Hörigkeit des Herzens - Marie Louise Fischer - E-Book

Hörigkeit des Herzens E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Fabian Grundner ist ein begnadeter Schauspieler und ein unwiderstehlicher Frauenschwarm. Und Eva, Mitte zwanzig, liebt ihn blind und bedingungslos. Als Fabian eines Abends nach einer Premierenfeier betrunken einen Fußgänger anfährt und Fahrerflucht begeht, nimmt Eva die Schuld auf sich. Ganz anders als Fabian besucht sie das Unfallopfer, den sympathischen Titus, im Krankenhaus. Fabian hingegen schmeißt sich nicht nur an seine neue Regisseurin ran, von der er sich Aufwind für seine Filmkarriere verhofft, sondern nutzt Evas Zuneigung schamlos und egoistisch weiter aus. Doch eines kommt zum anderen, und schließlich begreift Eva, dass sie sich in Fabian getäuscht hat. Doch kommt diese Einsicht vielleicht zu spätMarie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Hörigkeit des Herzens

Roman

SAGA Egmont

Hörigkeit des Herzens

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1992 by Lübbe Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718902

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

»Bitte, laß mich fahren!« forderte sie und streckte ihm die Hand, Fläche nach oben, mit einer nahezu flehenden Bewegung entgegen.

Er hatte die Schlüssel gerade gezückt, und einen Augenblick sah es so aus, als wollte er sie in ihre Hand fallen lassen. »Nein«, sagte er dann, bückte sich und schloß auf.

Ihr schien es, als schwanke er leicht und geriete in Gefahr, sein Gleichgewicht zu verlieren. Sie zögerte immer noch einzusteigen, als er schon hinter dem Steuer saß. Deutlich waren die Zurufe der anderen zu hören, die um die Ecke am Olivaer Platz geparkt hatten, Lachen und das Zuschlagen von Wagentüren, unterlegt von dem anund abschwellenden Gebrause der Riesenstadt, die niemals, auch jetzt nicht, weit nach Mitternacht, völlig zum Schlafen kam. Der Himmel wölbte sich in einer Dunstglocke diffusen Lichts.

Er beugte sich über den Nebensitz und kurbelte das Fenster an ihrer Seite herunter. »Du brauchst nicht mitzufahren«, sagte er mit kühler Freundlichkeit.

Diese Feststellung alarmierte sie. Er hatte ja nur zu recht. Sie beeilte sich so sehr, neben ihm Platz zu nehmen, daß sie auf den ungewohnt hohen Absätzen ihrer Abendschuhe ins Stolpern geriet.

»Na also«, sagte er zufrieden.

Sie zog ihren Mantel eng an sich und knallte die Tür ins Schloß. Gleichzeitig verfluchte sie sich und ihre ewige Nachgiebigkeit. Warum konnte sie sich ihm gegenüber nie durchsetzen? Sie hätte nur den Kurfürstendamm überqueren müssen und wäre zu Fuß in weniger als zwanzig Minuten zu Hause gewesen.

Aber sie wußte auch, daß sie dazu die Kraft nicht aufbrachte. Sie hätte schlaflos im Bett gelegen und sich wieder und wieder gefragt, wieso sie ihn im Stich gelassen hätte. Nein, sie hatte sich nicht anders entscheiden können, auch wenn sie sich jetzt wie in der Falle fühlte. Der Motor sprang ohne Schwierigkeiten an. Fabian fuhr zügig los, durch die, wenn auch nicht leeren, so doch fast freien nächtlichen Straßen. Dabei summte er vor sich hin und schlug den Rhythmus auf das Lenkrad.

Eva versuchte sich zu entspannen. Es war ein so schöner Abend gewesen. Warum mußte wieder eine ihrer tausend Ängste sie umkrallen? Fabian hatte recht, wenn er ihr vorwarf, eine Provinzlerin zu sein. Nach all den Jahren in Berlin war sie immer noch im Herzen das kleine Mädchen aus dem Nest im Taunus.

Als er an einer Ampel halten mußte, hätte sie ihn fast noch einmal gebeten, sie ans Steuer zu lassen. Aber sie wußte nur zu gut, daß sie damit nichts erreicht, sondern ihn nur wütend gemacht hätte.

Er unterbrach seinen Singsang. »Starr mich nicht so an!«

Es war ihr nicht bewußt gewesen, daß sie das getan hatte: Sein schönes Profil, der volle Mund, das feste Kinn, die leicht gebogene Nase und die hohe, gewölbte Stirn, die jetzt, nachdem er sein Toupet abgenommen hatte, das er während der Aufführung tragen mußte, erst zur Geltung kam, hatte ihren Blick mit geradezu hypnotischer Kraft auf sich gezogen. Bei seinem Vorwurf, dem oft wiederholten Vorwurf, errötete sie und zwang sich, geradeaus zu sehen.

»Du warst wundervoll in deiner Rolle!« stieß sie hervor.

Er zuckte die Achseln. »Nu, na, nebbich.«

»Doch, warst du! Alle haben das gesagt.«

»Hör nicht auf das Gerede von Kollegen. Hinter dem Rücken tönt das anders.«

»Paul Seiters hat das bestimmt ernst gemeint.«

Wieder zuckte er wegwerfend mit den Schultern. »Der alte Seiters, dein großer Schwarm!«

»Ist er gar nicht.«

»Der hat leicht loben. Für den bin ich ja keine Konkurrenz. Was habe ich denn gespielt? Den Butler. Nichts als eine belanglose Charge. Eine Wurzenrolle dritter Ordnung.«

»Aber du warst großartig. Allein, wie du das ›Sir‹ gesagt hast.« Sie versuchte, ihn nachzuahmen. »›Wie Sie wünschen, Sir!‹ Lach nicht, ich kann das nicht wie du. Niemand kann das. Du wirst der Kritik auffallen.«

»Na ja«, gab er selbstgefällig zu, »ich habe aus einem Nichts eine runde kleine Sache gemacht.«

»Einen Charakter!«

»Du weißt ja, wie ich an die Dinge rangehe. Ich begnüge mich nicht mit dem, was der Mann auf der Bühne zu sagen hat, sondern ich frage mich: woher kommt er, was sind seine Träume, seine Ziele, wie steht es mit seinem Privatleben? Ein Butler, den man nur als Butler darstellt, wäre doch nichts als ein Klischee.«

»Ja, genau das bringst du auf die Bühne«, sagte sie begeistert, und ihre Augen hingen, ohne daß sie es merkte, schon wieder an seinem Gesicht, »damit fesselst du das Publikum. Ich schwöre dir, alle haben immer nur auf deinen Auftritt gewartet.«

»Nun übertreib man nicht, Kleene«, mahnte er in seinem artifiziellen Berlinerisch, konnte aber ein geschmeicheltes Lächeln nicht unterdrücken.

»Eines Tages«, prophezeite sie, »früher oder später wirst du der Größte sein.« Sie hatte inzwischen vergessen, daß er angeheitert, wenn nicht gar angekokst war. Er sprach, schien ihr, so vernünftig und sicher. Es war ihm wieder gelungen, sie ganz in seinen Bann zu ziehen.

»Warum kriegst du es nicht in deinen kleinen Schädel, daß mir an der Schauspielerei nicht das mindeste liegt? Das ist doch alles nur Possentanz. Was ich wirklich will …«

»… ist Schreiben!« ergänzte sie. »Aber das weiß ich doch. Nichts hängt enger zusammen. Wer könnte bessere Stücke schreiben als ein Schauspieler, dem die Gesetze des Theaters in Fleisch und Blut …« – Sie hatte voll Begeisterung geredet, unterbrach sich aber abrupt, als ihr bewußt wurde, daß sie nichts anderes tat, als ihn zu zitieren. Sie war dabei, einen seiner Sprüche zu wiederholen, die sie hundertmal gehört hatte. – ›Wie ein Papagei!‹ dachte sie. ›Er muß mich ja für ein ganz albernes Ding halten!‹ Ihr fiel auf, daß auch sie selber nicht mehr ganz nüchtern war.

Aber ihre Einfalt schien ihn diesmal nicht zu stören. Ungehemmt vertiefte er sich weiter in das Thema, das ihm mehr als alles andere am Herzen lag. Das Echo ihrer Stimme beflügelte ihn noch, und er merkte nicht einmal, daß es allmählich matter wurde.

Sie hatten das Rathaus Kreuzberg hinter sich gelassen und waren in die Baruther Straße eingebogen. Fabians Erregung übertrug sich nicht auf seine Begleiterin. Sie spürte, wie sie allmählich müde wurde. Seine Ausführungen, die sie so gut kannte, bedeuteten ihr kaum etwas, aber sie genoß den Anblick seines Gesichtes, das im schwachen Schein des Armaturenbretts schimmerte, die blonden Haare, die ihm über den Kragen fielen, und die Bewegungen seiner ausdrucksvollen schlanken Hände, die er zuweilen, um seine Worte zu unterstreichen, vom Lenkrad hob. All das war ihr wie ein Traum.

Ein heftiger Stoß gegen den einen der vorderen Kotflügel ließ sie jäh hochschrecken. »Was war das?«

»Nichts weiter.«

»Aber es hat doch geknallt!«

»Möglich, daß ich die Bordsteinkante gestreift habe«, erklärte er achselzuckend.

»Aber das war mehr! Halt an!«

»Wozu?«

»Wir müssen nachsehen, was passiert ist!«

Unbeirrt fuhr er weiter über die Kreuzung an der Amerika-Gedenk-Bibliothek vorbei und die Blücherstraße hinunter. »Wir beide sind doch gesund und munter oder etwa nicht?«

Sie packte seinen Arm und schüttelte ihn. »Du könntest jemanden angefahren haben!«

»Laß mich los! Sonst gibt es wirklich noch ein Unglück.«

Sie löste den Griff. »Bitte, bitte, laß uns nachsehen!«

»Stell dich nicht so an! Wenn was passiert wäre, hätte ich es gemerkt.«

»Aber es hat doch gebumst! Fast wäre ich gegen die Scheibe geflogen!«

»Bist du aber nicht. Jetzt gib Ruhe und reg dich ab. Du hast wirklich Talent, einem jeden Spaß zu verderben. Darauf kannst du dir was einbilden.«

»Spaß? Wo soll hier der Spaß sein?«

»Wirst du endlich den Mund halten? Oder muß ich noch deutlicher werden? Ich wünsche in den nächsten zehn Minuten kein Wort mehr von dir zu hören.«

Sie zuckte zusammen und machte sich so klein wie möglich.

»Sobald wir da sind, werden wir das Auto unter die Lupe nehmen«, fügte er versöhnlicher hinzu, »und du wirst sehen, daß überhaupt nichts passiert ist, du mit deinen ewigen Hirngespinsten.«

Sie schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab.

Der Hinterhof in der Urbanstraße, in dem Fabian zu parken pflegte, war überhaupt nicht beleuchtet. Es war stockdunkel zwischen den hohen Mauern. Hier schien alle Welt bereits zu schlafen. Nur aus den Fenstern einer einzigen Wohnung im Parterre drang zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen ein dünner Streifen Licht, zu schwach, um den Hof zu erhellen.

Fabian fand einen Platz zwischen zwei Lieferwagen. Mülleimer schepperten, als sie ausstiegen; sie hatten ein paar Katzen in die Flucht getrieben.

Eva hatte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach genommen und strahlte damit den rechten vorderen Kotflügel an. Er wies eine kräftige Delle auf; Lack war abgesplittert.

»Das ist gar nichts«, sagte Fabian, der hinter sie getreten war, »vielleicht ist die schon wer weiß wie lange drin, wir haben sie bloß nicht bemerkt.«

»Nein«, sagte Eva.

»Nicht einmal der Scheinwerfer ist kaputt.«

Sie beleuchtete den linken Kotflügel und fand ihn, wie sie nicht anders erwartet hatte, unbeschädigt. Während Fabian das Auto von beiden Seiten abschloß – es war ein Modell älteren Jahrgangs, noch ohne Zentralverriegelung und andere Schikanen –, ließ sie die Taschenlampe in der Manteltasche verschwinden.

»Oh, mein Gott!« entfuhr es ihr unwillkürlich.

»Hör auf zu jammern! Es ist ja nichts geschehen.«

Sie hatten mit gesenkten Stimmen gesprochen, fast geflüstert, nicht weil sie Angst gehabt hatten, belauscht zu werden, sondern weil sie bedrückt waren von der rabenschwarzen Finsternis ringsum. Über der Eingangstür zum Hinterhaus hatte es einmal eine Notbeleuchtung gegeben. Aber die Birne war seit langem ausgebrannt, und niemand dachte daran, sie zu ersetzen. Eva und Fabian mußten sich ihren Weg ertasten, und wenn sie sich nicht so gut ausgekannt hätten, wäre es ihnen kaum gelungen, ohne Lärm zu machen. Er drückte die Tür auf und knipste die Treppenhausbeleuchtung an. Einen Augenblick standen sie wie geblendet im Licht der nackten Glühbirne.

Eva zwinkerte mit den Augen.

»Du siehst käsig aus«, stellte er erbarmungslos fest.

›Du auch!‹ hätte sie fast zurückgegeben, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen, weil es einfach nicht wahr war. Tatsächlich sah er blendend aus, fand sie, mit seinem scharf umrissenen Mund, der elfenbeinernen Haut und den grauen Augen, die fast schwarz wirkten im Kontrast zu seinem sehr hellen Haar. Weder die unschmeichelhafte Beleuchtung noch die Sorge um das, was geschehen war – wenn er Sorge denn überhaupt empfand –, konnten seinem Äußeren etwas anhaben. Sie hatte das schon oft und mit immer neuer Verwunderung konstatiert. Auch wenn er häßlich zu ihr war, selbst wenn er wütend wurde, verzerrten sich seine Züge nie, wie sich seine Haut auch nie verfärbte. Für sie, die rothaarige junge Frau mit der sehr weißen empfindlichen Haut, der, wie sie wohl wußte, jede Empfindung vom Gesicht abzulesen war, blieb das unfaßbar.

Er lief mit großen Schritten die Treppen hinauf, immer wieder zwei, drei Stufen überspringend, während sie mit gesenktem Kopf hinter ihm hertrottete, ungeschickt auf ihren dünnen, hohen Absätzen, und sehr unglücklich, den Tränen nahe.

Das Atelier, das er bewohnte, lag im fünften Stock, gleich unter dem Dachboden, und nahm fast die Hälfte der Etage ein. Ursprünglich hatte es riesig gewirkt und war denkbar unkomfortabel gewesen. Aber dann hatte seine Mutter, bei ihrem ersten Besuch entsetzt über die primitive Behausung ihres Sohnes, darauf bestanden, wenigstens ein Bad und eine Toilette einbauen zu lassen. Dadurch hatte der Raum an Größe verloren, dafür aber an Bequemlichkeit gewonnen. Der elektrische Herd – bei besonderen Besuchen mit einem handgewebten türkischen Tuch bedeckt – stand nach wie vor unverkleidet an der Zimmerwand; gespült mußte im Bad werden.

Der Raum war minimal möbliert, was ihn immer noch sehr groß erscheinen ließ. Es gab einige Schränke, eine überbreite Couch mit einem Bettkasten, einen Schreibtisch und zwei Sessel, die Fabian auf dem Flohmarkt erstanden hatte, einen modernen niedrigen Glastisch, einige Lampen und eine Fülle von Kissen, auf denen Besucher sich auf dem Boden verteilen konnten.

Selbstredend nahmen weder Eva noch Fabian die Einzelheiten dieses Ambientes wahr, das sie bis in den letzten Winkel kannten; beide waren sie mit den Gedanken weit fort. Er fühlte sich leicht erschöpft, glücklich über seinen Erfolg, aber schon wieder umschattet vom Aufsteigen einer vagen Depression, die nicht im Zusammenhang stand mit dem möglichen Unfall. Es war das Gefühl der Enttäuschung, die jedem Triumph auf dem Fuße folgt, eine Empfindung der Vergänglichkeit.

Er warf seinen Trench zu Boden, zog sich hastig aus, strebte ins Bad und zu Bett, erfüllt von dem Wunsch, sich sein schwindendes Hochgefühl wenigstens in ein paar schönen Träumen bis zum nächsten Morgen erhalten zu können.

Eva hingegen war erfüllt von dem Erschrecken über den Zusammenstoß. Sie hatte die Vision eines blutenden Opfers und wußte, daß sie Hilfe alarmieren mußte. Sie schlüpfte aus ihren Pumps, sammelte hastig Fabians Kleidungsstücke auf und versorgte sie auf Bügel. Hemd, Unterhose und Strümpfe knüllte sie zusammen und stopfte sie in den verschließbaren Wäschekorb, der gleich neben der Tür zum Bad stand.

Fabian lag mit geschlossenen Augen in der Wanne, deren Wasser vor Hitze dampfte.

»Ich muß noch mal weg«, verkündete sie so beiläufig wie möglich und war dankbar, daß seine Augen geschlossen blieben; sie war nicht einmal sicher, daß er sie überhaupt verstanden hatte. Aber das war ihr egal.

Sie hatte einen Blick auf ihr Spiegelbild erhascht, leicht verschwommen durch den aufsteigenden Wasserdampf. Mit den tiefschwarz getuschten Wimpern wirkte es geisterhaft blaß unter dem glatten leuchtend roten Haar.

Kurz überlegte sie, ob sie sich abschminken und umziehen sollte. Aber das würde nur einen unnötigen Zeitverlust bedeuten. So schlüpfte sie denn in ihre Turnschuhe und huschte aus der Wohnung und die Treppen hinunter.

Im Parterre klopfte sie kräftig gegen eine Wohnungstür, dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, ein Geheimzeichen, auf das sie sich Einlaß erhoffte. Hier unten, das wußte jeder im Haus, trafen sich regelmäßig junge und alte Türken aus dem Kiez zum Karten- oder Würfelspiel, bei dem es, wie man sich zuraunte, um beträchtliche Summen ging. Natürlich war dergleichen verboten, wenn Eva auch nicht recht begriff, warum. Selbst wenn es nicht mit rechten Dingen zugehen sollte, so machte doch jeder auf eigene Verantwortung mit.

Sie mußte lange warten und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Aber sie wußte nicht, wo sie sonst hätte telefonieren können. In Fabians Atelier hatte sie es nicht gewagt, denn er war unberechenbar. So genüßlich er auch im Bad gelegen hatte, war es ihm doch durchaus zuzutrauen, daß er mit einem Satz auf den Beinen gewesen wäre und ihr eine fürchterliche Szene gemacht hätte. Die Zelle an der nächsten Ecke war die meiste Zeit beschädigt oder außer Betrieb, und die Lokale waren geschlossen. Nur hier, bei Emin Atta, wurde am Wochenende die Nacht zum Tag gemacht.

Endlich wurde die Tür, bei vorgelegter Kette, einen Spaltbreit geöffnet.

»Tut mir leid, daß ich störe!« sagte sie.

Die Tür wurde wieder geschlossen, und eine Sekunde lang fürchtete sie, einfach ausgesperrt zu werden. Aber dann hörte sie, daß die Kette drinnen ausgehakt wurde. Dann erst öffnete sie sich so weit, daß Eva im trüben Licht der Flurbeleuchtung den Wohnungsinhaber erkennen konnte. Emin Atta, ein stämmiger untersetzter Mann Mitte Vierzig, wirkte, trotz der vorgerückten Stunde, frisch und ausgeschlafen. Sein glattes Gesicht zeigte, daß er sich vor Beginn, vielleicht sogar noch einmal während der Nacht, rasiert hatte. Hemd und Hose waren makellos sauber.

»Das tust du, Eva!« erklärte er, nicht einmal unfreundlich. »Was willst du?« Er schloß die Tür hinter ihr.

»Ich muß telefonieren.«

»Telefon bei Fabian kaputt?«

Es wäre leicht gewesen, ihm das vorzumachen, aber sie tat es dann doch nicht.

»Oder ein Geheimnis?« fragte er weiter.

»So was Ähnliches.«

Er trat einen Schritt beiseite und gab den Blick auf ein altmodisches Wandtelefon frei. »Telefonier hier.«

»Danke.«

Gedämpft durch eine geschlossene Innentür waren Männerstimmen zu hören.

Eva nahm den Hörer ab und wählte. Sie wünschte, Emin würde sie allein lassen. Aber das tat er nicht. Er lehnte, die kräftigen Arme in den aufgekrempelten Hemdsärmeln übereinandergeschlagen, gegen den Türstock und musterte sie aufmerksam. Bewußt machte er keinen Hehl daraus, daß er sich kein Wort entgehen lassen wollte.

»Polizei Notruf«, meldete sich eine kühle sachliche Frauenstimme.

»Es geht um einen Unglücksfall«, sagte Eva, »vor der Amerika-Gedenk-Bibliothek, Kreuzung Baruther-Zossener Straße.«

»Name und Adresse, bitte!«

Eva drückte die Gabel herunter und hängte den Hörer ein.

»Was für ein Unglück?« fragte Emin.

»Ich weiß nicht … ich bin mir nicht sicher …«, stotterte sie.

»Das geht mich nichts an, willst du wohl sagen. Da hast du recht. Es war eine sehr dumme Frage. Verzeih!« Er öffnete ihr die Wohnungstür.

»Aber nein, Emin, es ist doch nur natürlich, daß du dich interessierst.« Sie rang sich ein Lächeln ab und schlüpfte ins Treppenhaus. »Danke.«

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloß, und die Kette wurde wieder vorgelegt.

Sie lief aus dem Haus, durch den finsteren Hinterhof auf die Straße. Das war etwas, das sie ursprünglich nicht vorgehabt hatte. Sie hatte gedacht, der Anruf würde genügen, sie zu beruhigen und ihr Gewissen zu entlasten. Aber die Stimme am Telefon, die ganz so geklungen hatte, als wäre sie es gewohnt, dergleichen Meldungen entgegenzunehmen – was ja auch den Tatsachen entsprach –, hatte alles noch viel realer gemacht. Eva wußte, daß sie nicht würde schlafen können, bevor sie sich nicht mit eigenen Augen vom Tatbestand überzeugt hatte.

Sie rannte leichtfüßig in ihren Turnschuhen die lange Urbanstraße hinunter in Richtung Bibliothek. Angst um sich selber empfand sie nicht. Es war nicht mehr die Stunde, in der Saufbolde unterwegs waren. Die hatten sich längst auf irgendeinen Schlafplatz zurückgezogen. Aus keiner Kneipe drang mehr Musik, und außer ihr schien keine Menschenseele unterwegs zu sein.

Aber sie konnte die Ahnung, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte, nicht von sich schütteln. Es war ihr, als sträubten sich ihr die Nackenhaare.

Als sie die verhängnisvolle Stelle, dort, wo die Baruther und die Zossener Straße in spitzem Winkel aufeinandertrafen, erreicht hatte, wagte sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie hatte so unbedingt erwartet, auf einen verkrümmten Körper zu stoßen, daß sie es kaum fassen konnte – nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Sie ließ die Taschenlampe aufblitzen und beleuchtete dort, wo ihrer Meinung nach der Unfall geschehen sein mußte, den Ort. Er war leer.

Ihre Erleichterung war so groß, daß ihr fast schwarz vor Augen wurde. Tief atmete sie durch, um nicht die Besinnung zu verlieren. Erst als sie sich wieder gefangen hatte, umkreiste sie den vermeintlichen Tatort. Es war nicht auszuschließen, daß sie sich in dem genauen Punkt geirrt oder daß das Unfallopfer sich fortgeschleppt hatte. Aber es war nicht die Spur eines Zusammenstoßes zu sehen.

Also hatte Fabian doch recht gehabt. Sie hatte sich entsetzlich geirrt. Die Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt – unendliche Erleichterung übermannte sie.

Ein Seufzer entrang sich ihr, so laut, daß sie erschrak. Dann mußte sie über sich selber lächeln. ›Du Gans‹, schalt sie sich, ›dumme, dumme Gans!‹

Dann eilte sie, schneller noch als sie gekommen war, den Weg zurück.

2

Am nächsten Morgen war der Schrecken der Nacht fast vergessen.

Sie hatten sich geliebt, ungestümer als gewöhnlich, Eva gelöst vor Erleichterung. Sie hätte gern noch länger in seinen Armen gelegen, den Kopf an seiner Brust, um dem wilden Pochen seines Herzens zu lauschen. Aber er trieb sie hoch, denn er war begierig, die ersten Kritiken über die gestrige Premiere im Theater auf dem Ku’damm zu lesen.

Folgsam rappelte sie sich hoch, gönnte sich eine kurze Dusche und zog sich eine Garnitur frischer Wäsche, Jeans und ein T-Shirt über – obwohl sie nicht bei ihm wohnte oder gerade deshalb, bewahrte sie immer ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln in seinem Atelier. Als sie zurückkam, warf sie ihm einen Stoß Zeitungen auf die Bettdecke. »Da hast du! Frische Brötchen habe ich auch mitgebracht, mit Aufschnitt.«

»Gehört sich wohl auch so«, knurrte er und schlug als erstes Blatt die »Berliner Morgenpost« auf.

Sie schaltete eine Herdplatte an, setzte Wasser auf, verteilte Pulverkaffee in Tassen, Wurst, Schinken und Käse auf einen Teller und schüttete die Brötchen in einen kleinen Korb. »Lies mir vor, wenn du was findest!« bat sie. »Bloß eine ›Nachtkritik‹«, brummelte er enttäuscht, »hör dir das an! – ›Eine muntere Komödie, munter gespielt, mit vielen Gags und Pointen, die nicht immer sitzen. Mehr in der Montagsausgabe‹.«

»Das ist doch besser als gar nichts«, tröstete sie, »warte nur bis Montag. Da wirst du bestimmt erwähnt.«

»Erwähnt, erwähnt. Glaubst du, man spielt sich die Seele aus dem Leib, um nur erwähnt zu werden?«

»Reg dich nicht auf. Ich habe mich bloß falsch ausgedrückt. Das ist auch schon alles.«

»Wenn du dir eine präzisere Sprache angewöhnen könntest.«

»Du bist der Dichter, nicht ich.«

Fabian warf die »Morgenpost«, die er achtlos durchgeblättert hatte, zu Boden und nahm sich die nächste Zeitung vor.

Das Wasser kochte, der Kessel pfiff.

»Soll ich dir ein Tablett bringen?« fragte Eva. »Oder erhebst du dich?«

»Ich steh’ schon auf.«

Nackt und ganz ungeniert schwang er sich aus dem Bett und angelte mit den Füßen nach seinen ledernen Latschen. Eva gab vor, ihn nicht anzusehen, tat es aber doch. In ihren Augen besaß sein Körper die Schönheit einer Statue. Er war glatt und wirkte wie aus Elfenbein geschnitzt.

Fabian verschwand im Bad und kam gleich darauf in einem kurzen weißen Frotteemantel zurück. Eva goß heißes Wasser in die Tassen. Sie hatte auf dem modernen Tisch mit der Glasplatte gedeckt und die beiden Sessel herangezogen. Jetzt nahmen sie Platz.

Während er aß, beschäftigte Fabian sich weiter mit seinen Zeitungen. »Wieder nichts«, stellte er ärgerlich fest, »nicht mal ein Hinweis.«

Eva rührte in ihrer Kaffeetasse. Sie hätte ihn gern ermahnt, die Zeitungen nicht so zu zerknüllen, denn er würde sie später noch in Ruhe lesen wollen. Aber sie mochte nicht an ihm herumnörgeln. ›Ich jedenfalls werde sie ihm nicht neu zusammenfalten und glätten‹, schwor sie sich. Dabei wußte sie, daß sie es doch tun würde, wenn er sie bat.

Es klingelte an der Wohnungstür.

»Wer kann das sein?« fragte sie.

»Mach auf, dann wissen wir es«, erwiderte er, ohne von der Zeitung aufzuschauen.

»Besuch? Um diese Zeit?«

»So früh ist es bestimmt nicht mehr.«

»Aber du bist nicht einmal angezogen.

»Wen kümmert’s?«

»Mich bestimmt nicht«, behauptete sie, obwohl sie es innerlich doch unpassend fand, in dieser Situation Besuch hereinzulassen. Die Bettcouch war noch nicht gerichtet, Zeitungen lagen in chaotischem Durcheinander auf dem Boden, und Fabian war weder gekämmt noch rasiert.

Es klingelte wieder, diesmal anhaltender.

»Es ist bestimmt doch nur Gisela, die sich was ausborgen will«, redete Eva sich ein. Gisela war eine junge Malerin, die das Atelier gegenüber gemietet hatte.

Eva stand auf, rief: »Ich komm’ ja schon!« und riß mit einem Ruck die Tür auf. Sie sah sich zwei Polizisten in Uniform gegenüber und schnappte nach Luft.

Einer der beiden zückte ein schwarz gebundenes kleines Notizbuch, blätterte es auf und sagte: »Dies ist die Wohnung von Fabian Grundner.«

Eva wich keinen Schritt zur Seite und brachte keinen Ton heraus.

»Das hat doch seine Richtigkeit«, fügte der Polizeibeamte hinzu.

Eva nickte, blieb aber immer noch, wie schützend, in der offenen Tür stehen.

»Dann lassen Sie uns mal rein, Fräulein!«

»Im Moment …«, begann Eva.

»… wollen wir den Herrn sprechen«, erklärte der Polizist mit Entschiedenheit und schob sie sanft, aber energisch beiseite.

Sein Kollege folgte ihm. Beide waren sie jung, frisch rasiert, trugen saubere Uniformen und gut gebügelte Hemden. Eva spürte, wie ungünstig der Anblick der unaufgeräumten Wohnung, der zerstreuten und zerknüllten Zeitungsblätter und der zerwühlten Bettcouch auf sie wirken mußte. Sie schämte sich. Fabian kam ihr in seinem kurzen Bademantel, der nicht einmal die Knie bedeckte, sehr verletzlich vor.

Fabian aber hob nur indigniert die Augenbrauen. »Meine Herren«, fragte er in gelassenem Hochmut, »woher nehmen Sie das Recht, hier einzudringen?«

»Wir haben ein paar Fragen an Sie.«

»Ich bin gerne bereit, mich mit Ihnen zu unterhalten, aber nicht jetzt. Rufen Sie an, und wir werden einen Termin ausmachen.«

»Nun, da wir schon einmal hier sind …«

Fabian fiel dem Beamten ins Wort. »… können Sie gleich wieder gehen.«

Jetzt griff der andere Polizist, der bisher geschwiegen hatte, ein. »Das Auto unten im Hof mit dem Freiburger Kennzeichen gehört Ihnen, Herr Grundner.«

Fabian schwieg.

»Es ist in Freiburg zugelassen, und zwar auf den Namen Ihrer Mutter.«

»Elfriede Grundner«, las sein Kollege aus dem Notizbuch ab.

»Das weiß ich so gut wie Sie«, gab Fabian zurück. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Es ist anzunehmen, daß Sie dieses Auto benutzen.«

»Hin und wieder«, sagte Fabian achselzuckend.

»Mit diesem Auto ist gestern nacht, genauer gesagt in den Morgenstunden, ein Fußgänger angefahren worden.«

Fabian setzte sich gerade. »Das ist mir allerdings neu.«

»Der Täter beging Fahrerflucht«, fuhr der Polizeibeamte unerbittlich fort.

»T, t, t«, machte Fabian, »so etwas tut man doch nicht.« Eva war starr. Konnte ein Mensch tatsächlich so unverfroren lügen? Oder war es möglich, daß er den nächtlichen Zwischenfall, den er nicht ernst genommen hatte, tatsächlich ganz vergessen hatte?

Ihr wurde schwach in den Knien, und sie hätte sich am liebsten gesetzt. Aber es erschien ihr unpassend, am Frühstückstisch oder auf dem Bett Platz zu nehmen, und eine andere Möglichkeit gab es nicht. Halt suchend lehnte sie sich gegen die Wand.

Die beiden Beamten fuhren mit ihrer Vernehmung fort, sehr ruhig, fast gleichgültig. Sie waren beide zwischen 20 und 30 Jahre alt, der, der am meisten fragte, mochte einige Jahre älter sein als der andere. Er trug das Haar kürzer geschnitten, während seinem Kollegen ein paar braune Locken auf den Hemdkragen fielen. Eva nahm ihre Züge nur verschwommen wahr; sie hätte keinen von ihnen auf der Straße wiedererkannt. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Fabian gerichtet, der ihr, trotz seiner Kaltschnäuzigkeit, immer mehr wie ein in die Enge getriebenes Wild vorkam.

»Sie wollen das Auto in der vergangenen Nacht also gar nicht benutzt haben?«

»Sie haben es auf seinem üblichen Platz auf dem Hinterhof stehenlassen?«

»Es werden sich leicht Zeugen finden, die das Gegenteil beweisen können, Herr Grundner.«

Fabian fuhr auf. »Sie unterstellen mir da etwas, das ich nie behauptet habe! Ich bin gestern abend mit dem Auto in die Innenstadt gefahren. Ich hatte Premiere in einem Stück von Gilbert Warren. Am Kurfürstendamm.«

»Na, sehen Sie, Herr Grundner«, sagte der ältere Beamte mit gespielter Gutmütigkeit, »so kommen wir schon weiter. Anschließend an die Premiere kam es dann zu einer feucht-fröhlichen Feier.«

»Ja.«

»Sie waren also nicht ganz nüchtern, als es passierte?«

»Immerhin noch nüchtern genug, um an meiner eigenen Fahrtauglichkeit zu zweifeln.«

»Soll das heißen, Sie haben sich nicht selbst ans Steuer gesetzt?«

»Genau das.«

»Würden Sie dann, bitte, so freundlich sein, uns zu erklären, wie Sie nach Hause gekommen sind?«

»Und wie das Auto zurück in den Hof gelangt ist?«

Fabian sah Eva an. Niemals würde sie mit Sicherheit erfahren, ob er es mit Absicht tat. Jedenfalls folgten die Augen der Polizisten seinem Blick. Eine kurze Stille entstand, ein Schweigen, das in Evas Ohren rauschte.

»Ich«, sagte sie, »ich war es, die das Auto gefahren hat.« Ihr wurde schwarz vor Augen; sie spürte noch, wie sie an der Wand entlangrutschte, und dann nichts mehr.

Als sie wieder zu sich kam, hatte jemand ihr Kissen unter die Füße und ein nasses, kaltes Tuch auf die Stirn gelegt.

Die Gesichter der Beamten beugten sich wie runde, blasse Monde über sie, und sie hatte den Eindruck, auf dem Grund eines Brunnens zu liegen.

»Sie brauchen jetzt nichts mehr zu sagen, Fräulein«, erklärte der ältere der beiden, »Sie haben ein Geständnis abgelegt. Das genügt uns.«

»Nein, laß sie reden«, widersprach der jüngere, »das wird ihr guttun.«

Fabian drängte die Beamten beiseite, kniete sich neben sie, hob ihren Kopf und hielt ihr ein Glas Brandy an die Lippen. Sie nippte daran, rappelte sich auf und brachte sich in sitzende Stellung. Fabian führte ihr das Glas noch einmal zum Mund, und gehorsam nahm sie noch einen Schluck.

»Trink aus!« drängte er. »Es wird dir guttun.«

Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, und er erhob sich aus seiner knienden Stellung.

»Ihre Personalien, bitte!« sagte der ältere Beamte. »Aber bleiben Sie ruhig sitzen.«

»Eva Maria Silbert«, erklärte sie mit rauher Stimme und zog die Beine unter sich zum Schneidersitz zusammen, »mein Führerschein ist in meiner Handtasche. Die kleine schwarze. Neben dem Herd.«

»Also, wie war’s?« fragte der jüngere der beiden Polizisten, hockte sich neben sie und nahm die Mütze ab. »Der Herr Grundner hat Sie also gebeten, ihn nach Hause zu fahren?«

Eva nickte.

»Und Sie hatten keine Bedenken? Ich meine, Sie waren doch sicher auch nicht mehr ganz nüchtern?«

»Ich hatte sehr viel weniger getrunken als er. Nur ein paar Gläser Wein.«

»Gut. Und dann? Sie müssen den Unfall doch bemerkt haben.«

»Nicht wirklich«, behauptete sie.

»Das müssen Sie uns schon näher erklären.«

»Es gab so etwas wie …« Sie suchte nach Worten. »… einen dumpfen Schlag gegen den rechten Kotflügel. Aber ich dachte nicht, daß wirklich etwas passiert wäre.«

Der Polizeibeamte richtete sich auf und sah Fabian an. »Und Sie, Herr Grundner? Was können Sie uns zu diesem Zwischenfall sagen?«

Gespannt wartete Eva, was er zu ihrer Entlastung vorbringen würde. Gegen alle Vernunft rechnete sie mit seiner Hilfe. Sie wußte, sein Einfallsreichtum kannte keine Grenzen.

Aber er zuckte nur die Achseln und erklärte leichthin: »Ich? Gar nichts. Ich habe tief und fest geschlafen. Fräulein Silbert mußte mich erst wecken, als sie den Wagen geparkt hatte. War es nicht so, Eva?«

Sie schwieg.

»Sie standen also vor der Entscheidung, sich um den Unfall zu kümmern oder Ihren Freund unbehelligt nach Hause zu bringen?«

Sein Kollege hatte inzwischen die Handtasche gefunden und prüfte Evas Führerschein. »Das geht zu weit, Gerd«, sagte er, »darüber muß das Gericht befinden. Sie werden verstehen, daß ich Ihren Führerschein einziehen muß, Fräulein Silbert.«

»Ja«, sagte Eva und versuchte aufzustehen, mühsam, das immer noch halbvolle Brandyglas in der Hand.

Der Polizist nahm es ihr ab und half ihr auf die Beine. »Das wär’s dann. Sie werden eine Vorladung bekommen.« Er stellte das Glas auf Fabians Schreibtisch ab und stülpte sich die Mütze auf die braunen Locken.

»Einen Augenblick noch, bitte!« rief Eva. »Was ist mit dem Verunglückten? Ihm oder ihr? Den ich angefahren haben soll, meine ich?«

»Seinen Papieren nach ein gewisser Titus Durchdenwald.«

»Seinen Papieren nach? Was heißt das?«

»Er war noch nicht ansprechbar«, sagte der Polizist, den sein Kollege Gerd genannt hatte.

Eine plötzliche Röte schoß in Evas bisher geisterhaft blasses Gesicht. »Aber er wird doch nicht … sterben?«

»Wir wollen’s nicht hoffen. Also dann. Gehen wir.«

Die Polizisten tippten sich an ihre Mützen und wandten sich zur Tür.

Eva lief ihnen nach. »Wo ist er? Wo kann ich ihn finden?«

»Man hat ihn ins Kreuzberger Krankenhaus gebracht.«

»Aber, wie gesagt, er ist noch nicht ansprechbar.«

Dann waren sie gegangen, und Eva und Fabian blieben allein zurück.

»Eine schöne Scheiße«, sagte Fabian aus tiefstem Herzen.

»Wir hätten anhalten sollen! Wir hätten …«

»Hör auf damit! Das nützt uns jetzt doch auch nichts mehr.«

Eva ging zum Schreibtisch und leerte das Glas. »Stimmt«, sagte sie nur. Sie begriff, daß es keinen Sinn hatte, sich selber oder gegenseitig Vorwürfe zu machen. Was geschehen war, war geschehen und ließ sich durch Worte nicht aus der Welt schaffen.

Sie begann den Tisch abzuräumen, hielt mitten drin inne und fragte: »Oder ißt du noch was?«

»Danke. Mir ist der Appetit vergangen.«

»Ich spüle das nur noch eben weg und bring’ die Couch in Ordnung. Dann muß ich nach Hause.«

»Ich weiß schon. Großer Putztag mit Tante Katrin.«

»Einmal in der Woche muß es sein«, verteidigte Eva sich mechanisch.

Es war durchaus nicht so, daß er sie ständig um sich haben mochte. Aber es ärgerte ihn immer wieder, wenn sie von sich aus nicht bei ihm bleiben wollte. Doch in dem einen Punkt blieb Eva ihm gegenüber fest: daß sie den Samstag ihrer Tante widmete, für die sie während der Woche meistens zu wenig Zeit hatte. Sie hatte der jüngeren Schwester ihres Vaters so viel zu verdanken. Tante Katrin war es gewesen, die sie zu sich geholt hatte, als sie, noch in der Pubertät, durch die ewigen Streitereien ihrer Eltern an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben worden war. Ohne das Eingreifen ihrer Tante, davon war sie auch heute noch überzeugt, wäre sie in der Klapsmühle gelandet. Sie war damals so weit gewesen, daß sie mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hatte, in dem verzweifelten Versuch, nichts mehr hören und sehen zu müssen.

Sie war froh, als er sich ausnahmsweise nicht näher auf dieses Thema einließ; er mußte wohl spüren, daß er damit den Bogen überspannt hätte.

»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte er statt dessen.

»Danke. Sehr lieb von dir. Aber ich kann genausogut die U-Bahn nehmen.«

»Ganz, wie du willst.«

Mit leichter Verbitterung wurde ihr bewußt, daß er, der den Unfall verursacht hatte, in aller Seelenruhe weiter Auto fahren durfte, während es ihr jetzt und auf unabsehbare Zeit verwehrt war. Aber war sie denn wirklich ohne Schuld? Hätte sie ihn nicht zwingen müssen anzuhalten? Es war ihre verdammte Schwäche, die sie schuldig oder zumindest mitschuldig hatte werden lassen.

Hastig schaffte sie Ordnung. Dann rollte sie ihr kleines schwarzes Partykleid von der Nacht zuvor zusammen – dachte daran, daß sie es wohl niemals mehr ohne schwere Gedanken würde tragen können – und verstaute es mitsamt ihrer gebrauchten Wäsche und anderen persönlichen Utensilien in ihrem kleinen leichten Koffer aus Leinen und Leder. Sie nahm Geld aus ihrer Handtasche und legte sie in den Koffer.

Er hatte inzwischen weder Anstalten gemacht, ihr zu helfen, noch sich anzuziehen, sondern war unruhig auf und ab gegangen und ihr im Weg gewesen, während sie die Zeitungen eingesammelt und zusammengefügt hatte.

Als sie in ihren Mantel geschlüpft war, standen sie sich gegenüber.

»Also bis dann«, sagte sie.

»Bis dann«, wiederholte er.

Aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

Sie wartete darauf, daß er sie bitten würde, die letzten Seiten seines Manuskriptes abzuschreiben. Aber er tat es nicht. Sie wußte, daß es klug gewesen wäre, jetzt einfach zu gehen. Doch sie brachte es nicht über sich.

»Bist du mit deinem Theaterstück weitergekommen?« fragte sie.

»Ja.«

»Das freut mich für dich.« Es kostete sie eine gewaltige Willensanstrengung, aber es gelang ihr, sich zur Tür zu wenden.

»Eva«, sagte er leise.

Wie erlöst drehte sie sich zu ihm um. »Ja?«

»Bist du denn nicht gespannt darauf, wie es weitergeht?«

›In meinem eigenen Leben gibt es Spannungen genug‹, hätte sie beinahe erklärt. Statt dessen sagte sie das, was er hören wollte: »Doch, natürlich. Darf ich es lesen?«

»Wenn du es mir abschreibst.«

»Tue ich das nicht immer?«

»Ja, das tust du.« Er ging zum Schreibtisch, öffnete die mittlere Schublade und nahm einen flachen Stapel beschriebenen Papiers heraus. »Du bist eine sehr brauchbare Person.«

»Brauchbare Person!« wiederholte sie mit Bitterkeit. »Ist das alles, was ich für dich bin?«

»Ich finde, das ist nicht wenig. Die meisten Menschen sind ja bloße Schwätzer. Wenn es darauf ankommt, versagen sie alle.«

Wollte er so seine Anerkennung dafür ausdrücken, daß sie die Schuld an der Unfallflucht auf sich genommen hatte? Sie meinte, daß sie einen herzlicheren Dank verdient hätte. »Für einen Dichter«, sagte sie, öffnete ihren Koffer noch einmal, legte die beschriebenen Blätter obenauf, »bist du verdammt wortkarg.«

»Gerade weil ich ein Dichter bin, hasse ich pompöses Gerede. Wer beruflich mit Worten jongliert, weiß, wie wohlfeil sie sind. Zwischen dir und mir bedarf es doch keiner großen Worte.«

Sie ließ das Schloß des Koffers zuschnappen und richtete sich auf. »Bist du sicher?«

»Ganz und gar.« Er legte den Arm um ihre Schultern und schob sie zur Tür. »Wann, meinst du, kannst du fertig sein?«

»Wenn ich mich dranhalte – bis morgen nachmittag.«

»Ich erwarte dich dann.«

Er entließ sie ohne Kuß. Fabian küßte nie. Er empfand, wie er behauptete, diese »Schleckerei« als unhygienisch.

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