House of Passion - Der Club der verbotenen Lüste - Robin Schone - E-Book
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House of Passion - Der Club der verbotenen Lüste E-Book

Robin Schone

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Beschreibung

Wo dunkle Fantasien wahr werden: Der sinnliche Roman »House of Passion – Der Club der verbotenen Lüste« von Robin Schone jetzt als eBook bei dotbooks. In seinen Fesseln fühlt sie sich zum ersten Mal frei … England zur viktorianischen Zeit: Bisher hat Frances nur für andere gelebt – als Ehefrau, Mutter, und nun soll sie als junge Witwe auf dem Land ein genügsames Dasein fristen. Um wenigstens für einige Tage dieser Enge zu entkommen, reist Frances ins pulsierende London, wo sie bei einem Museumsbesuch unvermittelt in die Sitzung eines exklusiven Clubs gerät. Eine sehr pikante Situation, denn diese Gentlemen und Ladies haben sich einem einzigen Ziel verschrieben: dem hemmungslosen Lustempfinden. Zugleich abgestoßen und fasziniert, wird Francis prompt von dem gefährlich attraktiven Anwalt James Whitcox herausgefordert, am nächsten Treffen teilzunehmen. Aber darf sie es wirklich wagen, sich ihm auszuliefern – und ihren eigenen dunkelsten Wünschen? »Eine sinnliche Romanze, die die viktorianische Doppelmoral und die Strafen für Frauen, die sie ignorierten, genau unter die Lupe nimmt, um mit großer Gelassenheit alles ins rechte Licht zu rücken.« Library Journal Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Liebesroman »House of Passion – Der Club der verbotenen Lüste« von USA-Today-Bestsellerautorin Robin Schone. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 660

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Über dieses Buch:

In seinen Fesseln fühlt sie sich zum ersten Mal frei … England zur viktorianischen Zeit: Bisher hat Frances nur für andere gelebt – als Ehefrau, Mutter, und nun soll sie als junge Witwe auf dem Land ein genügsames Dasein fristen. Um wenigstens für einige Tage dieser Enge zu entkommen, reist Frances ins pulsierende London, wo sie bei einem Museumsbesuch unvermittelt in die Sitzung eines exklusiven Clubs gerät. Eine sehr pikante Situation, denn diese Gentlemen und Ladies haben sich einem einzigen Ziel verschrieben: dem hemmungslosen Lustempfinden. Zugleich abgestoßen und fasziniert, wird Francis prompt von dem gefährlich attraktiven Anwalt James Whitcox herausgefordert, am nächsten Treffen teilzunehmen. Aber darf sie es wirklich wagen, sich ihm auszuliefern – und ihren eigenen dunkelsten Wünschen?

Über die Autorin:

Robin Schone begann schon mit 15 Jahren romantische Geschichten zu schreiben, heute ist sie eine gefeierte amerikanische Bestsellerautorin. Für ihre stets außergewöhnlichen und beliebten historischen Liebesromane wurde sie 2008 von der Romantic Times ausgezeichnet. Robin Schones Romane wurden bereits in 13 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann in den USA.

Robin Schone veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Dark-Victorian-Romance-Romane »Silk and Sin – Ein unmoralisches Angebot«, »Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel«, »Verführt von einem Lord« und »Dark Fire – Das Erwachen der Leidenschaft«.

Die Website der Autorin: www.robinschone.today/

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eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2007 unter dem Originaltitel »Scandalous Lovers« bei Kensington Publishing Corp., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Der Club der verbotenen Lüste« im Ullstein Taschenbuch.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2007 by Robin Schone

Published by Arrangement with Robin Schone

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © Period Images sowie © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-801-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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USA-Today-Bestsellerautorin Robin Schone

House of Passion: Der Club der verbotenen Lüste

Dark Victorian Romance

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff

dotbooks.

Dieses Buch widme ich den Frauen – allen Frauen – und den Männern, die stark genug sind, uns so zu lieben, wie wir sind,und nicht so, wie sie uns gern hätten.

»Nur das Zusammenspiel vonSex und Herz kann Ekstase schaffen.«

Anaïs Nin

Kapitel 1

Plötzlich sah er mit den Augen einer Frau.

Die fünfflammige Gaslampe. Den sechs Meter langen Mahagonitisch.

Die zwölf Mitglieder des Damen- und Herrenclubs.

Ärztin. Bankier. Publizistin. Lehrerin. Studentin. Professor. Suffragette. Architekt. Philanthropin. Journalist. Steuerberater ...

Unweigerlich richtete sich sein Blick auf den Anwalt am Kopfende des Tisches. Sein krauses, kastanienbraunes Haar war an den Schläfen grau meliert, kompromisslose Fältchen lagen wie Strahlen um die kalten braunen Augen.

Die Wahrheit traf ihn mit voller Wucht.

In den 24 Jahren seiner Ehe war seine Frau die perfekte Gastgeberin und Mutter gewesen. Und dann war sie gestorben.

Allein.

Unter den Rädern einer Kutsche.

Er hatte die Frau, die seinen Namen getragen und seine beiden Kinder zur Welt gebracht hatte, gar nicht gekannt. Über ihre Ängste, Träume und Bedürfnisse hatte er nichts gewusst.

Während er den Mann mit den grau melierten Schläfen und den kalten braunen Augen anstarrte, wurde ihm klar, dass sie diesen Mann jeden Morgen beim Frühstück gesehen hatte: einen Fremden. James Whitcox. Ehemann. Vater. Verteidiger. Kronanwalt.

Die Erkenntnis brach sich in einem Knall Bahn. Als die Mahagonitür gegen die burgunderrot tapezierte Wand prallte, versetzte sie James zurück in seine männliche Sicht.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er die Szenerie durch die hellgrünen Augen der Frau gesehen, die nun wie erstarrt in der Tür stand und die Hand nach dem Messingtürknauf ausstreckte, der ihr entglitten war. Ihr Gesicht unter dem runden Strohhut zeigte sanfte Spuren ihres reifen Alters. Leuchtend rote Haare rahmten ihre Schläfen. Ihr grün karierter Samtmantel mit passendem Rock und grüner Seidenpolonaise war vorbehaltlos feminin.

Diese Frau versteckte ihre Sexualität nicht. Sie gehörte eindeutig nicht dem Damen- und Herrenclub an.

Ein Stuhl quietschte in das Dröhnen bebenden Holzes. Er sah die Mahagonitür von der Wand abprallen.

Ihre zierlichen Finger steckten in einem braunen Glacéhandschuh.

Jeden Augenblick würde diese Hand nach dem Türknauf greifen und die Frau würde fortgehen. Eine Fremde. Wie seine Frau ihm eine Fremde geblieben war. Und er würde nie erfahren ...

James fing ihren Blick ein. »Was begehrt eine Frau?«

Die barschen Worte hallten vom Kristalllüster wider.

Sein Tonfall klang nicht nach dem Gentleman, als der er erzogen war: in der Öffentlichkeit, bei Gericht, im Bett. Es war die Stimme eines Mannes: herrisch, fordernd.

Der Verdruss in den Augen der Frau schlug in Verwunderung um. Gleichzeitig legte ihre Hand sich um den Messingtürknauf. »Ich bitte um Verzeihung?«

Ihre Stimme war klar. Eine leicht ländliche Färbung milderte die gepflegte Vornehmheit ihrer Sprache.

Sie war nicht aus London.

Doch ihre Herkunft spielte keine Rolle. James wollte nicht das Pardon einer Dame der vornehmen Gesellschaft, sondern die Aufrichtigkeit einer Frau.

»Begehrt eine Frau die Berührung eines Mannes?«

Seine Frau hatte früher mit ihm über die neuesten on dits gesprochen, über ihre wohltätigen Aktivitäten und über ihre Kinder. Die Mitglieder des Damen- und Herrenclubs hatten in den bisherigen Sitzungen über Biologie, Geschichte, Philosophie und Soziologie der Geschlechtlichkeit diskutiert. Nicht ein einziges Mal hatten sie die Existenz eines schlichten menschlichen Verlangens zugegeben.

James hatte dieses Verlangen. Galt das für diese Frau auch?

Mit dem scharfen Blick eines Staatsanwalts musterte er ihr Gesicht. »Begehrt eine Frau, einen Mann zu berühren?«

Der Schock machte die Anwesenden sprachlos – alles Männer und Frauen, die den Unterschied zwischen Sexualkunde und Sexualität erst noch begreifen mussten.

»Fühlen Frauen sich vom Geschlecht eines Mannes abgestoßen?«

Die Räder einer vorbeifahrenden Kutsche kreischten. Unten von der Straße wehte entfernt das Plärren einer Polka herauf. In dem burgunderrot tapezierten Sitzungssaal herrschte absolute Stille.

»Was genau begehrt eine Frau von einem Mann?«, hakte James nach.

Etwas flackerte in den Augen der Fremden auf – etwas, was James noch nie zuvor gesehen hatte.

»Wenn Sie bitte unsere Entschuldigung im Namen von Mister Whitcox annehmen würden, Madam.« Die männliche Zensur machte ihre Miene verschlossen. »Wir befinden uns in einer geschlossenen Sitzung, wie Sie sehen. Wenn ich Ihnen den Weg ... «

Sofort schweifte ihr Blick von James zu Joseph Manning, dem Gründer und Präsidenten des Damen- und Herrenclubs.

Sie öffnete den Mund ...

Vielleicht, um die Entschuldigung im Namen von James anzunehmen. Oder um nach dem Weg in den Museumssaal zu fragen, den sie eigentlich gesucht hatte und in dem fremde Männer ihr ganz sicher keine unerwünschten männlichen Bedürfnisse aufzwängten.

»Wenn Sie bitte meine Entschuldigung im Namen von Mister Manning annehmen würden«, schaltete James sich skrupellos ein. »Er vergisst, dass es Zweck dieses Damen- und Herrenclubs ist, geschlechtliche Beziehungen zu diskutieren.«

Der Blick der Frau richtete sich wieder auf ihn.

»Doktor Burns«, James deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die Frau links neben ihm, »glaubt fest an Darwins Theorie der Zuchtwahl. Dagegen ist Mister Addimore«, er wies auf den Steuerberater zu seiner Rechten, »mehr an Malthus’ These der Bevölkerungskontrolle interessiert. Mistress Clarring«, er zeigte auf die Philanthropin rechts neben dem Steuerberater, »ist Expertin für erotische Kompositionen in Stillleben.«

»Mister Whitcox, das verstößt gegen jede ...«

»Hätten Sie uns nicht unterbrochen«, sagte James, ohne auf die scharfe Zurechtweisung der Publizistin zu achten, die eine attraktive Frau war, deren Schönheit ihn jedoch nicht berührte, »dann würde ich jetzt einen Vortrag über britisches Scheidungsrecht halten. Interessiert Sie britisches Scheidungsrecht?«

Die kleine Hand der Frau ballte sich zusammen. »Nein, vielen Dank ... «

»Interessiert Sie Darwins Theorie der Zuchtwahl?«

»Ich bin mit Darwins Theorien nicht vertraut.« Ihre Wangen färbten sich dunkelrot. »Ich muss wirklich ...«

Gehen.

Er konnte sie nicht gehen lassen – nicht bevor er wusste, ob das kurze Aufleuchten in ihren Augen tatsächlich von weiblichem Verlangen und nicht vom flackernden Gaslicht herrührte.

»Interessieren Sie sich für erotische Kunst?«

Er kannte die Antwort, bevor sie den Mund öffnete – die einzige Antwort, die eine anständige Frau geben durfte.

»Ich habe noch nie erotische Kunstwerke gesehen ...«

»Möchten Sie gern welche sehen?«

Die Frau schreckte zurück. Gleichzeitig ertönte es im Chor: »Mister Whitcox!«

»Miss Palmer.« James wandte sich an die hagere, anämische Lehrerin, die gern blumige Prosa in archaischen französischen Romanen unterstrich und als erotische Metaphern etikettierte. »Haben Sie je eine französische Postkarte gesehen?«

Ihre spitze Nase färbte sich rot. »Sir!«

Nacheinander schaute James die anwesenden Damen und Herren an, die steif und aufrecht dasaßen, zehn von ihnen in Armstühlen mit Medaillonrücken, der Journalist in einem Rollstuhl mit geflochtener Rückenlehne. Er hatte sich eingehend über jedes Mitglied erkundigt, bevor er ihrem Zirkel beigetreten war. Es waren fünf Junggesellen, fünf alte Jungfern und eine verheiratete Frau, deren Mann lieber Vergessen im Alkohol als den Trost weiblicher Arme suchte.

»Wir haben über sexuelle Symbole in der Kunst diskutiert.« Sein Blick glitt über die jungen Männer in ihren dunklen Maßanzügen, die seinem ähnelten, und verweilte bei den jungen Frauen in ihren konservativen Kleidern und dunklen Hauben. »Aber wie viele der anwesenden Damen haben je ein Gemälde oder eine Fotografie gesehen, die ausschließlich darauf abzielten, zu erregen oder aufzureizen?«

Mit wutroten Flecken in den Gesichtern starrten die Frauen an James’ Schulter vorbei auf die fein säuberlich neben seiner linken Hand gestapelten Notizen über englisches Scheidungsrecht, auf den Mahagonitisch ... überallhin, nur nicht in seine Augen.

Einen geschlechtslosen Gentleman wussten sie zu nehmen. Aber mit einem Mann und seiner Sexualität konnten sie nicht umgehen.

»Wir sind hier, um über Sexualkunde zu sprechen, Sir, nicht über Pornographie«, rief Jane Fredericks ihn zur Ordnung. Die weiße Feder an ihrer schwarzen Haube zeigte zur Decke wie ein Pfeil zum Himmel.

Er musterte die 27-jährige Suffragette. Ihr Idol war Josephine Butler, die Pfarrersfrau, die eine erfolgreiche Kampagne für die Aufhebung des Gesetzes über ansteckende Krankheiten geführt hatte. Dieses Gesetz hätte den Männern nämlich ermöglicht, ihre Sexualität zu genießen, ohne dafür leiden zu müssen. Kein einziges Mal in den sieben Monaten, seit James Mitglied des Damen- und Herrenclubs war, hatte er in ihren Augen auch nur einen Funken von Wärme, Verlangen oder Neugier entdecken können.

»Wollten Sie noch nie sehen, was Männer erregt, Miss Fredericks?«, fragte er sachlich.

Zwei frigide grüne Augen starrten die Wand hinter ihm an. »Nein.«

Sie glaubte an ihre Lüge.

Noch vor sieben Monaten hätte auch James ihr geglaubt.

Er schaute die fremde Frau mit den hellgrünen Augen an. »Was ist mit Ihnen, Madam? Möchten Sie gern eine französische Postkarte sehen?« James fiel das Gold ein, mit dem er seine Mätressen bezahlt hatte, und die Juwelen, die er seiner Frau geschenkt hatte. Beides waren Entschädigungen dafür, dass sie seine Berührungen über sich hatten ergehen lassen. »Oder glauben Sie, dass Frauen sich von Natur aus von Dingen abgestoßen fühlen, die einem Mann Lust bereiten?«

Rotgoldende Wimpern beschatteten ihre Wangen. Sie hatte fein geschnittene Wangenknochen. Dann schoss ihr Blick zu seiner linken Hand. Sie starrte auf seinen Ehering, ein Zeichen der Ehrbarkeit.

Die Heirat hatte ihm den Weg zu so manchen politischen Ämtern geebnet.

Was hat sie meiner Frau gebracht?, fragte er sich. Gesellschaftliches Ansehen? Als Tochter des Finanzministers hatte sie schon vor ihrer Ehe mit James eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft eingenommen.

Was hatte die Ehe der modisch gekleideten Frau gebracht, die noch immer auf seinen Finger mit dem verlogenen Ring starrte? Sie strahlte Selbstsicherheit aus, die aus dem Wissen um männlichen Schutz erwuchs, aber genoss sie es auch, die Begierde eines Mannes zu befriedigen?

Schließlich hob die Fremde langsam die Lider, schaute ihm fest in die Augen und sagte ruhig: »Ich denke, Ihre Frau dürfte am besten in der Lage sein, Ihre Fragen zu beantworten, Sir.« Der Strohhut verdeckte ihr Gesicht, als sie zurücktrat.

»Meine Frau ist tot«, hallte es schneidend durch die kalte Frühlingsluft.

Sie stockte, ihr Kopf schnellte hoch.

James wartete schon auf ihren Blick. »Ich werde nie erfahren, welche meiner Berührungen sie erregt und welche sie abgestoßen haben. Ich werde nie erfahren, in welcher Hinsicht ich bei ihr versagt habe, ob ich überhaupt versagt habe. Ich werde nie erfahren, was sie brauchte, weil ich nie danach gefragt habe.«

»Warum nicht?«

Die Gegenfrage kam auf Anhieb, während die Frau weiter fluchtbereit wirkte.

»Weil ich Angst hatte«, sagte James.

Sein Eingeständnis löste Entsetzen bei den Damen im Raum aus. Ein Mann konnte manches tun und sagen, solange er nicht zugab, dass er Angst hatte.

»Ich habe immer noch Angst.«

Männlicher Protest übertönte die weiblichen Entsetzenslaute. »Also, ich muss schon sagen ...«

James ignorierte den Einwurf des Steuerberaters.

»Ich bin 47 Jahre alt und habe noch nie die Leidenschaft einer Frau erlebt.«

»Mister Whitcox, Sir!«, übertönte die Suffragette stotternd das Zischen der Gaslampe.

»Ich muss wissen, dass es noch nicht zu spät ist.«

Die Frau mit dem leuchtend roten Haar blieb reglos und mit gebannter Miene stehen.

»Ich muss wissen, dass Männer und Frauen die gleichen Bedürfnisse haben.«

Ein Beben ging durch den Tisch: Unten war eine Tür zugeschlagen.

»Ich muss wissen, dass es zwischen Männern und Frauen Ehrlichkeit geben kann.«

Von der Straße hallte ein knapper, drängender Ruf herauf.

Die Einsamkeit, die James in jeder wachen Minute quälte, dehnte sich endlos vor ihm aus. »Ich muss wissen, dass ein Mann und eine Frau im selben Haus wohnen, im selben Bett schlafen und mehr sein können als zwei Fremde.«

Leises Raunen ging um den Mahagonitisch, weibliches Getuschel hob sich von männlichem Murren ab: »Ich hätte niemals ... « – »... hat er wirklich ... « – »nicht er selbst ... « – »... Trauer ... «

»Mister Whitcox, wirklich, Sir«, mahnte Joseph Manning durch das Stimmengewirr. »Es ist doch wahrhaftig nicht nötig, so melodramatisch zu werden.«

»Ich bin nur ehrlich, Mister Manning«, entgegnete James. Mit jeder Faser seines Körpers konzentrierte er sich auf die Frau, die auf der Türschwelle stand. »Empfinden Sie Ehrlichkeit als verletzend, Madam?«

Es fiel ihm nicht schwer, in ihrem Blick zu lesen, was sie empfand: Unsicherheit.

»Ich bemühe mich, es nicht zu tun.«

»Haben Sie Angst vor Ihrer Sexualität, oder jagt ihnen vielmehr die Sexualität eines Mannes Angst ein?«

»Sir, ich kann nicht für alle Frauen sprechen.«

»Ich erwarte auch nicht, dass Sie für alle Frauen sprechen.« Er wollte lediglich, dass sie für sich sprach, von Frau zu Mann.

»Ich bin mir nicht sicher, wie Ihre Frage gemeint ist«, wich sie aus.

James beugte sich vor und forderte sie heraus, eine Frau aus Fleisch und Blut zu sein und kein Vorbild weiblicher Tugend. »Ich frage Sie, ob Sie von einem Mann berührt werden möchten.« Papiergeraschel unterstrich seine Herausforderung. »Ich frage Sie, ob Sie den Gedanken abstoßend finden, dass ein Mann die Berührung einer Frau braucht.«

Ihre Pupillen weiteten sich, bis das Schwarz jede Helligkeit schluckte.

James ließ nicht locker. »Ich frage Sie, ob Sie nachts wach liegen und sich nach der Befriedigung sehnen, die Frauen angeblich nicht begehren.«

Begehren, hallte es durch den Raum.

Seufzend rutschte Wolle über quietschendes Leder. Sechs Frauen beugten sich vor und warteten gespannt, dass eine Geschlechtsgenossin zugab, was sie selbst sich nicht trauten zu gestehen.

»Ich begehre keineswegs die Berührung eines jeden Mannes.« Die Stimme mit der leichten Färbung war ruhig, resolut, das Kinn der Frau energisch. »Aber ja, mich verlangt es durchaus danach, berührt zu werden.«

Ein heftiges Gefühl schnürte James die Brust ab. Er erkannte, dass es Hoffnung war.

»Verlangt es Sie denn auch danach, einen Mann zu berühren?«, fragte er. »Also Lust zu schenken und zu empfangen?«

Der Holztisch ächzte, als fünf Männer sich aufstützten, um die Antwort der Fremden besser zu hören.

Sie atmete tief durch. Der grün karierte Mantel hob und senkte sich über ihrem üppigen Busen. »Ich glaube nicht, dass alle Männer sich Lust schenken lassen möchten.«

Das war nicht die Antwort, die James erwartet hatte. Die gleiche Frage, die sie ihm vorhin gestellt hatte, schoss aus ihm heraus: »Warum nicht?«

Erinnerungen umwölkten ihre Miene. »Wenn es so wäre, würde ein Mann sich gewiss nicht bei einer Frau entschuldigen, nachdem er sie berührt hat.«

James durchzuckte es schmerzlich. Er hatte sich jedes Mal bei seiner Frau entschuldigt, wenn er in ihr Bett gekommen war.

Er hatte sich durch seine Zurückhaltung entschuldigt, um sie nicht mit seiner Männlichkeit zu überwältigen. Er hatte sich durch seine Stille entschuldigt, um nicht beim Höhepunkt durch Keuchen oder animalisches Stöhnen ihren Ekel zu erregen. Ihrer beider Geschlecht hatte sich berührt, nicht sie selbst.

Jeder Höhepunkt, den James erreicht hatte, war mit dem Wissen belastet gewesen, dass seine Frau ihn nicht teilte. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt und sich gefügt. Er hatte seine Pflicht erfüllt und Nachkommen gezeugt. Die eheliche Pflicht hatte sie zu Fremden werden lassen.

»Sie machen sich wohl Gedanken, dass Sie Ihre Frau nicht befriedigt haben«, meldete sich unerwartet eine weibliche Stimme.

James richtete seine Aufmerksamkeit von der Vergangenheit wieder auf die hellgrünen Augen.

»Eine Frau braucht nicht nachts voller Verlangen wach zu liegen. Frauen haben Hände und Finger.« Mit erhobenem Kinn forderte sie ihn heraus, sie ja nicht zu verurteilen. »Wir brauchen keinen Mann, der uns Befriedigung verschafft. Wir sind durchaus imstande, uns selbst zu befriedigen.«

Ein entsetztes Keuchen jagte ihm Schauer über den Rücken.

»Sie wollten von mir wissen, ob Frauen das gleiche Verlangen verspüren wie Männer«, fuhr sie fort. »Ich glaube, ja.«

In der Ferne schlug Big Ben die halbe Stunde.

»Sicherlich gibt es Frauen, die sich von einer Ehe mehr wünschen, als ihre Männer ihnen zu geben vermögen, ebenso wie es gewiss Männer gibt, die mehr begehren, als ihre Frauen zu geben vermögen. Allerdings ist das niemandes Schuld.«

Für einen flüchtigen Moment sprach aus ihren Augen der gleiche Schmerz, den James vorhin empfunden hatte. »Sie sagten, Sie müssten wissen, ob es zwischen Männern und Frauen Ehrlichkeit geben könne. Ich denke, wir beide haben gerade bewiesen, dass es tatsächlich möglich ist. Guten Tag, meine Damen«, sie neigte kurz den Kopf, »meine Herren.«

Nachdem sie das Tor zu den weiblichen Begierden geöffnet hatte, schloss sie nun die Tür.

»Sie haben doch Angst vor Ihrer Sinnlichkeit«, stichelte er.

Die Fremde hielt mitten in der Bewegung inne, und ihr Kopf fuhr hoch.

»Ich bin 49 Jahre alt.« Lachen ließ ihr Gesicht plötzlich leuchten, und die weiche Haut an den Augenwinkeln legte sich in Fältchen. »Und davon war ich 34 Jahre verheiratet. Ich habe fünf Kinder und acht Enkel. Ich versichere Ihnen, Sir, da ist mir keine Zeit geblieben, Angst vor meiner Sinnlichkeit zu haben.«

Dass sich allerdings auch keine Gelegenheit geboten hatte, sie zu erforschen, brauchte sie nicht ausdrücklich zu erwähnen.

James stimmte nicht in das Lachen ein, mit dem sie so großzügig umging.

Sie hatte also mit 15 Jahren geheiratet; damals war er 13 und ging in Eton zur Schule.

Aus dem rechten Augenwinkel sah er Silber aufblitzen, das Funkeln eines Brillengestells.

Marie Hoppleworth, eine ewige Studentin von 36 Jahren, musterte die rätselhafte Erscheinung in der Tür.

Was brachte diese Frau wohl dazu, sich vor zwölf Fremden derart ehrlich zu äußern, während die Mitglieder des Damen- und Herrenclubs untereinander nicht aufrichtig zu reden vermochten?

»Sie sind nicht aus London«, stellte er kurz und bündig fest.

Hatten die Augen der Fremden eben noch vor Lachen geleuchtet, so verbargen sie sich nun hinter einem vorsichtigen Schleier. »Nein.«

James war schon zu lange Prozessanwalt, um in ihrer Miene nicht zu erkennen, dass sie sich versteckte. Nur wovor?

Bewusst benutzte er den provozierenden Beinamen der Metropole, die Jung und Alt, Arm und Reich anzog wie das Feuer. »Warum sind Sie in die Stadt der furchtbaren Freuden gekommen?«

»Ich wollte eine Saison voller Unterhaltung und Zerstreuung erleben«, antwortete sie plötzlich reserviert.

»Ohne Ihren Mann?«, fragte James scharf.

War sie nach London gekommen, um einen Mann zu finden, der sich nicht entschuldigen würde, nachdem er sie berührt hatte?

Wie hätte er es ihr zum Vorwurf machen sollen?

Sie schreckte sichtlich zurück. »Ich bin Witwe, Sir.«

Eine Witwe, die keine Trauerkleidung trug.

Seine Jugend war von Ehrgeiz erfüllt gewesen, ihre von Kindern. Sehnte sie sich etwa danach, als reife Frau nun all das zu erleben, was sie als 15-jähriges Mädchen versäumt hatte?

Hatte sie – ebenso wie er vor sieben Monaten – vom Damen- und Herrenclub gehört und gehofft, hier etwas über Leidenschaft zu erfahren?

»Sie haben meine Fragen beantwortet«, erklärte James und schaute sie eindringlich an. »Was möchten Sie gern von einem Mann erfahren?«

Ihre Oberlippe, die etwas voller war als die Unterlippe, bebte und straffte sich. »Ich würde gern eine Frage stellen, wenn ich darf.«

Keine Frau hatte je ihre Sexualität mit ihm geteilt oder ihn gebeten, seine Sexualität mit ihr zu teilen.

Er wünschte sich so sehr, dass sie ihm Fragen stellte. Er wollte einer Frau mehr sein als bloß ein Fremder.

»Welche?«, fragte James leise.

Dunkle Röte breitete sich von ihren Wangen über die kurze Nase bis über das runde Kinn aus. »Wo ist hier die Toilette bitte?«

Kapitel 2

Frances stieß die Tür zum Waschraum auf.

Sofort fesselten eindringliche braune Augen ihren Blick.

Für einen lähmenden Moment raubte die Sehnsucht in ihrer Brust ihr den Atem: der Wunsch, jung zu sein, der Wunsch, schön zu sein.

Der Wunsch, die Frau zu sein, die dieser Mann aus dem Damen- und Herrenclub so offensichtlich brauchte.

Nach einem ihr inzwischen nur zu bekannten Muster prallte die Tür gegen die Wand. Mit einer Hand umklammerte sie die Türklinke, mit der anderen ihr Täschchen.

Um den Kreislauf der Wiederholungen – ihre Entschuldigung, seine Fragen – zu durchbrechen, biss sie sich auf die Lippe und platzte heraus: »Der Wasserhahn lässt sich nicht zudrehen.«

Licht fiel auf seine markanten Wangenknochen. Er trat einen Schritt vor und reichte ihr seinen Regenschirm. »Erlauben Sie?«

Frances zögerte. Er war ein attraktiver Mann. Glaubte er etwa – wegen ihrer Ehrlichkeit -, dass sie mit ihm flirtete? Hatte er etwa gehört, wie sie sich erleichtert hatte?

Sie ließ die Türklinke los und griff vorsichtig nach dem Regenschirm. Ihre Finger streiften seine nackte, männliche Haut. Hitze drang durch den Glacéstoff und schoss ihr den Arm hinauf.

Er ließ den Regenschirmgriff nicht los.

Verwundert schaute Frances auf

Bei ihrer Größe von 1,70 Meter war sie nicht an Männer gewöhnt, die sie um einen halben Kopf überragten. Er stand so dicht vor ihr, dass sein Mund nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Seine Oberlippe war schmal, seine Unterlippe voll – beide wirkten blütenweich.

Schlagartig fiel ihr auf, dass sie ihm den Durchgang versperrte, und gleichzeitig ließ er den gekrümmten Holzgriff los. Frances trat beiseite und hielt sich an dem schweren Regenschirm fest. Er verschwand durch die Tür. Gleich darauf kam er wieder zurück und schwang seine schwarze Lederaktentasche.

Unwillkürlich wanderte Frances’ Blick nach unten. Die maßgeschneiderte Hose aus schwarzem Wollstoff umhüllte lange, muskulöse Beine.

»Der heiße Zapfen sitzt gern fest«, hörte sie ihn durch das dumpfe Rauschen ihres Blutes sagen, das plötzlich in ihren Ohren pulsierte.

»Ja.« Frances schaute ruckartig hoch. Der Seidenschal schmiegte sich blendend weiß an seinen Wollmantel. Was sollte eine Frau zu einem Fremden sagen, nachdem sie ihm offenbart hatte, dass es sie zwar nach Berührung verlangte, sie aber keinen Mann brauchte, um Befriedigung zu finden? Steif reichte sie ihm den Regenschirm. »Vielen Dank.«

Mit höflichem Kopfnicken wandte sie sich ab. Zu spät merkte sie, dass sie in die falsche Richtung ging. Schritte von zwei Paar Füßen hallten dumpf auf dem Holzboden. Der Mann folgte ihr ... Der Mann holte sie ein.

Siedend heiß spürte sie die Wärme seines Körpers an ihrer Seite. Die geschlossenen Türen um sie herum waren stumme Zeugen ihres Dilemmas. Frances hielt inne. Der Mann neben ihr blieb ebenfalls stehen.

Mit wippender Tournüre drehte sie sich um. »Mister Whitcox.«

Whitcox, hallte es durch den Flur mit den geschlossenen Türen.

Seine Stimme war ebenso unnachgiebig wie sein Blick. »Ja?« Sein Atem roch nach Karamell.

Kaum zehn Meter von ihnen entfernt war eine Treppe. Der Kurator – irgendjemand da unten oder hinter einer dieser geschlossenen Türen – würde sie bestimmt hören, falls sie Hilfe brauchen sollte. Es bestand nicht die geringste Notwendigkeit für ihr Herz, gegen ihr Korsett zu hämmern, als wolle es die Fischbeineinlagen durchbrechen.

»Mister Whitcox«, wiederholte sie leiser. »Ich habe mich bereits dafür entschuldigt, dass ich Ihren Vortrag gestört habe.«

»Es besteht kein Anlass, sich zu entschuldigen«, sagte er gleichmütig. Sein Blick hatte jedoch nichts Gleichmütiges: Er war scharf und eindringlich. »Mich interessiert britisches Scheidungsrecht ohnehin nicht.«

Ihre Frage nach der Toilette hatte nervöses Gelächter ausgelöst. Aber dieser Mann hatte nicht gelacht.

»Sir, ich habe weit mehr Ihrer Fragen beantwortet, als eine Dame sollte.«

Die umschatteten Augen verengten sich. »Ehrlichkeit verletzt Sie also doch.«

»Keineswegs«, stritt sie schnell ab und wusste nicht, ob sie log oder nicht. »Nur habe ich noch nie zuvor einem Mann gesagt, dass ich ... « Die Worte mich selbst befriedige blieben ihr im Hals stecken, und sie straffte ihre Schultern. »Sie werden verzeihen, Sir, ich bin ein solches Maß an Offenheit nicht gewöhnt.«

»Ich auch nicht.«

»Aber Sie sind ein Mann«, wandte sie ein.

Männern gestand man weit mehr Freiheiten zu als Frauen.

»Der ebenfalls Hände und Finger hat«, erklärte er.

Ihr lief es heiß und kalt über den Rücken. »Sie tragen nicht gerade dazu bei, meine Verlegenheit zu mildern, Mister Whitcox.«

Wieder leuchtete das markante Gesicht unter dem Seidenzylinder auf, als besitze es eine eigene Lichtquelle. »Dann werde ich sie teilen, indem ich zugebe, dass ich mich ebenfalls selbst befriedige.«

Der Schock, den ein solches Geständnis hätte auslösen müssen, blieb aus.

Er hatte feingliedrige Hände mit langen, schlanken Fingern. An einem steckte ein goldener Ring, der dem Ehering an ihrem Ringfinger nicht unähnlich war.

»Ich bin nicht Ihre Frau, Sir«, sagte sie sanft.

Als Frances vor drei Wochen an der Victoria Station aus dem Zug gestiegen war, hatte sie gleich ihr erstes Londoner Wunder erlebt: Elektrizität. Eine Glaskugel hatte geleuchtet und war von einem Augenblick zum nächsten dunkel geworden, ohne dass ein Flämmchen geflackert oder allmählich verglimmt wäre. Nun erkannte sie, was das Gesicht des Mannes vorhin hatte leuchten lassen: Lachen. Jetzt war es so schnell verloschen wie die Elektrizität in der Lampe an der Victoria Station.

»Glauben Sie, ich hätte Ihnen diese Fragen gestellt, wenn Sie mich an meine Frau erinnert hätten?«, fragte er ausdruckslos.

Obwohl sie wusste, dass sie die Ursache seiner Belustigung war, wollte sie dieses Leuchten wieder in seinem Gesicht sehen. »Etwa nicht?«

»Erinnere ich Sie an Ihren Mann?«

»Nein«, erklärte Frances wahrheitsgemäß.

Ihren Mann hätte ihr Geständnis bis ins Mark erschüttert, dagegen hatte der Mann, der gerade vor ihr stand, nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

»Wieso haben Sie mir dann geantwortet?«

Der Karamellduft überlagerte den muffigen Museumsgeruch, unter dem ein schwacher Hauch von Benzin lag. Er hatte wohl erst kürzlich seinen Mantel reinigen lassen.

Impulsiv sagte sie: »Vielleicht weil ein Mann da, wo ich herkomme, eine Frau nicht fragt, was sie begehrt.«

»Woher kommen Sie denn?«, erkundigte er sich überraschend.

Kerring, Sussex.

So unerfahren Frances auch war, wusste sie doch, dass eine Frau einem Fremden nicht sagte, wo sie wohnte.

»Aus einem kleinen Dorf im Südosten«, antwortete sie ausweichend.

Ein entferntes Lachen, das mehr zu spüren als zu hören war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Sie glauben also, Männer, die in kleinen Dörfern im Südosten leben« – sein Blick war zu eindringlich, sein Körper zu heiß -, »haben andere Bedürfnisse als Männer, die in London leben?«

Ihr Herz raste. »Ich bin der Überzeugung, dass es in London wenig Land zu bestellen gibt.«

Die Männer in Frances’ Leben – ihr Vater, ihr Mann und nun ihre beiden Söhne – waren Gutsbesitzer, die ihren Schmerz stoisch ertrugen.

Anders als dieser Mann.

Selbstbewusst reckte sie das Kinn in die Höhe. »Ja, vielleicht sind die Männer auf dem Land tatsächlich anders als die Männer in der Stadt.«

»Welche Fragen stellt ein Mann in Ihrem Dorf denn einer Frau?«, hakte er nach.

»Er fragt sie, ob sie seine Frau werden will.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an ihren schüchternen, sanften Ehemann erinnerte, der in seinen Bedürfnissen so schlicht gewesen war wie das Land, das er bestellt hatte. »Nichts anderes verlangt und erwartet man von ihm.«

»Dennoch haben Sie mehr erwartet.«

»Nein«, erklärte sie ruhig und wies damit nachdrücklich zurück, dass ihr Mann sie in irgendeiner Weise vernachlässigt haben könnte. »Mehr habe ich nicht erwartet.«

Gedämpfter Applaus drang auf den Flur. Hinter mindestens einer der Türen am Gang befanden sich also Leute.

»Es sind Ihre Augen«, sagte er unvermittelt.

Frances zwinkerte verständnislos. »Wie bitte?«

»Sie haben so klare Augen wie ein Kind.« Seine Augen hatten nichts Klares, sie waren dunkel und undurchdringlich. »Ohne jede Verstellung.«

Länger, als ihr lieb war, hatte sie von einem Mann nichts mehr gehört, was einem Kompliment über ihre Augen – oder etwas anderem an ihr – nähergekommen wäre.

Sie öffnete den Mund, um ihm zu danken und ihn zu korrigieren: Meine Augen sind hell, nicht klar ... Stattdessen sagte sie: »Sie riechen nach Karamell.«

Sofort biss sie sich auf die Zunge, aber es war zu spät, diese persönliche Bemerkung zurückzunehmen.

»Gerichtsverhandlungen können sich in die Länge ziehen.« Seine Miene war undurchdringlich. »Karamellbonbons helfen gegen die Langeweile. Deshalb habe ich mir diese Angewohnheit zugelegt.«

Erst allmählich ging ihr auf, was sein vertrauliches Bekenntnis zu bedeuten hatte, nämlich dass er Karamellbonbons in den Gerichtssaal schmuggelte.

»Nur zwei Sorten von Männern besuchen Gerichtssäle: Kriminelle und ihre Opfer«, hörte sie sich sagen und wusste selbst nicht, ob es ernst oder scherzhaft gemeint war. Er hatte erwähnt, dass seine Frau tot war. Hatte er sie getötet? Frances kannte weder London noch die Menschen, die hier lebten. Aber welche Art von Männern und Frauen traten einem Club bei, der es sich ausdrücklich zur Aufgabe gemacht hatte, über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu sprechen? »Zu welcher Sorte gehören Sie?«

Sein Gesicht leuchtete, aber sein Tonfall war neutral.

»Prozessanwälte werden gelegentlich mit Kriminellen verwechselt.«

Frances war noch nie einem Prozessanwalt begegnet. Die Freude, dass es ihr gelungen war, dieses Gesicht wieder zum Leuchten zu bringen, verflüchtigte sich prompt. Er war zwar weder ein Verbrecher noch ein Opfer, aber seine Frau war gestorben, und ihr Verlust schmerzte ihn offenbar sehr.

»Ich möchte Ihnen mein Beileid zum Verlust Ihrer Frau aussprechen.«

Seine dunklen Augen sogen ihr Mitgefühl auf. »Wieso erwarteten Sie nicht mehr von einem Mann, als Sie um Ihre Hand zu bitten?«

Wieso besaß ein 15-jähriges Mädchen nicht die Weisheit einer 49-jährigen Frau? Wieso besaß eine 49-Jährige nicht den Körper einer 15-Jährigen?

»Vielleicht erwartet man von anderen nicht mehr als von sich selbst, Mister Whitcox.«

Schatten legten sich auf sein Gesicht. »Sie sagten, Sie seien nach London gekommen, um Unterhaltung zu finden.«

»Ja«, antwortete sie und packte ihr Täschchen fester. Was wollte dieser Mann von ihr? »Das sagte ich.«

»Finden Sie die Stadt denn unterhaltsam?«

»Ja.« Es war nicht gelogen. Frances hatte zahlreiche Parks, Museen und Sehenswürdigkeiten besucht, und Hunderte andere wollten noch erkundet werden.

»Fanden Sie den Damen- und Herrenclub unterhaltsam?«

»Ich fand ihn ...« – anregend, erschreckend – »interessant«, antwortete sie.

»Dann dürfte es für Sie doch auch interessant sein, ihm beizutreten.«

Ein dumpfes Geräusch hallte durch den Flur, gefolgt von einem zweiten: Schritte, die von einem Klacken begleitet wurden. Jemand, der einen Stock benutzte, kam die Treppe herauf.

»Mister Whitcox.« Ihr Herz flatterte. »Wollen Sie etwa Vorschlägen, dass ich Ihrem Club beitreten soll?«

Kurze, schwarze Wimpern verdeckten seine Augen. »Ja.«

Frances’ Pupillen weiteten sich vor Schreck. »Wieso?«

Er war ein weltgewandter Anwalt, sie nur eine einfache Großmutter. Es gab keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen ihnen.

»Weil Sie als einzige Frau, der ich je begegnet bin, den Mut besessen haben, Ihr Verlangen nach sexueller Befriedigung zuzugeben.«

Vor ihrem inneren Auge blitzten die schockierten Mienen der fünf Männer und sechs Frauen auf.

»Ich glaube nicht ...« Sie schluckte und war sich deutlich der Hitze und Feuchtigkeit bewusst, die durch ihre Glacéhandschuhe drangen, ebenso wie des Fleisches zwischen ihren Schenkeln, das nie wieder feucht sein würde. »... dass die Mitglieder Ihres Clubs zu der Art von Ehrlichkeit bereit sind, die Sie sich wünschen.«

»Au contraire.« Frances erkannte, dass es ein Ausdruck aus dem Französischen war, mit dem die gebildeten Londoner wohl gern ihre Worte spickten. »Miss Hoppleworth fand Ihre Aufrichtigkeit recht anregend.«

Frances war überrascht. »Wer ist Miss Hoppleworth?«

»Die Sekretärin.«

Sie erinnerte sich an die dünne, dunkelhaarige Frau, die eine Brille mit silbernem Rand getragen und ihren dicken silbernen Federhalter wie einen Rettungsanker umklammert hatte. »Woher wissen Sie, dass die Dame meine Aufrichtigkeit anregend fand?«

»Sie hat es geäußert.«

Frances atmete Luft ein, die von seinem Atem angewärmt war. »Sie haben über mich gesprochen?«

In seinem Blick lag nichts Entschuldigendes. »Ja.«

Die stockenden Schritte auf der Treppe dröhnten in ihren Ohren.

Der Gedanke, dass man über sie redete – und sie »anregend« fand -, war zugleich aufregend und ärgerlich.

»Was ist mit ...« Frances fehlten die Worte. Herren aus der Stadt luden Frauen vom Land nicht ein, privaten Clubs beizutreten, um über ihr Geschlechtsleben zu reden. »... mit Mister Manning? Und den anderen Mitgliedern?«

»Ich will Sie.« Die dunklen Augen des Anwalts waren undurchdringlich. »Das genügt.«

Ihr blasses Gesicht spiegelte sich in seinen schwarzen Pupillen, die nur wenige Zentimeter von ihren entfernt waren. Kein Fältchen verunstaltete ihr Spiegelbild. Nur ihre schwere Brust strafte das jugendliche Abbild Lügen.

»Ich komme vom Land, Mister Whitcox. Ich hatte keine Gouvernante und habe nicht mal eine richtige Schule besucht.« Sie war in eine einklassige Schule gegangen, in der ein unterbezahlter Vikar und seine überarbeitete Frau unterrichtet hatten. Die Theorien von Darwin und Malthus hatten nicht auf ihrem Lehrplan gestanden, doch sie hatte lesen, schreiben und ein wenig rechnen gelernt, eben alles, was ein Mädchen vom Lande brauchte, um einen Haushalt zu führen. »Ich habe Ihrem Club nichts zu bieten.«

»Bildung spielt keine Rolle««, erklärte er. Als sie in seine dunklen Augen blickte, hätte sie ihm beinah geglaubt. Aber sie wusste es besser. Bildung trennte Männer und Frauen ebenso stark wie Alter, Reichtum und Erfahrung. »In der Schule lernt niemand von uns etwas über Leidenschaft.«

Leidenschaft.

Eine tiefe Wehmut über die Jugend, die sie nicht mehr besaß, und die Freuden, die der Anwalt sich versagt hatte, durchzuckte sie.

»Sie möchten von einer Frau etwas über Leidenschaft erfahren«, stellte sie fast im Flüsterton fest.

»Ja.«

Plötzlich hatte sie ihren Ehemann wieder vor Augen. Er war ruhig im Schlaf gestorben, im Tod ebenso unaufdringlich wie im Leben. Die Wärme seines Körpers war ihren Händen entglitten, wie die Abenddämmerung sich in die Nacht verflüchtigte.

»Ich habe mein erstes Kind mit 16 Jahren bekommen«, sagte sie, weil sie plötzlich wollte, dass er verstand, warum sie in seine Stadt gekommen war. Über 34 Jahre hinweg hatten Freud und Leid ihrer Lieben über ihr Lachen und ihre Tränen bestimmt. »Über Leidenschaft kann ich Ihnen nichts sagen.« Suchend schaute sie in sein umschattetes Gesicht und wünschte inständig, er möge begreifen, was sie selbst nicht verstand. »Denn ich habe sie nie erlebt. Ich verstehe mich darauf, Ehefrau zu sein, ebenso Mutter und Großmutter, aber ich verstehe mich nicht darauf, eine Frau zu sein.«

Verstehen leuchtete in seinen Augen auf.

»Aber Sie möchten eine Frau sein«, raunte er mit rauer Stimme.

Der Klang der stockenden Schritte veränderte sich, als sie von der Treppe auf den Holzfußboden übergingen.

Aus unerfindlichen Gründen spürte Frances einen Kloß im Hals. »Ja, ich möchte eine Frau sein«, bestätigte sie. Sie wollte ihr eigenes Lachen lachen, ihre eigenen Tränen weinen, ihr eigenes Leben leben. Nur dieses eine Mal.

»Sie haben mich gefragt, ob Sie mich an meine Frau erinnern«, sagte er unvermittelt mit so dunklen Augen, dass sie sich am liebsten abgewandt hätte.

»Ja.« Aber nun wollte sie seine Antwort nicht mehr hören.

Fremde pflegten für gewöhnlich höfliche Konversation miteinander. Aber ihr Gespräch hatte nichts Höfliches und Belangloses. Sie tauschten intime Vertraulichkeiten zwischen Mann und Frau aus.

»Ich war 24 Jahre lang verheiratet.«

Die kalte Eindringlichkeit seiner Augen ließ sie nicht los.

»Sie starb bei einem Unfall mit einer Pferdekutsche, während ich vor dem Unterhaus eine Rede hielt.«

Die nahenden Schritte dröhnten in Frances’ Ohr.

»Ich wusste, dass sie einkaufen wollte, allerdings nicht, was«, erzählte er tonlos. »Ich wollte um sie trauern, aber als ich sie betrachtete, sah ich nur eine Fremde.«

Frances hätte den Anwalt gern getröstet, doch ihr fehlten die Worte.

»Vielleicht hat sie sich selbst befriedigt, vielleicht auch nicht. Ich werde es nie erfahren. Sie schenkte mir zwei Kinder. Ich dachte, ein Mann zu sein hieße nicht mehr, als eine Frau zu nehmen, ihr Kinder zu schenken und erfolgreich für seine Familie zu sorgen.«

Eine unsichtbare Faust griff nach Frances’ Herzen, da sie schon ahnte, was er als Nächstes sagen würde.

»Das stimmt nicht«, erklärte er hart.

Tränen brannten in ihren Augen.

»Ich dachte, mein Ehrgeiz gälte meiner Familie.« Er schaute in die Vergangenheit. »Das stimmte nicht.«

Sein trostloser Ton schnürte ihr die Kehle zu.

»Ich dachte, ich sei ein Mann.«

Der Korridor schloss sie beide ein.

»Ich war Ehemann, Vater, Anwalt ...«

Frances wollte den Schmerz nicht spüren, der in ihrer Brust keimte, und sie wollte auch nicht wissen, was ihr eine Gänsehaut machte.

»... doch ich war kein Mann.«

»Aber Sie möchten ein Mann sein«, sagte sie bewegt.

Kapitel 3

»Mistress Hart.«

Als Frances ihren Namen hörte, zuckte sie zusammen, und ihr Schreck spiegelte sich in den Augen des Anwalts. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie auf einem offene liehen Korridor standen und sie sich die Intimität nur eingebildet hatte.

Mit wippender Tournüre und pochendem Herzen wirbelte sie herum.

Der Museumskurator, ein kleiner, schmächtiger Mann mit beginnender Stirnglatze, grauem Haar und leidzerfurchtem Gesicht, stützte sich auf einen Ebenholzstock. Er war also eben mühsam die Treppe heraufgekommen.

»Mister Whitcox.« Er nickte dem Mann an ihrer Seite freundlich zu. Seine Stimme hallte überlaut durch den dämmrigen Flur. »Wie geht es Ihnen, Sir, Madam?«

»Mister Harmon.«

Dem kühlen, gefassten Ton des Anwalts war nicht anzumerken, dass er eben das Leben seiner Gesprächspartnerin in den Grundfesten erschüttert hatte. Fremde betrieben höfliche Konversation und machten nicht solche intimen Bekenntnisse.

Ob der Kurator ihr Gespräch gehört hatte?

Ihr Körper hatte sich dem Anwalt zugeneigt. Was wohl geschehen wäre, wenn er sie nicht unterbrochen hätte?

Frances rang sich ein Lächeln ab. »Guten Tag, Mister Harmon.«

Der Kurator gehörte zu den wenigen Londonern, die sie mit Namen kannte. Er war ein gebildeter Mann, hatte sie ihren eigenen Mangel an Bildung aber noch kein einziges Mal spüren lassen.

»Mistress Hart.« Stirnrunzelnd blickte er zu ihr auf. »Ich hatte gehofft, Sie zu treffen. Professor Pearsons Vortrag über prähistorische Fossilien fällt leider aus.«

In den schmerzerfüllten Augen des älteren Mannes lag nichts Anzügliches, um seinen abgespannten Mund nichts Höhnisches, in seinem kultivierten Ton keinerlei Missbilligung.

»Das tut mir leid«, brachte Frances mühsam hervor.

»Ich werde mit einem Vortrag über meine Romreise einspringen«, erklärte der ältere Mann. »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie kämen.«

»Vielen Dank, aber ich glaube, ich werde mir einen ruhigen Abend zu Hause machen.« Ihr war kalt und heiß wie einem jungen Mädchen an der Schwelle zur Fraulichkeit. Sie fühlte sich begehrenswert und voller Begehren. Vielleicht waren es auch bloß die Auswirkungen der Wechseljahre.

»Selbstverständlich«, antwortete der Kurator zerstreut. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muss dafür sorgen, dass die Laterna magica aufgestellt wird. Ich habe nämlich Bildplatten, wissen Sie. Guten Tag, Madam, Sir.«

»Guten Tag, Mister Harmon«, sagte Frances, doch er ging bereits an ihr vorbei. Das Geräusch seines Stockes hob sich scharf vom Klappern seiner Absätze auf dem Holzboden ab.

Heiß und pulsierend spürte sie den Körper des Anwalts neben sich.

»Mistress Hart.«

Jetzt kannte er ihren Namen.

Eigentlich hätte es nichts ausmachen dürfen, für sie war es dennoch ein Unterschied. Anonyme Frauen konnten mit Fremden über ihre privaten Bedürfnisse sprechen, nicht aber 49-jährige Witwen namens Mistress Hart.

»Ja, Mister Whitcox?«, fragte Frances steif. Hitze brannte an ihrer Seite. Wärme prickelte in ihrem Ohr und ihrer Wange ...

Der Anwalt trat vor sie. Sein weißer Seidenschal leuchtete im Dämmerlicht. »Sie interessieren sich für prähistorische Fossilien.«

Die Schritte des Kurators wurden leiser.

Klack. Tapp.

Nein.

»Ja.« Frances hob ruckartig den Kopf und begegnete dem Blick ihres Gegenübers herausfordernd, damit er es ja nicht wagte, sich über sie lustig zu machen.

Schweigend dachte der Anwalt über ihre Antwort nach.

Unerwünschte Empfindlichkeit machte sie halsstarrig. »Eine Frau hat ein Recht auf Interessen außerhalb ihrer Familie und ihres Heims.«

»Ja«, sagte er sanft, »das hat sie.«

Unter seiner Hutkrempe konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. War seine Miene verständnisvoll? Mitleidig? Glaubte er, weil sie ihren Mann verloren hatte, sehne sie sich nach den Aufmerksamkeiten eines anderen?

»Ich flirte nicht mit Ihnen, Sir«, versicherte Frances ihm rasch. Sie schluckte, aber es war zu spät, ihre Äußerung zurückzunehmen.

»Ich bin nicht an einem Flirt interessiert«, erwiderte er gelassen.

In der Ferne war das hohle Echo einer sich schließenden Tür zu hören.

Nein, Männer interessierten sich nicht für Frauen, die ihre besten Jahre hinter sich hatten. Sie wollten junge, unerfahrene Frauen. Solche, die ihnen Kinder schenken konnten, keine Mütter, die bereits Enkel hatten.

Die schlichten Bedürfnisse ihres Mannes hatte Frances verstanden, diesen weltgewandten Anwalt dagegen verstand sie nicht. Ehrlichkeit zwang sie, sich die Wahrheit einzugestehen. Der Tod hatte seinem gewohnten Leben ein Ende bereitet. Er musste sich ein neues Leben schaffen.

»Ich wusste nicht, dass Männer und Frauen so miteinander reden können«, murmelte sie mit klopfendem Herzen und starrte auf ihre Hände.

Eine Gefühlsregung huschte über sein Gesicht und wurde von dunklem Schatten verschluckt. »Ich wusste es bislang auch nicht.«

Unablässig pochte es in Frances’ linker Schläfe.

Verunsicherung. Versuchung.

»Gibt es einen Unterschied zwischen Sexualkunde und Pornographie?«, fragte sie unsicher.

»Ja.« In seinem Ton lag keinerlei Zögern, in seinem Blick kein Zweifel.

Noch nie zuvor hatte Frances den Begriff Sexualkunde gehört oder etwas Pornografisches gesehen. Woher sollte sie wissen, ob – oder wann – die Grenze zwischen beidem überschritten war?

Ein gedämpftes Ächzen von Holz auf Holz machte ihr eine Gänsehaut. Wie aufrichtig konnten ein Mann und eine Frau zueinander sein?

»Sie haben eine Frage gestellt«, sagte sie. Ihre Stimme hallte durch den leeren Korridor.

»Ich habe viele Fragen gestellt.« Die dunklen Augen, die sie eindringlich musterten, wirkten plötzlich vorsichtig. »Welche meinen Sie?«

Ihre Kehle verkrampfte sich. »Sie haben gefragt, ob ich den Gedanken an einen Mann abstoßend finde, den es nach der Berührung einer Frau verlangt.«

»Und?«, erkundigte er sich kühl.

Ihre Nackenhaare kitzelten. »Nein, Mister Whitcox, ich finde es nicht abstoßend.« Frances fand ganz und gar nichts Abstoßendes an dem Mann, der vor ihr stand.

»Möchten Sie gern eine französische Postkarte sehen?«, hakte er nach.

Ihr fiel ein, wie ausdruckslos seine Augen ausgesehen hatten, als er Miss Fredericks gefragt hatte, ob sie je habe sehen wollen, was ein Mann aufreizend finde. Und sie erinnerte sich an die kalte Feindseligkeit im Blick der jüngeren Frau, als sie darauf mit Nein geantwortet hatte. Frances hatte auch noch seine merkwürdig verletzliche Miene vor Augen, als er sie gefragt hatte, ob sie Dinge abstoßend fände, die bei einem Mann Lust hervorriefen.

Lärm drang auf den Korridor, schallendes männliches Gelächter und weibliches Gekicher. Ihre gemeinsame Zeit ging zur Neige.

»Ja.« Sie umklammerte ihr Täschchen, während das Poltern nahender Schritte lauter wurde und verlockender Karamellduft sie umwehte. »Ich möchte sehr gern eine französische Postkarte sehen.«

Das Gesicht des Anwalts hellte sich auf, aber in seinen Augen lag kein Lachen. »Nächsten Samstag, Mistress Hart.«

Ein Gehstock traf Frances an der rechten Ferse. Eindringliche dunkle Augen veranlassten sie, den Blick fest auf den Boden zu heften.

»Um zwei Uhr«, raunte ihr Gegenüber gedämpft durch den aufwogenden Lärm.

Ein Ellbogen rammte ihre Seite. Die Fischbeineinlagen ihres Korsetts schützten Frances nicht vor dem schmerzhaften Stoß. Mit einem Satz wich sie zurück, fort von der fesselnden Eindringlichkeit des Anwalts, und geriet sofort in die drängende, schiebende Woge von Männern und Frauen.

Männer und Frauen, die jung und gebildet waren.

Männer und Frauen, die alle Unsicherheiten, die einen in mittleren Jahren so ereilten, noch vor sich hatten.

Widerstreitende Gefühle tobten in ihr.

Er wollte ein Mann sein. Sie wollte eine Frau sein.

Warum wehrte sie sich gegen seine Einladung?

Frances drehte sich um und wollte sich ihren Begierden stellen.

Kapitel 4

Der Anwalt war nicht mehr zu sehen.

Eben noch hatten unangenehme Parfüm- und Makassaröldüfte sie eingehüllt, und nun stand sie allein in dumpfig kalter Luft und zunehmendem Dämmerlicht, während unzählige Schritte – klappernde Damenabsätze und kräftigere Männerschuhe – die Holztreppe hinuntertrippelten und -polterten. Sie fragte sich, welche Schritte wohl zu dem Anwalt gehören mochten.

Frances leckte sich die Lippen. Einen flüchtigen Moment lang schmeckte sie Karamell. Dann schluckte die Stille den Widerhall der Schritte.

Einsamkeit ballte sich in ihrer Brust.

Dem Anwalt hatte sie gesagt, sie finde London unterhaltsam. Aber sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie sich noch nie zuvor so allein gefühlt hatte wie in dieser Großstadt, inmitten von Fremden. Sie hatte ihm auch nicht gesagt, dass sie sich mit jedem Tag, den sie in dieser Stadt war, zunehmend selbst fremd wurde.

Langsam, gemessenen Schrittes, als ginge sie nicht auf massivem Holz, sondern auf zerbrechlichen Träumen, überwand Frances den Abstand, der sie vom schützenden Treppengeländer trennte. Es war hart und trocken. Das Leder, das die Haut ihrer Hand umhüllte, war weich und feucht.

Bei jedem Schritt, bei jedem Stück, das ihre Hand weiter hinunterglitt, dachte Frances an den Anwalt und die Vertraulichkeiten, die sie ausgetauscht hatten. Er war seit sieben Monaten Witwer. Wieso hatte er nicht gefragt, wie lange sie bereits verwitwet war? Er hatte zugegeben, dass er sich mit eigener Hand Befriedigung verschaffte. Was tut ein Mann wohl, um sich zu befriedigen?, fragte sie sich.

Ein bräunlicher Kopf tauchte über ihr auf. Frances trat einen Schritt auf dem marmornen Treppenabsatz zurück und musterte den langen, rötlich gelb gefleckten Hals, der sich zu sensiblen, dreieckigen Ohren verjüngte. Vor ihrer Reise nach London hatte sie sich nicht vorstellen können, dass es ein größeres oder exotischeres Tier geben könnte als den Elefanten, der jedes Jahr auf dem Jahrmarkt in Sussex auftrat. Und hier stand nun ein solches Tier, das dreimal größer war als sie.

Plötzlich fühlte Frances sich dieser hoch aufragenden Giraffe eng verwandt, selbst wenn sie tot war. Sie war ebenfalls weit weg von ihrer Heimat. Vielleicht hatte sie ja auch Kinder großgezogen und Enkel zurückgelassen, die um sie trauerten. Sie beugte sich vor, um nach dem Geschlecht der Giraffe zu schauen. Weder männliche noch weibliche Geschlechtsteile waren zu erkennen. Frances zog die Augenbrauen zusammen. Diese majestätischen Tiere vermehrten sich doch sicher auch. Der Elefant in Sussex war zwar kastriert, aber sein Geschlecht war immer noch eindeutig zu erkennen gewesen. Sie beugte sich weiter vor.

Bohrende Blicke störten sie in ihrer Untersuchung.

Schlagartig fiel Frances auf, dass sie in einem öffentlichen Museum war und gerade einer fünf Meter großen Giraffe unter den Bauch starrte. Schnell richtete sie sich auf.

Ein schlanker Mann in dunkelgrauem Wollmantel und Bowler musterte Frances strafend, als sie ohne jede Anmut die restlichen Treppenstufen hinunterlief und auf den Marmorboden trat. Ihr Herz raste.

Er hatte wunderschöne Augen, die wie blaues und purpurrotes Eis funkelten. Sein Gesicht zwischen den rötlich braunen Koteletten war ausdruckslos. In der rechten Hand hielt er eine Aktentasche aus burgunderrotem Leder.

Frances war sich deutlich bewusst, dass seine Größe ihm einen Vorteil von einigen Zentimetern verlieh und sie ihm gegenüber um 30 Pfund und einige Jährchen im Nachteil war. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, nur was? Auf dem Land gingen Männer und Frauen mit dem Geschlecht von Tieren ungezwungen um, auch wenn sie im Umgang mit ihrem eigenen Geschlecht keineswegs unbefangen waren. Aber in der Stadt bezeichneten Männer und Frauen eine Hühnerbrust als »Hühnchenbusen« und eine Lammkeule als »Schlegel«.

Es gab einfach nichts zu sagen, womit sie als Frau vom Lande ihr Verhalten in den Augen eines Herrn aus der Stadt hätte rechtfertigen können. Also machte Frances den Mund zu und ging.

Gedämpftes Gemurmel folgte ihren dumpf hallenden Schritten. Forsch ging sie an einer verbeulten Rüstung, einem angeschlagenen römischen Sarkophag und einem pechschwarzen prähistorischen Fossil vorbei.

In der dicken Fensterscheibe tauchte eine rothaarige Frau mit rundem Strohhut, grün kariertem Samtmantel und passendem Rock auf. Frances blieb stehen, streckte die Hand aus und musterte ihr Spiegelbild.

Männer, Frauen und Kinder zogen als unablässiger Strom dunkler Bowlerhüte, Hauben mit Federschmuck und Reifen schlagender Kinder am Museum vorbei. Während sie aus dem Fenster blickte, hielt ein Omnibus voller Reklametafeln am Bürgersteig und spie weitere geschäftige Londoner aus. Niemand winkte ihr zu, niemand zeigte kritisch mit dem Finger auf sie. Kein Mann, keine Frau, kein Kind kannte sie. Die Anonymität barg Einsamkeit, aber auch Freiheit. Niemand kümmerte sich darum, was eine Frau mittleren Alters tat. Sie straffte Rücken und Schultern.

Der Anwalt hatte London die Stadt der furchtbaren Freuden genannt. Aber Frances weigerte sich, auch nur eine einzige Freude furchtbar zu finden.

Kapitel 5

Mary Bartle.

James kannte ihr Alter: 31 Jahre. Ebenso wie ihren Geburtsort: Oxford, England. Er wusste, dass man sie beschuldigte, gemeinsam mit dem 26-jährigen Apotheker Evan Keaton ihren Mann vergiftet zu haben.

James kannte zwar die Frau mit ihren Träumen und Begierden nicht, aber er kannte das Gesetz. Ihr Leben lag nicht in den Händen Justitias, sondern in denen zweier Männer: Entweder würde der Kronanwalt ihre Schuld beweisen oder James ihre Unschuld. Wie Regisseure eines Theaterstücks würden sie die Gefühle eines jeden Mannes und einer jeden Frau lenken, die der Gerichtsverhandlung beiwohnten, der Arbeiter und Bürger, die nebeneinander auf der Galerie gegenüber der Anklagebank saßen, und der vornehmen Herrschaften, denen die privilegierten Plätze links des Richters vorbehalten waren.

Im Schutz eines halbrunden Tisches rutschte James auf der harten Verteidigerbank ein Stück zur Seite und griff in die lederne Aktentasche, die an einem Spindelbein lehnte. Auf Anhieb fanden seine Finger ein zusammengedrehtes Papierchen. Der Bonbonmacher, der einen Stand vor dem Gericht hatte, besaß einen boshaften Sinn für Humor und wickelte die Karamellbonbons für James in Papierchen aus den Loseblattsammlungen der Gesetzestexte.

James verspürte einen seltsamen Stich in der Brust. Als er der Witwe Hart gesagt hatte, dass er Anwalt sei, hatte ihre Miene zunächst Überraschung und dann Freude erkennen lassen. Im Laufe der Jahre hatte sein Beruf schon manche Reaktion hervorgerufen, doch Freude hatte nie dazu gezählt.

Mit dem Karamellbonbon in der Hand richtete er sich wieder auf und fragte sich, ob sie wohl Old Bailey besichtigt haben mochte. Das Gerichtsgebäude stand an der Stelle, wo sich früher das Gefängnis Newgate befunden hatte, und war eine beliebte Attraktion für Reisende. Die Geschichte des Gemäuers war geprägt von Prügelstrafen, Verstümmelungen und Folterungen – alles Rückfälle in eine Zeit, als man widerspenstige Angeklagte noch ganz legal davon überzeugen konnte, sich schuldig zu bekennen -, ebenso von Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen und Hinrichtungen durch Erhängen.

James fiel ein, was ein Anwalt namens Mister Jones 1871 in seinem Buch London Characters and the Humourous Side of London Life geschrieben hatte:

Old Bailey ist zwar überaus unbequem, aber wunderbar platzsparend. Man kann dort von seiner Festnahme bis zur Gerichtsverhandlung inhaftiert, angeklagt und verurteilt werden und in der Todeszelle warten, bis man bequem gehenkt und begraben wird, und muss das Gebäude lediglich verlassen, um zum Galgen zu gehen. Seitdem die neuesten Vorschriften selbst diese Ausnahme überflüssig gemacht haben, besteht nun keinerlei Anlass mehr, die Mauern des Gebäudes zu verlassen. Die Angelegenheit wird nun nämlich in dem gepflasterten Hof erledigt, der das Gerichtsgebäude vom Gefängnis trennt. Es ist, als ob man im Wohnzimmer verurteilt, in der Spülküche eingesperrt und im Garten gehenkt würde.

Die letzte öffentliche Hinrichtung war vor Old Bailey vollstreckt worden. Während James beobachtete, wie der junge Verteidiger, der Evan Keaton vertrat, eifrig einen Stapel Unterlagen durchblätterte, fiel ihm ein, dass der Prozess in ebenjenem Gerichtssaal stattgefunden hatte, in dem er nun saß. James war damals 18 Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte erfolgreich die Anklage gegen einen gewissen Michael Barrett vertreten, einen Fenier, dem man vorwarf, er habe einen Sprengstoffanschlag auf das Gefängnis Clerkenwell verübt, um zwei andere Fenier zu befreien. Am 26. Mai 1868 hatte man den Verurteilten gehenkt.

Als offizieller Henker vom Dienst hatte Calcraft fungiert, ein alter Mann mit weißem Bart, schwarzer Kappe und Wollumhang. Der Verurteilte, ein 27-jähriger Ire, hatte selbst dann noch seine Unschuld beteuert, als er bleich, aber gefasst mit dem Strang um den Hals auf dem Galgengerüst stand. Zweitausend Männer, Frauen und Kinder hatten gejohlt, gebuht und »Rule Britannia« und »Champagne Charlie« gegrölt, als sein Körper in die Tiefe fiel. James’ Vater hatte an die Unschuld des Iren geglaubt. Aber ihm war die Aufgabe zugefallen, ihn anzuklagen, nicht, ihn zu verteidigen.

Mein Vater hat sein Metier fast so gut beherrscht wie ich, dachte er nun, während er behutsam das eingewickelte Karamellbonbon befingerte.

Ein trockenes Hüsteln hallte durch den überfüllten Gerichtssaal und rief dem jungen Anwalt beiläufig in Erinnerung, dass er den Richter warten ließ. Schwungvoll zog er ein einzelnes Blatt aus dem Stapel Papiere, in dem er gestöbert hatte.

»Mylord. Bevor das Gericht mit der Vernehmung der Angeklagten beginnt«, stotterte er mit rotfleckigem Gesicht und vor Nervosität zittriger Stimme, »möchte ich vor Eure Lordschaft treten und einen Antrag stellen im Namen von Mister ... also, im Namen des ... des Angeklagten Keaton. Die eidesstattlichen Aussagen des Angeklagten sind Eurer Lordschaft ebenso bekannt wie meinen ...« – er schnappte nach Luft, wobei sein Adamsapfel aus seinem gestärkten weißen Kragen hüpfte – »... meinen werten Kollegen Mister Lodoun, Anwalt der Krone, und Mister Whitcox, Verteidiger von Mistress ... der Angeklagten Mistress Bartle. Aus Gründen, die auf der Hand liegen, und natürlich in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht die Absicht habe, die heutige Verhandlung zu erschweren und oder ... oder in die Länge zu ziehen, beantrage ich im Namen meines Mandanten, die Verfahren gegen die beiden Angeklagten zu trennen.«

Kleider raschelten, Holzbänke ächzten unter der Last unruhig hin und her rutschender Körper. Keiner der Arbeiter, Bürger und Adeligen wollte etwas von irgendwelchen Anträgen hören, sondern von Unzucht, Verbrechen, Mord und Totschlag.

»Ich verstehe Ihre Gründe durchaus, Mister Lockwood, und habe damit gerechnet«, erklärte der Richter sachlich. Mit seiner strengen Miene und der weißen Perücke, die in 23 ordentliche Lockenreihen gelegt war, sah er aus wie ein bartloser Pharao. »Sie liegen für jeden klar auf der Hand, der die eidesstattlichen Aussagen gelesen hat.«

Auch James verstand die Gründe, Evan Keaton als Angeklagten aus diesem Verfahren herauszunehmen: Mary Bartles Liebhaber wäre als Zeuge wesentlich nützlicher denn als Komplize. Auf der Reporterbank glitten Kohlestifte über Papier. Am nächsten Tag würden viele Gesichter aus dem Gerichtssaal in den Londoner Tageszeitungen auftauchen. James fragte sich, ob die Witwe Hart wohl etwas über seine Rolle im Bartle- Prozess lesen würde. Würde aus ihrer Miene Freude sprechen, wenn sie sich das nächste Mal träfen? Würde sie die Gratwanderung zwischen Wahrheit und Täuschung verstehen? Hatte es sie enttäuscht, dass er nicht gewartet hatte?

»Mylord«, sagte James mit gespielter Gleichgültigkeit, »ich stimme dem Antrag meines werten Kollegen aus den von Eurer Lordschaft erwarteten Gründen zu.«

Feindselige blaue Augen fingen seinen Blick ein, und für einen Moment war er verdutzt.

Der Kronanwalt und Parlamentsabgeordnete Jack Lodoun trug eine kurze weiße Perücke, wie auch James und der junge Strafverteidiger sie bevorzugten, und rötlich braune Dundreary-Koteletten. Sofort wandte er den Blick von James ab und sagte in kaltem, knappem Ton: »Das Gericht braucht sich mit diesem Antrag nicht weiter zu befassen, Mylord. Nach eingehender, sorgfältiger Prüfung sind meine werten Kollegen und ich zu dem Schluss gekommen, dass keine ausreichenden Beweise vorliegen, aufgrund derer wir die Geschworenen zu einem Schuldspruch auffordern könnten. Daher haben wir bereits beschlossen, gegen die Angeklagten in getrennten Verfahren zu verhandeln. Im Anschluss an seine Einvernahme werden wir keine Beweisaufnahme gegen Mister Keaton beantragen.«

James tat den feindseligen Blick des jüngeren Kollegen ab, der ihm nicht entgangen war. Welchen Grund es dafür auch immer gegeben haben mochte, sein Zorn war offenbar verraucht. Ihnen beiden war klar, dass im Gerichtssaal kein Platz für Gefühle war, die mit dem Fall nichts zu tun hatten.

Der Richter antwortete darauf mit einem gedämpften Brummen. Er werde die Entscheidung vertagen, bis die Verhandlung gegen Mary Bartle eröffnet sei.

Aus den Augenwinkeln schaute James zur Anklagebank hinauf. Mary Bartle verharrte mit gesenktem Blick, während mehrere günstig platzierte Gaslampen ihr kreidebleiches Gesicht beleuchteten. Eine schwarze Haube bedeckte ihr Haar, ein schwarzer Kragen lag eng um ihren Hals. Ihr gesamtes Leben stand gedrängt in der Akte, die ihr Anwalt zusammengestellt hatte und die nun vor James auf dem Mahagonitisch lag. Ihr dominanter Vater hatte ihre Ehe mit einem wohlhabenden Lebensmittelhändler arrangiert. Auch wenn er kein Brautgeld für seine Tochter bekommen hatte, hatte der Vater durch die Verbindung sicher profitiert. Und nun kehrte er seiner Tochter den Rücken.

Wo wäre Mary Bartle wohl heute, wenn man ihr erlaubt hätte, sich ihren Mann selbst auszusuchen? Bisher hatte James seinen Wert auf dem Heiratsmarkt noch nie in Frage gestellt: Er war jung und wohlhabend gewesen. Nun fragte er sich, ob seine Frau sich lieber von einem anderen Mann hätte umwerben lassen.

Eine unbekannte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»... Eurer Lordschaft in Bezug auf Mister Keaton mitteilen, dass ich persönlich mit ihm befreundet bin.«

James war sofort hellwach und sah zur Geschworenenbank hinüber. Sein Blick richtete sich auf den Mann, der gerade gesprochen hatte.

»Das ist sicher kein Ausschlussgrund«, wies der Richter den Geschworenen zurecht.

»Wenn die Krone zu dieser Frage keine Meinung äußert, erlaube ich mir die Kühnheit, anzumerken, dass Mister Keaton sicher als Zeuge aufgerufen wird«, schaltete der Kronanwalt sich ein. »Daher ist es nicht wünschenswert, dass ein persönlicher Freund von ihm unter den Geschworenen ist. Deshalb bitte ich den Herrn im Namen der Krone, sein Amt niederzulegen.«

James musterte den betreffenden Geschworenen. Sein Gesicht zwischen den Koteletten war blass, auf seiner Stirn perlte Schweiß. Vielleicht war er tatsächlich ein Freund von Evan Keaton, vielleicht auch nicht. Eines stand jedenfalls fest: Er wollte nicht zu den Geschworenen gehören. Welcher Mann wollte schon darüber nachdenken, dass eine Frau den Mord an ihrem Ehemann plante, während er von seinen ehelichen Rechten Gebrauch machte?

»Keine Einwände, Euer Ehren«, sagte James.

»Gut«, verkündete der Richter, ein weiterer Akteur in dem bevorstehenden Drama, leicht säuerlich. »Sie können gehen, Sir.«

Unbeholfen stand der Geschworene auf. Ein anderer Mann nahm seinen Platz auf der Bank ein.

»Bekennen die Angeklagten sich schuldig oder nicht schuldig?«, fragte der Richter nun.

Er brauchte Mary Bartle gar nicht erst anzusehen, um zu wissen, was ihre Miene deutlich zeigte: Sie hatte Angst.

Zittrig erklärte sie: »Nicht schuldig, Eure Lordschaft.«

Auch Evan Keatons Gesicht brauchte er nicht zu betrachten, um zu wissen, was es erkennen ließ: Er war erleichtert. Er wäre nicht derjenige, der im Wohnzimmer verurteilt, in der Spülküche eingesperrt und im Garten gehenkt würde.

Gleichmütig erklärte Evan Keaton: »Nicht schuldig, Eure Lordschaft.«