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Theres ist reich. Theres bekommt von ihren Eltern fast alles, was sie sich wünscht - auch ein eigenes Pferd. Jana übersieht ganz, wie verletzlich und sensibel ihre Freundin ist. Wenn Theres nur einen Hauch von Janas Riesenportion Selbstbewusstsein hätte! Aber jetzt scheint es für sie aufwärts zu gehen. Bei den Islandpferden verliert sie ihre Ängstlichkeit, sie wird sogar als Reiterin gelobt und außerdem ist sie zum ersten Mal mit einem Jungen verabredet. Und dann kommt dieses Mädchen, das nicht auf eigenen Beinen laufen, aber beneidenswert gut reiten kann. Alles dreht sich nur noch um Christina …
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Seitenzahl: 247
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Christa Ludwig
Das Pferd in der Flasche
Eins aus 34
Vollständig
Rückfahrten – zweimal Liebe und zurück
Barfuß über spitze Steine
Fünfzehn Sekunden Seligkeit
Der Tag ‹Nie›
Perlen, rot auf schwarzem Grund
Gift
Wir drei
Und wie geht’s weiter?
Mini-Lexikon der Pferdefachsprache
Über die Autorin
Theres stand mit dem Fahrrad schon am Gartentor. Sie leckte an ihrer Zahnspange. Das machte sie seit einer halben Stunde. Ihre Zunge war schon ganz wund. Im rechten Augenwinkel sah sie Jana aus ihrem Haus kommen. Die rannte, wie immer. Wahrscheinlich hatte sie wieder verschlafen. Theres drehte den Kopf zur Seite, schaute der Freundin entgegen, aber nur ein wenig, dabei ließ sie die Haare halb über ihr Gesicht fallen, der Fahrradhelm schwebte gewichtslos über ihrem Kopf, und sie blinzelte durch den feinen blonden Schleier, eine gekräuselte Spitzengardine. Dann warf sie die Haare zurück, trat heftig in die Pedale und flog davon. Sollte Jana sich wundern, denn normalerweise fuhr die voraus.
Wie lange aber würde sie durchhalten? Jana war viel kräftiger und musste sie bald einholen. Theres fuhr das beste aller Fahrräder, Alu-leicht und gefedert zum Davonschweben – aber einen Motor hatte es nicht. Jana holte auf. Die Straße wurde steiler. Theres strengte sich an. Das tat sie selten, und sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.
Na gut, dachte sie, ein roter Kopf ist ein roter Kopf, vielleicht merkt man nicht, dass er vorher schon rot war.
Sie wollte nicht mit Jana reden, noch nicht. Sie wollte mit niemandem reden. Auch ihrer Mutter hatte sie nichts gesagt. Sie hatte das kleine Päckchen sofort in ihrer Schultasche verschwinden lassen und war ins Bad gerannt.
Es war der 3. Oktober. Ein Tag vor ihrem Geburtstag. Schon das allein war eine Katastrophe. Wenn jemand aus England – oder war es Amerika – ein Päckchen als Sonderzustellung aufgibt, mit so genauen Angaben – 7.15 Uhr abgeben, – dann musste er doch auch den Tag genau bestimmen können. Hatte er vergessen, wann sie Geburtstag hatte? Oder wollte er mal wieder ihre Mutter überholen und ihr sein Pferd schenken, bevor sie eins von der Mutter bekam? Sein Pferd! Ihr wurde schlecht.
Es fing an zu regnen. Ein goldener Oktober war das bis jetzt nicht. Sie hatte schon besseres Geburtstagswetter erlebt. Und sie hatte schon bessere Geburtstagsgeschenke bekommen. Natürlich hatte sie sich ein Pferd gewünscht, aber –
Regen ist gut, dachte sie und hob das Gesicht.
Und als Jana sie schließlich einholte, waren die Regentropfen auf ihren Wangen nicht mehr von den Tränen zu unterscheiden.
«Was ist denn los?», fragte Jana.
Sie keuchte, tatsächlich, sie keuchte. Das war wohl auch für Jana anstrengend gewesen.
«So rast du doch sonst nicht zur Schule. Wir sind nicht mal spät dran.»
Theres hielt, sie konnte nicht weiter. Es ging ja immer noch bergauf. Sie wartete, bis sie wieder reden konnte, und sagte: «Ich musste schnell weg. Meine Mutter wollte mich mit dem Auto bringen. Sie hat Angst, dass ich mich erkälte. Kennst sie doch.»
Jana nickte. Das war vollkommen glaubwürdig. Theres’ Mutter hatte vor allem Angst.
Zum ersten Mal freute sich Theres, dass sie diesen anstrengenden Schulweg hatten. Niemand konnte erwarten, dass sie dabei auch noch erzählte. Sie fuhr nun langsam. Es war wirklich noch früh. Auf keinen Fall wollte sie vor der Schule herumstehen, erst recht nicht in der Pausenhalle. Da hätte sie keine Regentropfen mehr im Gesicht, unter die sich unauffällig ihre Tränen mischten. Sie ließ Jana vorausfahren und sah die kurzen dunklen Haare verschwinden, keine Mütze, keine Kapuze, kein Helm. Jana bremste, schaute zurück, wartete.
«Heulst du?», fragte sie.
Theres schüttelte heftig den Kopf.
«Es regnet», sagte sie.
Sie hatten die Höhe erreicht und bummelten weiter zur Schule. Jana redete, Theres schwieg. Es sah so aus, als sei alles wie immer.
Im Fahrradkeller wartete Alberta auf sie. Ihre schwarzen Kirgisenaugen glänzten wie polierter Pechstein. Sie strahlte Theres an.
«Morgen», flüsterte sie. «Freust du dich?»
Theres nickte, blieb mit dem Ärmel am Lenker hängen und wäre fast über ihr Rad gefallen. Das fiel nicht auf, das war normal. Sie war im letzten Jahr viel zu schnell gewachsen, und sie stolperte über alles.
«Morgen», sagte Alberta, «morgen.»
Immerhin, da war noch jemand, der sich auf Theres’ Geburtstag freute.
«Ich wette, du kriegst die Bjalla», sagte Alberta.
Theres schüttelte den Kopf und griff erleichtert nach der guten Gelegenheit, ein trauriges Gesicht machen zu dürfen.
«Bjalla ist schon verkauft. Das weißt du doch.»
Theres kämpfte mit ihrem Schulrucksack. Der hing auf dem Gepäckträger fest. Damit ließ sich noch eine Minute gewinnen. Sie wollte mit dem Läuten in die Klasse gehen, sich auf ihren Platz setzen, und niemand durfte mehr etwas fragen. Schon gar nicht: «Freust du dich?»
Jana half ihr, und sofort war der Rucksack frei, natürlich, Jana zog einmal fest, und das war erledigt. Sie gab den Rucksack Theres, die zögerte, aber sie musste ihn nehmen – sie und nur sie wusste von dem Päckchen mit der kleinen Flasche darin.
Vielleicht ist sie ja kaputt, dachte sie.
Sie war aus Glas, das hatte sie gefühlt, Glas kann schließlich kaputtgehen.
Unsinn, dachte sie, die ist nicht kaputt. Kaputt ist ganz was anderes und nicht erst seit heute, aber heute ist es mal wieder besonders schlimm.
Und außerdem – es war doch nur das Duplikat. Das Original lag gesichert in – wo war das? – Chicago. Oder war es New York?
Es läutete zum ersten Mal. Theres ging neben Alberta her. Die sang leise vor sich hin. Ein Lied, das niemand kannte, und niemand verstand ein Wort. Russisch, ein Lied ihrer Heimat, noch immer ihre Heimat? Sie sprach inzwischen sehr gut Deutsch. Und trotzdem sang sie russische Lieder. Die waren immer ein wenig traurig. Als sie das Klassenzimmer erreichten, läutete es zum zweiten Mal. Theres floh in die Sicherheit der Unterrichtsstunde. Es würde eine gute Stunde werden, das konnte auch sie nicht leugnen, sie hatten Geschichte bei Taggy. Die ganze Schule beneidete die 8 c darum, dass sie Taggy in zwei Fächern hatten.
Theres saß neben Alberta. Jana war schon lange nicht mehr neben ihnen, weil die mit ihren Reiterfreundinnen noch mehr schwätzte als mit den anderen Mädchen und darum saß Theres jetzt zwischen Alberta und Thommy. Und das war an diesem Tag ein großes Glück, denn so konnte sie verhindern, dass Alberta zu dem übelsten aller Spitznamen kam.
Es war zunächst für die Mädchen eine eher langweilige Stunde. Die Klasse hatte das 15. Jahrhundert erreicht, zwar saßen die Könige im Geschichtsbuch noch immer auf sich bäumenden Pferden, das freute die meisten Mädchen. Aber man hatte auch die ersten Kanonen erfunden, das freute die meisten Jungen. Und Luca, der gleich neben Thommy saß, war Spezialist für Kanonen. Taggy hatte ihm die Gelegenheit gegeben, seine miesen Zensuren aufzubessern und ein Referat über Geschütze zu halten. Er hatte ihm selber ein Buch aus der Schulbibliothek geliehen. Es lag aufgeschlagen auf der Bank. Luca aber stand vorn und führte seine Plastik- und Metallmodelle vor, Kanonen aus allen Zeiten. Er erklärte, welche nur zur Verteidigung und welche für die Feldschlacht geeignet waren. Sein Prachtmodell war aus Metall, ungefähr 15 cm hoch, es sah ganz echt aus.
«Und die», sagte er, «die knallt.»
Er warf einen fragenden Blick auf Taggy. Der nickte.
Luca zündete ein winzige Ladung Schwarzpulver auf dem Lehrerpult, wahrhaftig, es knallte, die Jungen trampelten, die Mädchen gähnten. Theres verfing sich wieder in ihren trüben Gedanken. Sie hatte aufgehört, an ihrer Zahnspange zu lecken und versuchte einen Pickel auszudrücken. Alberta streckte die Beine und rutschte auf die Stuhlkante, sitzen war in ihren viel zu engen Jeans höchst unbequem. Aber Alberta wollte ja nicht nachgeben. Sie war fest entschlossen, ihren Körper für die Hosen passend zu hungern.
Da fing Thommy an zu kichern. Wer immer geglaubt hatte, es seien die Mädchen, die albern herumkicherten, der musste hier seine Meinung ändern. Wie Thommy da gickelte, das brach alle Rekorde. Er kicherte und prustete, er krümmte sich über den Tisch, er gluckste und feixte, alle schauten ihn an. Er presste die Lippen aufeinander und es gelang ihm, sich einigermaßen still zu halten, nur seine Schultern zuckten und hin und wieder seine Mundwinkel. Luca trug seine rauchende, nach Schwarzpulver stinkende Kanone zurück zu seinem Platz, sortierte seine Notizen, griff nach dem Buch aus der Schulbibliothek. Da nahm Thommy einen Kuli und zog einen Kreis um zwei Wörter auf der aufgeschlagenen Seite. Theres sah, was er da eingekreist hatte, kapierte sofort und wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war. Da war eine riesige Kanone, so eine richtig wuchtige Maschine und die hatte einen Namen. Einige der Kanonen hatten einen Namen, und diese besonders fette hieß: die dicke Berta.
Aber so schnell begriff Luca nicht. Er war völlig konzentriert auf sein Referat und Thommy musste zappeln und feixend hin und her gucken – von der Kanone zu Alberta zur Kanone –, da prustete auch Luca los, aus war es mit dem Referat. Und wieder drehten sich alle um. Alberta zog die Beine an, klemmte ihre Hüften in die Jeansfalten, beugte sich vor, versuchte um Theres herum in dieses Buch zu blicken. Irgendwas musste da furchtbar komisch sein. Sie ahnte nicht, dass sie keinen Grund haben würde mitzulachen. Und nur Theres saß dazwischen. Sie musste etwas tun. Sie musste verhindern, dass Alberta ein Blick in das Buch gelang. Aber ihr fiel nichts ein, nichts anderes als das, was den ganzen Morgen schon in ihrem Kopf rumorte und so schmerzhaft gegen ihre Stirn klopfte. Da erzählte sie Alberta, was sie keinem hatte erzählen wollen. «Du – kann ich mit dir reden? Ich wollte eigentlich nicht, aber es ist was – nein – es ist nichts passiert, nur mein Vater hat mir ein Pferd geschenkt, was der so Pferd nennt, und jetzt ...»
«Dein Vater?» Alberta war entsetzt. «Was für ein Pferd? Und wo hat er es? Kriegst du jetzt keinen Isländer?»
Theres warf Taggy einen verzweifelten Blick zu. Der merkte, er wurde gebraucht, und er kam. Er durchschaute die Situation sofort und nahm das Buch vom Tisch.
Gerettet, dachte Theres, er wird was machen. Irgendwas wird er machen, damit niemals jemand was davon erfährt.
Das tat er. Ein Ruck, und er hatte die Seite aus dem Buch gerissen.
«Eh», rief Luca, «das ist ein Schulbuch. Das haben Sie zerrissen. Das waren wir nicht.»
«Nein», sagte Taggy und schaute Thommy an. «Aber du hast die Seite verdorben. Ihr wisst genau, was passiert, wenn noch mehr das spitzkriegen. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr quatscht das rum. Dann seid ihr verantwortlich für dieses Verderben eines Schulbuchs. Das ist ein teures Buch, ich sag’s euch. Oder ihr schweigt. Dann nehm ich alles auf mich. Was wollt ihr?»
«Tschuldigung», sagte Thommy. «Wir halten die Klappe. Okay?»
Er warf einen Blick auf Luca.
«Okay», nickte der, «es ist eh fies. Aber …», er fing wieder an zu kichern, «sooo komisch!»
Taggy lächelte Theres an. Sie war die Einzige, die noch davon wusste. Sie würde schweigen.
Alberta war vor dem furchtbarsten aller Spitznamen gerettet. Sie wurde damit fertig, dass sie hier fremd war, denn sie hatte ihre Freunde. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre Familie hier arm war, denn auf dem Islandpferdehof durfte sie reiten. Aber sie litt entsetzlich darunter, dass ihr Körper nicht in die Magermodekleider passte. Doch da sie nichts davon mitbekommen hatte, wie knapp sie der Gefahr entkommen war, auf Zeit und Ewigkeit «die dicke Berta» genannt zu werden, plagte sie Theres mit anderen Fragen.
«Was für ein Pferd hat er dir geschenkt?», flüsterte sie.
Und Theres wollte es doch nicht erzählen.
«Eins, vor dem du Angst hast?», bohrte Alberta weiter.
Ja, Theres hatte Angst vor Pferden. Nichts tat sie lieber als reiten, aber immer hatte sie Angst gehabt. Bis die Islandpferde kamen. Da saß sie zum ersten Mal frei von aller Furcht im Sattel.
«Nun sag schon!», drängte Alberta. «Ein Springpferd? Ein ganz teures? Das trau ich deinem Vater zu.»
«Du kennst ihn überhaupt nicht!», zischte Theres wütend zurück. Und das war das Letzte, was sie herausbrachte. Dann wurde sie gebeutelt und geschüttelt, ihre Schultern zuckten wie vorher die von Thommy, aber sie lachte nicht, sie heulte. Die Stunde war dann bald zu Ende, doch ein Vorteil war das für sie nicht. Jetzt standen Alberta, Jana und noch ein paar um sie herum und wollten ihr helfen.
«Wir sagen nichts», versicherte Luca, «Ehrenwort, eh, so schlimm kann das doch nicht sein, also für dich doch nicht.» «Darf ich mal», hörten sie Taggys Stimme. «Ich muss mich bei der Theres noch bedanken. Na du? Du warst toll. Und? Was ist jetzt?»
Taggy! Wenn es irgendjemanden gab, dem sie es würde erzählen können, dann war es Taggy.
«Kann ich mit Ihnen reden?», schluchzte sie. «Aber die Pause ist ja so schnell rum.»
«Ich habe eine Freistunde», sagte Taggy.
«Aber wir nicht.»
«Was habt ihr jetzt?»
«Physik.»
«Das ist gut. Physiklehrer haben einen Sinn für Naturgesetze. Und es ist ein Naturgesetz, dass ein Schwamm, der voll Wasser ist, nichts mehr aufnehmen kann. Du bist voll Wasser. Du nimmst da jetzt nichts auf. Komm.»
Theres stolperte hinter Taggy zum Medienraum. Da saßen sie allein zwischen Fernsehern und Regalen mit DVDs und Videokassetten. Ihren Rucksack hatte Theres rasch noch gegriffen und mitgenommen. Sie kramte das Päckchen heraus. Allmählich konnte sie wieder sprechen.
«Mein Vater hat mir ein Pferd zum Geburtstag geschenkt.»
«Na – Glückwunsch!»
«Ja – aber – das ist kein Pferd, das ist ein Monster, also ich finde, so was ist ein Monster.»
Sie stellte das kleine Fläschchen vor Taggy auf den Tisch. Der nahm es und drehte es in den Händen. Es sah fast aus wie ein Juwel, wie ein geschliffener Diamant, verschlossen mit einem goldenen Deckel. Auf einem winzigen Schild stand: Western Dancer xx (II b)
«Hm», machte Taggy, «also ich rate: Western Dancer heißt das Pferd – und – ja – xx – das könnte bedeuten, der Zwanzigste, aber …»
«xx bedeutet Englisches Vollblut», unterbrach Theres.
«Ah – und du wolltest einen Isländer?»
«Den kriege ich auch. Von meiner Mutter.»
«Na, dann macht es doch nichts, dass du von diesem Vollblüter nur die – was mag es sein – die digitale Erfassung seines Stammbaums hast.»
Theres schüttelte den Kopf und fühlte die Tränen wieder aufsteigen. Erzählen konnte sie es nicht. Sie gab ihm den Brief ihres Vaters und beobachtete sein Gesicht, während er las:
«Mein liebes schönes Elfenkind,
jetzt bist Du vierzehn Jahre alt und ich sage Dir meinen herzlichsten Glückwunsch. Ein Pferd hast Du Dir gewünscht und von Deiner Mutter wirst Du eines bekommen, das Du reiten kannst. Es soll ein schönes Pferd sein, ich stelle mir vor, dass es ein Schimmel ist. Ich sehe Dich wie die Elfenkönigin auf einem schneeweißen Pferd über die Hügel fliegen.
Aber von mir bekommst Du auch ein Pferd, eines, das nur ich Dir schenken kann, denn es kostet ein paar Euro mehr als Dein Schimmel, auch wenn man es noch nicht reiten kann. Du weißt ja viel über Pferde, du kennst sicher Western Dancer, den berühmtesten Vollbluthengst aller Zeiten. Er hat nicht nur alle Rennen gewonnen, er ist auch der bester Vererber. Alle seine Nachkommen sind Stars auf der Rennbahn. Eine Stute von Western Dancer decken zu lassen, kostet heute 800 000 Dollar! Natürlich deckt er nicht mehr, schon lange nicht mehr, hat er vielleicht nie getan, denn das macht man heute alles mit künstlicher Befruchtung. Western Dancer ist 28 Jahre alt. Trotzdem wird es in den nächsten Jahren immer wieder Fohlen von ihm geben. Für – ich habe mich genau informiert – ca. 50 Befruchtungen ist Samen von ihm eingefroren.
Nun denkst Du, ich schenke Dir hier ein Fohlen von Western Dancer? O nein! Es ist viel großartiger. Du bekommst ihn selber, den besten Vollbluthengst aller Zeiten!
Die Aktiengesellschaft, der Western Dancer gehört, hat nämlich zugestimmt, dass zwei – genau zwei, nicht mehr – Klone von ihm hergestellt werden. Einer davon (II a) muss in den U.S.A. bleiben – den anderen hast Du! Was Du da jetzt wahrscheinlich in der Hand hältst, ist eine verschönerte Nachbildung des Gefäßes, in dem das Zellmaterial für einen Klon von Western Dancer tiefgefroren in Chicaco lagert und darauf wartet, dass mein Elfenkind sagt: ‹Jetzt! Im nächsten Jahr soll er geboren werden!› Dann kannst Du ihn auch mal reiten. Aber eigentlich ist er ein Zuchthengst.
Bei der ganzen Sache ist natürlich ein Risiko. Du kennst mich: no risk no fun! Die meisten Leute glauben noch nicht an diese Technik. Darum konnte ich ihn günstig erwerben. In ein paar Jahren wird sich der Wert vervielfacht haben. Dann kannst Du ihn natürlich auch verkaufen.
Leider ist er kein Schimmel. Er ist dunkelbraun. Stell ihn Dir also ins Regal zwischen die steigenden Pferde aus Meißner Porzellan, die ich Dir mal geschenkt habe, und reite so lange Deinen Schimmel, den Du wahrscheinlich von Deiner Mutter bekommst.
Es grüßt Dich, mein Elfenkind, und wünscht Dir Glück im neuen Lebensjahr
Dein Dich ewig liebender Vater»
Taggy ließ das Blatt sinken und sagte – nichts.
«Sagen Sie doch was!», flehte Theres. «Bitte.»
«Wie», begann er, «wie hat denn deine Mutter reagiert?»
Das war nicht sehr hilfreich.
«Der hab ich das noch nicht gezeigt. Aber wie die reagiert, weiß ich. Sie schreit und flucht. Sie kriegt ganz kleine böse Augen und schreit und flucht. Wenn irgendwas mit meinem Vater ist, dann schreit und flucht sie. Sonst nie. Ich will es ihr nicht sagen. Ich kann das nicht leiden, wenn sie so über ihn schimpft. Er ist doch mein Vater.»
«Du musst es ihr sagen. Sieht so aus, als hätte dein Vater dir hier ein Millionengeschenk gemacht.»
«Das interessiert sie nicht. Sie ist selber reich. Nicht so wie er. Aber was sie alles geerbt hat, können wir auch nicht ausgeben.»
Taggy schwieg. Er war heute wirklich nicht sehr hilfreich. Wie furchtbar, wenn sogar Taggy nichts mehr einfiel. Das Einzige, was er schließlich herausbrachte, war: «Entsetzlich.»
Theres presste die Lippen zusammen, bis sich die Zahnspange fast durch die Oberlippe drückte. Aber da fasste Taggy einen Entschluss:
«Also! Der Reihe nach. Erstens: Dein Vater hat, wie viele Menschen dieser Erde, von dieser Welt nicht mal die Hälfte begriffen. Er weiß zum Beispiel nicht, was ein Pferd ist. Er weiß es einfach nicht. Er denkt, das sei ein Geschäftsobjekt. Du hast doch auch einen Hund. Hast du ihn mal mit dem Hund besucht?»
Theres nickte.
«Und? Was hat er gemacht mit dem Hund?»
«Er hat ihn gestreichelt.»
«Siehst du! Dann ist noch nicht alles verloren. Vielleicht kapiert er noch, dass, was man streicheln kann, kein Geschäftsobjekt ist.»
«Sie meinen, man kann ihn liebhaben? Trotz allem?»
«Ja. Zweitens: Deine Mutter. Ich rufe sie gleich an und erzähle ihr das alles. Wenn du nach Hause kommst, ist ihr Wutanfall vorbei.»
«Aber ich muss doch selber mit meinen Problemen fertig werden.»
«Mit deinen. Ja. Aber das ist nicht deins. Es ist ein Problem deiner Mutter. Das musst du dir nicht anhören. Ja – und dieses Flaschenpferd: Lehn das Geschenk ab oder nicht, das musst du wissen, ich glaube, es ist im Augenblick nicht wichtig, denn du lebst mit diesen Islandpferden. Ich versteh ja nichts von Pferden, aber als letzten Monat hier so ein Zirkus war, ob der Islandpferdehof nun zu uns kommt oder nicht, da hab ich mich ein bisschen informiert. Islandpferde entstehen anders. Also Klone sowieso nicht, aber da ist auch nichts mit künstlicher Befruchtung. Da läuft der Hengst mit seiner Herde Stuten den ganzen Sommer auf der Weide. Und sie können sich freuen und sich lieben, wie sie Lust haben. Und ich bin sicher, das ist ein Grund, weshalb diese Islandpferde so robust und so voller Leben und Freude sind.»
Jeder macht mal einen Fehler. Auch Taggy. Dies war sein Fehler. Das hätte er nicht sagen dürfen. Theres brach völlig zusammen. Er musste warten. Sie kämpfte. Mit den Tränen. Gegen die Tränen. Sie ballte die Fäuste. Sie versuchte durchzuatmen und blieb bei ihrem Entschluss: Jetzt sag ich’s. Jetzt sag ich’s. So brach es dann aus ihr heraus, etwas stotterig und durcheinander, denn die Worte stolperten über die Zahnspange, aber doch einigermaßen verständlich.
«Ja, genau! Darum sind sie so, die Islandpferde. Und ich – ich bin überhaupt nicht robust und eigentlich gar nicht richtig lebendig, und heute Morgen, als ich das gelesen hab, den Brief von meinem Vater, da hab ich gedacht und seitdem kann ich nichts anderes denken ...»
Sie musste Luft holen, sie brauchte etwas mehr Schwung, mehr Druck, um das noch zu sagen:
«Glauben Sie, die haben mich auch so gemacht, meine Eltern? Ich bin kein Klon wie das Flaschenpferd da, aber ich bin doch auch nicht echt, nicht richtig gezeugt, mit Liebe und Sex und so, ich bin doch gar nicht vollständig, also ich fühl mich da nicht vollständig.»
So war es. Sie war weit hinter den anderen Mädchen ihrer Klasse zurück. Noch immer hatte sie nicht ihre Tage. Und morgen würde sie vierzehn, und da wo den anderen Mädchen Beulen wuchsen, hatte sie geradezu Dellen.
Kann man so was dem Klassenlehrer erzählen? Hätte sie nicht doch lieber mit Jana reden sollen? Aber wie sollte die das verstehen? Bei der war alles perfekt. Oder mit Alberta? Das ging noch weniger. Keine Chance, Alberta verständlich zu machen, dass man darunter leiden konnte, wenn man zu dünn war. Aber dem Klassenlehrer erzählen kann man das auch nicht.
«Also jetzt hör aber auf, Theres», sagte Taggy, «also jetzt spinnst du. Deine Eltern – sie mögen ja etwas schwierig sein – aber sie haben dich bestimmt nicht im Reagenzglas gezeugt.»
Theres zuckte die Achseln.
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sich jemals geliebt haben. Und ich fühle mich da einfach nicht vollständig. Verstehen Sie das?»
Taggy antwortete nicht.
«Jetzt sagen Sie bloß nicht, das wird schon noch.»
Taggy sagte noch immer nichts. Dann zuckte ein Grinsen über sein Gesicht. Er sprang auf.
«Wart mal, vielleicht habe ich das noch.»
Er kramte in seinen Taschen, Jackentaschen, Hosentaschen und zog schließlich ein verknittertes Blatt Papier hervor, legte es auf den Tisch, strich es glatt, knickte das obere Drittel um und schob es ihr zu.
«Hab ich gestern zwei Jungen weggenommen. Aber ich sage dir nicht welchen, auch nicht aus welcher Klasse, das wäre nicht fair.»
Der Zettel war aus einem Terminplaner gerissen. Zwei verschiedene, aber gleichermaßen krakelige Schriften wechselten sich ab.
Theres las:
Nee – find ich nicht, aber Theres ...
Die hat doch nur Gäule im Kopf ...
Na und? Aber hast du die mal angeschaut. Seit den Sommerferien. Wie die sich verändert hat?
Stimmt. Werden wir im Auge behalten.
Theres starrte auf den Zettel. Taggy zog ihn ihr weg und knüllte ihn wieder zusammen.
«Also», sagte Taggy, «ich hoffe, du bist emanzipiert genug und ziehst dein Selbstbewusstsein nicht daraus, dass so ein paar Knaben dir nachschauen. Ich wollte dir nur beweisen – nicht sagen, denn geglaubt hättest du es mir ja nicht – beweisen: du bist vollständig.»
Als Theres zurück zum Klassenzimmer ging, wog das Flaschenpferd nicht mehr monsterschwer. Sie schloss die Augen, sie kannte den Weg ja, und tastete ihren Körper von innen ab. Dellen, stellte sie fest, also Dellen waren da nicht.
Am Nachmittag regnete es immer noch ein wenig. Theres saß auf dem Koppelzaun vom Rappenhof. Das war zum Teil verboten, zum Teil erlaubt. Verboten hatte ihr die Mutter, im Regen zu sitzen. Erlaubt hatten ihr Isa und Sven, auf den alten Koppelzaun zu klettern, weil sie ja fast nichts wog. Alberta zum Beispiel durfte das nicht. Theres war allein. Sie hatte sich sehr früh zum Rappenhof fahren lassen, eben weil sie allein sein wollte. Sie wollte Abschied nehmen, in stiller Ruhe Abschied nehmen von einer Sehnsucht. Dies war der letzte Tag in ihrem Leben ohne eigenes Pferd. Von nun an würde sie an jedem kommenden Tag ihres Lebens immer ein eigenes Pferd haben. Oder zwei. Oder drei. Oder mehr. Aber keinen englischen Vollblüter mit Namen Western Dancer II b!
Taggy hatte gute Arbeit geleistet. Als sie von der Schule nach Hause gekommen war, hatte ihre Mutter sie einfach in den Arm genommen und ihr versprochen: «Morgen bekommst du ein richtiges Pferd.» Über den Vater geschimpft hatte sie nicht. Theres hatte ihr den Brief, das Fläschchen und das Foto von Western Dancer gegeben. Frau Rohner hatte mit den Achseln gezuckt und gesagt: «Ich will das nicht lesen. Mach erst mal gar nichts damit. Schreib ihm, bedank dich, und sag ihm, was du davon hältst.»
Nach dem Essen hatte sie Theres sofort zum Rappenhof gebracht. Und die genoss nun dort das Alleinsein. Isa und Sven, die Inhaber des Islandpferdehofs, arbeiteten im Bauernhaus. Sie waren erst vor wenigen Wochen mit ihren Pferden hierher gezogen. Für die Pferde war alles gerichtet, aber ihre eigene Wohnung noch lange nicht fertig.
So ganz allein war Theres natürlich nicht. Auf dem dick mit Spänen eingestreuten Paddock lag Barana, ihre Hündin, fuchsrot und glatt, mit einem Fell wie ein Pferd. Sie war ein Magyar Vizsla, ein ungarischer Jagdhund. Barana döste. Sie rannte nicht wie früher auf dem Ulmenhof ständig aufgeregt zwischen Reitern und Pferden hin und her. Hier war Ruhe. Auch einige Ponys hatte sich hingelegt. Der Regen machte ihnen nichts aus. Nur wenige Pferde waren in den Stall gegangen und knabberten am Stroh.
Theres zählte. 29 Isländer waren draußen, also mussten fünf im Stall sein. Weiter hinten standen abgetrennt von den anderen in ihrem eigenen Paddock vor ihrem eigenen Stall die beiden weißen Andalusierhengste Federico García Lorca und Don Pedro Calderón de la Barca. Isa und Sven bestanden darauf, dass man sie mit ‹Señor› ansprach und ‹Sie› zu ihnen sagte. Nur alte Freunde und sehr gute Reiter durften die beiden Spanier duzen. Dabei wirkten sie eigentlich gar nicht so eingebildet. Theres rutschte vom Koppelzaun, ging mitten durch die Isländer auf die beiden Spanier zu, Barana stand auf und folgte ihr träge.
«Hallo Rico, hallo Pedro», flüsterte Theres. «Rico, du bist dreckig, aber du bist auch schön, wenn du dreckig bist. Du hast dich gewälzt, nicht wahr. He, Rico!»
Täuschte sie sich oder guckte der Schimmel sie wirklich ziemlich abweisend an? Das konnte doch nicht wahr sein, dass die wirklich Wert darauf legten, wie man sie ansprach. Sie machte die Probe.
«Señor García, Sie sind dreckig. Sie haben sich gewälzt. Aber Sie sind auch schön, wenn Sie dreckig sind. He, Señor García!» Keine Veränderung. Der Schimmel fühlte sich offenbar immer noch nicht angesprochen. Da stupste der andere sachte seine weiche Nase an ihre Schulter. Theres musste lachen.
«Ach so! Du bist der Rico! Sagt Isa und Sven bloß nicht, dass ich euch heimlich duze! Ich verrat euch noch was. Morgen bekomme ich eines von allen diesen Pferden. Ich weiß nicht welches, aber nicht dich, Rico, und nicht dich, Pedro.»
Bei dieser Verteilung der Namen schienen die Hengste mit dem ‹Du› einverstanden.
Theres drehte sich um und lehnte sich an den Zaun. Der Regen lief ihr über das Gesicht, und alle Tropfen waren Regentropfen, kein Grund mehr für Tränen, das traurige Gefühl tief in ihr war ganz weich und seltsam angenehm. Trotzdem traurig.
Komisch, dachte sie.
Abschied von einer Sehnsucht. Seit vielen Jahren sehnte sie sich danach, ein eigenes Pferd zu haben. Und doch fiel ihr der Abschied von dem pferdelosen Dasein schwer.
Langsam schlenderte sie durch die Herde. Eins von diesen, eins, aber welches? Sicher nicht Blesi, den lieben Fuchs mit der breiten Blesse. Den wollten immer die jüngsten Reiter haben, weil er so grenzenlos lieb war. Den konnte Isa nicht hergeben. Am Eingang zum Stall stand die alte, schneeweiße Gletta – ‹ein Schimmel für mein Elfenkind, ein Schimmel für mein Elfenkind› – Theres schüttelte heftig den Kopf und warf die Erinnerung an den Brief des Vaters aus ihren Gedanken. Gletta schaute über ihre Herde, eine alte Leitstute, das älteste Pferd im Stall.
«Kein Schimmel für dein Elfenkind!», knurrte Theres vor sich hin.
Gletta würde mit Sicherheit nicht verkauft.
Aber Sokki vielleicht. Neben ihr schnaubte ein neugieriges, freches schwarzes Ponygesicht mit einer schmalen Blesse, aber die Mähne war über dem Widerrist weiß, und ein weißer Streifen lief über die Schulter. Sokki war kein Rappe, sondern ein Schecke, sein rechtes Hinterbein war dunkel, die anderen waren weiß.
Sie streichelte Sokki. Eine braune Nase drängte sich dazwischen.
«Du bist …» Theres schob die Mähne von der Stirn, noch war es etwas schwierig, alle zu erkennen. «… Örn mit dem kleinen Strich auf der Stirn. Sind wir ab morgen Freunde für immer?»
Sie ging weiter und machte einen Bogen um Bjalla. Barana nicht. Die lief auf Bjalla zu und leckte ihr die Nase, als gehörte die helle Fuchsfalbstute zur Familie. Denn Bjalla war das Pferd, das Theres immer geritten hatte, als der Rappenhof noch an seinem früheren Ort war. Bjalla, das hieß ‹Glöckchen›, und aus goldenen Glöckchen war ihr Fell, aus silbernen ihre Mähne, Bjalla, das Glöckchen, das Glockenspiel – Theres drehte sich rasch um. Sie würde Bjalla nicht bekommen, das hatten sie verpasst, die blonde Stute war verkauft. Aber Hrimfaxi, der windfarbene mit der Reifmähne. Oder Alsvidur, der Fuchs mit der breiten Blesse. Oder Harpa, die dreifarbene Braunscheckstute. Und dann musste sie noch einmal einen Bogen machen, einen großen Bogen um Stjarni, den Stern. Rabenschwarz fiel ihm die Mähne auf beiden Seiten über den Hals, der hoch gebogen wie bei einem Hengst war, nur kleine Spitzen ragten von den Ohren aus dem Haar und verborgen unter dem dichten Schopf war der kleine weiße Stern.
Stjarni war Isas Pferd. Den gab sie keinem. Theres aber hatte dieses Pferd gesehen und geliebt.
Was denn, dachte sie, Abschied von einer Sehnsucht? Ich bekomme ein Pferd, aber nicht Stjarni, nicht Bjalla – die Sehnsucht wird bleiben …