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Balzac wollte in seinem Werken ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit aufzeichnen. Er nahm (schriftstellerisch) nie ein Blatt vor den Mund. Balzac liefert in seinen Werken nicht immer – sogar selten – die heile romantische Welt. Seine Texte sind immer voller Leben. Mit seiner relativ ungeschminkten Darstellung der gesellschaftlichen Realität prägte Balzac Generationen nicht nur französischer Autoren und bereitete den Naturalismus vor. In dieser Sammlung finden Sie seine wichtigsten Werke: Glanz und Elend der Kurtisanen Die drolligen Geschichten des Herrn von Balzac Die alte Jungfer Menschliche Komödie – Die Bauern Die dreißig tolldreisten Geschichten Die Frau von dreißig Jahren Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan Die Grenadière Die Kleinbürger Die Königstreuen Die Lilie im Tal Die Messe des Gottlosen Ein Drama am Ufer des Meeres Eine dunkle Geschichte Die Sorgen der Polizei Corentins Rache Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft Eine Evatochter El Verdugo Katharina von Medici Kleine Leiden des Ehestandes Lebensbilder u.v.a; mehr als 15.000 Seiten (PDF-Version) Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 14262
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Honoré de Balzac
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Honoré de Balzac
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 3. Auflage, ISBN 978-3-962815-22-6
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Inhaltsverzeichnis
Adieu
Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang
Cäsar auf dem Gipfel seines Ruhms
Cäsar im Kampf mit dem Unglück
Das Chagrinleder
Widmung
Der Talisman
Die Frau ohne Herz
Der Todeskampf
Epilog
Anmerkungen
Das Haus Nucingen
Der Auftrag
Der Ball von Sceaux
1
2
Der Diamant
Der Dorfpfarrer
Honoré de Balzac
I – Véronique
II – Tascheron
III – Der Pfarrer von Montégnac
IV – Madame Graslin in Montégnac
V – Véronique am Grabesrande
Die alte Jungfer
Widmung
Menschliche Komödie – Die Bauern
Erster Teil – Wer Land hat, hat Streit
Zweiter Teil
Die Börse
Die dreißig tolldreisten Geschichten
Erstes Zehent
Zweites Zehent
Drittes Zehent
Die Entmündigung
1
2
3
4
5
6
Die falsche Geliebte
1
2
3
4
Die Frau von dreißig Jahren
1. Der erste Irrtum
2. Unbekannte Leiden
3. Mit dreißig Jahren
4. Der Finger Gottes
5. Die zwei Begegnungen
6. Das Alter einer schuldigen Mutter
Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan
Die Grenadière
1
2
Die Kleinbürger
Erster Teil
Zweiter Teil
Die Königstreuen
Erster Teil
Zweiter Teil
Die Lilie im Tal
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
Der Brief der Madame de Mortsauf an den Vicomte Felix de Vandenesse
An den Comte Felix de Vandenesse
Die Messe des Gottlosen
Ein Drama am Ufer des Meeres
Eine dunkle Geschichte
Die Sorgen der Polizei
Corentins Rache
Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich
Schluss
Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft
Eine Evatochter
1
2
3
4
5
6
7
8
9
El Verdugo
Eugénie Grandet
Einleitung von Hugo von Hofmannsthal
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Eugénie Grandet
Facino Cane
Glanz und Elend der Kurtisanen
Von der Liebe der Dirnen
Was alte Herren sich die Liebe kosten lassen
Der Weg des Bösen
Vautrins letzte Verkörperung
Die drolligen Geschichten des Herrn von Balzac
Kitzliche Reden dreier Pilger
Buckelchen
Ein vergeßlicher Profoß
Der schönen Imperia Ehezeit
Eine teure Liebesnacht
Wie das schöne Mägdelein von Portillon seinen Richter mundtot machte
Franz’ des Ersten Fastenfreuden
Die reuige Sünderin
Der Pfarrer von Azay-le-Rideau
Die läßliche Sünde
Die drei Zechpreller
Honoré de Balzac: Dem Dichter zum Preise!
Liebesverzweiflung
Des Königs Liebste
Des Teufels Erbe
Die Jungfrau von Thilhouze
Wie der Mönch Amador ein glorreicher Abt ward
Standhafte Liebe
Des Konnetabels Weib
Die Edelfrau als Dirne
Der Humpelgreis
Eine Geschichte, die erweisen soll, daß das Glück allemal weiblichen Geschlechtes ist
Die schöne Imperia
Die Waffenbrüder
Die Predigt des fröhlichen Pfarrers von Meudon
Die Gefahren übergroßer Tugend
Wie der Seneschall mit der Jungfernschaft seiner Frau zu kämpfen hatte
Kinderschnabelweisheit
Die klatschhaften Nonnen zu Poissy
Wie das Schloß zu Azay entstand
Die Späße König Ludwigs des Elften
Der Buhlteufel
Junggesellenwirtschaft
1
2
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4
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20
21
Katharina von Medici
Einleitung
Der calvinistische Märtyrer
Vertrauliche Mitteilungen der Brüder Ruggieri
Die beiden Träume
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit
Frau de la Chanterie
Der Aufgenommene
Kleine Leiden des Ehestandes
Vorwort, worin jedermann seine Eheeindrücke wiederfindet
Ein heimtückischer Streich
Die Enthüllungen
Die Gefälligkeiten einer jungen Frau
Sticheleien
Der Beschluß
Die Logik der Frauen
Weiblicher Jesuitismus
Erinnerungen und Klagen
Auf Beobachtung
Die Ehetarantel
Die Zwangsarbeiten
Sauersüßes Lächeln
Leidensgeschichte des Landhauses
Das Leid im Leid
Der achtzehnte Brumaire der Ehen
Die Kunst, Opfer zu sein
Der französische Feldzug
Das Trauersolo
Leb wohl!
Lebensbilder - Band 1
Widmung
Geschichte des Werkes
Erster Teil
Lebensbilder - Band 2
Widmung
Zweiter Teil
Dritter Teil
Anhang
Louis Lambert
I.
II.
III.
IV.
V.
Oberst Chabert
1
2
3
4
5
Physiologie des Alltagslebens
Einleitende Notiz
Monographie des Rentiers – Der Rentier
Physiologie des Beamten
Abhandlung über moderne Reizmittel
Sarrasine
Seraphita
Der Stromfjord
Seraphitus
Seraphita
Seraphita – Seraphitus
Wilfrid
Die Wolken des Allerheiligsten
Der Abschied
Der zu Gott führende Weg
Die Himmelfahrt
Der Landarzt
Das Land und der Mensch
Quer durch Felder
Der Napoleon des Volkes
Die Beichte des Landarztes
Elegien
Vater Goriot
Vendetta
1
2
3
4
5
6
Verlorene Illusionen
Die beiden Dichter
Ein großer Mann aus der Provinz in Paris
Die Leiden des Erfinders
Literaturverzeichnis
Index
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Ihr Jürgen Schulze
Edgar Allan Poe - Gesammelte Werke
Franz Kafka - Gesammelte Werke
Stefan Zweig - Gesammelte Werke
E. T. A. Hoffmann - Gesammelte Werke
Georg Büchner - Gesammelte Werke
Joseph Roth - Gesammelte Werke
Mark Twain - Gesammelte Werke
Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke
Rudyard Kipling - Gesammelte Werke
Rilke - Gesammelte Werke
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»Vorwärts, du Deputierter der Mitte, immer vorwärts! Wir müssen eilig weiter, wenn wir zusammen mit den andern bei Tisch sein wollen. Heb die Beine! Spring, Marquis! Hierher! So ist’s gut! Sie springen über die Gräben wie ein richtiger Hirsch!«
Diese Worte wurden von einem friedlich am Waldesrande von Ile-Adam sitzenden Jäger gesprochen, der eine Havannazigarre zu Ende rauchte und auf seinen Genossen wartete, der jedenfalls schon seit langem in dem Buschwerk des Waldes herumgeirrt war. An seiner Seite sahen vier jappende Hunde ebenso wie er die Person, an die er sich wandte, an. Um zu verstehen, wie spöttisch diese Anreden, die mit Pausen wiederholt wurden, gemeint waren, muß erwähnt werden, daß der Jäger ein dicker kurzer Mann war, dessen hervorstehender Bauch eine wahrhaft ministerielle Fettleibigkeit verriet. Mühselig übersprang er die Furchen eines großen, frisch abgeernteten Feldes, dessen Stoppeln sichtlich sein Vorwärtskommen hinderten; um sein Unbehagen noch zu steigern, trieben die Sonnenstrahlen, die sein Gesicht schräg trafen, dicke Schweißtropfen darauf hervor. Bemüht, sein Gleichgewicht zu bewahren, wankte er bald nach vorn, bald nach rückwärts und ahmte so die Sprünge eines stark geschüttelten Wagens nach. Es war einer der Septembertage, wo die Weintrauben bei südlicher Glut reifen. Die Luft kündigte ein Gewitter an. Obgleich sich mehrfach große Strecken blauen Himmels noch am Horizont von dicken schwarzen Wolken abhoben, sah man doch einen blassen Dunst mit erschreckender Schnelligkeit vordringen, der sich von Westen nach Osten ausbreitete wie ein leichter grauer Vorhang. Der Wind bewegte sich nur in den oberen Regionen der Luft, die Atmosphäre drückte nach unten hin die glühenden Ausdünnungen der Erde zusammen. Heiß und schweigend schien der Wald zu dürsten. Die Vögel und Insekten waren verstummt, die Wipfel der Bäume rührten sich kaum. Diejenigen, die noch eine Erinnerung an den Sommer 1819 haben, müssen also Mitleid empfinden mit den Leiden des armen Deputierten, der Blut und Wasser schwitzte, um seinen boshaften Gefährten wieder zu erreichen. Während er seine Zigarre rauchte, hatte dieser aus der Stellung der Sonne berechnet, daß es etwa fünf Uhr nachmittags sein müsse.
»Wo zum Teufel sind wir denn? sagte der dicke Jäger, während er sich die Stirn abtrocknete und sich an einen Baumstamm, fast gegenüber seinem Gefährten, stützte, denn er verspürte nicht mehr die Kraft in sich, den breiten Graben, der ihn von ihm trennte, zu überspringen.
»Und das fragst du mich? antwortete lachend der Jäger, der sich in dem hohen gelben Grase gelagert hatte, das den Abhang bekrönte. Er warf den Rest seiner Zigarre in den Graben und rief: »Ich schwöre bei Sankt Hubertus, daß man mich nicht wieder dabei erwischen wird, wie ich mich in unbekannter Gegend mit einer Amtsperson herumtreibe, und wärst du es selbst, mein lieber d’Albon, ein alter Schulkamerad!«
»Aber Philipp, verstehst du denn nicht mehr Französisch? Du hast jedenfalls deinen Geist in Sibirien gelassen«, entgegnete der dicke Mann und warf einen komischen Schmerzensblick auf einen Pfosten, der hundert Schritte davon sich erhob.
»Ich verstehe«, erwiderte Philipp, nahm seine Flinte, erhob sich plötzlich, sprang mit einem einzigen Satz in das Feld hinüber und eilte zu dem Pfosten hin. »Hierher, d’Albon, hierher! Halblinks!« rief er seinem Gefährten zu und zeigte ihm mit einer Handbewegung einen breiten gepflasterten Weg. »Von Baillet nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann werden wir also in dieser Richtung den Weg nach Cassan finden, der sich von dem nach Ile-Adam abzweigen muß.
»Das stimmt, mein lieber Oberst , sagte Herr d’Albon und setzte seine Mütze, mit der er sich Luft zugefächelt hatte, wieder auf den Kopf.
»Also vorwärts, mein verehrungswürdiger Rat, erwiderte der Oberst Philipp und pfiff den Hunden, die ihm schon besser zu gehorchen schienen als dem Beamten, dem sie gehörten.
»Wissen Sie, mein Herr Marquis,« begann der Offizier spottend, »daß wir noch mehr als zwei Meilen vor uns haben? Das Dorf, das wir dort unten sehen, muß Baillet sein.
»Großer Gott!« rief der Marquis d’Albon aus, »gehen Sie nach Cassan, wenn Ihnen das Vergnügen macht, aber Sie werden dann ganz allein gehen. Ich ziehe vor, hier trotz des Gewitters ein Pferd abzuwarten, das Sie mir aus dem Schloß schicken werden. Sie haben sich über mich mokiert, Sucy. Wir hätten einen netten kleinen Jagdausflug machen, uns nicht von Cassan entfernen, die Terrains, die ich kenne, absuchen sollen. Na, anstatt daß wir unsern Spaß dabei haben, lassen Sie mich wie einen Jagdhund seit vier Uhr morgens laufen, und wir haben als ganzes Frühstück nur zwei Tassen Milch gehabt! Ach, wenn Sie jemals einen Prozeß bei Gericht haben sollten, dann werde ich Sie ihn verlieren lassen, wenn Sie auch hundertmal Recht hätten!«
Und mutlos setzte sich der Jäger auf einen der Steine am Fuße des Pfostens, legte seine Flinte und seine leere Jagdtasche ab und stieß einen langen Seufzer aus.
»So sind deine Deputierten, Frankreich!« rief der Oberst von Sucy lachend. »Ach, mein armer Albon, wenn Sie, wie ich, sechs Jahre tief in Sibirien gewesen wären! …
Er vollendete den Satz nicht und blickte zum Himmel auf, als ob seine Leiden ein Geheimnis zwischen Gott und ihm wären.
»Vorwärts! Weiter!« fügte er hinzu. »Wenn Sie hier sitzen bleiben, sind Sie verloren.«
»Was wollen Sie, Philipp? Das ist so eine alte Gewohnheit bei einem Beamten! Auf Ehre, ich bin vollkommen erschöpft! Wenn ich wenigstens noch einen Hasen geschossen hätte!«
Die beiden Jäger boten einen seltenen Gegensatz dar. Der Deputierte war ein Mann von zweiundvierzig Jahren und schien nicht älter als dreißig zu sein, während der dreißigjährige Offizier wenigstens vierzig alt zu sein schien. Beide trugen die rote Rosette, das Abzeichen der Offiziere der Ehrenlegion. Etliche Locken, schwarz und weiß wie der Flügel einer Elster, stahlen sich unter der Jagdmütze des Obersten hervor; schöne blonde Haarwellen schmückten die Schläfen des Richters. Der eine war von hohem Wuchs, mager, schlank, nervös, und die Runzeln seines weißen Gesichts deuteten auf furchtbare Leidenschaften oder schreckliche Leiden; der andere besaß ein von Gesundheit strahlendes Gesicht mit dem jovialen, eines Epikuräers würdigen Ausdruck. Beide waren stark von der Sonne verbrannt, und ihre hohen Wildledergamaschen trugen die Merkmale aller Gräben und Sümpfe, die sie passiert hatten, an sich.
»Los!« rief Herr de Sucy, »vorwärts! In einer kleinen Stunde werden wir an einem gut besetzten Tisch sitzen.«
»Sie können niemals geliebt haben,« erwiderte der Rat mit einem komischen Ausdruck von Mitleid, »denn Sie sind so unerbittlich wie der Artikel 304 des Strafgesetzbuchs!«
Ein heftiges Zittern überfiel Philipp; seine breite Stirn runzelte sich; sein Gesicht wurde ebenso düster, wie es der Himmel jetzt geworden war. Obgleich die Erinnerung an ein furchtbar bitteres Erlebnis alle seine Züge verzerrte, vergoß er keine Träne. Wie alle starken Männer vermochte er seine Aufregungen tief im Herzen zu begraben und empfand vielleicht, wie viele reine Seelen, eine Art Schamlosigkeit dabei, seine Schmerzen bloszulegen, wenn kein menschliches Wort ihre Tiefe ausdrücken kann und man den Spott der Leute fürchtet, die sie nicht verliehen wollen. Herr d’Albon war eine von den zartfühlenden Seelen, die Schmerzen zu ahnen wissen und ein lebhaftes Mitgefühl empfinden, wenn sie unbeabsichtigt durch irgendeine Ungeschicklichkeit Anstoß erregt haben. Er achtete das Schweigen seines Freundes, erhob sich, vergaß seine Müdigkeit und folgte ihm schweigend, ganz betrübt darüber, eine Wunde berührt zu haben, die wahrscheinlich nicht vernarbt war.
»Eines Tages, lieber Freund,« sagte Philipp zu ihm und drückte ihm die Hand, wobei er ihm mit einem herzzerreißenden Blick für sein stummes Mitgefühl dankte, »eines Tages werde ich dir mein Leben erzählen. Heute vermöchte ich es nicht.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Als der Schmerz des Obersten sich besänftigt hatte, empfand der Rat seine Müdigkeit wieder; und mit dem Instinkt oder vielmehr mit dem Willen eines erschöpften Mannes durchforschte sein Auge alle Tiefen des Waldes; er prüfte die Wipfel der Bäume, studierte die Wege, in der Hoffnung, irgendeine Herberge zu finden, wo er um Gastfreundschaft bitten konnte. An einem Kreuzweg angelangt, glaubte er einen leichten Rauch zu entdecken, der zwischen den Bäumen aufstieg. Er blieb stehen, sah aufmerksam hin und erkannte inmitten einer riesigen Baumgruppe die grünen dunklen Zweige etlicher Fichten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit demselben Vergnügen, mit dem ein Schiffer gerufen hätte: » Land, Land!«
Dann eilte er schnell durch eine dichte Baumgruppe, und der Oberst, der in eine tiefe Träumerei versunken war, folgte ihm mechanisch.
»Ich will mich lieber hier mit einer Omelette, Hausbrot und einem Stuhl begnügen, als nach Cassan weitergehen, um dort Diwans, Trüffeln und Bordeauxwein zu finden.«
Das war der begeisterte Ausruf des Rates beim Anblick einer Mauer, deren weißliche Farbe sich weithin von der braunen Masse der knorrigen Stämme des Waldes abhob.
»Ei, ei! Das sieht mir aus wie irgendeine alte Priorei«, rief der Marquis d’Albon von neuem, als er vor einem alten schwarzen Gitter anlangte, wo er inmitten eines ziemlich weiten Parks ein Bauwerk erblickte, das in dem einstmals den Klosterbauten eigentümlichen Stil errichtet war. »Wie diese Kerls von Mönchen es verstanden haben, eine Baustelle auszuwählen!« Dieser neue Ausruf war der Ausdruck des Erstaunens, das dem Beamten die schöne Einsiedelei verursachte, die sich seinen Blicken darbot. Das Haus lag halbseits auf dem Abhang des Berges, dessen Gipfel von dem Dorfe Nerville eingenommen wird. Die großen hundertjährigen Eichen des Waldes, der einen riesigen Kreis um diese Behausung zog, machten daraus eine richtige Einsiedelei. Der einst für die Mönche bestimmte Hauptflügel lag gegen Süden. Der Park schien vierzig Morgen zu umfassen. Nahe bei dem Hause breitete sich eine grüne Wiese aus, die in glücklicher Weise von mehreren klaren Bächen und von geschickt angebrachten Wasserfällen durchflossen war, all das anscheinend ohne Anwendung von Kunst. Hier und da erhoben sich grüne Bäume von eleganten Formen mit verschiedenartigem Laub. Dann gaben da geschickt ausgesparte Grotten, mächtige Terrassen mit beschädigten Treppen und rostigen Geländern dieser wilden Thebais einen besonderen Ausdruck. Die Kunst hatte gefällig ihre Bauten mit den malerischen Wirkungen der Natur vereinigt. Die menschlichen Leidenschaften schienen am Fuß der großen Bäume sterben zu müssen, die dieses Asyl vor dem Heranströmen des Lärms der Welt verteidigten, wie sie die Glut der Sonne mäßigten.
»Was für ein Verfall!« sagte sich Herr d’Albon, nachdem er den düsteren Ausdruck empfunden hatte, den die Ruinen der Landschaft verliehen, die wie mit einem Fluch geschlagen erschien. Es war wie ein von den Menschen verlassener verwünschter Ort. Der Efeu hatte überall seine gewundenen Ranken und seinen reichen Blättermantel ausgebreitet. Braunes, grünes, gelbes oder rotes Moos überzog mit seiner romantischen Färbung Bäume, Bänke, Dächer und Steine. Die wurmstichigen Fenster waren vom Regen verwaschen und vom Wetter durchlöchert, die Balkone zerbrochen, die Terrassen zerstört. Manche Jalousien hielten nur noch an einem Haken. Die nicht schließenden Türen schienen keinem Angreifer standhalten zu können. Behangen mit leuchtenden Tuffs von Misteln, breiteten sich die ungepflegten Äste der Fruchtbäume weithin aus, ohne eine Ernte zu geben. Hochgewachsenes Kraut überwucherte die Alleen. Diese Reste gaben dem Bilde den Ausdruck reizvoller Poesie und erregten in der Seele des Beschauers träumerische Gedanken. Ein Dichter wäre hier in lange währende Melancholie versunken, voller Bewunderung für diese harmonische Unordnung, für dieses reizvolle Bild der Zerstörung. In diesem Moment erglänzten einige Sonnenstrahlen mitten durch die Lücken der Wolken und beleuchteten mit tausend Farben diese halb wilde Szene. Die braunen Dachziegel erstrahlten, das Moos leuchtete, phantastische Schatten huschten über die Wiesen unter den Bäumen hin; die erstorbenen Farben lebten wieder auf, eigenartige Gegensätze machten sich geltend, das Blattwerk hob sich scharf in der Helligkeit ab. Plötzlich verschwand das Licht. Die Landschaft, die gesprochen zu haben schien, wurde stumm und wieder düster, oder vielmehr matt wie der matteste Schimmer eines Herbstnebels.
»Das ist Dornröschens Schloß,« sagte sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Augen des Eigentümers ansah. »Wem mag es nur gehören? Man muß sehr töricht sein, wenn man einen so hübschen Besitz nicht bewohnt!«
Plötzlich sprang eine Frau unter einem rechts vom Gitter stehenden Nußbaum hervor und huschte, ohne Geräusch zu machen, so schnell wie der Schatten einer Wolke bei dem Rat vorbei; diese Erscheinung machte ihn stumm vor Staunen.
»Nun, d’Albon, was haben Sie?« fragte ihn der Oberst.
»Ich reibe mir die Augen, um zu wissen, ob ich schlafe oder wache«, antwortete der Beamte und drückte sich an das Gitter, um zu versuchen, das Phantom nochmals zu erblicken.
»Sie ist jetzt wahrscheinlich unter dem Feigenbaum«, sagte er und zeigte Philipp die Blattkrone eines Baumes, der links vom Gitter über der Mauer emporragte.
»Wer denn, sie?«
»Ja, kann ich das wissen?« entgegnete Herr d’Albon. »Eben hat sich hier vor mir eine fremdartige Frauengestalt erhoben«, sagte er leise; »sie schien mir mehr dem Reich der Schatten als der Welt der Lebenden anzugehören. Sie erscheint so schlank, so leicht, so luftartig, daß sie durchsichtig sein muß. Ihr Gesicht ist weiß wie Milch. Ihre Kleidung, ihre Augen, ihre Haare sind schwarz. Sie hat mich im Vorbeikommen angeblickt, und obgleich ich nicht furchtsam bin, hat ihr unbeweglicher kalter Blick mir das Blut in den Adern erstarren lassen.«
»Ist sie hübsch?« fragte Philipp.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Augen in ihrem Gesicht gesehen.«
»Also zum Teufel mit unserm Diner in Cassan!« rief der Oberst, »bleiben wir hier. Ich habe eine kindische Lust, in diese eigenartige Besitzung hineinzugehen. Siehst du diese rotgemalten Fenstereinfassungen und diese roten, auf das Gesims der Türen und Fensterläden gemalten Streifen? Scheint das dir nicht das Haus des Teufels zu sein? Er wird es vielleicht von den Mönchen geerbt haben. Vorwärts! Eilen wir hinter der schwarzweißen Dame her! Vorwärts!« rief Philipp mit gemachter Lustigkeit.
In diesem Augenblick hörten die beiden Jäger einen Schrei, der dem einer in der Falle gefangenen Maus ziemlich ähnlich war. Sie horchten. Das Geräusch der gestreiften Blätter einiger Büsche machte sich in dem Schweigen bemerkbar, wie das Gemurmel einer erregten Welle; aber obgleich sie angestrengt lauschten, um weitere Töne zu hören, blieb die Erde still und bewahrte das Geheimnis der Schritte der Unbekannten, wenn sie überhaupt welche gemacht hatte.
»Das ist seltsam«, rief Philipp und verfolgte die Linie, die die Mauer des Parks beschrieb.
Die beiden Freunde gelangten bald zu einer Allee des Waldes, die nach dem Dorfe Chauvry führte. Nachdem sie den Weg auf der Straße nach Paris zurückgegangen waren, befanden sie sich vor einem großen Gitter und erblickten nun die Hauptfassade der geheimnisvollen Behausung. Von dieser Seite erschien die Zerstörung auf ihrem Gipfel: ungeheure Risse durchfurchten die drei Flügel dieses rechtwinklig errichteten Bauwerks. Trümmer von Ziegeln und Schieferplatten waren auf der Erde angehäuft, und zerstörte Dächer zeigten eine vollkommene Unbekümmertheit an. Etliche Früchte waren unter den Bäumen abgefallen und verfaulten, ohne daß jemand sie aufsammelte. Eine Kuh ging quer über den Grasplatz und schnupperte in den Beeten herum, während eine Ziege die grünen Beeren und Ranken eines Weinstocks kaute.
»Hier ist alles in Übereinstimmung, und die Unordnung ist gewissermaßen organisiert«, sagte der Oberst und zog an der Schnur einer Glocke; aber die Glocke hatte keinen Klöpfel.
Die beiden Jäger hörten nur den eigenartigen scharfen Ton eines verrosteten Glockenzuges. Obgleich sehr verfallen, widerstand die kleine Tür in der Mauer doch jedem Druck.
»Ei, ei! Alles macht einen hier neugierig«, sagte er zu seinem Gefährten.
»Wenn ich kein Beamter wäre,« antwortete d’Albon, »würde ich das schwarze Weib für eine Hexe halten.«
Kaum hatte er diesen Satz beendet, als die Kuh an das Gitter kam und ihnen ihre warme Schnauze hinhielt, als ob sie das Bedürfnis fühlte, menschliche Wesen zu sehen. Jetzt wurde ein Weib sichtbar, falls man das unbeschreibbare Wesen, das sich unter einer Gruppe von Sträuchern erhob, mit diesem Namen bezeichnen kann, und zog die Kuh am Stricke. Die Frau hatte auf dem Kopfe ein rotes Tuch, aus dem blonde Flechten hervorsahen, die dem Hanf an der Spindel ziemlich ähnlich waren. Sie war ohne Halstuch. Ein Unterrock aus grober Wolle, abwechselnd schwarz und grau gestreift, der um einige Handbreit zu kurz war, ließ ihre Beine sehen. Man hätte glauben können, daß sie zu einem Stamme von Coopers berühmten Rothäuten gehörte, denn ihre Beine, ihr Hals und ihre nackten Arme schienen mit Ziegelfarbe angemalt zu sein. Kein Strahl von Intelligenz belebte ihr glattes Gesicht. Ihre bläulichen Augen waren ohne Wärme und ohne Glanz. Einige weiße dünne Haare deuteten Augenbrauen an. Ihr Mund endlich war so geschnitten, daß er schlecht gewachsene Zähne sehen ließ, die aber so weiß wie die eines Hundes waren.
»Halt da, Frau!« rief Herr de Sucy.
Sie kam langsam bis ans Gitter heran und betrachtete mit stumpfsinnigem Gesicht die beiden Jäger, bei deren Anblick ihr ein schmerzliches, gezwungenes Lächeln entschlüpfte.
»Wo sind wir denn? Was ist das für ein Haus? Wem gehört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?«
Auf diese Fragen und eine Menge anderer, die die beiden Freunde nacheinander an sie richteten, antwortete sie nur mit einem aus der Kehle kommenden Knurren, das eher einem Tier als einem menschlichen Wesen zu gehören schien.
»Sehen Sie nicht, daß sie taub und stumm ist? sagte der Richter.
»Bons-Hommes!« rief die Bäuerin.
»Ah, sie hat recht! Dies könnte wohl das alte Kloster Bons-Hommes sein«, sagte Herr d’Albon.
Die Fragen begannen von neuem. Aber wie ein eigenwilliges Kind wurde die Bäuerin rot, spielte mit ihrem Pantoffel, drehte an dem Strick der Kuh, die wieder abzuweiden begonnen hatte, sah sich die beiden Jäger an und prüfte alle Teile ihres Anzugs; sie kreischte, sie knurrte, sie gluckste, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Wie heißt du?« sagte Philipp und sah sie fest an, als wollte er sie hypnotisieren.
»Genovefa«, sagte sie mit einem dummen Lachen.
»Bis jetzt ist die Kuh die intelligenteste Kreatur, die wir hier gesehen haben«, rief der Rat. »Ich werde einen Schuß abfeuern, damit Leute kommen.«
Gerade als d’Albon seine Waffe ergriff, hielt ihn der Oberst mit einer Geste zurück und zeigte mit dem Finger auf die Unbekannte, die ihre Neugierde so lebhaft erregt hatte. Die Frau schien in tiefes Nachdenken versunken und kam mit langsamen Schritten aus einer ziemlich entfernten Allee, so daß die beiden Freunde Zeit hatten, sie genau zu betrachten. Sie war mit einem ganz abgetragenen schwarzen Seidenrock bekleidet. Ihre langen Haare fielen in zahlreichen Wellen über ihre Stirn, um ihre Schultern und reichten bis unter ihre Taille hinab, indem sie ihr als Schal dienten. An diese Unordnung offenbar gewöhnt, schob sie nur selten ihr Haar von beiden Schläfen hinweg; dann aber schüttelte sie das Haupt mit jäher Bewegung und brauchte sich nicht zweimal zu bemühen, um ihre Stirn oder ihre Augen von dem dicken Schleier zu befreien. Ihre Geste zeigte übrigens wie bei einem Tier die bewunderungswürdige mechanische Sicherheit, deren Schnelligkeit bei einer Frau wie ein Wunder erscheinen mußte. Die beiden Jäger sahen sie erstaunt auf einen Ast des Apfelbaums springen und sich hier mit der Leichtigkeit eines Vogels festhalten. Sie griff nach den Früchten, verspeiste sie, dann ließ sie sich mit zierlicher Lässigkeit, wie man sie an den Eichhörnchen bewundert, zur Erde fallen. Ihre Glieder besaßen eine Elastizität, die ihren geringsten Bewegungen jeden Anschein von Mühe oder Anstrengung nahm. Sie spielte auf dem Rasen, kugelte sich dort wie ein Kind herum; dann streckte sie plötzlich ihre Füße und Hände aus und blieb ausgebreitet auf der Wiese mit der Unbekümmertheit, der Grazie und der Natürlichkeit einer jungen Katze liegen, die in der Sonne eingeschlafen ist. Als der Donner in der Ferne grollte, wandte sie sich plötzlich und stellte sich mit bewundernswerter Geschicklichkeit auf alle viere wie ein Hund, der einen Fremden kommen hört. Durch diese merkwürdige Haltung schied sich ihr schwarzes Haar sogleich in zwei breite Flechten zu jeder Seite ihres Kopfes und erlaubte den beiden Zuschauern bei dieser seltsamen Szene ihre Schultern zu bewundern, deren weiße Haut wie die Gänseblümchen auf der Wiese leuchteten, und einen Hals, dessen Vollkommenheit auf all das übrige Ebenmaß ihres Körpers schließen ließ.
Sie ließ einen Schmerzensschrei hören und stellte sich ganz auf ihre Füße. Ihre Bewegungen folgten einander so graziös und wurden so leicht ausgeführt, daß sie kein menschliches Wesen, sondern eine der durch die Dichtungen Ossians berühmt gewordenen Töchter der Luft zu sein schien. Sie ging an eine der Wasserflächen heran, schüttelte leicht ein Bein, um ihren Schuh loszumachen, und schien ein Vergnügen daran zu finden, ihren alabasterweißen Fuß in die Quelle zu tauchen, während sie sich jedenfalls an den Wellenbewegungen ergötzte, die sie dabei erzeugte und die Edelsteinen glichen. Dann kniete sie an dem Rande des Bassins nieder und amüsierte sich wie ein Kind damit, ihre langen Flechten ins Wasser zu tauchen und sie dann schnell wieder herauszuziehen, um Tropfen für Tropfen das Wasser, von denen es voll war, hinablaufen zu lassen, das, von den Sonnenstrahlen durchleuchtet, einen förmlichen Rosenkranz von Perlen bildete.
»Das Weib ist irrsinnig!« rief der Rat aus.
Ein rauher Schrei, den Genovefa ausstieß, wurde laut und schien sich an die Unbekannte zu richten, die sich schnell umwandte und ihr Haar von beiden Seiten ihres Gesichtes wegstrich. In diesem Moment konnten der Oberst und d’Albon deutlich die Züge der Frau erkennen, die, als sie die beiden Freunde bemerkte, in mehreren Sprüngen mit der Leichtigkeit einer Hirschkuh auf das Gitter zueilte. »Adieu!« sagte sie mit sanfter, wohlklingender Stimme, aber ohne daß dieser, ungeduldig von den Jägern erwartete melodiöse Ton das geringste Empfinden oder das geringste Denken verriet.
Herr d’Albon bewunderte die langen Wimpern ihrer Augen, ihre schwarzen dichten Augenbrauen und ihre blendend weiße Haut ohne den geringsten Schimmer von Röte. Feine blaue Adern durchzogen allein ihren weißen Teint. Als der Rat sich umwandte, um seinem Freunde mitzuteilen, welches Erstaunen ihm der Anblick dieses seltsamen Weibes eingeflößt hatte, sah er diesen wie tot auf dem Grase liegen. Herr d’Albon schoß sein Gewehr in die Luft ab, um Leute herbeizurufen und schrie: »Zu Hilfe!« während er versuchte, den Obersten aufzurichten. Bei dem Knall des Schusses floh die Unbekannte, die bis dahin unbeweglich verharrt hatte, pfeilschnell davon, stieß Schreckensschreie wie ein verwundetes Tier aus und rannte über die Wiese mit allen Zeichen tiefsten Schreckens. Herr d’Albon vernahm das Heranrollen einer Kalesche auf der Landstraße von Ile-Adam und rief den Beistand der Spazierenfahrenden durch Winken mit seinem Taschentuch herbei. Sogleich lenkte der Wagen nach Bons-Hommes ein, und d’Albon erkannte Herrn und Frau von Grandville, seine Nachbarn, die sich beeilten, aus ihrem Wagen zu steigen und ihn dem Rat anzubieten. Frau von Grandville hatte zufälligerweise ein Flakon mit ätherischem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy einatmen ließ. Als der Oberst die Augen wieder öffnete, wandte er sie der Wiese zu, auf der die Unbekannte nicht aufhörte zu rennen und zu schreien, und stieß einen undeutlichen Ruf aus, der aber doch eine Empfindung von Schrecken verriet; dann schloß er von neuem die Augen und machte eine Bewegung, als wolle er seinen Freund bitten, ihn diesem Schauspiel zu entreißen. Herr und Frau von Grandville überließen dem Rat die freie Verfügung über ihren Wagen, indem sie ihm entgegenkommenderweise erklärten, daß sie ihre Promenade zu Fuß fortsetzen wollten.
»Wer ist denn diese Dame?« fragte der Rat und zeigte auf die Unbekannte.
»Man vermutet, daß sie aus Moulins kommt«, antwortete Herr von Grandville. »Sie nennt sich Gräfin von Vandières. Man sagt, sie sei irrsinnig; aber da sie sich erst seit zwei Monaten hier aufhält, kann ich Ihnen nicht dafür einstehen, inwieweit alle diese Gerüchte auf Wahrheit beruhen.«
Herr d’Albon dankte Herrn und Frau de Grandville und fuhr nach Cassan.
»Sie ist es!« rief Philipp, als er wieder zum Bewußtsein gekommen war.
»Wer, sie?« fragte d’Albon.
»Stephanie. Ach, tot oder lebend, lebendig oder irrsinnig! Ich glaubte, ich müsse sterben.«
Der vorsichtige Rat, der die schwere Krisis begriff, in die sein Freund ganz verfallen war, hütete sich wohl, ihn auszufragen oder aufzuregen; es verlangte ihn ungeduldig danach, ins Schloß zu gelangen, denn die Veränderung, die in den Zügen und in der ganzen Persönlichkeit des Obersten sich geltend machte, ließ ihn befürchten, daß die Gräfin Philipp mit ihrer schrecklichen Krankheit angesteckt habe.
Sobald der Wagen die Einfahrt nach Ile-Adam erreicht hatte, schickte d’Albon den Diener zum Arzte des Fleckens; das geschah so, daß der Doktor sich schon an seinem Lager befand, als der Oberst zu Bett gebracht wurde.
»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüchtern gewesen,« sagte der Chirurg, »so wäre er gestorben. Seine Mattigkeit hat ihn gerettet.«
Nachdem er die ersten Vorsichtsmaßregeln angeordnet hatte, entfernte sich der Doktor, um selbst einen beruhigenden Trank zu bereiten. Am andern Morgen befand sich Herr de Sucy besser, aber der Arzt wünschte selber, bei ihm zu bleiben.
»Ich muß Ihnen gestehen, Herr Marquis,« sagte der Doktor zu Herrn d’Albon, »daß ich an eine Verletzung des Gehirns geglaubt habe. Herr de Sucy ist das Opfer einer sehr heftigen Erregung geworden: seine Leidenschaftlichkeit ist schnell entflammt; aber bei ihm entscheidet sich alles auf den ersten Schlag. Morgen wird er vielleicht schon außer Gefahr sein.«
Der Arzt hatte sich nicht getäuscht; am andern Morgen erlaubte er dem Rat, seinen Freund wiederzusehen.
»Mein lieber d’Albon,« sagte Philipp und drückte ihm die Hand, »ich erwarte einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hommes! Erkundige dich nach allem, was die Dame betrifft, die wir gesehen haben, und komm schnell zurück, denn ich zähle die Minuten.«
Herr d’Albon sprang auf ein Pferd und galoppierte nach der alten Abtei. Als er ankam, bemerkte er vor dem Gitter einen großen hageren Mann mit einnehmendem Gesicht, der bejahend antwortete, als der Rat ihn fragte, ob er dieses zerstörte Haus bewohne. Herr d’Albon teilte ihm den Grund seines Besuches mit.
»Wie, mein Herr,« rief der Unbekannte, »sollten Sie es gewesen sein, der den verhängnisvollen Flintenschuß hat losgehen lassen? Sie hätten beinahe meine arme Kranke getötet.«
»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft geschossen.«
»Sie hätten der Frau Gräfin weniger Leid angetan, wenn Sie sie getroffen hätten.«
»Nun, wir haben uns nichts vorzuwerfen; denn der Anblick Ihrer Gräfin hat meinen Freund, Herrn de Sucy, beinahe getötet.«
»Sollte das der Baron Philipp de Sucy sein?« rief der Unbekannte und preßte die Hände zusammen. »War er in Rußland bei dem Übergang über die Beresina?«
»Jawohl,« erwiderte d’Albon; »er wurde von den Kosaken gefangen und nach Sibirien gebracht, von wo er erst vor etwa elf Monaten zurückgekehrt ist.«
»Kommen Sie herein, mein Herr«, sagte der Unbekannte und führte den Rat in einen im Erdgeschoß der Wohnung belegenen Salon, wo alles die Zeichen einer launenhaften Zerstörung zeigte.
Kostbare Porzellanvasen standen zerbrochen neben einer Kaminuhr, deren Gehäuse unberührt war. Die seidenen, an den Fenstern angebrachten Vorhänge waren zerrissen, während der doppelte Musselinvorhang unberührt war.
»Sie sehen«, sagte er beim Eintreten zu Herrn d’Albon, »die Zerstörungen, die das entzückende Wesen, dem ich mich gewidmet habe, verübt hat. Sie ist meine Nichte; trotz der Ohnmacht meiner Kunst hoffe ich, ihr eines Tages den Verstand wiedergeben zu können, indem ich eine Kur anwende, die unglücklicherweise nur den Reichen gestattet ist.« Dann erzählte er, wie alle Personen, die einsam leben und immer wieder an ihrem Schmerze zehren, dem Rat eingehend das nachfolgende Abenteuer, dessen Darstellung hier zusammengefaßt und von zahlreichen Abschweifungen, die der Erzähler und der Rat machten, befreit ist.
»Als er gegen neun Uhr abends die Höhen von Studzianka verließ, die er am 28. November 1812 während des ganzen Tages verteidigt hatte, ließ der Marschall Victor hier etwa tausend Mann zurück mit dem Befehl, bis zum letzten Augenblick diejenige der beiden Brücken über die Beresina zu decken, die noch standhielt. Diese Nachhut hatte sich aufgeopfert, um zu versuchen, eine furchtbare Menge von vor Frost erstarrten Nachzüglern zu retten, die sich hartnäckig weigerten, den Train der Armee im Stich zu lassen. Der Heroismus dieser edelmütigen Truppe sollte vergeblich sein. Die Soldaten, die in Massen den Ufern der Beresina zuströmten, fanden hier unglücklicherweise eine Riesenmenge von Wagen, Kasten und Möbelstücken jeder Art vor, die die Armee genötigt war, im Stiche zu lassen, als sie während des 27. und 28. November ihren Marsch ausführte. Als Erben unerwarteter Reichtümer brachten sich diese von der Kälte erstarrten Unglücklichen in den leeren Zelten unter, zerbrachen das dem Heer gehörige Material, um sich Hütten daraus zu bauen, machten Feuer an mit allem, was ihnen in die Hände fiel, zerlegten die Pferdekörper, um sich zu ernähren, zerrissen das Tuch und den Stoff der Wagen, um sich zu bedecken, und schliefen dann, anstatt ihren Marsch fortzusetzen und in Ruhe während der Nacht die Beresina zu überschreiten, die ein unglaubliches Verhängnis der Armee schon so verderblich gemacht hatte. Die Willenlosigkeit dieser armen Soldaten kann nur von denen begriffen werden, die sich erinnern werden, wie sie diese riesigen Schneewüsten durchwandert haben, ohne anderes Getränk als Schnee, ohne ein anderes Bett als Schnee, ohne einen andern Ausblick als auf einen Horizont von Schnee, ohne eine andere Nahrung als Schnee oder einige erfrorene Rüben und etliche Handvoll Mehl oder Pferdefleisch. Halbtot vor Hunger, Durst, Müdigkeit und Schlafsucht, langten die Unglücklichen an einem Ufer an, wo sie Holz, Feuer, Lebensmittel, unzählige verlassene Fuhrwerke und Zelte vorfanden, kurz eine ganze improvisierte Stadt. Das Dorf Studzianka war völlig zerlegt, verteilt und von den Höhen in die Ebene hinabgebracht worden. Wie kläglich und gefährlich diese Stadt war, ihr Elend und ihr Jammer lachten die Leute an, die nur die schrecklichen Wüsten Rußlands vor sich sahen. Es war nur ein ungeheures Krankenhaus, dem keine zwanzig Stunden Existenz beschieden waren. Die Mattigkeit ihrer Lebenskräfte oder das Gefühl eines unerwarteten Wohlbehagens ließ in dieser Menschenmasse keinen anderen Gedanken aufkommen als den der Ruhe. Obgleich die Artillerie des linken russischen Flügels ohne Unterlaß auf diese Menge schoß, die sich als ein großer, bald dunkler, bald flammender Fleck mitten auf dem Schnee abzeichnete, war der unermüdliche Kugelregen für die erstarrte Masse nur eine Unannehmlichkeit mehr. Es war wie ein Unwetter, dessen Blitze von aller Welt gering geschätzt wurden, weil sie hier oder dort nur auf Sterbende, Kranke oder vielleicht schon Tote trafen. Jeden Augenblick trafen Nachzügler in Gruppen ein. Diese Arten wandelnder Kadaver verteilten sich sogleich und bettelten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meistens zurückgetrieben, vereinigten sie sich von neuem, um mit Gewalt die verweigerte Gastfreundschaft zu erzwingen. Taub gegen die Stimmen etlicher Offiziere, die ihnen den Tod für den nächsten Tag voraussagten, verbrauchten sie das für das Überschreiten des Flusses erforderliche Quantum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht herzustellen und eine häufig verhängnisvolle Mahlzeit zu sich zu nehmen; der Tod, der sie erwartete, schien ihnen kein Unglück mehr zu sein, da er ihnen eine Stunde Schlaf vergönnte. Mit ›Unglück‹ bezeichneten sie nur den Hunger, den Durst, die Kälte. Wenn sie kein Holz, kein Feuer, keine Kleidung, kein Obdach fanden, entspannen sich fürchterliche Kämpfe zwischen denen, die von allem entblößt hinzukamen, und den Reichen, die eine Wohnung besaßen. Die Schwächeren unterlagen dabei. Schließlich trat der Moment ein, wo etliche von den Russen Verjagte nur noch Schnee als Lager hatten und sich darauf niederlegten, um sich nicht wieder zu erheben. Unmerklich schloß sich diese Menge fast lebloser Wesen so fest zusammen, wurde so taub, so stumpf oder vielleicht auch so glückselig, daß der Marschall Victor, ihr heldenmütiger Verteidiger, der zwanzigtausend von Wittgenstein befehligten Russen Widerstand geleistet hatte, genötigt war, sich mit schneller Gewalt einen Weg durch diesen Wald von Menschen zu bahnen, um mit fünftausend Tapferen, die er dem Kaiser zuführte, über die Beresina zu setzen. Diese Unglücklichen ließen sich lieber tottreten als sich zu rühren, und gingen stillschweigend zugrunde, indem sie ihren erloschenen Feuern zulächelten, ohne Frankreichs zu gedenken.
Erst um zehn Uhr abends befand sich der Herzog von Bellune am andern Ufer des Flusses. Bevor er sich auf die Brücken begab, die nach Zembin führten, vertraute er das Schicksal der Nachhut von Studzianka Eblé an, dem Retter aller derer, die das Unglück der Beresina überlebten. Es war ungefähr gegen Mitternacht, als dieser große General in Begleitung eines tapferen Offiziers die kleine Hütte verließ, die er nahe bei der Brücke bewohnte, und sich anschickte, das Schauspiel zu betrachten, welches das Lager zwischen dem Ufer der Beresina und dem Wege von Borizof nach Studzianka bot. Die russische Artillerie hatte aufgehört zu feuern; die unzähligen Feuer inmitten dieser Schneemassen, die herabgebrannt waren und kein Licht mehr zu verbreiten schienen, beleuchteten hier und da Gesichter, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ungefähr dreißigtausend Unglückliche, zu allen Nationen gehörig, die Napoleon nach Rußland geworfen hatte, waren hier zusammen und kämpften mit brutaler Unbekümmertheit um ihr Leben.
›Retten wir diese alle‹, sagte der General zu dem Offizier. ›Morgen früh werden die Russen Herren von Studzianka sein. Man muß also die Brücke niederbrennen im Augenblick, wo die Russen erscheinen werden; also Mut, mein Freund! Schlage dich durch bis zur Höhe. Sag dem General Fournier, daß er kaum Zeit haben wird, seine Stellung aufzugeben, diese ganze Gesellschaft zu durchbrechen und die Brücke zu passieren. Sobald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm folgen. Mit Hilfe einiger kräftiger Leute wirst du mitleidlos die Lager, die Equipagen, die Kasten, die Wagen, alles niederbrennen! Treibe die ganze Gesellschaft über die Brücke; zwinge alles, was zwei Beine hat, auf das andere Ufer zu flüchten. Das Niederbrennen ist jetzt unsere letzte Rettung. Hätte Berthier mich diese verdammten Equipagen vernichten lassen, würde der Fluß niemanden fortgeschwemmt haben als meine armen Pioniere, die fünfzig Helden, die die armen gerettet haben und die man vergessen wird!‹
Der General führte die Hand an seine Stirn und verweilte schweigend. Er hatte die Empfindung, daß Polen sein Grab sein würde, und daß keine Stimme sich zugunsten dieser edelmütigen Männer erheben würde, die sich im Wasser hielten, im Wasser der Beresina!, um die Brückenpfähle festzumachen. Ein einziger von ihnen lebt, oder korrekter gesagt, leidet heute noch in einem Dorfe, ein Unbekannter! Der Adjutant entfernte sich. Kaum hatte dieser edelmütige Offizier hundert Schritte nach Studzianka hin gemacht, als der General Eblé mehrere seiner leidenden Pioniere aufweckte und sein Rettungswerk begann, indem er die Zelte, die um die Brücke herum errichtet waren, anzündete und so die Schläfer, die ihn umgaben, die Beresina zu überschreiten zwang. Inzwischen war der junge Adjutant nicht ohne Mühe bei dem einzigen Holzhause angelangt, das noch in Studzianka aufrecht stand.
›Ist denn diese Baracke sehr voll, Kamerad?‹ sagte er zu einem Manne, den er draußen bemerkte.
›Wenn Sie hereinkommen, werden Sie ein geschickter alter Soldat sein,‹ erwiderte der Offizier, ohne sich umzuwenden und ohne aufzuhören, mit seinem Säbel das Holz des Hauses zu zerstören.
›Sind Sie es, Philipp?‹ sagte der Adjutant, der am Klange der Stimme einen seiner Freunde erkannte. ›Jawohl. Ach, du bist es, mein Alter!‹ entgegnete Herr de Sucy und betrachtete den Adjutanten, der, wie er, erst dreiundzwanzig Jahre alt war. ›Ich glaubte dich auf der anderen Seite dieses verdammten Flusses. Bringst du uns Kuchen und Konfekt zu unserem Dessert? Du wirst schön empfangen werden,‹ fügte er hinzu, indem er mit dem Losschälen der Holzrinde beschäftigt war, die er nach ländlicher Weise seinem Pferde als Futter reichte. ›Ich suche Ihren Kommandanten, um ihn im Namen des Generals Eblé aufzufordern, nach Zembin zu eilen. Sie werden kaum Zeit haben, durch diese Masse von Kadavern hindurchzukommen, die ich gleich in Brand setzen werde, um ihnen Beine zu machen.‹
›Du machst mir ja förmlich warm! Deine Neuigkeit bringt mich in Schweiß. Ich habe zwei Freunde zu retten! Ach, ohne diese beiden Schützlinge wäre ich schon tot! Ihretwegen sorge ich für mein Pferd und esse selbst nicht mehr. Um Himmelswillen hast du nicht irgendein Stückchen Brot? Es sind jetzt dreißig Stunden her, daß ich nichts in den Magen bekommen habe, und ich habe wie ein Wahnsinniger gekämpft, um mir das bißchen Wärme und Mut zu erhalten, das ich noch besitze.‹
›Armer Philipp! Nichts, nichts. Versuche nicht, hier hineinzukommen! In dieser Scheune liegen unsere Verwundeten. Steige noch höher! Du wirst dann zu deiner Rechten eine Art von Schweinekoben finden: da ist der General! Leb wohl, mein Tapferer. Wenn wir jemals wieder auf einem Pariser Parkett Quadrille tanzen …‹
Er vollendete den Satz nicht: der Sturm wehte in diesem Moment so tückisch, daß der Adjutant losmarschierte, um nicht zu erfrieren, und die Lippen des Majors Philipp erstarrten. Bald herrschte völliges Schweigen. Es wurde nur von Seufzern unterbrochen, die aus dem Hause drangen, und durch das dumpfe Geräusch, das das Pferd des Herrn de Sucy machte, das vor Hunger und Wut die erfrorene Rinde kaute, aus der das Haus erbaut war. Der Major steckte seinen Säbel in die Scheide, nahm das kostbare Tier, das er zu bewahren verstanden hatte, jäh beim Zügel und riß es, trotz seines Widerstandes, von der unheilvollen Nahrung zurück, nach der es so gierig war.
›Vorwärts, Bichette, vorwärts! Du allein kannst Stephanie retten. Warte nur, später, da werden wir uns ausruhen und sicher sterben können.‹
Philipp, in einen Pelz gehüllt, dem er seine Erhaltung und seine Energie verdankte, fing an zu laufen, indem er mit den Füßen scharf auf den gefrorenen Schnee trat, um sich warm zu erhalten. Kaum hatte der Major fünfhundert Schritt gemacht, als er ein tüchtiges Feuer an dem Platze wahrnahm, wo er seit heute morgen seinen Wagen unter der Obhut eines alten Soldaten gelassen hatte. Eine furchtbare Unruhe bemächtigte sich seiner. Wie alle die, welche während dieser Flucht von einer mächtigen Empfindung beherrscht wurden, verspürte er, um seinen Freunden zu helfen, Kräfte in sich, die er zu seiner eigenen Rettung nicht aufgebracht hätte. Bald befand er sich wenige Schritt von einer Terrainfalte entfernt, in der er, vor den Kugeln geborgen, eine junge Frau untergebracht hatte, seine Jugendgefährtin und seinen teuersten Schatz!
Etliche Schritte vom Wagen hatten sich etwa dreißig Nachzügler vor einem riesigen Feuer zusammengefunden, das sie mit hineingeworfenen Brettern, mit den Oberteilen von Kasten, mit Rädern und Wagenwänden unterhielten. Diese Soldaten waren jedenfalls die letzten aller Herbeigekommenen, die von dem Einschnitt zwischen dem Terrain von Studzianka bis zu dem verhängnisvollen Flusse einen Ozean von Köpfen, Feuern und Baracken bildeten, ein lebendes, von fast unmerklichen Wogen bewegtes Meer, aus dem ein dumpfes, manchmal von schrecklichem Lärm unterbrochenes Geräusch empordrang. Von Hunger und Verzweiflung getrieben, hatten diese Unglückseligen sich wahrscheinlich zu dem Wagen hingedrängt. Der alte General und die junge Frau, die hier auf Fetzen, in Mäntel und Pelze gewickelt lagen, waren in diesem Moment vor dem Feuer niedergekniet. Der eine Wagenvorhang war zerrissen. Sobald die um das Feuer gelagerten Männer die Tritte des Pferdes und des Majors hörten, erhoben sie einen Schrei wütenden Hungers.
»Ein Pferd, ein Pferd!«
Alles vereinigte sich zu einem einzigen Ruf.
›Zurück! Nehmen Sie sich in acht!‹ riefen zwei bis drei Soldaten und machten sich an das Pferd.
Philipp stellte sich vor sein Tier und sagte: ›Schufte! Ich stoße euch alle in euer Feuer. Da oben gibt’s genug tote Pferde! Holt sie euch.‹
›Ist das ein Spaßvogel, dieser Offizier! Eins, zwei, willst du dich wehren?‹ entgegnete ein riesiger Grenadier. ›Na, gut, wie du willst!‹
Der Schrei einer Frau lenkte den Schuß ab. Philipp wurde glücklicherweise nicht getroffen; aber Bichette, die zusammengebrochen war, kämpfte mit dem Tode; drei Männer stürzten sich auf sie und gaben ihr mit Bajonettstößen den Rest.
›Kannibalen! Laßt mich wenigstens die Decke und meine Pistolen nehmen,‹ sagte Philipp verzweifelt. ›Die Pistolen, ja‹, erwiderte der Grenadier. ›Aber was die Decke anlangt, da ist ein Infanterist, der seit zwei Tagen ›nichts auf seiner Laterne‹ hat, und der in seinem elenden Jammerrock zittert. Das ist unser General …‹
Philipp schwieg, als er einen Mann sah, dessen Schuhzeug verbraucht, dessen Hose an zehn Stellen durchlöchert war, und der auf dem Kopfe eine schlechte, mit Eis bedeckte Polizeimütze trug. Er beeilte sich, seine Pistolen an sich zu nehmen. Fünf Männer zogen das Tier vor das Feuer und begannen, es mit solcher Geschicklichkeit zu zerlegen, wie es Fleischergesellen in Paris hätten machen können. Mit bewunderungswürdiger Kunst wurden die Stücke abgelöst und auf Kohlen gelegt. Der Major stellte sich neben die Frau, die einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen hatte, als sie ihn wiedererkannte; er sah sie unbeweglich auf einem Wagenkissen sitzend und sich wärmend; sie betrachtete ihn stillschweigend, ohne ihm zuzulächeln. Philipp sah jetzt neben ihr den Soldaten, dem er die Verteidigung des Wagens anvertraut hatte; der arme Mensch war verwundet worden. Überwältigt von der Menge, war er eben den Nachzüglern gewichen, die ihn angegriffen hatten; aber wie ein Hund, der bis zum letzten Augenblick das Essen seines Herrn verteidigt hat, hatte er sich seinen Teil an der Beute genommen und sich aus einem weißen Tuch eine Art Mantel gemacht. Jetzt war er damit beschäftigt, ein Stück Pferdefleisch umzudrehen, und der Major nahm auf seinem Gesichte die Freude wahr, die ihm die Zurüstungen zu dem Festessen verursachten. Der Graf von Vandières, seit drei Tagen in eine Art kindischen Zustandes verfallen, blieb auf seinem Kissen neben seiner Frau sitzen und betrachtete mit unbeweglichen Augen die Flammen, deren Wärme anfing, seine Erstarrung zu mildern. Er war von der Gefahr und der Ankunft Philipps nicht mehr erregt worden, als von dem Kampf, bei dem sein Wagen geplündert worden war. Sucy ergriff zuerst die Hand der jungen Gräfin, um ihr ein Zeichen seiner Hingabe auszudrücken und ihr den Schmerz darüber kundzugeben, daß sie so ins letzte Elend geraten war; aber er blieb stumm neben ihr auf einem Schneehaufen, der sich in Wasser auflöste, sitzen und gab selbst dem Wohlgefühl, sich zu erwärmen, nach, die Gefahr und alles andere vergessend. Sein Gesicht nahm gegen seine Absicht einen beinahe stumpfsinnigen Ausdruck von Freude an, und er wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo das seinen Soldaten gegebene Stück Pferdefleisch gebraten war. Der Geruch dieses verkohlten Fleisches reizte seinen Hunger, und sein Hunger ließ sein Herzensempfinden, seinen Mut und seine Liebe schweigen. Ohne Zorn betrachtete er die Ergebnisse der Plünderung seines Wagens. Alle Leute, die das Feuer umgaben, hatten sich in die Decken, die Kissen, die Pelze, die männlichen und weiblichen Kleidungsstücke des Grafen und der Gräfin geteilt. Philipp wandte sich um, weil er sehen wollte, ob man noch Nutzen aus seiner Kasse ziehen konnte. Beim Lichte der Flammen bemerkte er Gold, Diamanten und Silberzeug zerstreut, ohne daß jemand daran dachte, sich auch nur das geringste Stück davon anzueignen. Jedes der Individuen, die der Zufall um das Feuer zusammengebracht hatte, bewahrte ein Stillschweigen, das etwas Fürchterliches an sich hatte, und tat nichts weiter, als was er für sein Wohlbefinden für notwendig erachtete. Dieses Elend hatte etwas Groteskes. Die von der Kälte veränderten Gesichter waren mit einem Überzug von Schmutz bedeckt, auf dem sich die Tränenspuren von den Augen bis zum unteren Teil der Wangen mit einer Furche abzeichneten, die die Dicke dieser Kruste anzeigte. Die Unsauberkeit ihrer langen Bärte machte die Soldaten noch abscheulicher. Die einen waren in Weiberschals gewickelt; die anderen trugen Pferdeschabracken, schmutzige Decken und Lumpen, bedeckt mit Reif, der anfing zu zerschmelzen; einige hatten einen Fuß in einem Schuh, den andern in einem Stiefel; schließlich gab es niemanden, dessen Kleidung nicht irgendeine lächerliche Besonderheit aufwies. Inmitten dieser komischen Umhüllung verharrten die Männer ernst und düster. Das Schweigen wurde nur von dem Krachen des Holzes unterbrochen, von dem Flackern der Flamme, von dem fernen Geräusch des Feldes und von den Säbelhieben, die die Verhungertsten Bichette versetzten, um die besten Stücke davon abzureißen. Einige Unglückliche, matter als die andern, schliefen bereits, und wenn einer von ihnen ins Feuer rollte, zog ihn niemand zurück. Diese strengen Logiker dachten, daß, wenn er nicht tot war, das Verbrennen ihn schon veranlassen würde, sich an einen geeigneteren Ort hinzulegen. Wenn aber der Unglückliche im Feuer erwachte und umkam, so beklagte ihn niemand. Etliche Soldaten sahen einander an, wie um ihre eigene Unbekümmertheit durch die Gleichgültigkeit der anderen gerechtfertigt zu sehen. Die junge Gräfin hatte zweimal einen solchen Anblick und blieb stumm. Als die verschiedenen Stücke, die man auf die Kohlen gelegt hatte, gebraten waren, stillte jeder seinen Hunger mit der Freßgier, die uns bei den Tieren so widerwärtig erscheint.
»Das ist das erstemal, daß man dreißig Infanteristen auf einem Pferde gesehen hat,« rief der Grenadier, der das Tier abgestochen hatte.
Das war der einzige Scherz, der nationalen Witz bezeugte.
Bald rollte sich die Mehrzahl der armen Soldaten in ihre Kleider, legte sich auf Bretter, auf alles, was sie vor der Berührung mit dem Schnee schützen konnte, und schlief unbekümmert bis zum nächsten Morgen. Als der Major sich erwärmt und seinen Hunger gefüllt hatte, drückte ihm ein unbezwingliches Schlafbedürfnis auf die Wimpern. Während seines ziemlich kurzen Kampfes mit dem Schlafe betrachtete er die junge Frau, die, mit dem Gesicht zum Feuer gewendet, um zu schlafen, ihre geschlossenen Augen und einen Teil ihrer Stirn sehen ließ; sie war in einen dichten Pelz und einen dicken Dragonermantel gewickelt; ihr Kopf lag auf einem blutbefleckten Kopfkissen; ihre, von einem um den Hals geschlungenen Taschentuch festgehaltene Astrachanmütze schützte ihr Gesicht so viel als möglich vor der Kälte; die Füße hatte sie in den Mantel versteckt. So in sich selbst zusammengerollt, glich sie in der Tat nichts Menschlichem. War sie die letzte Marketenderin? War sie die entzückende Frau, der Stolz eines Liebhabers, die Königin der Pariser Bälle? Ach! Selbst das Auge ihres hingebendsten Freundes konnte nichts Weibliches mehr in diesem Haufen von Wäsche und Lumpen erkennen. Der Kälte war die Liebe im Herzen einer Frau gewichen. Durch die dichten Schleier, die der unwiderstehlichste Schlaf über die Augen des Majors breitete, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punkte. Die Flammen des Feuers, die Gesichter überall, die schreckliche Kälte, die, drei Schritte von der flüchtigen Wärme entfernt, sich durchbohrend geltend machte, alles floß in einen Traum zusammen. Ein peinlicher Gedanke erschreckte Philipp. »Wir werden alle sterben, wenn ich einschlafe; ich will nicht schlafen,« sagte er sich. Aber er schlief. Ein schrecklicher Lärm und eine Explosion erweckten Herrn de Sucy nach einer Stunde Schlaf. Das Gefühl, seine Pflicht tun zu müssen, die Gefahr seiner Freunde fielen ihm plötzlich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähnlich einem Geheul aus. Er und sein Soldat standen allein aufrecht. Sie erblickten ein Feuermeer vor sich, das im Schatten der Nacht vor ihnen eine Masse Menschen abschnitt, indem es die Hütten und Zelte verzehrte; sie hörten Verzweiflungsschreie und Geheul; sie sahen Tausende von entsetzten Gesichtern und wütenden Köpfen. Inmitten dieser Hölle bahnte sich eine Kolonne von Soldaten einen Weg nach der Brücke zu zwischen zwei Reihen von Kadavern hindurch.
»Das ist der Rückzug unsres Nachtrabs!« rief der Major. »Keine Hoffnung mehr!«
»Ich habe Ihren Wagen geschont, Philipp,« sagte eine Freundesstimme.
Als er sich umwandte, erkannte Sucy beim Licht der Flammen den jungen Adjutanten.
»Ach, es ist alles verloren!« erwiderte der Major. »Sie haben mein Pferd verzehrt. Und wie soll ich auch den stumpfsinnigen General und seine Frau auf den Weg bringen?«
»Nehmen Sie einen Feuerbrand und drohen Sie ihnen.«
»Soll ich die Gräfin bedrohen?«
»Adieu!« rief der Adjutant. »Ich habe gerade nur noch Zeit, diesen fatalen Fluß zu überschreiten, und das muß geschehen. Ich habe eine Mutter in Frankreich. Was für eine Nacht! Diese Masse hier will lieber auf dem Schnee bleiben, und die Mehrzahl dieser Unglücklichen will sich lieber verbrennen lassen als sich erheben. Es ist vier Uhr, Philipp! In zwei Stunden werden die Russen anfangen sich zu rühren. Ich versichere Ihnen, daß Sie die Beresina bald voller Leichname sehen werden. Denken Sie an sich, Philipp! Sie haben keine Pferde, Sie können die Gräfin nicht tragen; also vorwärts, kommen Sie mit mir,« sagte er und faßte ihn am Arme.
»Aber, lieber Freund, wie soll ich Stephanie verlassen!«
Der Major ergriff die Gräfin, stellte sie auf die Beine, schüttelte sie mit der Rauheit eines Verzweifelten und zwang sie, aufzuwachen; sie sah ihn mit totem, starrem Blicke an.
›Wir müssen vorwärts, Stephanie, oder wir sterben hier.‹
Als alle Antwort versuchte die Gräfin, sich zur Erde gleiten zu lassen, um zu schlafen. Der Adjutant ergriff einen Feuerbrand und bewegte ihn vor dem Gesicht Stephanies hin und her.
›Retten wir sie gegen ihren Willen!‹ rief Philipp, hob die Gräfin auf und trug sie in den Wagen.
Er kehrte zurück und bat den Adjutanten um Hilfe. Beide nahmen den alten General, ohne zu wissen, ob er tot oder lebendig war, und legten ihn neben seine Frau. Der Major stieß mit dem Fuße jeden einzelnen der auf der Erde liegenden Leute weg, nahm ihnen ab, was sie geraubt hatten, häufte alle Kleider auf die beiden Gatten und warf in eine Ecke des Wagens etliche gebratene Stücke ihres Pferdes. ›Was wollen Sie denn machen?‹ fragte ihn der Adjutant.
›Sie schleppen‹, sagte der Major.
›Sie sind wohl toll!‹
›Das ist wahr!‹ rief Philipp und kreuzte die Arme über der Brust.
Plötzlich schien er von einem verzweifelten Gedanken gepackt zu sein.
›Du!‹, sagte er und ergriff den gesunden Arm seines Soldaten, ›ich vertraue sie dir für eine Stunde an! Denke daran, daß du eher sterben mußt, als, wer es auch sei, an den Wagen herankommen lassen darfst.‹ Der Major bemächtigte sich der Diamanten der Gräfin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der andern den Säbel und begann wütend auf die Schläfer loszuschlagen, die er für die unerschrockensten hielt, und es gelang ihm auch, den kolossalen Grenadier und noch zwei andere Männer, deren militärischer Rang unmöglich zu erkennen war, aufzuwecken.
»Wir sind verloren«, sagte er zu ihnen.
»Das weiß ich wohl,« antwortete der Grenadier, »aber das ist mir egal.«
»Nun also, so oder so tot, ist es nicht besser, sein Leben für eine hübsche Frau zu verkaufen, auf die Gefahr hin, Frankreich noch einmal wiederzusehen?«
»Ich will lieber schlafen,« sagte einer von den Leuten und rollte auf den Schnee, »und wenn du mich weiter belästigst, Major, werde ich dir mein Bajonett in die Wampe pflanzen.«
»Worum handelt es sich, Herr Major?«, fragte der Grenadier. »Der Kerl ist betrunken! Das ist ein Pariser; die wollen es bequem haben.«
»Das hier ist für dich, mein braver Kerl,« rief der Major und bot ihm einen Diamantenschmuck an, »wenn du mir folgen und wie ein Wilder kämpfen willst. Die Russen werden in zehn Minuten auf dem Marsche sein, sie sind beritten; wir werden auf ihre erste Batterie losmarschieren und zwei Pferde mit uns nehmen.«
»Aber die Schildwachen, Herr Major?«
»Einer von uns dreien« , sagte er zu dem Soldaten. Er unterbrach sich und sah den Adjutanten an; »Sie kommen mit uns, Hippolyt, nicht wahr?«
Hippolyt stimmte mit einem Kopfnicken zu.
»Einer von uns«, fuhr der Major fort, »wird die Schildwache auf sich nehmen. Übrigens werden sie auch vielleicht schlafen, diese verdammten Russen.«
»Bist du wirklich so tapfer, mein Major? Aber du wirst mich auch in deinem Wagen mitnehmen?» sagte der Grenadier.
»Jawohl, wenn du dort oben nicht dein Fell opfern mußt. Wenn ich falle, versprecht mir, Hippolyt und du, Grenadier,» sagte der Major und wandte sich an seine beiden Gefährten, ,»daß ihr euch für die Rettung der Gräfin aufopfern wollt.»
»Abgemacht«, rief der Grenadier.
Sie wandten sich der Linie der Russen zu, nach den Batterien hin, die so furchtbar die Masse der Unglücklichen zerschmettert hatten, die am Ufer des Flusses lagen. Einige Augenblicke nach ihrem Verschwinden ertönte der Galopp zweier Pferde auf dem Schnee, und die wachgewordene Batterie sandte einige Salven hinterher, die über die Häupter der Schläfer hinweggingen; der Galopp der Pferde war so überstürzt, daß man von Schmiedhämmern hätte reden mögen. Der edelmütige Adjutant war gefallen. Der athletische Grenadier war heil und gesund geblieben. Philipp hatte bei der Verteidigung seines Freundes einen Bajonettstich in die Schulter erhalten; trotzdem klammerte er sich an die Nackenhaare des Pferdes und preßte es so fest mit seinen Beinen, daß das Tier sich wie in einem Schraubstock befand.
»Gott sei gelobt!« rief der Major, als er seinen Soldaten unbeweglich im Wagen an seinem Platze vorfand.
»Wenn Sie gerecht sein wollen, Herr Major, werden Sie mir das Kreuz verschaffen. Wir haben hübsch mit dem Schießprügel und dem Stichgewehr gespielt, was?«
»Wir haben noch nichts geleistet. Jetzt müssen wir die Pferde anspannen. Nehmen Sie die Seile.«
»Es sind nicht genug davon vorhanden.«
»Dann, Grenadier, müssen Sie Hand an die Schläfer legen und ihre Umhänge und ihre Wäsche dazu nehmen …«
»Sieh mal an, er ist tot, dieser Hanswurst!« rief der Grenadier, als er den ersten, an den er sich wandte, umdrehte. »Ach, wie komisch, sie sind ja tot!«
»Alle?«
»Jawohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein unverdauliches Essen, wenn man es mit Schnee genießt.« diese Worte ließen Philipp erzittern. Der Frost war noch stärker geworden.
»Mein Gott! Eine Frau verlieren, die ich schon zwanzigmal gerettet habe.«
Der Major schüttelte die Gräfin und rief: »Stephanie! Stephanie!«
Die junge Frau öffnete ihre Augen.
»Wir sind gerettet, Madame.«
»Gerettet!« wiederholte sie und fiel zurück.
Die Pferde wurden, so gut es ging, angespannt. Mit seinem Säbel in der gesunden Hand, die Zügel in der andern, bestieg er, mit seinen Pistolen bewaffnet, das eine Pferd, während der Grenadier sich auf das andere setzte. Der alte Soldat, dessen Füße erfroren waren, wurde quer in den Wagen über den General und die Gräfin geworfen. Durch Säbelhiebe angestachelt, trugen die Pferde die Equipage mit wütender Eile in die Ebene hinaus, wo unzählige Schwierigkeiten den Major erwarteten. Bald war es unmöglich, vorwärts zu kommen, ohne zu riskieren, Männer, Frauen und eingeschlafene Kinder totzufahren, die alle sich zu rühren verweigerten, als der Grenadier sie aufweckte. Vergeblich suchte Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab inzwischen sich mitten in dieser Menschenmasse gebahnt hatte; er war verschwunden wie das Kielwasser des Schiffes auf dem Meere; es ging nur im Schritt weiter, meist von den Soldaten angehalten, die damit drohten, die Pferde zu töten.
›Wollen Sie weiter kommen?‹ fragte der Grenadier.
›Um den Preis meines Blutes, um den Preis der ganzen Welt‹, erwiderte der Major.
›Vorwärts! Man macht keine Omeletten, ohne Eier zu zerschlagen.‹
Und der Grenadier jagte die Pferde auf die Menschen los, ließ blutige Geleise hinter sich, stürzte die Zelte um und bahnte sich eine doppelte Furche quer durch dieses Feld von Köpfen. Aber wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er niemals unterließ, mit donnernder Stimme zu rufen: ›Achtung, ihr Biester!‹
›Die Unglücklichen!‹ rief der Major.
›Bah! Entweder der Frost oder die Kanonen!‹ sagte der Grenadier, trieb die Pferde an und stach mit der Spitze seines Säbels auf sie los.
Eine Katastrophe, die ihnen sehr viel früher hätte begegnen und vor der bis dahin ein fabelhafter Zufall sie bewahrt hatte, hielt plötzlich ihren Weg an. Der Wagen stürzte um.
›Das dachte ich mir!‹ rief der unerschütterliche Grenadier aus. ›Oh, oh! Der Kamerad ist tot!‹
›Armer Laurent!‹ sagte der Major.
›Laurent? Ist er nicht von den fünften Jägern?‹
›Jawohl.‹
›Das ist mein Vetter. Bah! Das Hundeleben ist nicht schön genug, daß man es in der jetzigen Zeit zu bedauern hätte.‹
Der Wagen wurde nicht wieder aufgerichtet, die Pferde nicht wieder freigemacht ohne einen unendlichen, nicht wieder gut zu machenden Zeitverlust. Der Stoß war so heftig gewesen, daß die junge Gräfin, die erwacht und durch die Bewegung aus ihrer Betäubung aufgerüttelt worden war, die Kleidungsstücke abwarf und sich erhob.
»Wo sind wir denn, Philipp?« rief sie mit sanfter Stimme und sah um sich.
»Fünfhundert Schritt von der Brücke entfernt. Wir wollen über die Beresina. Jenseits des Flusses, Stephanie, werde ich Sie nicht mehr quälen, werde Sie schlafen lassen, wir werden in Sicherheit sein und in Ruhe Wilna erreichen. Gebe Gott, daß Sie niemals erfahren, was Ihr Leben gekostet hat!«
»Du bist verwundet?«
»Es bedeutet nichts.«