Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honoré de Balzac - E-Book

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Balzac wollte in seinem Werken ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit aufzeichnen. Er nahm (schriftstellerisch) nie ein Blatt vor den Mund. Balzac liefert in seinen Werken nicht immer – sogar selten – die heile romantische Welt. Seine Texte sind immer voller Leben. Mit seiner relativ ungeschminkten Darstellung der gesellschaftlichen Realität prägte Balzac Generationen nicht nur französischer Autoren und bereitete den Naturalismus vor. In dieser Sammlung finden Sie seine wichtigsten Werke: Glanz und Elend der Kurtisanen Die drolligen Geschichten des Herrn von Balzac Die alte Jungfer Menschliche Komödie – Die Bauern Die dreißig tolldreisten Geschichten Die Frau von dreißig Jahren Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan Die Grenadière Die Kleinbürger Die Königstreuen Die Lilie im Tal Die Messe des Gottlosen Ein Drama am Ufer des Meeres Eine dunkle Geschichte Die Sorgen der Polizei Corentins Rache Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft Eine Evatochter El Verdugo Katharina von Medici Kleine Leiden des Ehestandes Lebensbilder u.v.a; mehr als 15.000 Seiten (PDF-Version) Null Papier Verlag

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Honoré de Balzac

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Honoré de Balzac

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 3. Auflage, ISBN 978-3-962815-22-6

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Adieu

Cäsar Bi­rot­te­aus Grö­ße und Nie­der­gang

Cäsar auf dem Gip­fel sei­nes Ruhms

Cäsar im Kampf mit dem Un­glück

Das Cha­grin­le­der

Wid­mung

Der Ta­lis­man

Die Frau ohne Herz

Der To­des­kampf

Epi­log

An­mer­kun­gen

Das Haus Nu­cin­gen

Der Auf­trag

Der Ball von Sceaux

1

2

Der Dia­mant

Der Dorf­pfar­rer

Ho­noré de Balzac

I – Véro­ni­que

II – Ta­sche­ron

III – Der Pfar­rer von Monté­gnac

IV – Ma­da­me Gras­lin in Monté­gnac

V – Véro­ni­que am Gra­bes­ran­de

Die alte Jung­fer

Wid­mung

Men­sch­li­che Ko­mö­die – Die Bau­ern

Ers­ter Teil – Wer Land hat, hat Streit

Zwei­ter Teil

Die Bör­se

Die drei­ßig toll­dreis­ten Ge­schich­ten

Ers­tes Ze­hent

Zwei­tes Ze­hent

Drit­tes Ze­hent

Die Ent­mün­di­gung

1

2

3

4

5

6

Die falsche Ge­lieb­te

1

2

3

4

Die Frau von drei­ßig Jah­ren

1. Der ers­te Irr­tum

2. Un­be­kann­te Lei­den

3. Mit drei­ßig Jah­ren

4. Der Fin­ger Got­tes

5. Die zwei Be­geg­nun­gen

6. Das Al­ter ei­ner schul­di­gen Mut­ter

Die Ge­heim­nis­se der Fürs­tin von Ca­di­gnan

Die Gre­na­diè­re

1

2

Die Klein­bür­ger

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Die Kö­nigs­treu­en

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Die Li­lie im Tal

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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16

17

18

19

Der Brief der Ma­da­me de Morts­auf an den Vi­com­te Fe­lix de Van­den­es­se

An den Com­te Fe­lix de Van­den­es­se

Die Mes­se des Gott­lo­sen

Ein Dra­ma am Ufer des Mee­res

Eine dunkle Ge­schich­te

Die Sor­gen der Po­li­zei

Co­ren­tins Ra­che

Ein po­li­ti­scher Pro­zeß un­ter dem Kai­ser­reich

Schluss

Eine Epi­so­de aus der Zeit der Schre­ckens­herr­schaft

Eine Eva­toch­ter

1

2

3

4

5

6

7

8

9

El Ver­du­go

Eugé­nie Gran­det

Ein­lei­tung von Hugo von Hof­manns­thal

Balzacs Vor­re­de zur Men­sch­li­chen Ko­mö­die

Eugé­nie Gran­det

Fa­ci­no Cane

Glanz und Elend der Kur­ti­sa­nen

Von der Lie­be der Dir­nen

Was alte Her­ren sich die Lie­be kos­ten las­sen

Der Weg des Bö­sen

Vau­trins letz­te Ver­kör­pe­rung

Die drol­li­gen Ge­schich­ten des Herrn von Balzac

Kitz­li­che Re­den drei­er Pil­ger

Bu­ckel­chen

Ein ver­geß­li­cher Pro­foß

Der schö­nen Im­pe­ria Ehe­zeit

Eine teu­re Lie­bes­nacht

Wie das schö­ne Mäg­de­lein von Por­til­lon sei­nen Rich­ter mund­tot mach­te

Franz’ des Ers­ten Fas­ten­freu­den

Die reui­ge Sün­de­rin

Der Pfar­rer von Azay-le-Ri­deau

Die läß­li­che Sün­de

Die drei Zech­prel­ler

Ho­noré de Balzac: Dem Dich­ter zum Prei­se!

Lie­bes­ver­zweif­lung

Des Kö­nigs Liebs­te

Des Teu­fels Erbe

Die Jung­frau von Thil­hou­ze

Wie der Mönch Ama­dor ein glor­rei­cher Abt ward

Stand­haf­te Lie­be

Des Kon­ne­ta­bels Weib

Die Edel­frau als Dir­ne

Der Hum­pel­greis

Eine Ge­schich­te, die er­wei­sen soll, daß das Glück al­le­mal weib­li­chen Ge­schlech­tes ist

Die schö­ne Im­pe­ria

Die Waf­fen­brü­der

Die Pre­digt des fröh­li­chen Pfar­rers von Meu­don

Die Ge­fah­ren über­großer Tu­gend

Wie der Se­ne­schall mit der Jung­fern­schaft sei­ner Frau zu kämp­fen hat­te

Kin­der­schna­bel­weis­heit

Die klatsch­haf­ten Non­nen zu Pois­sy

Wie das Schloß zu Azay ent­stand

Die Spä­ße Kö­nig Lud­wigs des Elf­ten

Der Buhl­teu­fel

Jung­ge­sel­len­wirt­schaft

1

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Ka­tha­ri­na von Me­di­ci

Ein­lei­tung

Der cal­vi­nis­ti­sche Mär­ty­rer

Ver­trau­li­che Mit­tei­lun­gen der Brü­der Rug­gie­ri

Die bei­den Träu­me

Kehr­sei­te der Ge­schich­te un­se­rer Zeit

Frau de la Chan­te­rie

Der Auf­ge­nom­me­ne

Klei­ne Lei­den des Ehe­stan­des

Vor­wort, worin je­der­mann sei­ne Ehe­ein­drücke wie­der­fin­det

Ein heim­tücki­scher Streich

Die Ent­hül­lun­gen

Die Ge­fäl­lig­kei­ten ei­ner jun­gen Frau

Sti­che­lei­en

Der Be­schluß

Die Lo­gik der Frau­en

Weib­li­cher Je­sui­tis­mus

Erin­ne­run­gen und Kla­gen

Auf Beo­b­ach­tung

Die Ehe­taran­tel

Die Zwangs­ar­bei­ten

Sau­er­sü­ßes Lä­cheln

Lei­dens­ge­schich­te des Land­hau­ses

Das Leid im Leid

Der acht­zehn­te Bru­maire der Ehen

Die Kunst, Op­fer zu sein

Der fran­zö­si­sche Feld­zug

Das Trau­er­so­lo

Leb wohl!

Le­bens­bil­der - Band 1

Wid­mung

Ge­schich­te des Wer­kes

Ers­ter Teil

Le­bens­bil­der - Band 2

Wid­mung

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

An­hang

Louis Lam­bert

I.

II.

III.

IV.

V.

Oberst Cha­bert

1

2

3

4

5

Phy­sio­lo­gie des All­tags­le­bens

Ein­lei­ten­de No­tiz

Mo­no­gra­phie des Ren­tiers – Der Ren­tier

Phy­sio­lo­gie des Be­am­ten

Ab­hand­lung über mo­der­ne Reiz­mit­tel

Sar­ra­si­ne

Se­ra­phi­ta

Der Stromfjord

Se­ra­phi­tus

Se­ra­phi­ta

Se­ra­phi­ta – Se­ra­phi­tus

Wil­frid

Die Wol­ken des Al­ler­hei­ligs­ten

Der Ab­schied

Der zu Gott füh­ren­de Weg

Die Him­mel­fahrt

Der Land­arzt

Das Land und der Mensch

Quer durch Fel­der

Der Na­po­le­on des Vol­kes

Die Beich­te des Land­arz­tes

Ele­gi­en

Va­ter Go­ri­ot

Ven­det­ta

1

2

3

4

5

6

Ver­lo­re­ne Il­lu­sio­nen

Die bei­den Dich­ter

Ein großer Mann aus der Pro­vinz in Pa­ris

Die Lei­den des Er­fin­ders

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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und wei­te­re …

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Adieu

»Vor­wärts, du De­pu­tier­ter der Mit­te, im­mer vor­wärts! Wir müs­sen ei­lig wei­ter, wenn wir zu­sam­men mit den an­dern bei Tisch sein wol­len. Heb die Bei­ne! Spring, Mar­quis! Hier­her! So ist’s gut! Sie sprin­gen über die Grä­ben wie ein rich­ti­ger Hirsch!«

Die­se Wor­te wur­den von ei­nem fried­lich am Wal­des­ran­de von Ile-Adam sit­zen­den Jä­ger ge­spro­chen, der eine Ha­van­na­zi­gar­re zu Ende rauch­te und auf sei­nen Ge­nos­sen war­te­te, der je­den­falls schon seit lan­gem in dem Busch­werk des Wal­des her­um­ge­irrt war. An sei­ner Sei­te sa­hen vier jap­pen­de Hun­de eben­so wie er die Per­son, an die er sich wand­te, an. Um zu ver­ste­hen, wie spöt­tisch die­se An­re­den, die mit Pau­sen wie­der­holt wur­den, ge­meint wa­ren, muß er­wähnt wer­den, daß der Jä­ger ein di­cker kur­z­er Mann war, des­sen her­vor­ste­hen­der Bauch eine wahr­haft mi­nis­te­ri­el­le Fett­lei­big­keit ver­riet. Müh­se­lig über­sprang er die Fur­chen ei­nes großen, frisch ab­ge­ern­te­ten Fel­des, des­sen Stop­peln sicht­lich sein Vor­wärts­kom­men hin­der­ten; um sein Un­be­ha­gen noch zu stei­gern, trie­ben die Son­nen­strah­len, die sein Ge­sicht schräg tra­fen, di­cke Schweiß­trop­fen dar­auf her­vor. Be­müht, sein Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren, wank­te er bald nach vorn, bald nach rück­wärts und ahm­te so die Sprün­ge ei­nes stark ge­schüt­tel­ten Wa­gens nach. Es war ei­ner der Sep­tem­ber­ta­ge, wo die Wein­trau­ben bei süd­li­cher Glut rei­fen. Die Luft kün­dig­te ein Ge­wit­ter an. Ob­gleich sich mehr­fach große Stre­cken blau­en Him­mels noch am Ho­ri­zont von di­cken schwar­zen Wol­ken ab­ho­ben, sah man doch einen blas­sen Dunst mit er­schre­cken­der Schnel­lig­keit vor­drin­gen, der sich von Wes­ten nach Os­ten aus­brei­te­te wie ein leich­ter grau­er Vor­hang. Der Wind be­weg­te sich nur in den obe­ren Re­gio­nen der Luft, die At­mo­sphä­re drück­te nach un­ten hin die glü­hen­den Aus­dün­nun­gen der Erde zu­sam­men. Heiß und schwei­gend schi­en der Wald zu dürs­ten. Die Vö­gel und In­sek­ten wa­ren ver­stummt, die Wip­fel der Bäu­me rühr­ten sich kaum. Die­je­ni­gen, die noch eine Erin­ne­rung an den Som­mer 1819 ha­ben, müs­sen also Mit­leid emp­fin­den mit den Lei­den des ar­men De­pu­tier­ten, der Blut und Was­ser schwitz­te, um sei­nen bos­haf­ten Ge­fähr­ten wie­der zu er­rei­chen. Wäh­rend er sei­ne Zi­gar­re rauch­te, hat­te die­ser aus der Stel­lung der Son­ne be­rech­net, daß es etwa fünf Uhr nach­mit­tags sein müs­se.

»Wo zum Teu­fel sind wir denn? sag­te der di­cke Jä­ger, wäh­rend er sich die Stirn ab­trock­ne­te und sich an einen Baum­stamm, fast ge­gen­über sei­nem Ge­fähr­ten, stütz­te, denn er ver­spür­te nicht mehr die Kraft in sich, den brei­ten Gra­ben, der ihn von ihm trenn­te, zu über­sprin­gen.

»Und das fragst du mich? ant­wor­te­te la­chend der Jä­ger, der sich in dem ho­hen gel­ben Gra­se ge­la­gert hat­te, das den Ab­hang be­krön­te. Er warf den Rest sei­ner Zi­gar­re in den Gra­ben und rief: »Ich schwö­re bei Sankt Hu­ber­tus, daß man mich nicht wie­der da­bei er­wi­schen wird, wie ich mich in un­be­kann­ter Ge­gend mit ei­ner Amts­per­son her­um­trei­be, und wärst du es selbst, mein lie­ber d’Al­bon, ein al­ter Schul­ka­me­rad!«

»Aber Phil­ipp, ver­stehst du denn nicht mehr Fran­zö­sisch? Du hast je­den­falls dei­nen Geist in Si­bi­ri­en ge­las­sen«, ent­geg­ne­te der di­cke Mann und warf einen ko­mi­schen Schmer­zens­blick auf einen Pfos­ten, der hun­dert Schrit­te da­von sich er­hob.

»Ich ver­ste­he«, er­wi­der­te Phil­ipp, nahm sei­ne Flin­te, er­hob sich plötz­lich, sprang mit ei­nem ein­zi­gen Satz in das Feld hin­über und eil­te zu dem Pfos­ten hin. »Hier­her, d’Al­bon, hier­her! Halb­links!« rief er sei­nem Ge­fähr­ten zu und zeig­te ihm mit ei­ner Hand­be­we­gung einen brei­ten ge­pflas­ter­ten Weg. »Von Bail­let nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann wer­den wir also in die­ser Rich­tung den Weg nach Cassan fin­den, der sich von dem nach Ile-Adam ab­zwei­gen muß.

»Das stimmt, mein lie­ber Oberst , sag­te Herr d’Al­bon und setz­te sei­ne Müt­ze, mit der er sich Luft zu­ge­fä­chelt hat­te, wie­der auf den Kopf.

»Also vor­wärts, mein ver­eh­rungs­wür­di­ger Rat, er­wi­der­te der Oberst Phil­ipp und pfiff den Hun­den, die ihm schon bes­ser zu ge­hor­chen schie­nen als dem Be­am­ten, dem sie ge­hör­ten.

»Wis­sen Sie, mein Herr Mar­quis,« be­gann der Of­fi­zier spot­tend, »daß wir noch mehr als zwei Mei­len vor uns ha­ben? Das Dorf, das wir dort un­ten se­hen, muß Bail­let sein.

»Gro­ßer Gott!« rief der Mar­quis d’Al­bon aus, »ge­hen Sie nach Cassan, wenn Ih­nen das Ver­gnü­gen macht, aber Sie wer­den dann ganz al­lein ge­hen. Ich zie­he vor, hier trotz des Ge­wit­ters ein Pferd ab­zu­war­ten, das Sie mir aus dem Schloß schi­cken wer­den. Sie ha­ben sich über mich mo­kiert, Sucy. Wir hät­ten einen net­ten klei­nen Jagd­aus­flug ma­chen, uns nicht von Cassan ent­fer­nen, die Ter­rains, die ich ken­ne, ab­su­chen sol­len. Na, an­statt daß wir un­sern Spaß da­bei ha­ben, las­sen Sie mich wie einen Jagd­hund seit vier Uhr mor­gens lau­fen, und wir ha­ben als gan­zes Früh­stück nur zwei Tas­sen Milch ge­habt! Ach, wenn Sie je­mals einen Pro­zeß bei Ge­richt ha­ben soll­ten, dann wer­de ich Sie ihn ver­lie­ren las­sen, wenn Sie auch hun­dert­mal Recht hät­ten!«

Und mut­los setz­te sich der Jä­ger auf einen der Stei­ne am Fuße des Pfos­tens, leg­te sei­ne Flin­te und sei­ne lee­re Jagd­ta­sche ab und stieß einen lan­gen Seuf­zer aus.

»So sind dei­ne De­pu­tier­ten, Frank­reich!« rief der Oberst von Sucy la­chend. »Ach, mein ar­mer Al­bon, wenn Sie, wie ich, sechs Jah­re tief in Si­bi­ri­en ge­we­sen wä­ren! …

Er vollen­de­te den Satz nicht und blick­te zum Him­mel auf, als ob sei­ne Lei­den ein Ge­heim­nis zwi­schen Gott und ihm wä­ren.

»Vor­wärts! Wei­ter!« füg­te er hin­zu. »Wenn Sie hier sit­zen blei­ben, sind Sie ver­lo­ren.«

»Was wol­len Sie, Phil­ipp? Das ist so eine alte Ge­wohn­heit bei ei­nem Be­am­ten! Auf Ehre, ich bin voll­kom­men er­schöpft! Wenn ich we­nigs­tens noch einen Ha­sen ge­schos­sen hät­te!«

Die bei­den Jä­ger bo­ten einen sel­te­nen Ge­gen­satz dar. Der De­pu­tier­te war ein Mann von zwei­und­vier­zig Jah­ren und schi­en nicht äl­ter als drei­ßig zu sein, wäh­rend der drei­ßig­jäh­ri­ge Of­fi­zier we­nigs­tens vier­zig alt zu sein schi­en. Bei­de tru­gen die rote Ro­set­te, das Ab­zei­chen der Of­fi­zie­re der Ehren­le­gi­on. Et­li­che Lo­cken, schwarz und weiß wie der Flü­gel ei­ner Els­ter, stahlen sich un­ter der Jagd­müt­ze des Obers­ten her­vor; schö­ne blon­de Haar­wel­len schmück­ten die Schlä­fen des Rich­ters. Der eine war von ho­hem Wuchs, ma­ger, schlank, ner­vös, und die Run­zeln sei­nes wei­ßen Ge­sichts deu­te­ten auf furcht­ba­re Lei­den­schaf­ten oder schreck­li­che Lei­den; der an­de­re be­saß ein von Ge­sund­heit strah­len­des Ge­sicht mit dem jo­via­len, ei­nes Epi­kurä­ers wür­di­gen Aus­druck. Bei­de wa­ren stark von der Son­ne ver­brannt, und ihre ho­hen Wild­le­der­ga­ma­schen tru­gen die Merk­ma­le al­ler Grä­ben und Sümp­fe, die sie pas­siert hat­ten, an sich.

»Los!« rief Herr de Sucy, »vor­wärts! In ei­ner klei­nen Stun­de wer­den wir an ei­nem gut be­setz­ten Tisch sit­zen.«

»Sie kön­nen nie­mals ge­liebt ha­ben,« er­wi­der­te der Rat mit ei­nem ko­mi­schen Aus­druck von Mit­leid, »denn Sie sind so un­er­bitt­lich wie der Ar­ti­kel 304 des Straf­ge­setz­buchs!«

Ein hef­ti­ges Zit­tern über­fiel Phil­ipp; sei­ne brei­te Stirn run­zel­te sich; sein Ge­sicht wur­de eben­so düs­ter, wie es der Him­mel jetzt ge­wor­den war. Ob­gleich die Erin­ne­rung an ein furcht­bar bit­te­res Er­leb­nis alle sei­ne Züge ver­zerr­te, ver­goß er kei­ne Trä­ne. Wie alle star­ken Män­ner ver­moch­te er sei­ne Auf­re­gun­gen tief im Her­zen zu be­gra­ben und emp­fand viel­leicht, wie vie­le rei­ne See­len, eine Art Scham­lo­sig­keit da­bei, sei­ne Schmer­zen blos­zu­le­gen, wenn kein mensch­li­ches Wort ihre Tie­fe aus­drücken kann und man den Spott der Leu­te fürch­tet, die sie nicht ver­lie­hen wol­len. Herr d’Al­bon war eine von den zart­füh­len­den See­len, die Schmer­zen zu ah­nen wis­sen und ein leb­haf­tes Mit­ge­fühl emp­fin­den, wenn sie un­be­ab­sich­tigt durch ir­gend­ei­ne Un­ge­schick­lich­keit An­stoß er­regt ha­ben. Er ach­te­te das Schwei­gen sei­nes Freun­des, er­hob sich, ver­gaß sei­ne Mü­dig­keit und folg­te ihm schwei­gend, ganz be­trübt dar­über, eine Wun­de be­rührt zu ha­ben, die wahr­schein­lich nicht ver­narbt war.

»Ei­nes Ta­ges, lie­ber Freund,« sag­te Phil­ipp zu ihm und drück­te ihm die Hand, wo­bei er ihm mit ei­nem herz­zer­rei­ßen­den Blick für sein stum­mes Mit­ge­fühl dank­te, »ei­nes Ta­ges wer­de ich dir mein Le­ben er­zäh­len. Heu­te ver­möch­te ich es nicht.«

Schwei­gend setz­ten sie ih­ren Weg fort. Als der Schmerz des Obers­ten sich be­sänf­tigt hat­te, emp­fand der Rat sei­ne Mü­dig­keit wie­der; und mit dem In­stinkt oder viel­mehr mit dem Wil­len ei­nes er­schöpf­ten Man­nes durch­forsch­te sein Auge alle Tie­fen des Wal­des; er prüf­te die Wip­fel der Bäu­me, stu­dier­te die Wege, in der Hoff­nung, ir­gend­ei­ne Her­ber­ge zu fin­den, wo er um Gast­freund­schaft bit­ten konn­te. An ei­nem Kreuz­weg an­ge­langt, glaub­te er einen leich­ten Rauch zu ent­de­cken, der zwi­schen den Bäu­men auf­stieg. Er blieb ste­hen, sah auf­merk­sam hin und er­kann­te in­mit­ten ei­ner rie­si­gen Baum­grup­pe die grü­nen dunklen Zwei­ge et­li­cher Fich­ten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit dem­sel­ben Ver­gnü­gen, mit dem ein Schif­fer ge­ru­fen hät­te: » Land, Land!«

Dann eil­te er schnell durch eine dich­te Baum­grup­pe, und der Oberst, der in eine tie­fe Träu­me­rei ver­sun­ken war, folg­te ihm me­cha­nisch.

»Ich will mich lie­ber hier mit ei­ner Ome­let­te, Haus­brot und ei­nem Stuhl be­gnü­gen, als nach Cassan wei­ter­ge­hen, um dort Di­wans, Trüf­feln und Bor­deaux­wein zu fin­den.«

Das war der be­geis­ter­te Aus­ruf des Ra­tes beim An­blick ei­ner Mau­er, de­ren weiß­li­che Far­be sich weit­hin von der brau­nen Mas­se der knor­ri­gen Stäm­me des Wal­des ab­hob.

»Ei, ei! Das sieht mir aus wie ir­gend­ei­ne alte Prio­rei«, rief der Mar­quis d’Al­bon von neu­em, als er vor ei­nem al­ten schwar­zen Git­ter an­lang­te, wo er in­mit­ten ei­nes ziem­lich wei­ten Parks ein Bau­werk er­blick­te, das in dem einst­mals den Klos­ter­bau­ten ei­gen­tüm­li­chen Stil er­rich­tet war. »Wie die­se Kerls von Mön­chen es ver­stan­den ha­ben, eine Bau­stel­le aus­zu­wäh­len!« Die­ser neue Aus­ruf war der Aus­druck des Er­stau­nens, das dem Be­am­ten die schö­ne Ein­sie­de­lei ver­ur­sach­te, die sich sei­nen Bli­cken dar­bot. Das Haus lag halb­seits auf dem Ab­hang des Ber­ges, des­sen Gip­fel von dem Dor­fe Ner­ville ein­ge­nom­men wird. Die großen hun­dert­jäh­ri­gen Ei­chen des Wal­des, der einen rie­si­gen Kreis um die­se Be­hau­sung zog, mach­ten dar­aus eine rich­ti­ge Ein­sie­de­lei. Der einst für die Mön­che be­stimm­te Haupt­flü­gel lag ge­gen Sü­den. Der Park schi­en vier­zig Mor­gen zu um­fas­sen. Nahe bei dem Hau­se brei­te­te sich eine grü­ne Wie­se aus, die in glück­li­cher Wei­se von meh­re­ren kla­ren Bä­chen und von ge­schickt an­ge­brach­ten Was­ser­fäl­len durch­flos­sen war, all das an­schei­nend ohne An­wen­dung von Kunst. Hier und da er­ho­ben sich grü­ne Bäu­me von ele­gan­ten For­men mit ver­schie­den­ar­ti­gem Laub. Dann ga­ben da ge­schickt aus­ge­spar­te Grot­ten, mäch­ti­ge Ter­ras­sen mit be­schä­dig­ten Trep­pen und ros­ti­gen Ge­län­dern die­ser wil­den The­bais einen be­son­de­ren Aus­druck. Die Kunst hat­te ge­fäl­lig ihre Bau­ten mit den ma­le­ri­schen Wir­kun­gen der Na­tur ver­ei­nigt. Die mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten schie­nen am Fuß der großen Bäu­me ster­ben zu müs­sen, die die­ses Asyl vor dem Her­an­strö­men des Lärms der Welt ver­tei­dig­ten, wie sie die Glut der Son­ne mä­ßig­ten.

»Was für ein Ver­fall!« sag­te sich Herr d’Al­bon, nach­dem er den düs­te­ren Aus­druck emp­fun­den hat­te, den die Rui­nen der Land­schaft ver­lie­hen, die wie mit ei­nem Fluch ge­schla­gen er­schi­en. Es war wie ein von den Men­schen ver­las­se­ner ver­wünsch­ter Ort. Der Efeu hat­te über­all sei­ne ge­wun­de­nen Ran­ken und sei­nen rei­chen Blät­ter­man­tel aus­ge­brei­tet. Brau­nes, grü­nes, gel­bes oder ro­tes Moos über­zog mit sei­ner ro­man­ti­schen Fär­bung Bäu­me, Bän­ke, Dä­cher und Stei­ne. Die wurm­sti­chi­gen Fens­ter wa­ren vom Re­gen ver­wa­schen und vom Wet­ter durch­lö­chert, die Bal­ko­ne zer­bro­chen, die Ter­ras­sen zer­stört. Man­che Ja­lou­si­en hiel­ten nur noch an ei­nem Ha­ken. Die nicht schlie­ßen­den Tü­ren schie­nen kei­nem An­grei­fer stand­hal­ten zu kön­nen. Be­han­gen mit leuch­ten­den Tuffs von Mis­teln, brei­te­ten sich die un­ge­pfleg­ten Äste der Frucht­bäu­me weit­hin aus, ohne eine Ern­te zu ge­ben. Hoch­ge­wach­se­nes Kraut über­wu­cher­te die Al­leen. Die­se Res­te ga­ben dem Bil­de den Aus­druck reiz­vol­ler Poe­sie und er­reg­ten in der See­le des Be­schau­ers träu­me­ri­sche Ge­dan­ken. Ein Dich­ter wäre hier in lan­ge wäh­ren­de Me­lan­cho­lie ver­sun­ken, vol­ler Be­wun­de­rung für die­se har­mo­ni­sche Un­ord­nung, für die­ses reiz­vol­le Bild der Zer­stö­rung. In die­sem Mo­ment er­glänz­ten ei­ni­ge Son­nen­strah­len mit­ten durch die Lücken der Wol­ken und be­leuch­te­ten mit tau­send Far­ben die­se halb wil­de Sze­ne. Die brau­nen Dach­zie­gel er­strahl­ten, das Moos leuch­te­te, phan­tas­ti­sche Schat­ten husch­ten über die Wie­sen un­ter den Bäu­men hin; die er­stor­be­nen Far­ben leb­ten wie­der auf, ei­gen­ar­ti­ge Ge­gen­sät­ze mach­ten sich gel­tend, das Blatt­werk hob sich scharf in der Hel­lig­keit ab. Plötz­lich ver­schwand das Licht. Die Land­schaft, die ge­spro­chen zu ha­ben schi­en, wur­de stumm und wie­der düs­ter, oder viel­mehr matt wie der mat­tes­te Schim­mer ei­nes Herbst­ne­bels.

»Das ist Dorn­rös­chens Schloß,« sag­te sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Au­gen des Ei­gen­tü­mers an­sah. »Wem mag es nur ge­hö­ren? Man muß sehr tö­richt sein, wenn man einen so hüb­schen Be­sitz nicht be­wohnt!«

Plötz­lich sprang eine Frau un­ter ei­nem rechts vom Git­ter ste­hen­den Nuß­baum her­vor und husch­te, ohne Geräusch zu ma­chen, so schnell wie der Schat­ten ei­ner Wol­ke bei dem Rat vor­bei; die­se Er­schei­nung mach­te ihn stumm vor Stau­nen.

»Nun, d’Al­bon, was ha­ben Sie?« frag­te ihn der Oberst.

»Ich rei­be mir die Au­gen, um zu wis­sen, ob ich schla­fe oder wa­che«, ant­wor­te­te der Be­am­te und drück­te sich an das Git­ter, um zu ver­su­chen, das Phan­tom noch­mals zu er­bli­cken.

»Sie ist jetzt wahr­schein­lich un­ter dem Fei­gen­baum«, sag­te er und zeig­te Phil­ipp die Blatt­kro­ne ei­nes Bau­mes, der links vom Git­ter über der Mau­er em­por­rag­te.

»Wer denn, sie?«

»Ja, kann ich das wis­sen?« ent­geg­ne­te Herr d’Al­bon. »Eben hat sich hier vor mir eine fremd­ar­ti­ge Frau­en­ge­stalt er­ho­ben«, sag­te er lei­se; »sie schi­en mir mehr dem Reich der Schat­ten als der Welt der Le­ben­den an­zu­ge­hö­ren. Sie er­scheint so schlank, so leicht, so luft­ar­tig, daß sie durch­sich­tig sein muß. Ihr Ge­sicht ist weiß wie Milch. Ihre Klei­dung, ihre Au­gen, ihre Haa­re sind schwarz. Sie hat mich im Vor­bei­kom­men an­ge­blickt, und ob­gleich ich nicht furcht­sam bin, hat ihr un­be­weg­li­cher kal­ter Blick mir das Blut in den Adern er­star­ren las­sen.«

»Ist sie hübsch?« frag­te Phil­ipp.

»Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Au­gen in ih­rem Ge­sicht ge­se­hen.«

»Also zum Teu­fel mit un­serm Di­ner in Cassan!« rief der Oberst, »blei­ben wir hier. Ich habe eine kin­di­sche Lust, in die­se ei­gen­ar­ti­ge Be­sit­zung hin­ein­zu­ge­hen. Siehst du die­se rot­ge­mal­ten Fens­te­r­ein­fas­sun­gen und die­se ro­ten, auf das Ge­sims der Tü­ren und Fens­ter­lä­den ge­mal­ten Strei­fen? Scheint das dir nicht das Haus des Teu­fels zu sein? Er wird es viel­leicht von den Mön­chen ge­erbt ha­ben. Vor­wärts! Ei­len wir hin­ter der schwarz­wei­ßen Dame her! Vor­wärts!« rief Phil­ipp mit ge­mach­ter Lus­tig­keit.

In die­sem Au­gen­blick hör­ten die bei­den Jä­ger einen Schrei, der dem ei­ner in der Fal­le ge­fan­ge­nen Maus ziem­lich ähn­lich war. Sie horch­ten. Das Geräusch der ge­streif­ten Blät­ter ei­ni­ger Bü­sche mach­te sich in dem Schwei­gen be­merk­bar, wie das Ge­mur­mel ei­ner er­reg­ten Wel­le; aber ob­gleich sie an­ge­strengt lausch­ten, um wei­te­re Töne zu hö­ren, blieb die Erde still und be­wahr­te das Ge­heim­nis der Schrit­te der Un­be­kann­ten, wenn sie über­haupt wel­che ge­macht hat­te.

»Das ist selt­sam«, rief Phil­ipp und ver­folg­te die Li­nie, die die Mau­er des Parks be­schrieb.

Die bei­den Freun­de ge­lang­ten bald zu ei­ner Al­lee des Wal­des, die nach dem Dor­fe Chau­vry führ­te. Nach­dem sie den Weg auf der Stra­ße nach Pa­ris zu­rück­ge­gan­gen wa­ren, be­fan­den sie sich vor ei­nem großen Git­ter und er­blick­ten nun die Haupt­fassa­de der ge­heim­nis­vol­len Be­hau­sung. Von die­ser Sei­te er­schi­en die Zer­stö­rung auf ih­rem Gip­fel: un­ge­heu­re Ris­se durch­furch­ten die drei Flü­gel die­ses recht­wink­lig er­rich­te­ten Bau­werks. Trüm­mer von Zie­geln und Schie­fer­plat­ten wa­ren auf der Erde an­ge­häuft, und zer­stör­te Dä­cher zeig­ten eine voll­kom­me­ne Un­be­küm­mert­heit an. Et­li­che Früch­te wa­ren un­ter den Bäu­men ab­ge­fal­len und ver­faul­ten, ohne daß je­mand sie auf­sam­mel­te. Eine Kuh ging quer über den Gras­p­latz und schnup­per­te in den Bee­ten her­um, wäh­rend eine Zie­ge die grü­nen Bee­ren und Ran­ken ei­nes Wein­stocks kau­te.

»Hier ist al­les in Über­ein­stim­mung, und die Un­ord­nung ist ge­wis­ser­ma­ßen or­ga­ni­siert«, sag­te der Oberst und zog an der Schnur ei­ner Glo­cke; aber die Glo­cke hat­te kei­nen Klöp­fel.

Die bei­den Jä­ger hör­ten nur den ei­gen­ar­ti­gen schar­fen Ton ei­nes ver­ros­te­ten Glo­cken­zu­ges. Ob­gleich sehr ver­fal­len, wi­der­stand die klei­ne Tür in der Mau­er doch je­dem Druck.

»Ei, ei! Al­les macht einen hier neu­gie­rig«, sag­te er zu sei­nem Ge­fähr­ten.

»Wenn ich kein Be­am­ter wäre,« ant­wor­te­te d’Al­bon, »wür­de ich das schwar­ze Weib für eine Hexe hal­ten.«

Kaum hat­te er die­sen Satz be­en­det, als die Kuh an das Git­ter kam und ih­nen ihre war­me Schnau­ze hin­hielt, als ob sie das Be­dürf­nis fühl­te, mensch­li­che We­sen zu se­hen. Jetzt wur­de ein Weib sicht­bar, falls man das un­be­schreib­ba­re We­sen, das sich un­ter ei­ner Grup­pe von Sträu­chern er­hob, mit die­sem Na­men be­zeich­nen kann, und zog die Kuh am Stri­cke. Die Frau hat­te auf dem Kop­fe ein ro­tes Tuch, aus dem blon­de Flech­ten her­vor­sa­hen, die dem Hanf an der Spin­del ziem­lich ähn­lich wa­ren. Sie war ohne Hals­tuch. Ein Un­ter­rock aus gro­ber Wol­le, ab­wech­selnd schwarz und grau ge­streift, der um ei­ni­ge Hand­breit zu kurz war, ließ ihre Bei­ne se­hen. Man hät­te glau­ben kön­nen, daß sie zu ei­nem Stam­me von Coo­pers be­rühm­ten Rot­häu­ten ge­hör­te, denn ihre Bei­ne, ihr Hals und ihre nack­ten Arme schie­nen mit Zie­gel­far­be an­ge­malt zu sein. Kein Strahl von In­tel­li­genz be­leb­te ihr glat­tes Ge­sicht. Ihre bläu­li­chen Au­gen wa­ren ohne Wär­me und ohne Glanz. Ei­ni­ge wei­ße dün­ne Haa­re deu­te­ten Au­gen­brau­en an. Ihr Mund end­lich war so ge­schnit­ten, daß er schlecht ge­wach­se­ne Zäh­ne se­hen ließ, die aber so weiß wie die ei­nes Hun­des wa­ren.

»Halt da, Frau!« rief Herr de Sucy.

Sie kam lang­sam bis ans Git­ter her­an und be­trach­te­te mit stumpf­sin­ni­gem Ge­sicht die bei­den Jä­ger, bei de­ren An­blick ihr ein schmerz­li­ches, ge­zwun­ge­nes Lä­cheln ent­schlüpf­te.

»Wo sind wir denn? Was ist das für ein Haus? Wem ge­hört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?«

Auf die­se Fra­gen und eine Men­ge an­de­rer, die die bei­den Freun­de nach­ein­an­der an sie rich­te­ten, ant­wor­te­te sie nur mit ei­nem aus der Keh­le kom­men­den Knur­ren, das eher ei­nem Tier als ei­nem mensch­li­chen We­sen zu ge­hö­ren schi­en.

»Se­hen Sie nicht, daß sie taub und stumm ist? sag­te der Rich­ter.

»Bons-Hom­mes!« rief die Bäue­rin.

»Ah, sie hat recht! Dies könn­te wohl das alte Klos­ter Bons-Hom­mes sein«, sag­te Herr d’Al­bon.

Die Fra­gen be­gan­nen von neu­em. Aber wie ein ei­gen­wil­li­ges Kind wur­de die Bäue­rin rot, spiel­te mit ih­rem Pan­tof­fel, dreh­te an dem Strick der Kuh, die wie­der ab­zu­wei­den be­gon­nen hat­te, sah sich die bei­den Jä­ger an und prüf­te alle Tei­le ih­res An­zugs; sie kreisch­te, sie knurr­te, sie glucks­te, aber sie brach­te kein Wort her­aus.

»Wie heißt du?« sag­te Phil­ipp und sah sie fest an, als woll­te er sie hyp­no­ti­sie­ren.

»Ge­no­ve­fa«, sag­te sie mit ei­nem dum­men La­chen.

»Bis jetzt ist die Kuh die in­tel­li­gen­tes­te Krea­tur, die wir hier ge­se­hen ha­ben«, rief der Rat. »Ich wer­de einen Schuß ab­feu­ern, da­mit Leu­te kom­men.«

Gera­de als d’Al­bon sei­ne Waf­fe er­griff, hielt ihn der Oberst mit ei­ner Ges­te zu­rück und zeig­te mit dem Fin­ger auf die Un­be­kann­te, die ihre Neu­gier­de so leb­haft er­regt hat­te. Die Frau schi­en in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken und kam mit lang­sa­men Schrit­ten aus ei­ner ziem­lich ent­fern­ten Al­lee, so daß die bei­den Freun­de Zeit hat­ten, sie ge­nau zu be­trach­ten. Sie war mit ei­nem ganz ab­ge­tra­ge­nen schwar­zen Sei­den­rock be­klei­det. Ihre lan­gen Haa­re fie­len in zahl­rei­chen Wel­len über ihre Stirn, um ihre Schul­tern und reich­ten bis un­ter ihre Tail­le hin­ab, in­dem sie ihr als Schal dienten. An die­se Un­ord­nung of­fen­bar ge­wöhnt, schob sie nur sel­ten ihr Haar von bei­den Schlä­fen hin­weg; dann aber schüt­tel­te sie das Haupt mit jä­her Be­we­gung und brauch­te sich nicht zwei­mal zu be­mü­hen, um ihre Stirn oder ihre Au­gen von dem di­cken Schlei­er zu be­frei­en. Ihre Ges­te zeig­te üb­ri­gens wie bei ei­nem Tier die be­wun­de­rungs­wür­di­ge me­cha­ni­sche Si­cher­heit, de­ren Schnel­lig­keit bei ei­ner Frau wie ein Wun­der er­schei­nen muß­te. Die bei­den Jä­ger sa­hen sie er­staunt auf einen Ast des Ap­fel­baums sprin­gen und sich hier mit der Leich­tig­keit ei­nes Vo­gels fest­hal­ten. Sie griff nach den Früch­ten, ver­speis­te sie, dann ließ sie sich mit zier­li­cher Läs­sig­keit, wie man sie an den Eich­hörn­chen be­wun­dert, zur Erde fal­len. Ihre Glie­der be­sa­ßen eine Elas­ti­zi­tät, die ih­ren ge­rings­ten Be­we­gun­gen je­den An­schein von Mühe oder An­stren­gung nahm. Sie spiel­te auf dem Ra­sen, ku­gel­te sich dort wie ein Kind her­um; dann streck­te sie plötz­lich ihre Füße und Hän­de aus und blieb aus­ge­brei­tet auf der Wie­se mit der Un­be­küm­mert­heit, der Gra­zie und der Na­tür­lich­keit ei­ner jun­gen Kat­ze lie­gen, die in der Son­ne ein­ge­schla­fen ist. Als der Don­ner in der Fer­ne groll­te, wand­te sie sich plötz­lich und stell­te sich mit be­wun­derns­wer­ter Ge­schick­lich­keit auf alle vie­re wie ein Hund, der einen Frem­den kom­men hört. Durch die­se merk­wür­di­ge Hal­tung schied sich ihr schwar­zes Haar so­gleich in zwei brei­te Flech­ten zu je­der Sei­te ih­res Kop­fes und er­laub­te den bei­den Zuschau­ern bei die­ser selt­sa­men Sze­ne ihre Schul­tern zu be­wun­dern, de­ren wei­ße Haut wie die Gän­se­blüm­chen auf der Wie­se leuch­te­ten, und einen Hals, des­sen Voll­kom­men­heit auf all das üb­ri­ge Eben­maß ih­res Kör­pers schlie­ßen ließ.

Sie ließ einen Schmer­zens­schrei hö­ren und stell­te sich ganz auf ihre Füße. Ihre Be­we­gun­gen folg­ten ein­an­der so gra­zi­ös und wur­den so leicht aus­ge­führt, daß sie kein mensch­li­ches We­sen, son­dern eine der durch die Dich­tun­gen Os­sians be­rühmt ge­wor­de­nen Töch­ter der Luft zu sein schi­en. Sie ging an eine der Was­ser­flä­chen her­an, schüt­tel­te leicht ein Bein, um ih­ren Schuh los­zu­ma­chen, und schi­en ein Ver­gnü­gen dar­an zu fin­den, ih­ren ala­bas­ter­wei­ßen Fuß in die Quel­le zu tau­chen, wäh­rend sie sich je­den­falls an den Wel­len­be­we­gun­gen er­götz­te, die sie da­bei er­zeug­te und die Edel­stei­nen gli­chen. Dann knie­te sie an dem Ran­de des Bass­ins nie­der und amü­sier­te sich wie ein Kind da­mit, ihre lan­gen Flech­ten ins Was­ser zu tau­chen und sie dann schnell wie­der her­aus­zu­zie­hen, um Trop­fen für Trop­fen das Was­ser, von de­nen es voll war, hin­a­b­lau­fen zu las­sen, das, von den Son­nen­strah­len durch­leuch­tet, einen förm­li­chen Ro­sen­kranz von Per­len bil­de­te.

»Das Weib ist irr­sin­nig!« rief der Rat aus.

Ein rau­her Schrei, den Ge­no­ve­fa aus­stieß, wur­de laut und schi­en sich an die Un­be­kann­te zu rich­ten, die sich schnell um­wand­te und ihr Haar von bei­den Sei­ten ih­res Ge­sich­tes wegstrich. In die­sem Mo­ment konn­ten der Oberst und d’Al­bon deut­lich die Züge der Frau er­ken­nen, die, als sie die bei­den Freun­de be­merk­te, in meh­re­ren Sprün­gen mit der Leich­tig­keit ei­ner Hirsch­kuh auf das Git­ter zu­eil­te. »Adieu!« sag­te sie mit sanf­ter, wohl­klin­gen­der Stim­me, aber ohne daß die­ser, un­ge­dul­dig von den Jä­gern er­war­te­te me­lo­di­öse Ton das ge­rings­te Emp­fin­den oder das ge­rings­te Den­ken ver­riet.

Herr d’Al­bon be­wun­der­te die lan­gen Wim­pern ih­rer Au­gen, ihre schwar­zen dich­ten Au­gen­brau­en und ihre blen­dend wei­ße Haut ohne den ge­rings­ten Schim­mer von Röte. Fei­ne blaue Adern durch­zo­gen al­lein ih­ren wei­ßen Teint. Als der Rat sich um­wand­te, um sei­nem Freun­de mit­zu­tei­len, wel­ches Er­stau­nen ihm der An­blick die­ses selt­sa­men Wei­bes ein­ge­flö­ßt hat­te, sah er die­sen wie tot auf dem Gra­se lie­gen. Herr d’Al­bon schoß sein Ge­wehr in die Luft ab, um Leu­te her­bei­zu­ru­fen und schrie: »Zu Hil­fe!« wäh­rend er ver­such­te, den Obers­ten auf­zu­rich­ten. Bei dem Knall des Schus­ses floh die Un­be­kann­te, die bis da­hin un­be­weg­lich ver­harrt hat­te, pfeil­schnell da­von, stieß Schre­ckens­schreie wie ein ver­wun­de­tes Tier aus und rann­te über die Wie­se mit al­len Zei­chen tiefs­ten Schre­ckens. Herr d’Al­bon ver­nahm das Her­an­rol­len ei­ner Ka­le­sche auf der Land­stra­ße von Ile-Adam und rief den Bei­stand der Spa­zie­ren­fah­ren­den durch Win­ken mit sei­nem Ta­schen­tuch her­bei. So­gleich lenk­te der Wa­gen nach Bons-Hom­mes ein, und d’Al­bon er­kann­te Herrn und Frau von Grand­ville, sei­ne Nach­barn, die sich be­eil­ten, aus ih­rem Wa­gen zu stei­gen und ihn dem Rat an­zu­bie­ten. Frau von Grand­ville hat­te zu­fäl­li­ger­wei­se ein Fla­kon mit äthe­ri­schem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy ein­at­men ließ. Als der Oberst die Au­gen wie­der öff­ne­te, wand­te er sie der Wie­se zu, auf der die Un­be­kann­te nicht auf­hör­te zu ren­nen und zu schrei­en, und stieß einen un­deut­li­chen Ruf aus, der aber doch eine Emp­fin­dung von Schre­cken ver­riet; dann schloß er von neu­em die Au­gen und mach­te eine Be­we­gung, als wol­le er sei­nen Freund bit­ten, ihn die­sem Schau­spiel zu ent­rei­ßen. Herr und Frau von Grand­ville über­lie­ßen dem Rat die freie Ver­fü­gung über ih­ren Wa­gen, in­dem sie ihm ent­ge­gen­kom­men­der­wei­se er­klär­ten, daß sie ihre Pro­me­na­de zu Fuß fort­set­zen woll­ten.

»Wer ist denn die­se Dame?« frag­te der Rat und zeig­te auf die Un­be­kann­te.

»Man ver­mu­tet, daß sie aus Mou­lins kommt«, ant­wor­te­te Herr von Grand­ville. »Sie nennt sich Grä­fin von Van­dières. Man sagt, sie sei irr­sin­nig; aber da sie sich erst seit zwei Mo­na­ten hier auf­hält, kann ich Ih­nen nicht da­für ein­ste­hen, in­wie­weit alle die­se Gerüch­te auf Wahr­heit be­ru­hen.«

Herr d’Al­bon dank­te Herrn und Frau de Grand­ville und fuhr nach Cassan.

»Sie ist es!« rief Phil­ipp, als er wie­der zum Be­wußt­sein ge­kom­men war.

»Wer, sie?« frag­te d’Al­bon.

»Ste­pha­nie. Ach, tot oder le­bend, le­ben­dig oder irr­sin­nig! Ich glaub­te, ich müs­se ster­ben.«

Der vor­sich­ti­ge Rat, der die schwe­re Kri­sis be­griff, in die sein Freund ganz ver­fal­len war, hü­te­te sich wohl, ihn aus­zu­fra­gen oder auf­zu­re­gen; es ver­lang­te ihn un­ge­dul­dig da­nach, ins Schloß zu ge­lan­gen, denn die Ver­än­de­rung, die in den Zü­gen und in der gan­zen Per­sön­lich­keit des Obers­ten sich gel­tend mach­te, ließ ihn be­fürch­ten, daß die Grä­fin Phil­ipp mit ih­rer schreck­li­chen Krank­heit an­ge­steckt habe.

So­bald der Wa­gen die Ein­fahrt nach Ile-Adam er­reicht hat­te, schick­te d’Al­bon den Die­ner zum Arz­te des Fle­ckens; das ge­sch­ah so, daß der Dok­tor sich schon an sei­nem La­ger be­fand, als der Oberst zu Bett ge­bracht wur­de.

»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüch­tern ge­we­sen,« sag­te der Chir­urg, »so wäre er ge­stor­ben. Sei­ne Mat­tig­keit hat ihn ge­ret­tet.«

Nach­dem er die ers­ten Vor­sichts­maß­re­geln an­ge­ord­net hat­te, ent­fern­te sich der Dok­tor, um selbst einen be­ru­hi­gen­den Trank zu be­rei­ten. Am an­dern Mor­gen be­fand sich Herr de Sucy bes­ser, aber der Arzt wünsch­te sel­ber, bei ihm zu blei­ben.

»Ich muß Ih­nen ge­ste­hen, Herr Mar­quis,« sag­te der Dok­tor zu Herrn d’Al­bon, »daß ich an eine Ver­let­zung des Ge­hirns ge­glaubt habe. Herr de Sucy ist das Op­fer ei­ner sehr hef­ti­gen Er­re­gung ge­wor­den: sei­ne Lei­den­schaft­lich­keit ist schnell ent­flammt; aber bei ihm ent­schei­det sich al­les auf den ers­ten Schlag. Mor­gen wird er viel­leicht schon au­ßer Ge­fahr sein.«

Der Arzt hat­te sich nicht ge­täuscht; am an­dern Mor­gen er­laub­te er dem Rat, sei­nen Freund wie­der­zu­se­hen.

»Mein lie­ber d’Al­bon,« sag­te Phil­ipp und drück­te ihm die Hand, »ich er­war­te einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hom­mes! Er­kun­di­ge dich nach al­lem, was die Dame be­trifft, die wir ge­se­hen ha­ben, und komm schnell zu­rück, denn ich zäh­le die Mi­nu­ten.«

Herr d’Al­bon sprang auf ein Pferd und ga­lop­pier­te nach der al­ten Ab­tei. Als er an­kam, be­merk­te er vor dem Git­ter einen großen ha­ge­ren Mann mit ein­neh­men­dem Ge­sicht, der be­ja­hend ant­wor­te­te, als der Rat ihn frag­te, ob er die­ses zer­stör­te Haus be­woh­ne. Herr d’Al­bon teil­te ihm den Grund sei­nes Be­su­ches mit.

»Wie, mein Herr,« rief der Un­be­kann­te, »soll­ten Sie es ge­we­sen sein, der den ver­häng­nis­vol­len Flin­ten­schuß hat los­ge­hen las­sen? Sie hät­ten bei­na­he mei­ne arme Kran­ke ge­tö­tet.«

»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft ge­schos­sen.«

»Sie hät­ten der Frau Grä­fin we­ni­ger Leid an­ge­tan, wenn Sie sie ge­trof­fen hät­ten.«

»Nun, wir ha­ben uns nichts vor­zu­wer­fen; denn der An­blick Ih­rer Grä­fin hat mei­nen Freund, Herrn de Sucy, bei­na­he ge­tö­tet.«

»Soll­te das der Baron Phil­ipp de Sucy sein?« rief der Un­be­kann­te und preß­te die Hän­de zu­sam­men. »War er in Ruß­land bei dem Über­gang über die Be­re­si­na?«

»Ja­wohl,« er­wi­der­te d’Al­bon; »er wur­de von den Ko­sa­ken ge­fan­gen und nach Si­bi­ri­en ge­bracht, von wo er erst vor etwa elf Mo­na­ten zu­rück­ge­kehrt ist.«

»Kom­men Sie her­ein, mein Herr«, sag­te der Un­be­kann­te und führ­te den Rat in einen im Erd­ge­schoß der Woh­nung be­le­ge­nen Sa­lon, wo al­les die Zei­chen ei­ner lau­nen­haf­ten Zer­stö­rung zeig­te.

Kost­ba­re Por­zel­lan­va­sen stan­den zer­bro­chen ne­ben ei­ner Ka­min­uhr, de­ren Ge­häu­se un­be­rührt war. Die sei­de­nen, an den Fens­tern an­ge­brach­ten Vor­hän­ge wa­ren zer­ris­sen, wäh­rend der dop­pel­te Mus­selin­vor­hang un­be­rührt war.

»Sie se­hen«, sag­te er beim Ein­tre­ten zu Herrn d’Al­bon, »die Zer­stö­run­gen, die das ent­zücken­de We­sen, dem ich mich ge­wid­met habe, ver­übt hat. Sie ist mei­ne Nich­te; trotz der Ohn­macht mei­ner Kunst hof­fe ich, ihr ei­nes Ta­ges den Ver­stand wie­der­ge­ben zu kön­nen, in­dem ich eine Kur an­wen­de, die un­glück­li­cher­wei­se nur den Rei­chen ge­stat­tet ist.« Dann er­zähl­te er, wie alle Per­so­nen, die ein­sam le­ben und im­mer wie­der an ih­rem Schmer­ze zeh­ren, dem Rat ein­ge­hend das nach­fol­gen­de Aben­teu­er, des­sen Dar­stel­lung hier zu­sam­men­ge­faßt und von zahl­rei­chen Ab­schwei­fun­gen, die der Er­zäh­ler und der Rat mach­ten, be­freit ist.

»Als er ge­gen neun Uhr abends die Hö­hen von Stud­zi­an­ka ver­ließ, die er am 28. No­vem­ber 1812 wäh­rend des gan­zen Ta­ges ver­tei­digt hat­te, ließ der Mar­schall Vic­tor hier etwa tau­send Mann zu­rück mit dem Be­fehl, bis zum letz­ten Au­gen­blick die­je­ni­ge der bei­den Brücken über die Be­re­si­na zu de­cken, die noch stand­hielt. Die­se Nach­hut hat­te sich auf­ge­op­fert, um zu ver­su­chen, eine furcht­ba­re Men­ge von vor Frost er­starr­ten Nach­züg­lern zu ret­ten, die sich hart­nä­ckig wei­ger­ten, den Train der Ar­mee im Stich zu las­sen. Der He­ro­is­mus die­ser edel­mü­ti­gen Trup­pe soll­te ver­geb­lich sein. Die Sol­da­ten, die in Mas­sen den Ufern der Be­re­si­na zu­ström­ten, fan­den hier un­glück­li­cher­wei­se eine Rie­sen­men­ge von Wa­gen, Kas­ten und Mö­bel­stücken je­der Art vor, die die Ar­mee ge­nö­tigt war, im Sti­che zu las­sen, als sie wäh­rend des 27. und 28. No­vem­ber ih­ren Marsch aus­führ­te. Als Er­ben un­er­war­te­ter Reich­tü­mer brach­ten sich die­se von der Käl­te er­starr­ten Un­glück­li­chen in den lee­ren Zel­ten un­ter, zer­bra­chen das dem Heer ge­hö­ri­ge Ma­te­ri­al, um sich Hüt­ten dar­aus zu bau­en, mach­ten Feu­er an mit al­lem, was ih­nen in die Hän­de fiel, zer­leg­ten die Pfer­de­kör­per, um sich zu er­näh­ren, zer­ris­sen das Tuch und den Stoff der Wa­gen, um sich zu be­de­cken, und schlie­fen dann, an­statt ih­ren Marsch fort­zu­set­zen und in Ruhe wäh­rend der Nacht die Be­re­si­na zu über­schrei­ten, die ein un­glaub­li­ches Ver­häng­nis der Ar­mee schon so ver­derb­lich ge­macht hat­te. Die Wil­len­lo­sig­keit die­ser ar­men Sol­da­ten kann nur von de­nen be­grif­fen wer­den, die sich er­in­nern wer­den, wie sie die­se rie­si­gen Schnee­wüs­ten durch­wan­dert ha­ben, ohne an­de­res Ge­tränk als Schnee, ohne ein an­de­res Bett als Schnee, ohne einen an­dern Aus­blick als auf einen Ho­ri­zont von Schnee, ohne eine an­de­re Nah­rung als Schnee oder ei­ni­ge er­fro­re­ne Rü­ben und et­li­che Hand­voll Mehl oder Pfer­de­fleisch. Halb­tot vor Hun­ger, Durst, Mü­dig­keit und Schlaf­sucht, lang­ten die Un­glück­li­chen an ei­nem Ufer an, wo sie Holz, Feu­er, Le­bens­mit­tel, un­zäh­li­ge ver­las­se­ne Fuhr­wer­ke und Zel­te vor­fan­den, kurz eine gan­ze im­pro­vi­sier­te Stadt. Das Dorf Stud­zi­an­ka war völ­lig zer­legt, ver­teilt und von den Hö­hen in die Ebe­ne hin­ab­ge­bracht wor­den. Wie kläg­lich und ge­fähr­lich die­se Stadt war, ihr Elend und ihr Jam­mer lach­ten die Leu­te an, die nur die schreck­li­chen Wüs­ten Ruß­lands vor sich sa­hen. Es war nur ein un­ge­heu­res Kran­ken­haus, dem kei­ne zwan­zig Stun­den Exis­tenz be­schie­den wa­ren. Die Mat­tig­keit ih­rer Le­bens­kräf­te oder das Ge­fühl ei­nes un­er­war­te­ten Wohl­be­ha­gens ließ in die­ser Men­schen­mas­se kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken auf­kom­men als den der Ruhe. Ob­gleich die Ar­til­le­rie des lin­ken rus­si­schen Flü­gels ohne Un­ter­laß auf die­se Men­ge schoß, die sich als ein großer, bald dunk­ler, bald flam­men­der Fleck mit­ten auf dem Schnee ab­zeich­ne­te, war der un­er­müd­li­che Ku­gel­re­gen für die er­starr­te Mas­se nur eine Unan­nehm­lich­keit mehr. Es war wie ein Un­wet­ter, des­sen Blit­ze von al­ler Welt ge­ring ge­schätzt wur­den, weil sie hier oder dort nur auf Ster­ben­de, Kran­ke oder viel­leicht schon Tote tra­fen. Je­den Au­gen­blick tra­fen Nach­züg­ler in Grup­pen ein. Die­se Ar­ten wan­deln­der Ka­da­ver ver­teil­ten sich so­gleich und bet­tel­ten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meis­tens zu­rück­ge­trie­ben, ver­ei­nig­ten sie sich von neu­em, um mit Ge­walt die ver­wei­ger­te Gast­freund­schaft zu er­zwin­gen. Taub ge­gen die Stim­men et­li­cher Of­fi­zie­re, die ih­nen den Tod für den nächs­ten Tag vor­aus­sag­ten, ver­brauch­ten sie das für das Über­schrei­ten des Flus­ses er­for­der­li­che Quan­tum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht her­zu­stel­len und eine häu­fig ver­häng­nis­vol­le Mahl­zeit zu sich zu neh­men; der Tod, der sie er­war­te­te, schi­en ih­nen kein Un­glück mehr zu sein, da er ih­nen eine Stun­de Schlaf ver­gönn­te. Mit ›Un­glück‹ be­zeich­ne­ten sie nur den Hun­ger, den Durst, die Käl­te. Wenn sie kein Holz, kein Feu­er, kei­ne Klei­dung, kein Ob­dach fan­den, ent­span­nen sich fürch­ter­li­che Kämp­fe zwi­schen de­nen, die von al­lem ent­blö­ßt hin­zu­ka­men, und den Rei­chen, die eine Woh­nung be­sa­ßen. Die Schwä­che­ren un­ter­la­gen da­bei. Schließ­lich trat der Mo­ment ein, wo et­li­che von den Rus­sen Ver­jag­te nur noch Schnee als La­ger hat­ten und sich dar­auf nie­der­leg­ten, um sich nicht wie­der zu er­he­ben. Un­merk­lich schloß sich die­se Men­ge fast leb­lo­ser We­sen so fest zu­sam­men, wur­de so taub, so stumpf oder viel­leicht auch so glück­se­lig, daß der Mar­schall Vic­tor, ihr hel­den­mü­ti­ger Ver­tei­di­ger, der zwan­zig­tau­send von Witt­gen­stein be­feh­lig­ten Rus­sen Wi­der­stand ge­leis­tet hat­te, ge­nö­tigt war, sich mit schnel­ler Ge­walt einen Weg durch die­sen Wald von Men­schen zu bah­nen, um mit fünf­tau­send Tap­fe­ren, die er dem Kai­ser zu­führ­te, über die Be­re­si­na zu set­zen. Die­se Un­glück­li­chen lie­ßen sich lie­ber tottre­ten als sich zu rüh­ren, und gin­gen still­schwei­gend zu­grun­de, in­dem sie ih­ren er­lo­sche­nen Feu­ern zu­lä­chel­ten, ohne Frank­reichs zu ge­den­ken.

Erst um zehn Uhr abends be­fand sich der Her­zog von Bel­lu­ne am an­dern Ufer des Flus­ses. Be­vor er sich auf die Brücken be­gab, die nach Zem­bin führ­ten, ver­trau­te er das Schick­sal der Nach­hut von Stud­zi­an­ka Eblé an, dem Ret­ter al­ler de­rer, die das Un­glück der Be­re­si­na über­leb­ten. Es war un­ge­fähr ge­gen Mit­ter­nacht, als die­ser große Ge­ne­ral in Beglei­tung ei­nes tap­fe­ren Of­fi­ziers die klei­ne Hüt­te ver­ließ, die er nahe bei der Brücke be­wohn­te, und sich an­schick­te, das Schau­spiel zu be­trach­ten, wel­ches das La­ger zwi­schen dem Ufer der Be­re­si­na und dem Wege von Bo­ri­zof nach Stud­zi­an­ka bot. Die rus­si­sche Ar­til­le­rie hat­te auf­ge­hört zu feu­ern; die un­zäh­li­gen Feu­er in­mit­ten die­ser Schnee­mas­sen, die her­ab­ge­brannt wa­ren und kein Licht mehr zu ver­brei­ten schie­nen, be­leuch­te­ten hier und da Ge­sich­ter, die nichts Men­sch­li­ches mehr an sich hat­ten. Un­ge­fähr drei­ßig­tau­send Un­glück­li­che, zu al­len Na­tio­nen ge­hö­rig, die Na­po­le­on nach Ruß­land ge­wor­fen hat­te, wa­ren hier zu­sam­men und kämpf­ten mit bru­ta­ler Un­be­küm­mert­heit um ihr Le­ben.

›Ret­ten wir die­se al­le‹, sag­te der Ge­ne­ral zu dem Of­fi­zier. ›Mor­gen früh wer­den die Rus­sen Her­ren von Stud­zi­an­ka sein. Man muß also die Brücke nie­der­bren­nen im Au­gen­blick, wo die Rus­sen er­schei­nen wer­den; also Mut, mein Freund! Schla­ge dich durch bis zur Höhe. Sag dem Ge­ne­ral Four­nier, daß er kaum Zeit ha­ben wird, sei­ne Stel­lung auf­zu­ge­ben, die­se gan­ze Ge­sell­schaft zu durch­bre­chen und die Brücke zu pas­sie­ren. So­bald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm fol­gen. Mit Hil­fe ei­ni­ger kräf­ti­ger Leu­te wirst du mit­leid­los die La­ger, die Equi­pa­gen, die Kas­ten, die Wa­gen, al­les nie­der­bren­nen! Trei­be die gan­ze Ge­sell­schaft über die Brücke; zwin­ge al­les, was zwei Bei­ne hat, auf das an­de­re Ufer zu flüch­ten. Das Nie­der­bren­nen ist jetzt un­se­re letz­te Ret­tung. Hät­te Bert­hier mich die­se ver­damm­ten Equi­pa­gen ver­nich­ten las­sen, wür­de der Fluß nie­man­den fort­ge­schwemmt ha­ben als mei­ne ar­men Pio­nie­re, die fünf­zig Hel­den, die die ar­men ge­ret­tet ha­ben und die man ver­ges­sen wird!‹

Der Ge­ne­ral führ­te die Hand an sei­ne Stirn und ver­weil­te schwei­gend. Er hat­te die Emp­fin­dung, daß Po­len sein Grab sein wür­de, und daß kei­ne Stim­me sich zu­guns­ten die­ser edel­mü­ti­gen Män­ner er­he­ben wür­de, die sich im Was­ser hiel­ten, im Was­ser der Be­re­si­na!, um die Brücken­pfäh­le festz­u­ma­chen. Ein ein­zi­ger von ih­nen lebt, oder kor­rek­ter ge­sagt, lei­det heu­te noch in ei­nem Dor­fe, ein Un­be­kann­ter! Der Ad­ju­tant ent­fern­te sich. Kaum hat­te die­ser edel­mü­ti­ge Of­fi­zier hun­dert Schrit­te nach Stud­zi­an­ka hin ge­macht, als der Ge­ne­ral Eblé meh­re­re sei­ner lei­den­den Pio­nie­re auf­weck­te und sein Ret­tungs­werk be­gann, in­dem er die Zel­te, die um die Brücke her­um er­rich­tet wa­ren, an­zün­de­te und so die Schlä­fer, die ihn um­ga­ben, die Be­re­si­na zu über­schrei­ten zwang. In­zwi­schen war der jun­ge Ad­ju­tant nicht ohne Mühe bei dem ein­zi­gen Holz­hau­se an­ge­langt, das noch in Stud­zi­an­ka auf­recht stand.

›Ist denn die­se Ba­ra­cke sehr voll, Ka­me­rad?‹ sag­te er zu ei­nem Man­ne, den er drau­ßen be­merk­te.

›Wenn Sie her­ein­kom­men, wer­den Sie ein ge­schick­ter al­ter Sol­dat sein,‹ er­wi­der­te der Of­fi­zier, ohne sich um­zu­wen­den und ohne auf­zu­hö­ren, mit sei­nem Sä­bel das Holz des Hau­ses zu zer­stö­ren.

›Sind Sie es, Phil­ipp?‹ sag­te der Ad­ju­tant, der am Klan­ge der Stim­me einen sei­ner Freun­de er­kann­te. ›Ja­wohl. Ach, du bist es, mein Al­ter!‹ ent­geg­ne­te Herr de Sucy und be­trach­te­te den Ad­ju­tan­ten, der, wie er, erst drei­und­zwan­zig Jah­re alt war. ›Ich glaub­te dich auf der an­de­ren Sei­te die­ses ver­damm­ten Flus­ses. Bringst du uns Ku­chen und Kon­fekt zu un­se­rem Des­sert? Du wirst schön emp­fan­gen wer­den,‹ füg­te er hin­zu, in­dem er mit dem Los­schä­len der Holz­rin­de be­schäf­tigt war, die er nach länd­li­cher Wei­se sei­nem Pfer­de als Fut­ter reich­te. ›Ich su­che Ihren Kom­man­dan­ten, um ihn im Na­men des Ge­ne­rals Eblé auf­zu­for­dern, nach Zem­bin zu ei­len. Sie wer­den kaum Zeit ha­ben, durch die­se Mas­se von Ka­da­vern hin­durch­zu­kom­men, die ich gleich in Brand set­zen wer­de, um ih­nen Bei­ne zu ma­chen.‹

›Du machst mir ja förm­lich warm! Dei­ne Neu­ig­keit bringt mich in Schweiß. Ich habe zwei Freun­de zu ret­ten! Ach, ohne die­se bei­den Schütz­lin­ge wäre ich schon tot! Ihret­we­gen sor­ge ich für mein Pferd und esse selbst nicht mehr. Um Him­mels­wil­len hast du nicht ir­gend­ein Stück­chen Brot? Es sind jetzt drei­ßig Stun­den her, daß ich nichts in den Ma­gen be­kom­men habe, und ich habe wie ein Wahn­sin­ni­ger ge­kämpft, um mir das biß­chen Wär­me und Mut zu er­hal­ten, das ich noch be­sit­ze.‹

›Ar­mer Phil­ipp! Nichts, nichts. Ver­su­che nicht, hier hin­ein­zu­kom­men! In die­ser Scheu­ne lie­gen un­se­re Ver­wun­de­ten. Stei­ge noch hö­her! Du wirst dann zu dei­ner Rech­ten eine Art von Schwei­ne­ko­ben fin­den: da ist der Ge­ne­ral! Leb wohl, mein Tap­fe­rer. Wenn wir je­mals wie­der auf ei­nem Pa­ri­ser Par­kett Qua­dril­le tan­zen …‹

Er vollen­de­te den Satz nicht: der Sturm weh­te in die­sem Mo­ment so tückisch, daß der Ad­ju­tant los­mar­schier­te, um nicht zu er­frie­ren, und die Lip­pen des Ma­jors Phil­ipp er­starr­ten. Bald herrsch­te völ­li­ges Schwei­gen. Es wur­de nur von Seuf­zern un­ter­bro­chen, die aus dem Hau­se dran­gen, und durch das dump­fe Geräusch, das das Pferd des Herrn de Sucy mach­te, das vor Hun­ger und Wut die er­fro­re­ne Rin­de kau­te, aus der das Haus er­baut war. Der Ma­jor steck­te sei­nen Sä­bel in die Schei­de, nahm das kost­ba­re Tier, das er zu be­wah­ren ver­stan­den hat­te, jäh beim Zü­gel und riß es, trotz sei­nes Wi­der­stan­des, von der un­heil­vol­len Nah­rung zu­rück, nach der es so gie­rig war.

›Vor­wärts, Bi­chet­te, vor­wärts! Du al­lein kannst Ste­pha­nie ret­ten. War­te nur, spä­ter, da wer­den wir uns aus­ru­hen und si­cher ster­ben kön­nen.‹

Phil­ipp, in einen Pelz gehüllt, dem er sei­ne Er­hal­tung und sei­ne Ener­gie ver­dank­te, fing an zu lau­fen, in­dem er mit den Fü­ßen scharf auf den ge­fro­re­nen Schnee trat, um sich warm zu er­hal­ten. Kaum hat­te der Ma­jor fünf­hun­dert Schritt ge­macht, als er ein tüch­ti­ges Feu­er an dem Plat­ze wahr­nahm, wo er seit heu­te mor­gen sei­nen Wa­gen un­ter der Ob­hut ei­nes al­ten Sol­da­ten ge­las­sen hat­te. Eine furcht­ba­re Un­ru­he be­mäch­tig­te sich sei­ner. Wie alle die, wel­che wäh­rend die­ser Flucht von ei­ner mäch­ti­gen Emp­fin­dung be­herrscht wur­den, ver­spür­te er, um sei­nen Freun­den zu hel­fen, Kräf­te in sich, die er zu sei­ner ei­ge­nen Ret­tung nicht auf­ge­bracht hät­te. Bald be­fand er sich we­ni­ge Schritt von ei­ner Ter­rain­fal­te ent­fernt, in der er, vor den Ku­geln ge­bor­gen, eine jun­ge Frau un­ter­ge­bracht hat­te, sei­ne Ju­gend­ge­fähr­tin und sei­nen teu­ers­ten Schatz!

Et­li­che Schrit­te vom Wa­gen hat­ten sich etwa drei­ßig Nach­züg­ler vor ei­nem rie­si­gen Feu­er zu­sam­men­ge­fun­den, das sie mit hin­ein­ge­wor­fe­nen Bret­tern, mit den Ober­tei­len von Kas­ten, mit Rä­dern und Wa­gen­wän­den un­ter­hiel­ten. Die­se Sol­da­ten wa­ren je­den­falls die letz­ten al­ler Her­bei­ge­kom­me­nen, die von dem Ein­schnitt zwi­schen dem Ter­rain von Stud­zi­an­ka bis zu dem ver­häng­nis­vol­len Flus­se einen Ozean von Köp­fen, Feu­ern und Ba­ra­cken bil­de­ten, ein le­ben­des, von fast un­merk­li­chen Wo­gen be­weg­tes Meer, aus dem ein dump­fes, manch­mal von schreck­li­chem Lärm un­ter­bro­che­nes Geräusch em­por­drang. Von Hun­ger und Verzweif­lung ge­trie­ben, hat­ten die­se Un­glück­se­li­gen sich wahr­schein­lich zu dem Wa­gen hin­ge­drängt. Der alte Ge­ne­ral und die jun­ge Frau, die hier auf Fet­zen, in Män­tel und Pel­ze ge­wi­ckelt la­gen, wa­ren in die­sem Mo­ment vor dem Feu­er nie­der­ge­kniet. Der eine Wa­gen­vor­hang war zer­ris­sen. So­bald die um das Feu­er ge­la­ger­ten Män­ner die Trit­te des Pfer­des und des Ma­jors hör­ten, er­ho­ben sie einen Schrei wü­ten­den Hun­gers.

»Ein Pferd, ein Pferd!«

Al­les ver­ei­nig­te sich zu ei­nem ein­zi­gen Ruf.

›Zu­rück! Neh­men Sie sich in acht!‹ rie­fen zwei bis drei Sol­da­ten und mach­ten sich an das Pferd.

Phil­ipp stell­te sich vor sein Tier und sag­te: ›Schuf­te! Ich sto­ße euch alle in euer Feu­er. Da oben gib­t’s ge­nug tote Pfer­de! Holt sie euch.‹

›Ist das ein Spaß­vo­gel, die­ser Of­fi­zier! Eins, zwei, willst du dich weh­ren?‹ ent­geg­ne­te ein rie­si­ger Gre­na­dier. ›Na, gut, wie du willst!‹

Der Schrei ei­ner Frau lenk­te den Schuß ab. Phil­ipp wur­de glück­li­cher­wei­se nicht ge­trof­fen; aber Bi­chet­te, die zu­sam­men­ge­bro­chen war, kämpf­te mit dem Tode; drei Män­ner stürz­ten sich auf sie und ga­ben ihr mit Ba­jo­nett­stö­ßen den Rest.

›Kan­ni­ba­len! Laßt mich we­nigs­tens die De­cke und mei­ne Pis­to­len neh­men,‹ sag­te Phil­ipp ver­zwei­felt. ›Die Pis­to­len, ja‹, er­wi­der­te der Gre­na­dier. ›A­ber was die De­cke an­langt, da ist ein In­fan­te­rist, der seit zwei Ta­gen ›nichts auf sei­ner La­ter­ne‹ hat, und der in sei­nem elen­den Jam­mer­rock zit­tert. Das ist un­ser Ge­ne­ral …‹

Phil­ipp schwieg, als er einen Mann sah, des­sen Schuh­zeug ver­braucht, des­sen Hose an zehn Stel­len durch­lö­chert war, und der auf dem Kop­fe eine schlech­te, mit Eis be­deck­te Po­li­zei­müt­ze trug. Er be­eil­te sich, sei­ne Pis­to­len an sich zu neh­men. Fünf Män­ner zo­gen das Tier vor das Feu­er und be­gan­nen, es mit sol­cher Ge­schick­lich­keit zu zer­le­gen, wie es Flei­scher­ge­sel­len in Pa­ris hät­ten ma­chen kön­nen. Mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Kunst wur­den die Stücke ab­ge­löst und auf Koh­len ge­legt. Der Ma­jor stell­te sich ne­ben die Frau, die einen Schrei des Ent­set­zens aus­ge­sto­ßen hat­te, als sie ihn wie­der­er­kann­te; er sah sie un­be­weg­lich auf ei­nem Wa­gen­kis­sen sit­zend und sich wär­me­nd; sie be­trach­te­te ihn still­schwei­gend, ohne ihm zu­zu­lä­cheln. Phil­ipp sah jetzt ne­ben ihr den Sol­da­ten, dem er die Ver­tei­di­gung des Wa­gens an­ver­traut hat­te; der arme Mensch war ver­wun­det wor­den. Über­wäl­tigt von der Men­ge, war er eben den Nach­züg­lern ge­wi­chen, die ihn an­ge­grif­fen hat­ten; aber wie ein Hund, der bis zum letz­ten Au­gen­blick das Es­sen sei­nes Herrn ver­tei­digt hat, hat­te er sich sei­nen Teil an der Beu­te ge­nom­men und sich aus ei­nem wei­ßen Tuch eine Art Man­tel ge­macht. Jetzt war er da­mit be­schäf­tigt, ein Stück Pfer­de­fleisch um­zu­dre­hen, und der Ma­jor nahm auf sei­nem Ge­sich­te die Freu­de wahr, die ihm die Zu­rüs­tun­gen zu dem Fes­tes­sen ver­ur­sach­ten. Der Graf von Van­dières, seit drei Ta­gen in eine Art kin­di­schen Zu­stan­des ver­fal­len, blieb auf sei­nem Kis­sen ne­ben sei­ner Frau sit­zen und be­trach­te­te mit un­be­weg­li­chen Au­gen die Flam­men, de­ren Wär­me an­fing, sei­ne Er­star­rung zu mil­dern. Er war von der Ge­fahr und der An­kunft Phil­ipps nicht mehr er­regt wor­den, als von dem Kampf, bei dem sein Wa­gen ge­plün­dert wor­den war. Sucy er­griff zu­erst die Hand der jun­gen Grä­fin, um ihr ein Zei­chen sei­ner Hin­ga­be aus­zu­drücken und ihr den Schmerz dar­über kund­zu­ge­ben, daß sie so ins letz­te Elend ge­ra­ten war; aber er blieb stumm ne­ben ihr auf ei­nem Schnee­h­au­fen, der sich in Was­ser auf­lös­te, sit­zen und gab selbst dem Wohl­ge­fühl, sich zu er­wär­men, nach, die Ge­fahr und al­les an­de­re ver­ges­send. Sein Ge­sicht nahm ge­gen sei­ne Ab­sicht einen bei­na­he stumpf­sin­ni­gen Aus­druck von Freu­de an, und er war­te­te un­ge­dul­dig auf den Au­gen­blick, wo das sei­nen Sol­da­ten ge­ge­be­ne Stück Pfer­de­fleisch ge­bra­ten war. Der Ge­ruch die­ses ver­kohl­ten Flei­sches reiz­te sei­nen Hun­ger, und sein Hun­ger ließ sein Her­zens­emp­fin­den, sei­nen Mut und sei­ne Lie­be schwei­gen. Ohne Zorn be­trach­te­te er die Er­geb­nis­se der Plün­de­rung sei­nes Wa­gens. Alle Leu­te, die das Feu­er um­ga­ben, hat­ten sich in die De­cken, die Kis­sen, die Pel­ze, die männ­li­chen und weib­li­chen Klei­dungs­stücke des Gra­fen und der Grä­fin ge­teilt. Phil­ipp wand­te sich um, weil er se­hen woll­te, ob man noch Nut­zen aus sei­ner Kas­se zie­hen konn­te. Beim Lich­te der Flam­men be­merk­te er Gold, Dia­man­ten und Sil­ber­zeug zer­streut, ohne daß je­mand dar­an dach­te, sich auch nur das ge­rings­te Stück da­von an­zu­eig­nen. Je­des der In­di­vi­du­en, die der Zu­fall um das Feu­er zu­sam­men­ge­bracht hat­te, be­wahr­te ein Still­schwei­gen, das et­was Fürch­ter­li­ches an sich hat­te, und tat nichts wei­ter, als was er für sein Wohl­be­fin­den für not­wen­dig er­ach­te­te. Die­ses Elend hat­te et­was Gro­tes­kes. Die von der Käl­te ver­än­der­ten Ge­sich­ter wa­ren mit ei­nem Über­zug von Schmutz be­deckt, auf dem sich die Trä­nen­spu­ren von den Au­gen bis zum un­te­ren Teil der Wan­gen mit ei­ner Fur­che ab­zeich­ne­ten, die die Di­cke die­ser Krus­te an­zeig­te. Die Unsau­ber­keit ih­rer lan­gen Bär­te mach­te die Sol­da­ten noch ab­scheu­li­cher. Die einen wa­ren in Wei­ber­schals ge­wi­ckelt; die an­de­ren tru­gen Pfer­de­scha­bra­cken, schmut­zi­ge De­cken und Lum­pen, be­deckt mit Reif, der an­fing zu zer­schmel­zen; ei­ni­ge hat­ten einen Fuß in ei­nem Schuh, den an­dern in ei­nem Stie­fel; schließ­lich gab es nie­man­den, des­sen Klei­dung nicht ir­gend­ei­ne lä­cher­li­che Be­son­der­heit auf­wies. In­mit­ten die­ser ko­mi­schen Um­hül­lung ver­harr­ten die Män­ner ernst und düs­ter. Das Schwei­gen wur­de nur von dem Kra­chen des Hol­zes un­ter­bro­chen, von dem Fla­ckern der Flam­me, von dem fer­nen Geräusch des Fel­des und von den Sä­bel­hie­ben, die die Ver­hun­gerts­ten Bi­chet­te ver­setz­ten, um die bes­ten Stücke da­von ab­zu­rei­ßen. Ei­ni­ge Un­glück­li­che, mat­ter als die an­dern, schlie­fen be­reits, und wenn ei­ner von ih­nen ins Feu­er roll­te, zog ihn nie­mand zu­rück. Die­se stren­gen Lo­gi­ker dach­ten, daß, wenn er nicht tot war, das Ver­bren­nen ihn schon ver­an­las­sen wür­de, sich an einen ge­eig­ne­te­ren Ort hin­zu­le­gen. Wenn aber der Un­glück­li­che im Feu­er er­wach­te und um­kam, so be­klag­te ihn nie­mand. Et­li­che Sol­da­ten sa­hen ein­an­der an, wie um ihre ei­ge­ne Un­be­küm­mert­heit durch die Gleich­gül­tig­keit der an­de­ren ge­recht­fer­tigt zu se­hen. Die jun­ge Grä­fin hat­te zwei­mal einen sol­chen An­blick und blieb stumm. Als die ver­schie­de­nen Stücke, die man auf die Koh­len ge­legt hat­te, ge­bra­ten wa­ren, still­te je­der sei­nen Hun­ger mit der Freß­gier, die uns bei den Tie­ren so wi­der­wär­tig er­scheint.

»Das ist das ers­te­mal, daß man drei­ßig In­fan­te­ris­ten auf ei­nem Pfer­de ge­se­hen hat,« rief der Gre­na­dier, der das Tier ab­ge­sto­chen hat­te.

Das war der ein­zi­ge Scherz, der na­tio­na­len Witz be­zeug­te.

Bald roll­te sich die Mehr­zahl der ar­men Sol­da­ten in ihre Klei­der, leg­te sich auf Bret­ter, auf al­les, was sie vor der Berüh­rung mit dem Schnee schüt­zen konn­te, und schlief un­be­küm­mert bis zum nächs­ten Mor­gen. Als der Ma­jor sich er­wärmt und sei­nen Hun­ger ge­füllt hat­te, drück­te ihm ein un­be­zwing­li­ches Schlaf­be­dürf­nis auf die Wim­pern. Wäh­rend sei­nes ziem­lich kur­z­en Kamp­fes mit dem Schla­fe be­trach­te­te er die jun­ge Frau, die, mit dem Ge­sicht zum Feu­er ge­wen­det, um zu schla­fen, ihre ge­schlos­se­nen Au­gen und einen Teil ih­rer Stirn se­hen ließ; sie war in einen dich­ten Pelz und einen di­cken Dra­go­ner­man­tel ge­wi­ckelt; ihr Kopf lag auf ei­nem blut­be­fleck­ten Kopf­kis­sen; ihre, von ei­nem um den Hals ge­schlun­ge­nen Ta­schen­tuch fest­ge­hal­te­ne Astra­chan­müt­ze schütz­te ihr Ge­sicht so viel als mög­lich vor der Käl­te; die Füße hat­te sie in den Man­tel ver­steckt. So in sich selbst zu­sam­men­ge­rollt, glich sie in der Tat nichts Men­sch­li­chem. War sie die letz­te Mar­ke­ten­de­rin? War sie die ent­zücken­de Frau, der Stolz ei­nes Lieb­ha­bers, die Kö­ni­gin der Pa­ri­ser Bäl­le? Ach! Selbst das Auge ih­res hin­ge­bends­ten Freun­des konn­te nichts Weib­li­ches mehr in die­sem Hau­fen von Wä­sche und Lum­pen er­ken­nen. Der Käl­te war die Lie­be im Her­zen ei­ner Frau ge­wi­chen. Durch die dich­ten Schlei­er, die der un­wi­der­steh­lichs­te Schlaf über die Au­gen des Ma­jors brei­te­te, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punk­te. Die Flam­men des Feu­ers, die Ge­sich­ter über­all, die schreck­li­che Käl­te, die, drei Schrit­te von der flüch­ti­gen Wär­me ent­fernt, sich durch­boh­rend gel­tend mach­te, al­les floß in einen Traum zu­sam­men. Ein pein­li­cher Ge­dan­ke er­schreck­te Phil­ipp. »Wir wer­den alle ster­ben, wenn ich ein­schla­fe; ich will nicht schla­fen,« sag­te er sich. Aber er schlief. Ein schreck­li­cher Lärm und eine Ex­plo­si­on er­weck­ten Herrn de Sucy nach ei­ner Stun­de Schlaf. Das Ge­fühl, sei­ne Pf­licht tun zu müs­sen, die Ge­fahr sei­ner Freun­de fie­len ihm plötz­lich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähn­lich ei­nem Ge­heul aus. Er und sein Sol­dat stan­den al­lein auf­recht. Sie er­blick­ten ein Feu­er­meer vor sich, das im Schat­ten der Nacht vor ih­nen eine Mas­se Men­schen ab­schnitt, in­dem es die Hüt­ten und Zel­te ver­zehr­te; sie hör­ten Verzweif­lungs­schreie und Ge­heul; sie sa­hen Tau­sen­de von ent­setz­ten Ge­sich­tern und wü­ten­den Köp­fen. In­mit­ten die­ser Höl­le bahn­te sich eine Ko­lon­ne von Sol­da­ten einen Weg nach der Brücke zu zwi­schen zwei Rei­hen von Ka­da­vern hin­durch.

»Das ist der Rück­zug uns­res Nachtrabs!« rief der Ma­jor. »Kei­ne Hoff­nung mehr!«

»Ich habe Ihren Wa­gen ge­schont, Phil­ipp,« sag­te eine Freun­des­s­tim­me.

Als er sich um­wand­te, er­kann­te Sucy beim Licht der Flam­men den jun­gen Ad­ju­tan­ten.

»Ach, es ist al­les ver­lo­ren!« er­wi­der­te der Ma­jor. »Sie ha­ben mein Pferd ver­zehrt. Und wie soll ich auch den stumpf­sin­ni­gen Ge­ne­ral und sei­ne Frau auf den Weg brin­gen?«

»Neh­men Sie einen Feu­er­brand und dro­hen Sie ih­nen.«

»Soll ich die Grä­fin be­dro­hen?«

»Adieu!« rief der Ad­ju­tant. »Ich habe ge­ra­de nur noch Zeit, die­sen fa­ta­len Fluß zu über­schrei­ten, und das muß ge­sche­hen. Ich habe eine Mut­ter in Frank­reich. Was für eine Nacht! Die­se Mas­se hier will lie­ber auf dem Schnee blei­ben, und die Mehr­zahl die­ser Un­glück­li­chen will sich lie­ber ver­bren­nen las­sen als sich er­he­ben. Es ist vier Uhr, Phil­ipp! In zwei Stun­den wer­den die Rus­sen an­fan­gen sich zu rüh­ren. Ich ver­si­che­re Ih­nen, daß Sie die Be­re­si­na bald vol­ler Leich­na­me se­hen wer­den. Den­ken Sie an sich, Phil­ipp! Sie ha­ben kei­ne Pfer­de, Sie kön­nen die Grä­fin nicht tra­gen; also vor­wärts, kom­men Sie mit mir,« sag­te er und faß­te ihn am Arme.

»Aber, lie­ber Freund, wie soll ich Ste­pha­nie ver­las­sen!«

Der Ma­jor er­griff die Grä­fin, stell­te sie auf die Bei­ne, schüt­tel­te sie mit der Rau­heit ei­nes Verzwei­fel­ten und zwang sie, auf­zu­wa­chen; sie sah ihn mit to­tem, star­rem Bli­cke an.

›Wir müs­sen vor­wärts, Ste­pha­nie, oder wir ster­ben hier.‹

Als alle Ant­wort ver­such­te die Grä­fin, sich zur Erde glei­ten zu las­sen, um zu schla­fen. Der Ad­ju­tant er­griff einen Feu­er­brand und be­weg­te ihn vor dem Ge­sicht Ste­pha­nies hin und her.

›Ret­ten wir sie ge­gen ih­ren Wil­len!‹ rief Phil­ipp, hob die Grä­fin auf und trug sie in den Wa­gen.

Er kehr­te zu­rück und bat den Ad­ju­tan­ten um Hil­fe. Bei­de nah­men den al­ten Ge­ne­ral, ohne zu wis­sen, ob er tot oder le­ben­dig war, und leg­ten ihn ne­ben sei­ne Frau. Der Ma­jor stieß mit dem Fuße je­den ein­zel­nen der auf der Erde lie­gen­den Leu­te weg, nahm ih­nen ab, was sie ge­raubt hat­ten, häuf­te alle Klei­der auf die bei­den Gat­ten und warf in eine Ecke des Wa­gens et­li­che ge­bra­te­ne Stücke ih­res Pfer­des. ›Was wol­len Sie denn ma­chen?‹ frag­te ihn der Ad­ju­tant.

›Sie schlep­pen‹, sag­te der Ma­jor.

›Sie sind wohl toll!‹

›Das ist wahr!‹ rief Phil­ipp und kreuz­te die Arme über der Brust.

Plötz­lich schi­en er von ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken ge­packt zu sein.

›Du!‹, sag­te er und er­griff den ge­sun­den Arm sei­nes Sol­da­ten, ›ich ver­traue sie dir für eine Stun­de an! Den­ke dar­an, daß du eher ster­ben mußt, als, wer es auch sei, an den Wa­gen her­an­kom­men las­sen darfst.‹ Der Ma­jor be­mäch­tig­te sich der Dia­man­ten der Grä­fin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der an­dern den Sä­bel und be­gann wü­tend auf die Schlä­fer los­zu­schla­gen, die er für die un­er­schro­ckens­ten hielt, und es ge­lang ihm auch, den ko­los­sa­len Gre­na­dier und noch zwei an­de­re Män­ner, de­ren mi­li­tä­ri­scher Rang un­mög­lich zu er­ken­nen war, auf­zu­we­cken.

»Wir sind ver­lo­ren«, sag­te er zu ih­nen.

»Das weiß ich wohl,« ant­wor­te­te der Gre­na­dier, »aber das ist mir egal.«

»Nun also, so oder so tot, ist es nicht bes­ser, sein Le­ben für eine hüb­sche Frau zu ver­kau­fen, auf die Ge­fahr hin, Frank­reich noch ein­mal wie­der­zu­se­hen?«

»Ich will lie­ber schla­fen,« sag­te ei­ner von den Leu­ten und roll­te auf den Schnee, »und wenn du mich wei­ter be­läs­tigst, Ma­jor, wer­de ich dir mein Ba­jo­nett in die Wam­pe pflan­zen.«

»Worum han­delt es sich, Herr Ma­jor?«, frag­te der Gre­na­dier. »Der Kerl ist be­trun­ken! Das ist ein Pa­ri­ser; die wol­len es be­quem ha­ben.«

»Das hier ist für dich, mein bra­ver Kerl,« rief der Ma­jor und bot ihm einen Dia­man­ten­schmuck an, »wenn du mir fol­gen und wie ein Wil­der kämp­fen willst. Die Rus­sen wer­den in zehn Mi­nu­ten auf dem Mar­sche sein, sie sind be­rit­ten; wir wer­den auf ihre ers­te Bat­te­rie los­mar­schie­ren und zwei Pfer­de mit uns neh­men.«

»Aber die Schild­wa­chen, Herr Ma­jor?«

»Ei­ner von uns drei­en« , sag­te er zu dem Sol­da­ten. Er un­ter­brach sich und sah den Ad­ju­tan­ten an; »Sie kom­men mit uns, Hip­po­lyt, nicht wahr?«

Hip­po­lyt stimm­te mit ei­nem Kopf­ni­cken zu.

»Ei­ner von uns«, fuhr der Ma­jor fort, »wird die Schild­wa­che auf sich neh­men. Üb­ri­gens wer­den sie auch viel­leicht schla­fen, die­se ver­damm­ten Rus­sen.«

»Bist du wirk­lich so tap­fer, mein Ma­jor? Aber du wirst mich auch in dei­nem Wa­gen mit­neh­men?» sag­te der Gre­na­dier.

»Ja­wohl, wenn du dort oben nicht dein Fell op­fern mußt. Wenn ich fal­le, ver­sprecht mir, Hip­po­lyt und du, Gre­na­dier,» sag­te der Ma­jor und wand­te sich an sei­ne bei­den Ge­fähr­ten, ,»daß ihr euch für die Ret­tung der Grä­fin auf­op­fern wollt.»

»Ab­ge­macht«, rief der Gre­na­dier.

Sie wand­ten sich der Li­nie der Rus­sen zu, nach den Bat­te­ri­en hin, die so furcht­bar die Mas­se der Un­glück­li­chen zer­schmet­tert hat­ten, die am Ufer des Flus­ses la­gen. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke nach ih­rem Ver­schwin­den er­tön­te der Ga­lopp zwei­er Pfer­de auf dem Schnee, und die wach­ge­wor­de­ne Bat­te­rie sand­te ei­ni­ge Sal­ven hin­ter­her, die über die Häup­ter der Schlä­fer hin­weg­gin­gen; der Ga­lopp der Pfer­de war so über­stürzt, daß man von Schmied­häm­mern hät­te re­den mö­gen. Der edel­mü­ti­ge Ad­ju­tant war ge­fal­len. Der ath­le­ti­sche Gre­na­dier war heil und ge­sund ge­blie­ben. Phil­ipp hat­te bei der Ver­tei­di­gung sei­nes Freun­des einen Ba­jo­nett­stich in die Schul­ter er­hal­ten; trotz­dem klam­mer­te er sich an die Na­cken­haa­re des Pfer­des und preß­te es so fest mit sei­nen Bei­nen, daß das Tier sich wie in ei­nem Schraub­stock be­fand.

»Gott sei ge­lobt!« rief der Ma­jor, als er sei­nen Sol­da­ten un­be­weg­lich im Wa­gen an sei­nem Plat­ze vor­fand.

»Wenn Sie ge­recht sein wol­len, Herr Ma­jor, wer­den Sie mir das Kreuz ver­schaf­fen. Wir ha­ben hübsch mit dem Schieß­prü­gel und dem Stich­ge­wehr ge­spielt, was?«

»Wir ha­ben noch nichts ge­leis­tet. Jetzt müs­sen wir die Pfer­de an­span­nen. Neh­men Sie die Sei­le.«

»Es sind nicht ge­nug da­von vor­han­den.«

»Dann, Gre­na­dier, müs­sen Sie Hand an die Schlä­fer le­gen und ihre Um­hän­ge und ihre Wä­sche dazu neh­men …«

»Sieh mal an, er ist tot, die­ser Hans­wurst!« rief der Gre­na­dier, als er den ers­ten, an den er sich wand­te, um­dreh­te. »Ach, wie ko­misch, sie sind ja tot!«

»Alle?«

»Ja­wohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein un­ver­dau­li­ches Es­sen, wenn man es mit Schnee ge­nießt.« die­se Wor­te lie­ßen Phil­ipp er­zit­tern. Der Frost war noch stär­ker ge­wor­den.

»Mein Gott! Eine Frau ver­lie­ren, die ich schon zwan­zig­mal ge­ret­tet habe.«

Der Ma­jor schüt­tel­te die Grä­fin und rief: »Ste­pha­nie! Ste­pha­nie!«

Die jun­ge Frau öff­ne­te ihre Au­gen.

»Wir sind ge­ret­tet, Ma­da­me.«

»Ge­ret­tet!« wie­der­hol­te sie und fiel zu­rück.

Die Pfer­de wur­den, so gut es ging, an­ge­spannt. Mit sei­nem Sä­bel in der ge­sun­den Hand, die Zü­gel in der an­dern, be­stieg er, mit sei­nen Pis­to­len be­waff­net, das eine Pferd, wäh­rend der Gre­na­dier sich auf das an­de­re setz­te. Der alte Sol­dat, des­sen Füße er­fro­ren wa­ren, wur­de quer in den Wa­gen über den Ge­ne­ral und die Grä­fin ge­wor­fen. Durch Sä­bel­hie­be an­ge­sta­chelt, tru­gen die Pfer­de die Equi­pa­ge mit wü­ten­der Eile in die Ebe­ne hin­aus, wo un­zäh­li­ge Schwie­rig­kei­ten den Ma­jor er­war­te­ten. Bald war es un­mög­lich, vor­wärts zu kom­men, ohne zu ris­kie­ren, Män­ner, Frau­en und ein­ge­schla­fe­ne Kin­der tot­zu­fah­ren, die alle sich zu rüh­ren ver­wei­ger­ten, als der Gre­na­dier sie auf­weck­te. Ver­geb­lich such­te Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab in­zwi­schen sich mit­ten in die­ser Men­schen­mas­se ge­bahnt hat­te; er war ver­schwun­den wie das Kiel­was­ser des Schif­fes auf dem Mee­re; es ging nur im Schritt wei­ter, meist von den Sol­da­ten an­ge­hal­ten, die da­mit droh­ten, die Pfer­de zu tö­ten.

›Wol­len Sie wei­ter kom­men?‹ frag­te der Gre­na­dier.

›Um den Preis mei­nes Blu­tes, um den Preis der gan­zen Wel­t‹, er­wi­der­te der Ma­jor.

›Vor­wärts! Man macht kei­ne Ome­let­ten, ohne Eier zu zer­schla­gen.‹

Und der Gre­na­dier jag­te die Pfer­de auf die Men­schen los, ließ blu­ti­ge Ge­lei­se hin­ter sich, stürz­te die Zel­te um und bahn­te sich eine dop­pel­te Fur­che quer durch die­ses Feld von Köp­fen. Aber wir müs­sen ihm die Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen, daß er nie­mals un­ter­ließ, mit don­nern­der Stim­me zu ru­fen: ›Ach­tung, ihr Bies­ter!‹

›Die Un­glück­li­chen!‹ rief der Ma­jor.

›Bah! Ent­we­der der Frost oder die Ka­no­nen!‹ sag­te der Gre­na­dier, trieb die Pfer­de an und stach mit der Spit­ze sei­nes Sä­bels auf sie los.

Eine Ka­ta­stro­phe, die ih­nen sehr viel frü­her hät­te be­geg­nen und vor der bis da­hin ein fa­bel­haf­ter Zu­fall sie be­wahrt hat­te, hielt plötz­lich ih­ren Weg an. Der Wa­gen stürz­te um.

›Das dach­te ich mir!‹ rief der un­er­schüt­ter­li­che Gre­na­dier aus. ›Oh, oh! Der Ka­me­rad ist tot!‹

›Ar­mer Lau­rent!‹ sag­te der Ma­jor.

›Lau­rent? Ist er nicht von den fünf­ten Jä­gern?‹

›Ja­wohl.‹

›Das ist mein Vet­ter. Bah! Das Hun­de­le­ben ist nicht schön ge­nug, daß man es in der jet­zi­gen Zeit zu be­dau­ern hät­te.‹

Der Wa­gen wur­de nicht wie­der auf­ge­rich­tet, die Pfer­de nicht wie­der frei­ge­macht ohne einen un­end­li­chen, nicht wie­der gut zu ma­chen­den Zeit­ver­lust. Der Stoß war so hef­tig ge­we­sen, daß die jun­ge Grä­fin, die er­wacht und durch die Be­we­gung aus ih­rer Be­täu­bung auf­ge­rüt­telt wor­den war, die Klei­dungs­stücke ab­warf und sich er­hob.

»Wo sind wir denn, Phil­ipp?« rief sie mit sanf­ter Stim­me und sah um sich.

»Fünf­hun­dert Schritt von der Brücke ent­fernt. Wir wol­len über die Be­re­si­na. Jen­seits des Flus­ses, Ste­pha­nie, wer­de ich Sie nicht mehr quä­len, wer­de Sie schla­fen las­sen, wir wer­den in Si­cher­heit sein und in Ruhe Wil­na er­rei­chen. Gebe Gott, daß Sie nie­mals er­fah­ren, was Ihr Le­ben ge­kos­tet hat!«

»Du bist ver­wun­det?«

»Es be­deu­tet nichts.«