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Eine Vierzehnjährige verknallt sich in einen verheirateten Mann und träumt von der großen Romantik, bis sie erfahren muss, dass Liebe und Lust zwei einander entgegengesetzte Dinge sein können. Ein junger Mann outet sich und verliert daraufhin seinen besten Freund, dessen Unsicherheit in Aggression umschlägt. Eine Frau kämpft damit, die Abweisung ihrer Teenager-Tochter zu ertragen und fühlt sich dabei so einsam wie nie, doch die Verbindung einer Mutter zu ihrem Kind kann so leicht nicht erschüttert werden. Lily Kings Erzählungen sind berührend, überraschend, hoffnungsvoll – und zum Glück auch ein wenig romantisch. Sie ist die große Chronistin emotionaler Extremzustände - Lily King beherrscht den ungeschönten Blick auf harte Schicksale und zwischenmenschliche Krisensituationen meisterhaft. Gleichzeitig hilft sie ihren Figuren immer wieder zurück auf Pfade der Euphorie und Zuversicht, lässt sie Neuanfänge wagen, sich doch noch einmal Hals über Kopf verlieben, zweite Chancen geben oder unmoralische Abenteuer eingehen. Auch in «Hotel Seattle» geht es um große Gefühle, allen voran um die Liebe in all ihren schönen und schrecklichen Facetten.
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Lily King
HOTEL SEATTLE
Erzählungen
Aus dem Englischen von Hanna Hesse
C.H.Beck
Sie ist die große Chronistin emotionaler Extremzustände – Lily King beherrscht den ungeschönten Blick auf harte Schicksale und zwischenmenschliche Krisensituationen meisterhaft. Gleichzeitig hilft sie ihren Figuren immer wieder zurück auf Pfade der Euphorie und Zuversicht, lässt sie Neuanfänge wagen, sich doch noch einmal Hals über Kopf verlieben, zweite Chancen geben oder unmoralische Abenteuer eingehen. Auch in «Hotel Seattle» geht es um große Gefühle, allen voran um die Liebe in all ihren schönen und schrecklichen Facetten.
Eine Vierzehnjährige verknallt sich in einen verheirateten Mann und träumt von der großen Romantik, bis sie erfahren muss, dass Liebe und Lust zwei einander entgegengesetzte Dinge sein können. Ein junger Mann outet sich und verliert daraufhin seinen besten Freund, dessen Unsicherheit in Aggression umschlägt. Eine Frau kämpft damit, die Abweisung ihrer Teenager-Tochter zu ertragen und fühlt sich dabei so einsam wie nie, doch die Verbindung einer Mutter zu ihrem Kind kann so leicht nicht erschüttert werden. Lily Kings Erzählungen sind berührend, überraschend, hoffnungsvoll – und zum Glück auch ein wenig romantisch.
Lily King, geboren 1963, wuchs in Massachusetts auf und lebt heute mit ihrer Familie in Maine. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Preise, unter anderem den Kirkus Prize für ihren Bestseller «Euphoria» (C.H.Beck 2015).
Hanna Hesse, geboren 1984, aufgewachsen in Oxford und Berlin, lebt als freie Übersetzerin in München.
KREATUR
FÜNF DIENSTAGE IM WINTER
IN DER DORDOGNE
NORDSEE
ZEITSTRAHL
HOTEL SEATTLE
WARTEN AUF CHARLIE
MANSARDE
SÜDEN
DER MANN AN DER TÜR
DANKSAGUNG
Für meinen Bruder Apple, in Liebe
Im Sommer, als ich vierzehn war, einige Monate nachdem meine Mutter mit mir bei meinem Vater ausgezogen war, bekam ich einen Babysitterjob bei einer alten Dame in Widows’ Point angeboten. Ich sollte zwei Wochen lang auf ihre Enkelkinder aufpassen. Mrs Pike ließ im Laden meiner Mutter ihre Kleider anpassen, und die beiden hatten alles vereinbart, ohne mich vorher zu fragen. Der Job war anders als sonst, es ging nicht nur um ein paar Stunden babysitten. Ich sollte dort wohnen. Ich kann mich nicht an das Gespräch mit meiner Mutter erinnern, ob ich Lust darauf hatte oder einen Streit anfing. Ich stritt mich damals wegen jeder Kleinigkeit mit ihr.
Der Widows’ Point war eine Landzunge, die wie eine langstielige Bratpfanne in den Atlantik ragte. Bei Ebbe sah man vor der Küste im offenen Meer ein halbmondförmiges Felsenband, aber bei Flut versteckte es sich vollständig unter Wasser. Es waren zweifellos diese Felsen, die mehrere Hundert Jahre zuvor die Witwen, die der Landzunge ihren Namen gegeben hatten, zu solchen gemacht hatten. Um von unserer Wohnung in der Innenstadt zu den Pikes zu gelangen, musste ich an dem Haus vorbeiradeln, in dem ich aufgewachsen war, es lag auf dem Stiel der Bratpfanne und gehörte noch immer meinem Vater. Er war wieder in der Entzugsklinik, diesmal in New Hampshire, aber trotzdem duckte ich mich, als ich vorbeifuhr. Ich sah nur das Blumenbeet an der Straßenseite, das seit letztem Herbst nicht gepflegt worden war. Neue Triebe und Knospen kämpften sich durch braune Hülsen. Wir waren bereits zum dritten Mal ausgezogen, und ich hoffte, dass es das letzte Mal war.
Danach fiel die Straße ab und schlängelte sich um die Landzunge. Ein verziertes Schild verkündete: Privatweg. Die meisten der riesigen Häuser wurden von hohen Hecken verdeckt, sodass alles überwuchert und wie in einem Dornröschenschlaf wirkte. Als Kinder waren wir hier oft entlanggeradelt, hatten das Warnschild ignoriert und uns schaudernd ausgemalt, im Gefängnis zu landen, wenn wir erwischt würden, aber wir hatten uns nie in eine der Einfahrten getraut. Trotzdem waren wir mit den vielen Säulen und den alten, verblichenen Namensschildern bestens vertraut gewesen.
Die Einfahrt der Pikes war viel länger als gedacht. Auf der Straße hatte die Sonne auf meinen Rücken gebrannt, aber jetzt war es kühl und dämmrig, und die riesigen Bäume rechts und links von mir ließen ihre Blätter rauschen. Mir fiel nur eine einzige Person ein, die genau das gemacht hatte, was ich jetzt tat, und das war Maria aus The Sound of Music. Als sie sich mit ihrer Gitarre auf den Weg vom Kloster zur Trapp-Villa machte, sang sie ein Lied über das Mutigsein. Aber ich hatte den Text vergessen, also sang ich You Are Sixteen Going on Seventeen, bis hinter mir eine laute Hupe ertönte und ich mit dem Rad von der Straße abkam, in eine flache Rinne stürzte und sanft auf dem Laub des Vorjahrs landete.
Über mir sah ich einen Mann in schwarzem Anzug und Fliege, der mir etwas zurief.
«Geht’s dir gut da unten?», meinte ich, ihn fragen zu hören. Er hatte einen Akzent. Das R rollte er mit der Zunge, es kam nicht hinten aus der Kehle.
Ich antwortete, dass alles okay sei. Er stieg nicht ins Laub hinab, um mir zu helfen, wartete aber, bis mein Rad und ich wieder auf der Straße standen. Sein Gesicht war lang gestreckt, und er hatte einen kreisrunden Glatzkopf, beides zusammen sah wie eine Kugel Eis in der Waffel aus.
«Du bist hier, um die kleinen Wesen zu bändigen?»
«Ja», sagte ich unsicher.
«Dann treffen wir uns gleich unten. Geh hintenrum. Nimm die linke Seite. Nicht den Unterstellplatz.» Damit meinte er wohl die Garage.
Erst nachdem er weitergefahren war, fiel mir das Auto mit seinem scheppernden Motor, dem fehlenden Dach und der langnasigen Motorhaube auf. Es war ein Oldtimer. Noch einmal hörte ich die Hupe, sehr laut, sogar aus der Ferne. Ganz anders als eine normale Autohupe. Eher wie das Halbzeitsignal bei einem Footballspiel. Kein Wunder, dass es mich vom Rad geholt hatte. Das Wort Ballhupe kam mir in den Sinn und begleitete mich, während ich die restliche Einfahrt entlangfuhr. Meine Sommerlektüre war Jane Eyre, ich steckte mittendrin. Das Wort hatte ich wohl aus dem Buch.
Das Haus kam in Sicht, nach und nach. Die Straße machte eine Kurve, und ich sah zunächst einen Teil davon, dann mit jedem Meter mehr, bis der ganze Kasten in seiner vollen Größe vor mir stand. Ein Herrenhaus. Grauer und weißer Stein mit Türmchen und Balkonen und anderen Dingen, die hervorsprangen, sich wölbten oder eingebuchtet waren und für die ich keine Namen hatte. Ich hatte mir schon gedacht, dass es ein Herrenhaus sein würde, weil die Leute es alle so nannten, aber alles, was wir uns darunter vorstellen konnten, war ein Haus wie unsere kleinen Cape-Cod-Cottages, nur viel breiter und höher. Doch Herrenhäuser, stellte ich fest, waren nicht aus Holz. Sie waren aus Fels. Eine große geschwungene Treppe führte feierlich zur Eingangstür hinauf, aber ich sollte ja «hintenrum» gehen.
Von hinten sah das Haus genauso schick aus wie von vorne, weniger Treppenstufen bis zur Tür, aber die gleichen verzierten Säulen und die gleiche Steinbalustrade um eine breite Veranda. Der Mann von der Straße wartete auf mich, neben ihm eine Frau in gestreiftem Kleid und weißen Schuhen. Sie führten mich ins Haus, durch einen dunklen Flur zu einem Vorratsraum. Dort stand ein quadratischer Tisch mit einem karierten Wachstuch und drei zusammengewürfelten Stühlen.
Die Frau fragte mich, ob ich Hunger hätte, und obwohl ich verneinte, servierte sie Salzcracker und orangefarbene Käsescheiben. Sie presste ein kleines Rädchen mit Speichen in einen Apfel, zauberte acht gleichmäßige Schnitze hervor und schmiss das Gehäuse weg. Wir setzten uns an den Tisch. Ich wunderte mich, warum wir in so einem kleinen, tristen Zimmer saßen, wo ihnen doch das ganze Haus zur Verfügung stand.
«Wo sind Ihre Kinder?», fragte ich die Frau. Ich nahm an, dass ich meine Anweisungen eher von ihr als vom Vater bekommen würde.
Ich hatte noch nie eine erwachsene Person rot werden sehen. Sie errötete sofort, so, wie ich es von mir kannte, im ungünstigsten Farbton, den man sich vorstellen konnte, als ob das Blut gleich aus der Haut tropfen würde. «Ich habe keine Kinder», sagte sie. Schweiß perlte auf ihrer Lippe, und sie stand schnell auf, um meinen Teller in die Spüle zu stellen.
Der Mann lachte. «Die Kinder, auf die du aufpassen sollst, gehören keinem von uns! Zeig ihr die Räume oben und klär das arme Mädchen auf.»
Ich folgte der Frau drei Stockwerke hinauf. Die Hintertreppe hatte blanke Holzstufen, das Geländer war speckig, und es roch nach Kartoffelchips. Wir bogen in einen lichtdurchfluteten breiten Flur mit langen hohen Fenstern ein, die den Himmel über uns einrahmten. Nachdem wir an mindestens fünf Schlafzimmern vorbeigegangen waren, zeigte die Frau auf eines zu ihrer Linken, als ob sie es eben erst für mich ausgewählt hätte. Aber als ich einen Blick hineinwarf, sah ich einen Stapel Handtücher am Fuß des Bettes und den grünen Koffer meiner Mutter auf einer Holzablage liegen. Für einen Augenblick dachte ich, meine Mutter wäre auch hier, doch als ich eintrat, war niemand da. Ich hatte vergessen, dass sie den Koffer bereits am Sonntag hergefahren hatte. Die Frau sagte, ihr Name sei Margaret, und wann immer ich sie bräuchte, fände ich sie unten in der Küche.
«Die Kleinen sind mit ihrer Mutter an den Strand gefahren, aber zum Mittagsschlaf sollten sie wieder hier sein. Man wird dich dann sicherlich rufen.» Ihr Akzent war anders als der des Mannes. Fremd, aber anders. Mir wurde bewusst, dass die beiden wahrscheinlich gar kein Ehepaar waren.
Als die Frau weg war, schloss ich die Tür und sah mich um. Zum ersten Mal hatte ich ein Zimmer, das nichts mit meinen Eltern, ihrem Geschmack oder ihren Regeln zu tun hatte. Ich fühlte mich wie Marlo Thomas in Süß, aber ein bisschen verrückt, wie ein Mädchen mit einer ganz eigenen Wohnung. Das Zimmer war schlicht. Es gab zwei Einzelbetten, auf denen der gleiche weiß gestrickte Überwurf lag, die geriffelten Bettpfosten aus Eichenholz ragten bis auf Augenhöhe hoch und waren an den Enden wie Tannenzapfen zugespitzt. Zwischen den Betten stand ein Nachttisch mit Kattundeckchen, gerade groß genug für eine Glaslampe mit Zugschnur und einen Aschenbecher, auch aus Glas, mit einem Stier in der Mitte und vier Einkerbungen am Rand für Zigaretten. Als ich jünger war, hatte ich zusammen mit meiner Freundin Gina ein bisschen geraucht, heimlich im Wald, aber inzwischen war ich rausgewachsen. Obwohl der Aschenbecher sauber war, konnte ich die alte Asche noch riechen, und ich verstaute ihn in der klapprigen Nachttischschublade.
Es gab eine Sitzecke am Fenster! Schnell eilte ich hinüber, als ob sie gleich wieder verschwinden könnte, und legte mich bäuchlings auf das lange, halbrunde Kissen. Drei riesige Fenster formten einen Halbkreis – diese Hälfte meines Zimmers war rund –, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich tatsächlich in einem der Türmchen befand, die ich von der Straße gesehen hatte.
Ich drückte meine Nase an dem alten Glas platt und atmete seinen staubigen, metallischen Geruch ein, blickte hinab auf die kiesbedeckte Einfahrt und den gestutzten Rasen, der einem Feld mit hohen Gräsern und Wildblumen wich, das abrupt zum Meer abfiel. Ich dachte an meine Eltern und ihren Streit um Geld, und an meinen Vater, dessen Haus meiner Mutter und mir angesichts der Zweizimmerwohnung, in der wir jetzt lebten, groß vorkam. Für mich hatte unsere Wohnung überhaupt keine Ähnlichkeit mit der in Süß, aber ein bisschen verrückt, für meine Mutter – die noch nicht vierzig war und ein schönes Lächeln besaß und, wie sie immer sagte, noch einige Eisen im Feuer hatte – vielleicht schon. Ich wollte ihnen mein Zimmer in diesem Herrenhaus zeigen – aber dann auch wieder nicht. Ich wollte das alles für mich allein haben.
Das Zimmer kam mir plötzlich sehr weit oben vor, eine Flucht schien praktisch unmöglich. Ich verscheuchte alle Gedanken an Rapunzel, eine Geschichte, die mir immer Angst gemacht hatte, und an Charles Manson, von dem uns Ginas Bruder diesen Frühling erzählt hatte. Ich öffnete meinen Koffer und nahm Jane Eyre und das neue Notizbuch heraus, das ich mir gekauft hatte. Aber mir stand der Sinn nicht nach Lesen oder Tagebuchschreiben, sodass ich einen Brief an Gina begann. Ich erzählte von meiner Fahrt zu den Pikes. Ich erzählte davon, wie ich am Haus meines Vaters vorbeigekommen war und die vernachlässigten Blumenbeete gesehen hatte, all der Tod und das neue Leben so eng miteinander verwoben, schrieb ich und war über mich selbst erstaunt und schrieb weiter.
Nach einer guten Stunde fuhr ein marineblauer Kombi die Einfahrt entlang und hielt vor dem Unterstellplatz. Meine Fenster waren zu, aber ich konnte sehen, dass der kleine Junge weinte, als er aus dem Auto stieg, und das kleine Mädchen schlief, als seine Mutter es vom Rücksitz hob und auf den Arm nahm. Vermutlich hätte ich runtergehen und helfen sollen, hätte Handtücher und Strandspielzeug aus dem Auto räumen, das schlafende Mädchen an mich nehmen und es in irgendein Bett legen sollen, aber das tat ich nicht. Es drängte mich nicht, meinen Dienst anzutreten. Ich blieb auf dem Kissen in meinem Türmchen liegen, bis es eine halbe Stunde später an der Tür klopfte und meine Arbeit tatsächlich begann.
Der Job war nicht schwer, zumindest nicht, bis Hugh ankam. Margaret kochte, und Thomas, der Mann mit dem Eistütenkopf, servierte die Mahlzeiten und machte den Abwasch. Eine Dame namens Mrs Bay kam, um die Wäsche zu waschen, auch die widerlichen Stoffwindeln, auf denen Kay, die Mutter der Kinder, bestand. Als ich Kay am ersten Tag begegnete, gab sie mir Elsie an die eine und Stevie an die andere Hand, sagte, «ich muss so dringend pinkeln, ich mach mir gleich in die Hose, Carol», und sauste davon. Gleich danach kam sie wieder und umarmte mich und dankte mir, dass ich gekommen war, als ob wir alte Freunde wären und ich für einen kleinen Plausch vorbeigeschaut hätte. Mir war unser Altersunterschied bewusst – ich war vierzehn, und sie war neunundzwanzig –, aber da sie ihre Tage sonst mit einer Zwei- und einem Vierjährigen verbrachte, wirkte ich wohl älter auf sie, als ich war. In Anwesenheit ihrer Mutter war Kay anders, förmlich, beinahe still. Mrs Pike erläuterte uns jeden Morgen im Frühstücksraum, wie der Tag sich abspielen sollte. Kay nickte die Vorschläge ihrer Mutter ab – Mrs Pike wollte, dass sie alte Freunde besuchte, im Club Tennis spielte, sich mit ihrem ehemaligen Hauslehrer für Deutsch traf, der so viel Potenzial in ihr gesehen hatte –, aber sobald ihre Mutter nach dem Frühstück das Zimmer verlassen hatte, um sich an ihren Schreibtisch zu setzen, drehte sich Kay zu mir um und schmiedete andere Pläne.
Wir fuhren mit den Kindern an unterschiedliche Strände, gingen ins Walfangmuseum und ins Aquarium, hielten nach dem Mittagessen oft an irgendeiner Eisdiele und stellten uns unsere eigenen Eisbecher zusammen. Am frühen Nachmittag spielte ich mit den Kindern im Pool, während Kay auf einer Liege im Gras ihr Buch las, dann brachte ich die beiden ins Bett. Sie wehrten sich nie. Nach den Aktivitäten des Morgens, der heißen Sonne und dem Baden waren sie mehr als bereit, im dämmerigen Haus unter ihre kühlen Decken zu kriechen und in einen tiefen Schlaf zu fallen. Während ich ihnen vorlas und Lieder sang, malte ich mir aus, danach auch auf mein Zimmer zu gehen und zu schlafen, aber wenn ich in meinem Türmchen im zweiten Stock ankam, steckte ich wieder voller neuer Energie. Ich schrieb weiter an Gina über mein Leben im Herrenhaus der Pikes. Ich las Jane Eyre. Ich fühlte mich Jane plötzlich so viel näher, jetzt, da ich auch auf einem herrschaftlichen Anwesen lebte und zwei Kinder beaufsichtigte. Bald nahm mein Brief Ton und Wortwahl von Charlotte Brontë an, worüber sich Gina später gnadenlos lustig machen würde. Aber ich probierte mich aus: Ich war «süß, aber ein bisschen verrückt», ich war Jane Eyre, ich war eine Schriftstellerin, alleine in ihrem eigenen Zimmer – die ich tatsächlich, nach vielen anderen Stationen, werden sollte.
Nachdem die Kinder aufgewacht waren, spielte ich mit ihnen draußen auf dem Rasen, bis der Hunger sie quengeln ließ und wir Margaret für eine Zwischenmahlzeit in der Küche aufsuchten. Abendessen gab es erst um acht. Ich musste zunächst Elsie in ihren Hochstuhl zwängen (sie bevorzugte eigentlich den Schoß, vor allem zu dieser Uhrzeit), dann zog ich mich in die Küche zurück, wo ich mein Abendessen am Tisch mit dem Wachstuch einnahm. Manchmal setzten sich Margaret oder Thomas für ein oder zwei Minuten zu mir, aber sie mussten ständig aufspringen, um einen neuen Gang zu servieren. Stevie und Elsie schafften es nur selten bis zum Nachtisch. Oft erschien Kay in der Küchentür und bedeutete mir, dass ich mit der Evakuierung beginnen könne. Natürlich lief das nicht kampflos ab, denn man hatte die Kinder mit dem Nachtisch als Belohnung für gutes Verhalten geködert. Aber sie hatten «Aufhebens gemacht», wie Mrs Pike es nannte, und ihr Abschied nach oben in meinen Armen war laut und hing uns wie der Schweif eines Papierdrachens nach, vom Esszimmer die breite Vordertreppe hoch, weiter über den Treppenabsatz mit den beiden Sofas unter den Fenstern bis hinauf in ihre Zimmer im ersten Stock.
So ging das die ersten sechs Tage. Dann kam Hugh an. Er fuhr in einem durchgerosteten Malibu die Einfahrt entlang. Wir saßen beim Frühstück, das ich mit den anderen im Esszimmer einnahm, um die morgendliche Energie der Kinder mit im Zaum halten zu können. Margaret bemerkte ihn zuerst. Wir gingen alle auf die Loggia hinaus, wie Mrs Pike den überdachten Vorbau nannte, dessen Säulenbögen zur Einfahrt ausgerichtet waren.
«Aber Thomas sollte dich doch am Nachmittag am Logan abholen», rief Mrs Pike ihm zu, während sie sich daranmachte, die vielen Treppenstufen hinabzusteigen.
Hugh lehnte am Auto. «Dann fahre ich wohl am Nachmittag zurück zum Flughafen und warte dort auf ihn.»
«Sei nicht albern.» Mrs Pike, in Strumpfhosen und Pumps, nahm vorsichtig eine unebene Stufe nach der anderen.
«Sieh ihn dir an. Keinen Zentimeter geht er auf sie zu», sagte Kay zu mir. Dann rief sie hinab: «Wo ist Molly Bloom?»
«Molly Bloom hat eine neue Stelle.»
«Sie kommt nicht?»
«So isses.» Er zog eine Reisetasche aus dem Kofferraum. «Ihr habt mich ganz für euch allein.»
Als Mrs Pike den Kiesboden erreicht hatte, breitete er die Arme aus und rief: «Goldmütterchen.»
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben.
«Wer ist Molly Bloom?», fragte ich Kay, während wir darauf warteten, dass die beiden hochkamen. Ich trug Elsie auf dem Arm und sie Stevie. Beide wollten runter, aber wir ignorierten sie. Kay und ich waren bereits an einem Punkt angelangt, an dem wir uns wortlos verstanden, wenn es um die Kinder ging. Keine von uns musste darauf hinweisen, wie gefährlich die steile Treppe für sie wäre.
«Hughs Ehefrau.»
Hugh sah zu jung, zu verwildert aus, um eine Ehefrau zu haben. Er sah aus wie ein Junge, der gerade aus dem Internat nach Hause gekommen war. Er war schlaksig und schien noch zu wachsen, die zerrissenen, ungewaschenen Hosen waren eine Idee zu kurz, den Armen fehlten die Muskeln. Und er hatte die zerzausten Haare eines Teenagers, wuschelig und unkämmbar. Er hatte den Arm um seine Mutter gelegt, als sie die Treppe heraufkamen, und die beiden sahen aus wie ein Pärchen in einem Film, die reiche alte Dame, die sich mit dem armen Landstreicher angefreundet hat.
Als er oben angekommen war, schlang er die Arme um seine Schwester und Stevie und drückte beide, bis sie quietschten.
Dann drehte er sich zu mir. Er hatte helle, wässerig grüne Augen. «Eine Fremde in unseren Reihen.»
«Das ist Carol. Sie hilft meiner Mutter.»
«Hallo, Cara.» Anstatt meine Hand zu schütteln, fuhr er Elsie durch die Haare.
«Carol», sagte Kay.
Aber er beachtete sie nicht. Er beugte sich hinab, ließ Stevie hoch in die Luft fliegen und stimmte ein Lied an über jemanden, der einen Arzt um weitere Pillen anbettelte.
Stevie kreischte vor Vergnügen.
Ich spielte das Lied in meinem Kopf weiter. Die Stones. Mother’s Little Helper. Ich war begeistert, dass er es nicht erklärte, sondern sicher war, dass ich es verstehen würde.
«Setz ihn ab, sonst weckt er noch die Toten», rief Mrs Pike.
Betont eilfertig stellte er Stevie wieder auf den Boden, dann beugte er sich zu ihm hinab. «Du wirst die Toten wecken», knurrte er ihm langsam ins Ohr. «Und die Toten sind unsere einzigen Freunde hier.»
Stevie versteckte sein Gesicht zwischen den Beinen seiner Mutter.
«Du liebe Güte, Hughie, er ist vier», sagte Kay.
«Du liebe Güte? Wer bist du denn, Mrs Milkmore?» Er drehte sich zu mir um. «Kennst du Mrs Milkmore?»
«Herrje, so viel zum Thema ‹die Toten wecken›», sagte Kay.
«Glaubst du, sie ist tot?» Hugh stellte sich aufrecht hin, streckte die Brust raus und sprach mit verzerrtem Mund und kehliger Stimme. «Du liebe Güte, Kay, zieh dir sofort einen anderen Rock an. Unsere Schule ist keine Nudistenkolonie!»
«Oh Gott, du hörst dich genauso an wie sie! Das hat sie wirklich gesagt, nicht wahr?»
Hinter ihnen verschwand Mrs Pike im Haus. Ihr weißes Hemd und der karierte Rock blitzten kurz hinter dem Fenster auf, sie war auf dem Weg zum Schreibtisch. Hugh blickte zum Pool und dem Meer dahinter. «Erinnert mich alles an die Hochzeit.»
Kay beobachtete ihre Mutter durch ein Fenster. «Tja, wir haben sie in weniger als einer Minute vertrieben. Vielleicht ein Rekord.»
«Wie gewonnen, so zerronnen.»
«Also, ich erinnere mich vor allem an diesen weinenden Pfarrer», sagte Kay und drehte sich wieder zu ihm um.
«An den erinnern sich alle. Er hat uns das Rampenlicht gestohlen. Wo hatte sie den eigentlich aufgetrieben?»
«Ich glaube, er ist der Typ, der im Sommer immer die Vertretung in der Kirche macht.»
«Nein, das war Reverend Carmichael.»
«Reverend Carmichael? Wie zum Teufel kannst du dich an solche Sachen erinnern? Wir haben doch kein einziges Mal den Gottesdienst dort besucht. Ich weiß nie, ob du einfach nur Scheiße …» Sie hielt sich den Mund zu.
Hugh riss seine leuchtenden grünen Augen auf. Das Weiß war von hellen roten Fäden durchzogen. Er beugte sich zu Stevie hinab. «Mommy hat ein böses Wort in den Mund genommen.»
Stevie kicherte verunsichert.
«Und, sind es gute Erinnerungen?», fragte Kay.
Er blickte wieder in die Ferne, nickte bedächtig. Er hatte noch mehr zu sagen, schwieg aber. Dann kratzte er sich an einem seiner knöcherigen Ellenbogen und meinte: «Es war zauberhaft. Wie ein langer Traum.» Er drehte sich um und blickte zu mir. «Elsie macht dir gerade ein wunderschönes Armband aus frischer Kacke.»
Aus Elsies Windel tropfte es auf mein Handgelenk. Als ich die große dunkle Treppe hochraste, fühlte ich mich leicht, in meiner Brust regte sich etwas Neues, Aufregendes, eine Art Helium, das mich von Stufe zu Stufe schweben ließ und das Atmen erschwerte, es aber irgendwie auch überflüssig machte. Die Kacke war durch die nutzlose Stoffwindel und den Gummiüberzug gesuppt, und ich musste Elsies gesamte Kleidung wechseln. Ich eilte zurück auf die vordere Veranda, aber sie waren schon weg.
Hugh brachte den Tagesablauf von allen durcheinander. Die Kinder warteten darauf, dass er aufwachte. Ich wartete darauf, dass er herunterkam, bevor wir das Haus verließen. Kay wartete auf den Nachmittag, wo er uns am Pool Gesellschaft leistete und sie offen reden konnte, ohne dass ihre Mutter dabei war.
«Sie besteht darauf, dass die Kinder zusammen mit uns zu Abend essen», erzählte sie ihm an diesem Nachmittag, «aber eine verfluchte Stunde nach ihrer Bettzeit. Das ist das einzige Mal am Tag, dass sie sie sieht, und die beiden verhalten sich dann natürlich so schlimm wie nie. Sie sagt immer, sie sind so sensibel und fragil. Sie sind einfach nur scheißerschöpft, Ma.» Wenn sie mit Hugh sprach, klang Kay wie mein Vater nach ein paar Drinks. Sie war eine ganz andere Person als vorher.
Hugh lag rücklings auf dem Betonboden, seine Füße und Schienbeine baumelten im Wasser. Er warf immer wieder ein Kuscheltier von Stevie in die Luft und fing es auf, einen blauen Bären mit einem weißen Stern auf der Brust. Stevie beobachtete ihn nervös, während er sich von mir in einem roten Schwimmring durch das flache Wasser ziehen ließ. Ich war ein Langflossen-Grindwal, hatte er bestimmt, und musste sein Boot ans Ufer ziehen.
«Ich weiß nicht, ob wir Kinder haben werden.»
«Was? Warum nicht?»
Hugh antwortete nicht.
«Will Raven keine?»
«Stevie», rief Hugh, «dieser Bär will mit an Bord.» Er warf nicht weit genug, und der Bär landete mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Stevie jammerte, dass der blaue Bär nicht schwimmen könne, und ich fischte ihn schnell heraus, bevor sich sein Fell vollsaugen konnte. Kay wartete immer noch auf eine Antwort ihres Bruders, aber sie blieb aus.
Hugh hatte Raven (ich war mir nicht sicher, ob das ihr richtiger Name war oder ob Hugh ihn ihr gegeben hatte, so, wie er mich Cara getauft hatte; aber alle in der Familie nannten sie so, außer Kay, wenn sie Molly Bloom sagte, eine Anspielung, die ich erst im Englischunterricht in der zwölften Klasse verstehen würde) letzten Sommer im Garten des Hauses geheiratet. Bevor er ankam, hatte das niemand erwähnt, aber jetzt war es ständig Thema. Nach einer Weile merkte ich, dass es vor allem Mrs Pike war, die das Fest aufbrachte. Ich hatte das Gefühl, dass die Hochzeit sehr teuer gewesen sein musste und es in der Stadt immer noch einige offene Rechnungen gab (bestimmte Geschäfte, vor allem der Getränkemarkt, waren zu vermeiden, und man musste stattdessen weiter entfernt liegende Läden ansteuern). Mrs Pike musste ihr Geld zusammenhalten, allerdings hörte ich Thomas einmal sagen, dass sie sich das alles nur einbildete und sich deswegen furchtbar stresste. Aber Mrs Pike schien Hugh die große Hochzeit nicht zu verübeln. Sie musste sich nur mehrmals am Tag versichern, dass sie sich auch gelohnt hatte. Sich daran zu erinnern und darüber zu sprechen, erhöhte für sie den Wert des Festes oder gab ihr zumindest das Gefühl, etwas für ihr Geld zu bekommen, so als würde es immer noch für sie arbeiten, wie bei einem besonders teuren Gerät, dessen häufiger Gebrauch die hohen Anschaffungskosten rechtfertigt.
Nach einigen Tagen wusste ich so viel über dieses eine Wochenende, dass ich einen Film darüber hätte drehen können: die lange und unangemessene Rede von Hughs Freund Kip, der beim Essen am Vorabend über Hughs Ex-Freundin Thea sprach; Ravens schwarzes Kleid (das nicht zu ihren Haaren gepasst hatte – trotz ihres Namens war sie blond), das «die ganzen alten Tanten» (nicht klar, wessen) in Unruhe versetzt hatte; Stevie, der die Ringe auf seinem sehr wichtigen – und sehr schmuddeligen – Schlafkissen Nachtinacht zum Brautpaar trug; der schluchzende Pfarrer; der Freund der Familie, der nach dem Empfang mit dem Auto vom Hafendamm abkam und sehr, sehr viel Glück hatte, dass gerade Ebbe war.
Bis Hugh kam, war Mrs Pike nie mit uns zusammen am Pool gewesen. Jetzt kam sie jeden Nachmittag nach ihrer «Mittagsrast» zu uns hinaus. An seinem zweiten Tag spielten Hugh und ich gerade Seehund mit Stevie und Elsie. Die Kinder trieben in ihren Gummireifen und Schwimmflügeln auf dem Wasser, und wir tauchten zusammen unter, um sie an den Füßen zu kitzeln und ihrem Quietschen zu lauschen.
«Du hast mich gebeißt!», beschwerte sich Elsie nach einigen Durchgängen.
Hugh fletschte die Zähne, und sie kreischte.
Margaret trat auf die Veranda, stieg die vier steinernen Treppenabsätze hinab und ging durch den ganzen Senkgarten bis zum Tor des Poolbereichs, wo sie sagte: «Deine Frau ist am Apparat, Hugh.»
«Ach, Margaret – wer hat niemals Ruh? Hugh», sagte er.
Auf Margarets Gesicht erschien ein Grinsen. «Nein, Hugh, ich lasse dir keine Ruh.» Mit einer einzigen fließenden Bewegung stieg er aus dem Pool. Das Wasser triefte von seinem Kopf auf den Rücken. Die grüne Badehose klebte an seinem Po, und ich konnte seine Form genau erkennen, zwei knöchrige Tränen. Er wackelte mit ihnen, als ob er spürte, dass ihm jemand zusah. Dann joggte er über das Gras, und als er die Treppenstufen erreicht hatte, hatten sich bereits einige seiner Ringellocken wieder aufgestellt.
«Nun, man kann wohl kaum übersehen, dass er immer noch Feuer und Flamme ist», sagte Mrs Pike.
«Nein, das kann man wohl kaum», sagte Kay.
Ohne Hugh in ihrer Mitte wirkten sie plötzlich so, als würden sie sich kaum kennen. Kay lag steif auf ihrer Liege, die Hände auf einem aufgeschlagenen Buch, das sie umgedreht auf ihrem Schoß abgelegt hatte und dem sie sich, das wusste ich, wieder widmen wollte. Aber Mrs Pike, auf einem der kleineren, aufrechten Stühle unter dem Sonnenschirm, hatte keinen Lesestoff oder andere Ablenkungen. Und auch wenn sie nicht dauernd redete, sprach sie doch genug, um einen davon abzuhalten, sich wieder dem Lesen zu widmen. Ich war froh, nur eine Angestellte im Pool zu sein, momentan eine brave, blau geringelte Krake, die brave Kinder durch das Wasser zog. Stevie trug Ohrstöpsel, weil er anfällig für Ohrenentzündungen war. (Hugh foppte ihn immer, indem er so tat, als würde er etwas sagen, nur damit Stevie rief: Ich kann dich nicht hören, ich habe Uhrstöpsel drin!) Elsie riss ihm einen Stöpsel aus dem Ohr, und Stevie kreischte.