitet auf die eine oder andere Art ausführlicher und genauer als beim Durchschnittsmenschen. Hochsensible haben nicht etwa bessere Sinnesorgane, sondern sie verarbeiten Sinneseindrücke komplexer. Aron gibt den Vergleich mit einer Sortiermaschine: „Eine hochsensible Person sortiert Eindrücke in zehn Kategorien, während jemand anderes nur zwei oder drei Varianten wahrnimmt.“1 Hochsensibilität ist wahrscheinlich erblich; man wird also vermutlich damit geboren.

Hochsensible Menschen nehmen viele subtile Nuancen wahr, die andere übersehen. Worüber andere nicht weiter nachdenken, oder was andere vielleicht gar genießen – laute Musik, große Menschenmengen, Sirenengeheul, grelle Lichter, fremde Gerüche, chaotische Verkaufsräume – das kann bei Hochsensiblen heftige Reaktionen verursachen. Sie werden überreizt. Wenn solch eine Reizüberflutung oder Überstimulation lange anhält, wird sie zu Dauerstress. Ab wann und bei wem Überstimulation zu Stress führt, ist wiederum individuell verschieden und von weiteren Faktoren abhängig. Faktoren, die hier eine Rolle spielen, sind beispielsweise Erziehung, Anpassungsstrategien oder individuelle Eigenarten. Auch das Alter spielt eine Rolle dabei, wie viel man verkraften kann. Kinder können gewöhnlich mehr Eindrücke verarbeiten als Ältere. Sensibilität nimmt meistens mit dem Lebensalter zu. Das gilt übrigens für alle Menschen, ob hochsensibel oder nicht.

Der Begriff „hochsensibel“ wurde von Aron geprägt und ist freundlicher und neutraler als die Bezeichnung „überempfindlich“. „Überempfindlich“ bedeutet: „zu viel“. Die Bezeichnung „hochsensibel“ vermeidet die Assoziation mit „zu viel“ oder „falsch“. Genau wie jede andere Eigenschaft ist Hochsensibilität ein Charakterzug, der sowohl positiv als auch negativ interpretiert werden kann – je nachdem, worauf man den Nachdruck legt. Wer hochsensibel ist, hat das Potenzial, diese Sensibilität auf eindrucksvolle Art in vielen Bereichen seines Lebens einzusetzen. Er kann aus dieser Eigenschaft eine Gabe machen. Er muss allerdings dafür sorgen, dass seine Umgebung zu den eigenen Bedürfnissen passt. Das ist die Herausforderung, vor der Menschen mit hochsensiblem Charakter stehen. In diesem Kapitel werde ich mich der Hochsensibilität von möglichst vielen Seiten nähern, auf viele Aspekte eingehen, die die Hochsensibilität sowohl zu einer Schwierigkeit als auch zu einer Gabe machen; ab Kapitel 2 bespreche ich diese Teilaspekte dann im Detail.

Ein hochsensibler Mensch benötigt zuallererst mehr Zeit als der Durchschnitt der Menschen. Das liegt einzig an der Tatsache, dass die Menge der Reize, die auf ihn einströmen, ausreichend verarbeitet werden muss. Es geht dabei um Sinnesinformationen, die über Augen, Ohren, Nase und Tastsinn nach innen strömen, sowie um Informationen, die aus dem eigenen Organismus kommen: Gedanken, Gefühle, Empfindungen aus inneren Organen. Kurz, um sämtliche körperlichen, geistigen, emotionalen und seelischen Eindrücke. Zu deren Verarbeitung braucht man Zeit – und die ist nicht immer ausreichend vorhanden. Die Zeit und Ruhe, die man sich nimmt, um Eindrücke zu verarbeiten, bestimmen einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit. Ist man jemand, der sich häufig zurückzieht zum Überlegen, zur Besinnung, um über ein Thema zu brüten und zu träumen? Oder nimmt man sich wenig Zeit, hastet vielleicht von einer Erfahrung zur nächsten? Die Eigenschaft der Hochsensibilität, kombiniert mit dem Maß an Aktivität, das man in seinem Leben entfaltet, kann großen Einfluss darauf haben, inwieweit man mit dem Leben, das man führt, zufrieden ist, und inwieweit man sich ausgeglichen fühlt. Es gibt hochsensible Menschen, die sehr unternehmungslustig und aktiv sind, und es gibt Hochsensible, die alles lieber ruhiger angehen.

Ein kleines Zwischenresümee ist an dieser Stelle möglicherweise sinnvoll: Ich liste einige Charakteristika auf, die zur Hochsensibilität gehören können. Wohlgemerkt: Es sind mögliche Auswirkungen der Hochsensibilität; es muss nicht so sein, dass jeder Hochsensible sich in all diesen Eigenschaften wieder findet.

Hochsensible:

• bemerken viele Details und feine Unterschiede

• spüren die Stimmungen anderer recht deutlich

• besitzen eine reiche innere Erlebniswelt

• träumen, phantasieren und überlegen viel

• sind sorgfältig und bewusst

• erledigen Sachen gerne in ihrem eigenen Tempo

• werden durch Schönheit und Kunst tief berührt

• lieben Stille und Ruhe.

Jeder Mensch ist einzigartig; Hochsensible sind nicht einzigartiger als andere. Dennoch haben sie oft ein existentielles Gefühl, anders zu sein und nicht gut verstanden zu werden. Erkennst du dich bis hierher ein wenig in diesem Muster? Oder erkennst du jemand anderen in dieser Beschreibung? Einige Beispiele, wie das Leben durch Hochsensibilität kompliziert werden kann, mögen es klarer machen:

• Es kann vorkommen, dass du unter Störungen aus deiner Umgebung leidest, die andere kaum bemerken.

• Bei lauten Geräuschen fühlst du dich wie von dir selbst abgetrennt.

• (Un)ausgesprochene negative Gefühle eines Bekannten, eines Freundes oder einer Freundin können dich komplett aus dem Gleichgewicht bringen.

• Durch den Kontakt mit jemand anderem fühlst du dich manchmal wie ausgesaugt.

• Ein paar Stunden Shopping bringen dich an deine Belastungsgrenze. Du willst dann zurück nach Hause, dich alleine zurückziehen und keine weiteren Reize und Themen mehr verarbeiten müssen.

• Hungergefühle machen dir schnell zu schaffen, du wirst gereizt und fühlst dich flau im Kopf.

• Es kostet dich deutlich mehr Kraft als deine Kollegen, in einer hektischen Büroatmosphäre zu arbeiten.

• Unfreundliche Bemerkungen können dich leicht aus der Bahn werfen. Von freundlicher Aufmerksamkeit hingegen fühlst du dich tief berührt.

• Du leidest schnell unter Stress-Symptomen wie Magendruck, unruhigem Darm, Kopfschmerz, nervlichem Kribbeln oder anderen Missempfindungen.

• Gefühle von Wut, Kummer und Verzweiflung nehmen dich ziemlich mit.

Betrachte es so: Die meisten Menschen bewegen sich durchs Leben wie große Tanker übers Meer – während Hochsensible wie Segelboote sind. Nur wenig muss passieren, wie Gegenwind oder hohe Wellen, um sie vom Kurs abzubringen. Andererseits sind sie Lebensgenießer, die die Fahrt als spannende Reise erleben – die Lebensreise zur Kunst erheben. Bei Manövern wie „Kreuzen am Wind“ und „Wende am Wind“ sind Hochsensible in ihrem Element: Backbord und steuerbord warten Abwechslung und neue Erkenntnisse.

Ein Hochsensibler tanzt auf dem Seil eines Gleichgewichtskünstlers; jeder Schritt ist wichtig. Eine hochsensible Frau beschrieb sich folgendermaßen:

„In meinem Leben gab es immer ‚Kleinigkeiten‘, die mich besonders aufregten, während andere sich dadurch überhaupt nicht gestört fühlten. Ich kann absolut keine Kleidung ertragen, in der elastische Bänder um meine Handgelenke, meine Taille oder Etiketten in meinem Nacken sitzen. Meine Armbanduhr hängt ziemlich lose an meinem Handgelenk.

Viele Nahrungsmittel vermeide ich wegen ihrer Struktur, nicht etwa wegen ihres Geschmacks. Ich mag zwar gerne Tomatensauce auf meinen Spagetti, trotzdem kann ich absolut kein Stückchen rohe Tomate essen. Dasselbe gilt für einige Früchte. Ich kann mich aufgrund ihrer spezifischen Struktur nicht überwinden, sie zu essen. Einen rohen Apfel finde ich lecker, aber von einem gebratenen Apfelring wird mir übel. Ins Restaurant zu gehen ist eine Katastrophe für mich und meine Tischgenossen, ich muss nämlich genau wissen, was alles im Essen ist, bevor ich essen kann. Mein Magen und mein Darm sind äußerst empfindlich und geraten durch ungewöhnlich gewürztes Essen genauso durcheinander wie durch Stress.“2

Als hochsensibler Mensch wird man nicht nur durch spür- oder sichtbare Reize beeinflusst, man bemerkt auch weniger leicht erklärbare Dinge. Stimmungen anderer können einen beispielsweise ziemlich beschäftigen. Während die meisten Menschen, die einen Raum betreten, gerade mal das Mobiliar und die anwesenden Personen bemerken, spürst du als Hochsensibler unmittelbar etwas von der Persönlichkeit, die in diesem Raum lebt. Oder du nimmst beispielsweise wahr, wenn jemand nicht ehrlich ist. Das kann dich ziemlich fassungslos machen. Du bemerkst auch deutlich die Unsicherheiten anderer, ebenso wie unausgesprochene Feindseligkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt. Andererseits fühlst du rasch, wenn jemandem etwas fehlt, und bist dann unmittelbar bereit, diesem Menschen behilflich zu sein. Vielleicht macht dich das zu einem besonders altruistischen Menschen. Vielleicht finden andere dich deshalb so nett und teilen gerne ihre Probleme mit dir? Wenn deine Gabe ans Paranormale grenzt, kannst du viel Zeit und Energie in das Wahrnehmen der Bedürfnisse und Gefühle anderer stecken. Das kann bis zur Erschöpfung gehen.

Gefühle anderer können so stark auf dich wirken, dass du manchmal nicht mehr unterscheiden kannst, ob diese von dir oder von jemand anderem stammen. Du weißt nicht mehr genau, was zu dir gehört und was zu dem anderen. Ein Zusammenfluss zwischen dir und dem anderen findet statt. Das verwirrt dich vielleicht. Oder du bemerkst es zunächst nicht und erkennst erst später, was dein Denken, Fühlen oder Handeln bestimmt hat. Vielleicht hast du auf dieser Basis Entscheidungen gefällt, die du später bereust. Möglicherweise lebst du dadurch in Konflikt mit deinem Verantwortungsgefühl, wodurch bei dir ein Schuldgefühl entstehen kann. Bisweilen sind andere sehr gut darin, an dieses Gefühl zu appellieren, um dir etwas aufzubürden, was vielleicht gar nicht deine Aufgabe ist. All das sind natürlich nur Möglichkeiten, keine Notwendigkeiten. Manchmal kommen sie vor, manchmal nicht.

Vereinfacht gesagt: Das Bemerken von Details ist wesentliches Charakteristikum eines hochsensiblen Menschen. Es sind diese Details, die überwältigen oder enthusiastisch machen können. Es sind die Details, die jemanden zu einem zuvorkommenden und aufmerksamen Menschen machen, die ihn zum Rätseln und Nachdenken bringen können, bis er erschöpft vom Grübeln ist, und die ihn zu einem hart arbeitenden, verantwortungsvollen Arbeitnehmer machen, was gelegentlich ins Perfektionistische geht. Details machen das Leben wertvoll, sie richten den Geist nach innen, machen still und konzentriert. Jemand, der sich aller Details bewusst ist, überlegt, bevor er handelt, wählt bewusst aus und weiß, dass Dinge komplexer sind als sie erscheinen. Eine andere Konsequenz dieser Aufmerksamkeit für Details ist, dass man möglicherweise vieles von dem bemerkt, was im eigenen Körper vorgeht. Hochsensible haben häufig eine niedrigere Toleranz- und Schmerzgrenze. Möglicherweise haben sie diffuse Beschwerden, deren genaue Diagnose einem Arzt schwer fällt – und der deshalb vielleicht denkt, sie würden sich einfach nur zu sehr anstellen oder seien eben überempfindlich.

Hochsensibilität hat so unglaublich viele Aspekte! Was einen Hochsensiblen beispielsweise auch kennzeichnen kann, ist ein hoher Bedarf an Einkehr, Schönheit und Tiefe. Ein hochsensibler Mensch meditiert oder macht Yoga, ist an Kunst oder Musik interessiert, fühlt sich für die Umwelt oder für Hilfsbedürftige in seiner Umgebung verantwortlich. Ein Hochsensibler beschäftigt sich wahrscheinlich mehr als üblich mit Dingen, die wirklich wichtig sind, und unternimmt sinngebende Aktivitäten, weil er sich dadurch verbunden fühlt – mit anderen Menschen, mit der Natur … oder mit dem Atem, der durch das Leben strömt. Hochsensible können, wenn sie mit sich im Reinen und ausgeglichen sind, sich selbst und anderen Ruhe und Weisheit geben, und andere veranlassen, rechtzeitig zum Wesentlichen zurückzukehren, was auch immer das im Einzelnen sein mag. Sie können Vorbild sein, wenn es um Sorgfalt und Zuwendung geht. Dank ihres Blicks fürs Detail achten sie auf den Weg – und nicht nur auf das Ziel. Sie können anderen zeigen, dass es im Leben um das Hier und Jetzt geht, und nicht ausschließlich um Vergangenheit oder Zukunft. Und dass es auch um Glauben, Spiritualität und Einkehr geht – und nicht nur um materielle Werte.

Die von alters her vertraut sind mit der Liebe, sind zartbesaitet, gefühlvoll, tief, unergründlich. Durch ihreUnergründlichkeit sind sie nur wie folgt zu beschreiben:Vorsichtig, als müssten sie im Winter einen Bach überqueren,zaghaft, als fürchteten sie den Klatsch aller Nachbarn,höflich, als wären sie nur zu Besuch,nachgiebig wie schmelzendes Eis,ursprünglich wie rohes Holz,tief und weit wie ein Tal,undurchschaubar wie ein trübes Gewässer.Die Trübung wird durch Versenkung geklärt,was ruht wird aufgewirbelt durch Erregung.

LAOTSE, TAO TE KING, 15

Erkennst du dich in diesem Bild eines Hochsensiblen wieder? Dann hast du wahrscheinlich schon als Kind ruhige Plätzchen im Wald aufgesucht, um dich selbst zu trösten oder um die Verbindung mit der Natur zu erfahren. Hat dich schöne Musik vielleicht schon immer innerlich aufgewühlt? Hast du dich vielleicht schon immer von Gewalt, Unrecht und Schmutz abgekehrt? Vielleicht hast du dich als Kind mit deinen Gefühlen innerer Rührung allein gelassen gefühlt, hast mit deinen Vorlieben nicht in das übliche Schema gepasst und wurdest gehänselt? Es ist inzwischen bekannt, dass viele Hochsensible in ihrer Kindheit erheblich mit Erwartungen anderer, wie Lehrern und Mitschülern, zu kämpfen haben. Im frühen Lebensalter – als Säugling und Kindergartenkind – wurden sie teils nach dem Bild geformt, das ihre Eltern von ihnen hatten. Zuweilen mit guten, zuweilen mit schlechten Folgen. Wenn die Hochsensibilität nicht ausreichend erkannt wurde, trugen manche ziemliche Schrammen aus ihrer Kindheit und Jugend davon. Das hochsensible Kind als solches kannte man bis vor kurzem nicht. Es wurde als schüchtern, überempfindlich oder „anders“ eingestuft, was ihm nicht gerecht wurde. Glücklicherweise ändert sich die Situation gegenwärtig. Aufgrund der Erfahrungen mit hochsensiblen Erwachsenen sind wir auch besser in der Lage, eine kindgerechte Betreuung zu entwickeln, wodurch sich das hochsensible Kind in seiner Eigenart entfalten kann. In Kapitel 5 besprechen wir dieses Thema ausführlich.

1.2 Suchst du Abenteuer oder Ruhe?

Aron unterscheidet in ihrer Theorie zwei Persönlichkeitstypen: Zum einen beschreibt sie den Sensation Seeker, also den Typus, der Spannung sucht, und zum anderen den Typus, der Ruhe sucht. Diese Unterscheidung wird in der Psychologie heute allgemein anerkannt. Sensation Seekers werden manchmal auch Thrill Seekers genannt. Das sind Menschen, die immer wieder auf der Suche nach neuen und intensiven Erfahrungen sind. Sie üben spannende und gefährliche Sportarten aus, lieben Abenteuerreisen, haben einen außergewöhnlichen Lebenslauf und sind immer auf neue Einsichten und Eindrücke aus. Sie sind bereit, dafür vielfältige Risiken – etwa physische, soziale, finanzielle oder rechtliche – in Kauf zu nehmen. Hochsensibilität und Sensation Seeking brauchen einander nicht auszuschließen; ein und dieselbe Person kann beide Eigenschaften haben.

Wenn du dich in der Mischung dieser Eigenschaften wiedererkennst, bist du wahrscheinlich ein hochsensibler und gleichzeitig sehr leidenschaftlicher Mensch. Du wirst wahrscheinlich sowohl schnell überreizt als auch schnell gelangweilt. Dadurch kannst du ab und an in Konflikt mit dir selbst geraten. Da du auf der Suche nach neuen Erfahrungen und Kicks bist, gehst du auf Gefahren und Herausforderungen zu. Doch andererseits solltest du dich eigentlich mehr zurückziehen, da du nicht immer wieder so gestresst werden willst. Du trittst meistens mit einem Fuß aufs Gas und mit dem anderen auf die Bremse. Vielleicht bist du in der Vergangenheit zu große Risiken eingegangen und erlebst jetzt die Folgen? Vielleicht haben dir das Leben und der eigene Lebensstil schon schmerzhaft zugesetzt? Das ist meistens der Fall, wenn du dir deiner Hochsensibilität nicht bewusst warst.

Die andere Variante ist: Du bist hochsensibel, ohne ein derartiger Sensation oder Thrill Seeker zu sein. Du bist dann eher von beschaulicher Natur, fühlst dich glücklicher bei einem ruhigen Lebensstil. Du bist wahrscheinlich nicht impulsiv, du machst Dinge meistens gleich richtig und magst es nicht, Risiken einzugehen, auf welchem Gebiet auch immer. Dein Lebensstil ist übersichtlich und regelmäßig. Bei dir besteht die Gefahr, dass du dich zu sehr zurückziehst und die Welt und Beziehungen, die dich weiterbringen, vernachlässigst.

Eine dritte Variante ist die Kombination von normaler Sensibilität (also nicht-hochsensibel) mit der Sensation-Seeker-Eigenschaft. Diese Menschen sind neugierig, getrieben, impulsiv, gehen leicht Risiken ein und langweilen sich schnell. Sie sind sich der Details einer Situation nicht so bewusst und daran auch nicht interessiert. Sie leiden auch weniger unter den Folgen, die die eingegangenen Risiken mit sich bringen. Wenn sie einen Schicksalsschlag erleiden, sich im Urwald verlaufen oder ihr Vermögen verlieren, geraten sie weniger aus dem Gleichgewicht als ein hochsensibler Mensch.

Schließlich gibt es noch die Normalsensiblen, die vor allem Ruhe und Gleichmäßigkeit suchen. Sie sind nicht wirklich neugierig und wundern sich auch nicht über die Dinge, die passieren. Sie sind eher unkompliziert, einfach und spontan. Sie leben das Leben, wie es kommt.

Wenn du hochsensibel bist und dich gleichzeitig in beiden Menschentypen wiedererkennst, dann hast du wahrscheinlich eine gesunde Balance zwischen Aktivität und Ruhe gefunden. Wie in der Aufeinanderfolge der Jahreszeiten lebst du mehr oder minder in Übereinstimmung mit den natürlichen Zyklen. Du verfügst wahrscheinlich über ausreichend Möglichkeiten, dich nach außen zu richten, zu entfalten und in Aktion zu kommen, doch du fühlst rechtzeitig, wann du wieder Zeit und Raum brauchst für Einkehr und Ruhe. Du fühlst die Notwendigkeit regelmäßiger Veränderungen. Du schätzt den Vorteil des Zusammenseins mit anderen wie auch den Vorteil des Alleinseins. Dennoch musst du wohl immer aufmerksam bleiben, um diese Pole im Gleichgewicht zu halten – und wirst dich dabei vermutlich vielfach zwischen ihnen hin und her bewegen. Wahrscheinlich ist dieses Leben nicht selbstverständlich, aber du kannst sehr gut damit umgehen.

Hochsensibilität ist jedenfalls nicht dasselbe wie Introversion, ein von Carl Gustav Jung geprägter Begriff, der die Neigung bezeichnet, nach innen ausgerichtet zu sein, weg von der Außenwelt. Introvertierte Persönlichkeiten haben ein weitaus höheres Bedürfnis, ruhige Orte aufzusuchen und sich tief zu versenken in sich selbst, in gründliches Überlegen und Besinnen. Jung stellte fest, dass Introvertierte die innere Welt als realer und wertvoller erfahren als die Außenwelt. Das kennen auch Hochsensible, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Auch Hochsensible lieben das tiefe Nachdenken über Erfahrenes; das Nachdenken – d.h. Dinge mit Bedeutung versehen – wird beinahe höher geschätzt als das Erleben selbst. Doch sind sie nicht per definitionem introvertiert. Aron entdeckte, dass etwa 30 Prozent der Menschen, die sich als hochsensibel betrachten, extravertierte Persönlichkeiten sind. Da sieht man es wieder einmal: Die Sachverhalte sind häufig komplizierter, als es die „Etiketten“ vermuten lassen.

Hochsensibilität ist auch kein Synonym für Schüchternheit, selbst wenn sich viele Hochsensible als schüchtern empfinden oder in ihrer Jugend so bezeichnet wurden. Bis heute gibt es noch keinen einzigen Beweis dafür, dass Menschen schüchtern geboren werden. Schüchternheit ist eher die Folge persönlicher Erfahrungen und Vorgehensweisen. Sie erwächst aus der Befürchtung, be- oder verurteilt zu werden – entsteht also aus negativen Erfahrungen. Introversion und Schüchternheit sind Anpassungsstrategien, die durch bestimmte Umstände hervorgerufen werden. Bei hochsensiblen Personen kommt Schüchternheit und/oder Ängstlichkeit allerdings häufiger vor als bei weniger sensiblen Menschen.

Deutlich wird: Menschen kann man nicht in Schubladen sortieren; jeder Mensch ist einzigartig durch das Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Fakten. Doch es kann die eigene Einsicht fördern und hilfreich sein, wenn man sein Verhalten einigermaßen einordnen kann. Viele Hochsensible erleben es als erleichternd und befreiend, wenn sie erkennen, dass viele ihrer Eigenschaften – die sie bisher als störend ansahen – benennbar und dadurch handhabbar werden. Ich rate deshalb, dieses Buch als Leitfaden zu lesen: anzunehmen, was einen anspricht, und fortzulassen, was einen weniger berührt.

1.3 Eine sozialgeschichtliche Erklärung

Lass uns noch einmal diese Eigenschaft der Hochsensibilität betrachten. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch auf einer Skala von 1 bis 10 mehr oder weniger sensibel ist, dann stehen Hochsensible irgendwo oben in der Skala. Doch warum? Hat das eine Funktion? Verschiedene Forschungen ergaben, dass etwa ein Fünftel aller Menschen zur Gruppe der Hochsensiblen gehört. Unter höher entwickelten Tieren wie Mäusen, Katzen, Hunden, Pferden und Affen zeigt sich derselbe Prozentsatz. Es gibt gar Hinweise darauf, dass in jeder Tierpopulation, auch bei weniger entwickelten Tieren wie Insekten, Hochsensibilität vorkommt. Doch um dazu definitive Aussagen zu machen, ist es noch zu früh, weitere Forschung ist nötig. Entscheidend ist: Man muss sich klar machen, dass sich eine hochsensible Person wesentlich von der Mehrheit der Menschen unterscheidet. Im Allgemeinen kann man drei Gruppen unterscheiden. Bei Befragungen von zufällig ausgewählten Telefonteilnehmern stuften sich 15 bis 20 Prozent der Menschen als sehr sensibel ein, etwa 40 Prozent gab an, insgesamt eher nicht sensibel zu sein, und der Rest lag irgendwo dazwischen und sah sich als mittelmäßig sensibel an.3 Gegenwärtig schlussfolgern Untersucher, dass Hochsensibilität eine ererbte Eigenschaft ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen deshalb in deiner Familie weitere hochsensible Personen vor. Vielleicht denkst du da an deinen Vater, Großvater oder deine Schwester?

Was ist der Nutzen von Hochsensibilität? Oder ist es einfach nur ein chemischer Defekt? Es gibt Stimmen, die der Meinung sind, dass Hochsensibilität rein biochemisch erklärbar sei. Bei hochsensiblen Menschen sollen bestimmte hormonelle Stoffe schlechter übertragen worden sein und andere Stoffe stattdessen in größerem Maß vorhanden sein. Dafür gibt es Hinweise. Sogar Aron geht recht weit darin, die Eigenschaft über biologisch nachweisbare Argumente zu erklären. Bislang gibt es jedoch zu wenig Forschungen, um diese Ansichten zu untermauern; man darf die Komplexität dieses Themenbereiches nicht unterschätzen. Und selbst, wenn physikalisch im Körper von Hochsensiblen etwas nachweisbar anders abläuft, bleibt noch die Frage nach der Funktion dieser „Abweichung“: Hat sie vielleicht in der Schöpfungsgeschichte einen bestimmten Sinn und Zweck? Wir sollten uns der Gefahr bewusst sein, dass Hochsensibilität schnell in eine Reihe mit anderen „Syndromen“ gestellt und als abträgliche Abweichung abgetan wird. In diesem Fall wird man den Hochsensiblen nicht gerecht und übersieht die Gaben, die sie besitzen.

Eine andere plausible Erklärung für Hochsensibilität kann man aus sozialgeschichtlicher Perspektive geben. Aron – die dieser Auffassung tendenziell folgt – nimmt an, dass Hochsensible in früheren Zeiten die Priester, Seher und Heiler in einer Gemeinschaft waren. Sie waren die Berater des Königs, sozusagen „der Rat der Weisen“. Während sich der König und seine Soldaten um Verteidigung und Expansion kümmerten, warnten die Hochsensiblen vor möglichen Gefahren. Sie hatten also eine klar umrissene Aufgabe, und eine wichtige dazu. Sie sahen Dinge, die anderen Menschen oder auch Tieren nicht auffielen. Durch ihre ausgesprochen feinen Sinne und ihr außerordentliches Bewusstsein für Details erkannten sie frühestmöglich, wenn Gefahr drohte, und welche Strategie für das Wohlergehen der Gemeinschaft gerade die beste war.

Schutz und Sicherheit waren im Leben unserer Vorfahren keine Selbstverständlichkeit. Gefahr drohte stets. Stämme waren ständig inneren und äußeren Bedrohungen ausgesetzt. Das Rascheln im Gebüsch oder ein unbekannter Geruch, der von ferne kam, konnte auf den Angriff eines feindlich gesonnenen Stammes hinweisen. Sich zusammenziehende Wolken konnten ein Unwetter mit gefährlichen Blitzen ankündigen. Die Gruppe oder der Volksstamm, der diese Signale am besten auffing und interpretierte, hatte die größten Überlebenschancen. Bei dieser Aufgabe spielten die Hochsensiblen eine wichtige Rolle. Anhand von kleinsten Veränderungen konnten sie Vorhersagen machen und Rat geben, wovon die Gruppe profitierte. Dieselben Gründe dürften auch in der Tierwelt gelten. Die scheuen, wachsamsten Tiere des Rudels sind die Hochsensiblen. Studien belegen, dass diese Temperamentsunterschiede tatsächlich eine Rolle spielen.

Auch heute noch ist ein Teil der Welt mit Gefahren wie Kriegen und kämpferischen Auseinandersetzungen konfrontiert. Oder mit Gefahren anderer Art, wie Umweltverschmutzung und Naturkatastrophen. Also nutzt eine gesunde soziale Gemeinschaft auch heute noch – sei es auch in komplexerer Form – die Weisheit von Spezialisten, Sehern und Pionieren. Basierend auf deren Forschungen und Ratschlägen werden neue Gesetze und Regeln erstellt. Das neuronale System von Hochsensiblen basiert auf dem Prinzip von „Innehalten und Prüfen“. Es wird auch Pause-to-check-System genannt. Dieses System ist für Hochsensible entscheidend. Geringer Sensible laufen signifikant schneller und unbefangener in ihr Verderben. Sie nehmen weniger Gefahren wahr und sind deshalb weniger ängstlich. Das mag sinnvoll sein, wenn man Krieger, Ritter oder Soldat ist. Doch ein Hochsensibler fühlt erst die Wassertemperatur, bevor er ins Wasser springt; er studiert erst den Wetterbericht, bevor er sich aufmacht zur Wanderung.

Pause-to-check, Innehalten und Prüfen, bedeutet: alle Details und Möglichkeiten bewusst wahrzunehmen, sie als zusammenhängendes Ganzes zu erfassen, zu begreifen und dann die bestmögliche Schlussfolgerung zu ziehen. Wenn ein hochsensibler Mensch auf diese Art einer Gemeinschaft dient, berücksichtigt er üblicherweise das Interesse aller Mitglieder. Sein Ziel ist es, der ganzen Gruppe zu helfen; seine Grundeinstellung ist eher altruistisch als egoistisch. Er ist in seiner Aufgabe als Mahner und Seher auf das ausgerichtet, was die Gruppe verbindet. Dazu gehören beispielsweise das Verhindern von Aggressivität und Missmanagement, wie es Friedensaktivisten in Militärregimes mittels Flugblättern und Aktionen praktizieren. Oder die kreativen Aktivitäten von Forschern und Erfindern, die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt bewirken. Oder man denke an Umweltaktivisten und Entwicklungshelfer, die sich immer wieder mit nicht nachlassendem Mut und Optimismus daran machen, diese Welt zu einer lebenswerten Welt für alle zu machen. Oder an die Darbietung von Kunst und Musik, bezahlt und unbezahlt, wie es Künstler und Artisten tun. Weil Hochsensible traditionellerweise für Besinnung und Vertiefung sorgen, findet man die meisten von ihnen auch heute noch unter Wissenschaftlern, Therapeuten, Lehrern, Künstlern und Geistlichen. In diesen Berufen fühlen sich Hochsensible wohl. Hier können sie ihre Sorgfalt, ihre intuitiven und kreativen Qualitäten, ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse an philosophischen, psychologischen und weltanschaulichen Themen einbringen.

1.4 Mehr Verständnis für diese Eigenschaft ist nötig

Alles schön und gut – doch warum gibt es so viele Hochsensible, die leiden? Und gab es dieses Leiden schon immer, oder ist es typisch für die heutige Zeit? Eine beachtenswerte Untersuchung unter Schulkindern in zwei Weltstädten, Schanghai und Toronto, warf etwas Licht auf diese Frage. Bei der Untersuchung wurde das Maß der Beliebtheit von schüchternen und empfindlichen Kindern verglichen mit der Beliebtheit von Kindern, die nicht schüchtern und empfindlich waren. Man wollte herausfinden, welche Charaktereigenschaften Kinder beliebt machen. In Kanada zeigte sich, dass schüchterne und empfindliche Kinder zu den am wenigsten Beliebten gehörten. In Schanghai hingegen wurden Schüchternheit und Empfindlichkeit unter den Kindern besonders geschätzt, und diese Kinder wurden am häufigsten als Spielkameraden gewählt.4 Im Mandarin-Chinesisch bedeutet das Wort „schüchtern“ etwa dasselbe wie „still“, was wiederum mit „gute Manieren“ assoziiert wird. Das Wort für „Empfindlichkeit“ entspricht außerdem recht gut unserem Begriff „Empfänglichkeit“.

In der Praxis zeigt sich, dass die Fähigkeiten von Hochsensiblen nicht so geschätzt werden, wie wir es gerne sähen. Namentlich für unsere westliche Kultur – die der kanadischen und nicht der chinesischen gleicht – lassen sich die Schlussfolgerungen der Untersuchung verallgemeinern; das zeigte sich auch in den Gesprächen, die ich geführt habe. Im Allgemeinen scheinen die Qualitäten von Hochsensiblen ungenügend gewürdigt zu werden. Dementsprechend hatten fast alle Interviewten in den Untersuchungen von Aron und in den Gesprächen, die ich führte, in mehr oder minder starkem Maß das Gefühl, von ihren Mitmenschen nicht für voll genommen, fortgeschoben oder „untergebuttert“ zu werden. Es scheint, je moderner und leistungsbezogener eine Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es für Hochsensible.

Diese Schwierigkeit wird vor allem durch die Tatsache verursacht, dass ein Hochsensibler nicht immer mit dem Tempo und der Tatkraft mithalten kann, die die anderen – Normalsensiblen – an den Tag legen. Er befindet sich dann schnell im Konflikt, sich entweder für die eigenen Bedürfnisse entscheiden zu müssen oder für die Erwartungen der Gemeinschaft. Doch muss ein Hochsensibler denn unbedingt mithalten bei einem Leben, das auf Tempo, Abwechslung und äußeren Erfolg ausgerichtet ist? Oder sollte er Werte wie Sorgfalt, Bescheidenheit und Tiefgang wählen? Hochsensible leiden insbesondere, sofern sie die eigene Sensibilität nicht erkennen: Sie begreifen sich dann weder selbst noch fühlen sie sich von ihrer Umgebung verstanden. Die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität ist die Antwort auf die meisten Beschwerden. Denn darin liegt die Chance, einen Lebensstil zu suchen und zu finden, der zu einem passt.

Marianne (55) zeigte mir ihren Garten, als ich für unser Interview aus dem Wagen stieg: „Dieser Garten gibt mir Ruhe und Raum, zwei Dinge die für mich ausschlaggebend sind. In den Augen anderer ist mein Leben wahrscheinlich langweilig. Aber das Gleichgewicht, das ich nach 55 Jahren inneren Kampfes gefunden habe, ist mir sehr wertvoll. Ich bin nun ein überwiegend glücklicher Mensch. Vor fünf Jahren habe ich meine letzte Anstellung gekündigt. Ich war damals Lehrkraft und Beraterin in einer Weiterbildungseinrichtung für arbeitslose Frauen. Das war eine Vollzeitstelle und eigentlich zu viel für mich. Ich musste abends und an Wochenenden immer ganz früh zu Bett. Kräftemäßig schaffte ich es stets nur knapp bis zu den Ferien und war dann völlig erschöpft. Am wenigsten konnte ich das ständige Hin und Her bei der Arbeit ertragen. Wenn ich konzentriert beschäftigt war, klingelte beispielsweise das Telefon. So etwas laugte mich aus. Es gab lange Zeitabschnitte, an denen ich krankheitsbedingt ausfiel. Ich war monatelang, selbst jahrelang weg vom Fenster. Ich fühlte mich völlig wertlos und fand, dass ich zu nichts taugte. Ich ging schließlich auch nicht mehr zu meinem Arzt, nachdem er mir durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, wie stressig er es doch selbst habe und ob ich denn nicht zu viel jammern würde. Danach dachte ich, das mache ich mit mir alleine aus. Und das ist mir gelungen. Ich bin jetzt ziemlich zufrieden und lebe die Hochsensibilität aus, so weit es geht. Ich bin überzeugt, dass wir irgendwann gemeinsam stark werden und man die Wichtigkeit unserer Eigenschaft anerkennen wird.“5

Es gibt natürlich Unterschiede zwischen Menschen. Der eine Hochsensible leidet mehr unter Erwartungsdruck als der andere. Die Auswirkungen der Hochsensibilität sind für den einen größer, für den anderen geringer. Das ist individuell verschieden, weil biologische, psychologische und soziale Faktoren mitspielen. Mit diesen drei Begriffen meine ich Folgendes:

Zu den biologischen Faktoren zählen in der Regel Anlage, Vererbung und körperliche Eigenschaften. Ein Beispiel: Wenn jemand mit körperlichem Handicap – zum Beispiel Blindheit oder Spina bifida – geboren wurde, ist es verständlich, dass er durch seine Hochsensibilität andere Konsequenzen erfährt als jemand ohne dieses Handicap.

Psychologische Faktoren beziehen sich auf Erziehung und tiefgreifende Ereignisse und Erfahrungen im Leben. Es ist auch hier selbstverständlich, dass ein Kind, das von den Eltern vernachlässigt oder verlassen wurde, später im Leben andere Probleme hat als ein Kind, das liebevoll empfangen und versorgt wurde.

Soziale Faktoren, die beeinflussen, wie sich ein Charakter in Bezug auf die eigene Hochsensibilität entwickelt, beziehen sich auf die Gesellschaft im engeren Sinn, also die Gruppe, in der man aufwächst. Kommt man aus einer großen Familie mit eher unsensiblen Mitgliedern, dann wird man sich wahrscheinlich anders entwickeln und mit anderen Problemen konfrontiert sein, als wenn man sehr sensible Eltern hat, die alle Reize, durch die man überfordert werden könnte, von einem fern halten.

Zwei Beispiele veranschaulichen diese Aspekte:

Bernadette (30) berichtete mir erleichtert: „Die größte Entdeckung, die ich machte, war, dass ich als Hochsensible eine fantastische Jugend gehabt hatte, in der meine ‚Besonderheiten‘ optimal positiv stimuliert wurden. Was ich so besonders finde, ist, dass meine Mutter, die auch hochsensibel ist, aus ihren negativen Erfahrungen die Basis für positive Erfahrungen für mich und die anderen Kinder machen konnte. Natürlich bin ich später, als ich mit achtzehn aus dem Hause ging, ziemlich mit meiner Sensibilität konfrontiert worden.“

Maike (55) erfuhr hingegen ihre Kindheit völlig anders. Sie berichtete: „Seit meiner Geburt wurde ich bis jetzt mit ausgesprochen unsensiblen Menschen konfrontiert. Ich komme aus einer großen Familie und bin im Arbeitsleben immer wieder in großen Gruppen gelandet. Vor ein paar Jahren dachte ich, dass ich es mir leichter machen könnte, indem ich nicht mehr zu Geburtstags- und Mitarbeiterfesten und dergleichen ging, aber das hat zu so viel Unverständnis geführt, dass mein Leben dadurch gewiss nicht einfacher geworden ist, eher schwieriger.“

Bei Maike entwickelte sich ein Erschöpfungssyndrom, welches unter den Bezeichnungen ME (Myalgische Enzephalomyelitis) oder CFS (Chronic Fatigue Syndrome) bekannt ist. Obwohl sie selbst nachdrücklich betont, nicht krank, sondern hochsensibel zu sein, waren die Konsequenzen für sie erheblich: „Ich bin äußerst müde und habe erst letzte Woche beschlossen, das einfach zu akzeptieren, statt mich dagegen zu sträuben. Ich begreife jetzt, auch durch dieses bahnbrechende Buch, dass Erschöpfung und Hochsensibilität für mich untrennbar verbunden sind. Wenn man sich entscheidet, in der Gesellschaft, in der wir nun einmal alle zusammen leben, weiterhin normal mitzuspielen, dann läuft man als Hochsensibler Gefahr, dabei unterzugehen.“

Erschöpfung und das Gefühl, einen aufreibenden Kampf mit dem Leben zu führen, kennen viele sensible Menschen. Martin erlebte das Schicksal manch anderer hochsensibler Menschen: Krisen und Depressionen. „Während meiner Studienzeit in Leiden/NL geschah es das erste Mal. Ich fiel in eine heftige Depression. Wahrscheinlich war das eine Reaktion auf alles, was ich als Kind und junger Erwachsener erleben musste und nicht verarbeiten konnte. Seitdem habe ich fünf weitere schwere Depressionen gehabt. Dabei fiel ich eine ganze Zeit aus dem Arbeitsprozess. Ich sah alles fürchterlich negativ und fand mich selbst nutzlos. Das letzte Mal war vor drei Jahren. Ich blieb drei Monate zu Hause und habe mich zum ersten Mal wirklich gefragt, was mir um Himmels Willen fehlen könnte. Dann begann ich zu suchen. Zunächst sah ich meine Probleme durch Kindheit und Erziehung erklärt. Doch nach meinem Gefühl war noch mehr im Spiel. Ich dachte an Schüchternheit und nahm über das Internet an der Shyness group