Bellcanto - Christa Ludwig - E-Book

Bellcanto E-Book

Christa Ludwig

4,9

Beschreibung

Häufig in Schlägereien verwickelt, Schulschwänzer, klaut im Supermarkt. Robins "Steckbrief" verrät seine Probleme zu Hause. Und die sollen weggehen, wenn ihn jetzt ein Hund regelmäßig besuchen kommt? Robin ist Bellcanto gegenüber zuerst so misstrauisch, wie es der alte Biologe Heyse gegenüber Menschen ist. – Eine sensibel erzählte Geschichte voller Rätsel und Spannung über erstaunliche Begegnungen, wachsendes Vertrauen und die Lebensfreude, die ein Hund schenkt. Sozialhelfer oder Besuchshund? Da ist Robin Letzterer doch lieber. Wie lieb ihm dieser Bellcanto ist, merkt er aber erst allmählich. Der alte Heyse, missmutiger Bewohner eines Seniorenheims, weiß das für sich längst. Bellcanto führt sie zusammen und begleitet sie auf einer heimlichen Reise. Heyses Verhalten und seine Vergangenheit werden Robin lange ein Geheimnis bleiben. Aber ein noch aufregenderes ist dieses russische Mädchen, das mutig durch reißendes Wildwasser schwimmt …

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Christa Ludwig

BELLCANTO

Mit Illustrationen von

Sünne van der Meulen

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Erwischt!

Der Gefangene im Krankenstuhl

Ein schnüffelndes Monster mit Lappenohren

Wenn das Nilpferd zu wenig weint

Wassertropfen wie Feuerfunken

Ringelnattern sind schlau

Der Hund mit den langen Krallen

Züge Richtung Schwarzwald

Dann lieber Schule

Er lebte in splitterndem Glas

Laura ohne ‹u›

Als Träger für Bellcantos Futter

Olgas schöner wilder Freund

Für immer deine Selina

Wendehalsfrösche und Stinkameisen

Wasserschutzengel

Da erwischte ihn ein Stromschlag

Ein kleines bisschen mehr als niemand

Namensschild

Würmer haben mehr als ein Herz

Eingesperrt – und frei

Silberfische

Im Mondschatten des Baumes

So ein Junge wird gesucht

Getrennt durch rasende Reihen tödlicher Reifen

Über dem größten Fluss

Selina hat schon Ferien

Dreizehnmal: Du fehlst mir so!

Knorke

Drei Tage später

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Erwischt!

«Ich heiße Robin Undwennmicheinerhautschlagichzurück.»

«Was?»

Der Mann in dem unauffälligen Hemd und der unauffälligen Hose schaute Robin durch seine unauffällige Brille an.

«Was hast du gesagt?»

Warum hab ich das nicht sofort gemerkt?, dachte Robin.

Es hätte ihm auffallen müssen, dass der so unauffällig war. So sind die nämlich immer, so waren die beiden anderen auch. Denn es war nun schon das dritte Mal, dass er beim Chipsklauen in einem Supermarkt erwischt wurde.

«Was hast du gesagt?», wiederholte der Mann. «Ich habe dich nach deinem Namen gefragt! Noch mal langsam!»

«Ich heiße Robin Und-wenn-mich-einer-haut-schlag-ich-zurück!»

Er schaute aus dem Fenster. Durch den Hinterhof des Supermarktes fuhr ein Gabelstapler. Eine leere Chipstüte schwebte im Sommerwind zwischen den Paletten mit Kartons.

CrissCross Chili, erkannte Robin, als sie am Fenster vorbeiflog.

Eine seiner Lieblingsmarken.

«Ist das dein Familienname?», fragte der Mann.

«Was?»

«Also ‹Robin› ist dein Vorname. ‹Und-wenn-mich-einer-haut-schlag-ich-zurück› ist dein Familienname?»

Robin zuckte zusammen und versehentlich sah er dem Mann gerade in die Augen. Er senkte den Blick und starrte auf die zerdrückte Chipstüte, die zwischen ihnen lag.

«Ja», sagte er leise. «Vielleicht.»

Und dann grinste er.

«Sie können ja mal gucken, ob Sie den Namen im Telefonbuch finden. Ich weiß schon, dass Sie da das Telefonbuch haben auf Ihrem Laptop.»

«Irrtum.»

Der Mann drehte den Laptop um, sodass Robin den Bildschirm sehen konnte. Nein, das war wirklich nicht das Telefonbuch. Es war eine Liste der gemeldeten Ladendiebstähle der letzten Wochen und der Mauszeiger kreiste um:

Robin Renk, 12 Jahre, dichte dunkle Haare, auffallend große dunkle Augen, ca. 1,55m, deutlich übergewichtig,

Schulschwänzer, häufig in Schlägereien verwickelt, klaut ausschließlich Chips …

Ja, genau, das war das Problem. Kaum etwas war schwerer zu klauen als Chips. Sie knisterten immer und waren auch unter seinen Schlabberhemden schwer zu verstecken. Zu blöd, dass er keine Schokolade mochte.

«Also», sagte der Mann, «du bist zwölf Jahre alt, von einem Gericht kannst du nicht bestraft werden. Aber das kann doch nicht so weitergehen, was meinst du?»

Robins Augen suchten die schwebende CrissCross Chili-Tüte im Hof, aber nicht einmal die war ihm geblieben. Stattdessen hörte er ein sehr bekanntes Rascheln neben dem Laptop und dann – crash – das vertraute Geräusch: der Mann hatte die Chipstüte aufgerissen. Er schob sie Robin hin. Der sah noch immer aus dem Fenster, trotzdem sog seine Nase den Duft von Fett, Kartoffeln und Paprika ein.

«Die können wir sowieso nicht mehr verkaufen», sagte der Mann. «Wir haben sie beide total zerquetscht, als du auf mich geprallt bist.»

Was wollte der Typ? War der jetzt total durchgeknallt?

Robin leckte sich über die Lippen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Mann. Der hatte den Laptop wieder zu sich gedreht.

«Seit wann bist du nicht mehr in der Schule gewesen», fragte er.

«Die wollen mich da nicht», sagte Robin. «Wenn die mich doch rausschmeißen.»

«Sie haben dich rausgeschmissen?»

«Ja.»

«Warum?»

«Ich habe Maik einen Zahn rausgehauen und dann sollte ich nicht mehr kommen.»

«Ah, drei Tage Schulverweis, vermute ich mal?»

Robin nickte.

«Aber danach solltest du wieder in die Schule gehen. Was also mache ich jetzt mit dir?»

Robin versuchte, nicht zu sehen, nicht zu hören, nur zu riechen: den Duft aus der offenen Chipstüte.

«Na, dann komm mal mit!»

Der Mann stand auf.

«Na los!»

Wohin bringt der mich?, dachte Robin.

Er erhob sich langsam. Der Mann drückte ihm die Tüte in die Arme.

«Kann ich sonst nur wegschmeißen», murmelte er und ging.

Robin stolperte hinter ihm her. Zurück in den Laden. Durch Reis und Nudeln auf der einen, Tee und Kaffee auf der anderen Seite, vorbei an der Kasse zum Eingang.

«Du kannst gehen», sagte der Mann.

Robin zögerte.

«Was machen Sie jetzt mit mir?», wollte er wissen. «Kommt jetzt wieder der Typ vom Jugendamt?»

Der Mann zuckte die Achseln.

«Weiß ich noch nicht. Vielleicht fällt mir was Besseres ein. Du kannst gehen!»

Das konnte Robin nicht, denn vor ihm waren zwei Glastüren. Sofort hörte er es wieder, hörte es tief innen in seinem Kopf, das Klirren und Splittern von Glas. Er drückte die Tüte an seine Brust und zerkrümelte die Chips noch mehr. Er musste warten. Und schon kam eine Frau mit einem Einkaufswagen. Sie hatte einen kleinen Jungen auf dem Kindersitz. Als sich die innere Glastür vor ihr öffnete, fing der Junge an zu zappeln und versuchte aufzustehen. Der Wagen rollte zur Seite, Robin sah seine Chance, er sprang vor und fing den Wagen auf.

«Tschüss», sagte er noch gerade so laut, dass der Mann ihn hören konnte.

Er half den Wagen in den Laden zu schieben und huschte selber durch die Glastür. Unsicher drehte er sich um. Der Mann schaute ihm nach. Robin stand im Windfang zwischen den beiden Türen in einem Gefängnis aus Glas. Er griff in die Tüte und stopfte sich eine Handvoll zerbröselter Chips in den Mund. Er versuchte ruhig zu atmen. Natürlich wusste er genau, dass er nur einen Schritt nach vorn machen musste und schon würden die Türen auseinandergleiten, natürlich wusste er das! Er leckte die Chips von seinen Fingern, die feucht waren von Fett und Schweiß und Angst. Er holte noch einmal tief Luft, dann wagte er jenen kleinen Schritt, lautlos öffneten sich die Türen und Robin rannte aus dem gläsernen Käfig.

Er lief an dem Fahrradständer mit Rädern vorbei und weiter kam er nicht. Er stürzte. Immerhin gelang es ihm, die Chipstüte so zu halten, dass er nicht darauf fiel. Sein rechter Fuß war an einer Schnur hängen geblieben. Oder an einem Draht. Oder? Als Robin merkte, dass er über eine Hundeleine gefallen war, erstarrte er und presste die Augen zu. Aber das würde ihm nicht helfen. Er musste den Hund sehen. Also blinzelte er durch halb geschlossene Augen. Es war nur ein kleiner Hund, der da an viel zu langer Leine vor dem Supermarkt angebunden war. Er schnüffelte und leckte ein paar verstreute Chipskrümel vom Boden. Robin hielt eine Hand zwischen sich und die Hundeschnauze. Mit der anderen streute er ein paar Chips auf den Boden, auf die sich der Hund sofort stürzte. Robin konnte aufspringen und fliehen.

Der Gefangene im Krankenstuhl

«Schöner Gesang», schrie der Alte mit dem dünnen Hals. «Schöner Gesang!»

Er saß gefangen in seinem Krankenstuhl, eingesperrt hinter der Platte, auf der seine Nuckeltasse stand. Sie hatten ihm seinen Sessel weggenommen, seinen eigenen geliebten Sessel, weil er angeblich so eine Tischplatte brauchte. Aber die Platte war in der rechten Stuhllehne eingerastet, und er konnte die Sperre nicht lösen. Vor ein paar Tagen hatte er es noch geschafft. Hatte die Pflegerin ihn hier eingeschlossen? Aus Versehen? Mit Absicht?

Mit Absicht natürlich! Sie war eine widerliche fette Zecke! Prall und vollgesogen, wie man Zecken nur an wilden Tieren findet. Bei Hunden und Katzen werden sie immer herausgezogen und zertreten, wenn man sie gerade greifen kann. Als Kind hatte er ein halb zahmes Eichhörnchen gehabt, das ihn im Garten besuchte, und das hatte manchmal Zecken gehabt, so prall wie die Fette hier.

«Schöner Gesang!», schrie er. «Wo bleibt mein Schöner Gesang?»

Seine Stimme klang wie hingekritzelt, wie von zittriger Hand mit eingetrocknetem Füller geschrieben auf zerknittertes Papier.

Die Tür flog auf. Und da stand sie, von Türrahmen zu Türrahmen, das Tablett mit seinem Abendessen balancierend auf ihrem rechten Arm.

Ja, sie kam selber.

Ach, es ist ja erst Dienstag, dachte er, und der Schmerz im Knie zuckte bis in den Zeh. Da kommt immer die Zecke.

Wenn sein Schöner Gesang ihn nicht besuchte, brachte immer sie ihm das Abendessen. Keine der anderen Pflegerinnen traute sich an diesen Tagen in sein Zimmer, seit er einmal die Kleine, die fast kein Deutsch sprach, am Kragen gepackt und gewürgt hatte.

«Bello kommt heute nicht», sagte die Zecke.

«Er heißt nicht Bello!», fuhr er sie an. «Nenn ihn nicht Bello. Das rufen alle fantasielosen Barbaren ihren lausigen Straßenkötern nach.»

«Haben Sie etwas gegen lausige Straßenköter?», fragte die Zecke.

«Nein», sagte er. «Ich habe nicht einmal etwas gegen Läuse. Aber sehr wohl gegen fantasielose Barbaren, denen keine anderen Hundenamen einfallen als Bello.»

Sie nahm die Nuckeltasse von der Platte und stellte das Tablett mit dem Abendessen darauf: Brot, Butter, etwas Käse, zwei Tomaten, eine saure Gurke – keine Wurst, es würde kein Hund da sein, dem er sie geben könnte.

«Er hört auf Bello», sagte sie. «Er macht ‹Sitz› und ‹Platz› und gibt Pfötchen, wenn wir Bello sagen.»

«Ihr seid ein dreckiges Pack!», schrie er mit seiner Kritzelstimme. «Ungebildete Kulturbanausen, die nichts kennen und nichts wissen! Er heißt Belcanto und das ist Italienisch und bedeutet ‹Schöner Gesang›, aber du …»

«Steffi ruft ihn selber manchmal Bello», unterbrach sie ihn. «Und ich habe seine Anmeldung als Besuchshund hier unterschrieben. Da habe ich gesehen, sie schreibt Bellcanto mit zwei ‹l›. Das italienische Belcanto aber, das schreibt man mit einem ‹l›. Das weiß sogar ein ungebildeter Kulturbanause wie ich.»

Sie drehte sich um, ging zur Tür, wandte sich noch einmal zurück und sagte: «Klingeln Sie, wenn wir abräumen sollen. Essen Sie langsam und trinken Sie viel. Die Medikamente sind …»

Er schob mit dem linken Arm das Tablett über den rechten Rand der Platte. Seine rechte Hand fasste darunter, und mit derselben Kraft, mit der er die Kleine, die kein Deutsch sprach, gewürgt hatte, schleuderte er sein Abendessen Richtung Tür.

«Da», schrie er, und seine Stimme kritzelte nicht mehr aus eingetrocknetem Füller, sie kleckste. «Da, friss das selber, damit du noch fetter wirst!»

Die Pflegerin ging. Leise, lautlos, sie alle hier trugen Schuhe, die kein Geräusch machten.

Zum Aufräumen kam die Kleine, Polin, Bulgarin oder Rumänin, er wusste es nicht. Sie geriet nicht in Gefahr, wieder von ihm gewürgt zu werden. Fern von ihm kroch und wischte sie auf dem Boden herum, er hatte ziemlich weit geworfen.

Bevor sie ging, stand sie zögernd, trat von einem lautlosen Schuh auf den anderen.

«Hunger?», fragte sie. «Essen?»

Er schaute auf die Kehrschaufel mit Scherben, Käse, Gurke und schüttelte den Kopf. Er hatte wirklich keinen Hunger. Aber – er holte Luft, öffnete den Mund …

«Wie?», fragte sie. «Was?»

Er hätte nun sagen müssen, dass er zur Toilette wollte, aber er drehte den Kopf weg.

«Nichts», murmelte er. «Geh!»

Er hasste es, wenn er sie um etwas bitten musste, und am meisten, wenn er ihnen sagen musste, dass er zur Toilette wollte. Er beschloss, weniger zu essen, weniger zu trinken. Morgen Abend würde er alles Bellcanto geben.

Ein schnüffelndes Monster mit Lappenohren

Die Türklingel schrillte und Robin zuckte zusammen. Er zerknüllte die Tüte Chips und warf sie mit dem Star Wars Comic, den er gestern Morgen am Kiosk geklaut hatte, in eine Schublade. Er zog seine Schlafanzughose hoch und schloss den einzigen Knopf an der Jacke. Es war früher Nachmittag und die Rektorin seiner Schule hatte Zeit genug gehabt, um ihm den Typ vom Jugendamt auf den Hals zu hetzen, weil er heute wieder nicht dagewesen war.

Oder der Detektiv vom Supermarkt, der ihn gestern erwischt hatte, war überhaupt nicht so nett, wie er getan hatte, und schickte ihm nun die Bullen ins Haus. Und die würden weiter und weiter klingeln, bis auch seine Mutter es hörte. Besser, er ging zur Tür, bevor seine Mutter sich aufraffte und aus ihrem Zimmer torkelte.

In den Flur schien Licht. Die Wohnungstür war geöffnet. Und da stand seine Mutter. Sie war vollständig angezogen und sagte mit freundlicher und ziemlich klarer Stimme: «Da sind Sie ja wirklich!»

Wen erwartete sie? Wen, den sie mit solcher Stimme ansprechen würde?

Seit mindestens einem Jahr war niemand mehr zu ihnen gekommen, nur sein Vater, und der hätte nicht geklingelt, und dem hätte sie nicht geöffnet, und der kam nicht mehr rein, weil sie das Türschloss hatte austauschen lassen.

«Und das ist er also!», hörte er seine Mutter sagen.

Wer? Was?

Robin ging langsam zur Tür.

«Ich bin Steffi», sagte eine offenbar junge Frau, «und das ist Bellcanto.»

Das klang nicht schlecht, aber Robin näherte sich misstrauisch. Zu Recht! Neben der Frau stand ein Hund. Ein Hund!!!

«Sie können ihn streicheln», sagte Steffi. «Er ist grenzenlos gutartig. Sonst wäre er ja kein Besuchshund.»

Und während Robin, so weit es ging, in den Jacken an der Garderobe verschwand, kniete seine Mutter in der offenen Tür und streichelte den Hund.

Den Besuchshund!

Robin kannte Kampfhunde, Jagdhunde, Polizeihunde – was war ein Besuchshund?

«Dürfen wir – äh – dürfen wir reinkommen?», fragte Steffi.

«Wie? Äh, ja. Natürlich. ’tschuldigung!»

Seine Mutter sprang auf, und in den Flur lief ein Hund von der Rasse Besuch. Er war schwarz-weiß gefleckt. Wie ein kaputtes rennendes Schachbrett sah er aus. Oder wie ein zertrampelter aus jeder Form getretener Fußball.

Früher hatte Robin mit seinem Vater Schach und Fußball gespielt. Den Fußball hatte er kaum treten können, vom Schach wusste er nicht viel mehr, als dass die Pferde um die Ecke springen. Das war lange her. Kein Schach, kein Fußball, kein Vater mehr für Robin. Stattdessen ein schnüffelndes Monster mit hängenden Lappenohren und einem langen haarigen peitschenden Schwanz? Warum besuchte das seine Mutter?

Robin biss auf den Reißverschluss seines Anoraks.

Nicht noch mal ein Hund!

Mit so einem Vieh hatte es angefangen, keinem Besuchshund, mit einem Erbhund, einem Schwester-Erbhund. Es war lange her. Vor Fußball und Schach. Robin erinnerte sich kaum an den Hund, nur an das Jaulen in der Nacht und an das verquollene Gesicht seiner Mutter.

Und genau die spielte nun mit diesem Bello. So hieß er doch, oder? Egal, alle Hunde heißen Bello.

«Und wo ist jetzt der Junge?», fragte Steffi.

Was? Wer?

«Robin!?!»

Seine Mutter sah die offene Zimmertür.

«Robin? Er muss hier sein. Und Sie glauben wirklich, ein Hund kriegt ihn dazu, dass er wieder in die Schule geht?»

Was?

Robin erstarrte im Garderobenversteck. Wollten die ihn nun mit einem Kampfhund von der Rasse Besuch in die Schule hetzen?

«Robin?»

Er hatte keine Chance, sich in einer Anoraktasche zu verkriechen und den Reißverschluss zuzuziehen. Schon wedelte das Hundevieh um seine Füße. Robin schob die Jacken beiseite, blieb aber stehen, mit dem Rücken zur Wand.

«Was soll das?», fragte er.

«Ah», rief Steffi. «Bellcanto, das ist Robin, schau!»

«Ja, das ist Robin, wau!», äffte Robin sie nach. «Ich kapier das nicht, ich – nimm den weg!»

«Der …», kleines Zögern in Steffis Stimme, «der Mann gestern im Supermarkt – du erinnerst dich?»

Und wie!

«Der findet, dass du eigentlich ein netter Junge bist. Du wolltest weglaufen, richtig fliehen, trotzdem hast du der Frau mit dem Einkaufswagen und dem Kind noch durch die Glastür geholfen.»

Ah, so hatte das ausgesehen. Robin grinste und seine Mutter flüsterte leise und erschrocken: «Glastür?»

«Und dann hast du dich noch zu dem Hund gekniet, der da angebunden war, und ihm sogar von deinen Chips gegeben …»

Ah, so hatte das ausgesehen.

« … was nett, aber natürlich falsch war. Als Hundekenner muss ich dir sagen, dass man Hunden keine …»

Dass er über die Leine gestolpert war, hatte der Mann offenbar nicht gesehen.

« … Chips geben sollte, na ja, Menschen vielleicht besser auch nicht.»

Steffis Blick kreiste um seinen Bauch.

«Und bevor der Sozialhelfer wieder kommt …»

Bloß nicht wieder der! Der hatte ihn und die Mutter zwei Stunden zusammengequatscht!

« … hat er sich an uns gewandt. Er meint nämlich, du brauchst keinen Sozialhelfer, sondern einen Freund. Bellcanto ist ein superguter Freund.»

Robin und Bellcanto schauten sich an. Zum ersten Mal. Dunkelbraune Augen hatten sie beide. Keiner lächelte. Robin wollte nicht und Bellcanto konnte es natürlich nicht. Doch seine Augen lachten! Seine Augen sprühten: Komm spiel mit mir! Komm renn mit mir!

«Das Beste wäre, wir gehen erst mal eine Runde im Park», schlug Steffi vor.

«Kann ich mitkommen!», fragte Robins Mutter.

Was?!?!?!

Robin starrte ins Leere. Er versuchte, weder seine Mutter noch den Hund anzuschauen. Er hatte das zitternde Gefühl, er könnte vertreiben, was seine Mutter da gerade gesagt hatte. Seit Monaten war sie tagsüber nicht mehr aus dem Haus gegangen. Alle Einkäufe musste er erledigen. Nur nachts ging sie, das wusste er, zur Tankstelle an der Ecke wahrscheinlich, weil er ja keinen Alkohol kaufen konnte.

Und nun wollte sie mit in den Park? Ein Wunder! Mit einem Hund hatte das damals angefangen. Mit einem Hund würde es nun aufhören! Konnte das wahr sein?

«Ich zieh mich an», sagte er.

Wenn das Nilpferd zu wenig weint

«Schöner Gesang! Wo bleibt mein Schöner Gesang?»

Es war doch Mittwoch. Und es war vier Uhr. Seine Uhr konnte sich irren, konnte vor- oder nachgehen oder überhaupt nicht, aber der Fernseher war doch zuverlässig, zumindest wenn es um Zeit ging, und der Film über Weichtiere war seit eine halben Stunde vorbei und Bellcanto müsste längst hier sein.

Der Alte mit dem dünnen Hals drückte auf der Fernbedienung herum. Die Sendung über Muskelaufbau durch Ausdauertraining interessierte ihn nicht, ebenso wenig was unter dem Druck seines ungeduldigen Daumens an Talkshows, Sport und Comics über den Bildschirm huschte.

War ein Unglück geschehen? War Bellcanto in ein Auto gelaufen? Oder von einem fremden Hund gebissen worden? Lag er irgendwo auf einem Tierarzttisch und wurde notoperiert, totoperiert?

Aber nein! Bellcanto lief nicht in ein Auto! Steffi passte zu gut auf ihn auf. Und er wurde nicht gebissen! Bissige Hunde und allerbissigste Menschen wurden freundlich und liebenswürdig, wenn er nur da war.

Wenn er nur da war! Wenn er nur da wäre. Sein Schöner Gesang!

Den ganzen Tag war er freundlich gewesen. Agota hatte ihm das Mittagessen gebracht und er hatte mit ihr geredet, so weit sie Deutsch konnte, Englisch verstand sie ja nicht, sie war Ungarin.

«Gemüsereis», hatte Agota gesagt, «wie Sie bestellt haben.»

«Um zwei ist ein Film über Weichtiere, stell mir den Fernseher ein», hatte er verlangt.

«Weichtiere?»

Das Wort kannte sie offenbar nicht. Was sie sich wohl darunter vorstellte?

«Weich», flüsterte sie und drückte ihm das Kissen im Rücken zurecht. «Weich-tiere …»

«Ja», sagte er, «Schnecken, Würmer und Raupen und so.»

Er genoss das Entsetzen in ihren Augen.

«Was hast du gedacht?», fragte er. «Weich wie …»

Sie nickte.

«Ja, weich wie Fell, von Bello das Fell.»

Sie lächelte. Und er hatte nicht getobt, weil sie ‹Bello› sagte. Er hatte gegrinst und gelacht.

«Fellobello», schlug er vor. «Bellofello.»

Und dann hatte er seinen Gemüsereis gegessen und sehr viel getrunken und alle Medikamente genommen und den Film über Weichtiere gesehen – und nun kam Bellcanto nicht.

«Schöner Gesang!», schrie er, klopfte mit der Fernbedienung auf die Platte und drückte auf den Klingelknopf.

Als die Tür aufging, stand da die Zecke.

«Wollen Sie zur Toilette?», fragte sie.

«Was für ein Unsinn!», fuhr er sie an. «Rufe ich ‹Schöner Gesang›, wenn ich zur Toilette will? Gesungen wird in der Badewanne, nicht auf dem Klo!»

Die Zecke kam nicht herein. Sie trat einen Schritt beiseite und schob Agota ins Zimmer.

«Mach du das», sagte sie. «Aber räum den Kaffe erst ab. Leg die Fernbedienung weg. Dann hat er nichts zum Werfen. Raus kann er ja nicht.»

Nein, raus konnte er nicht. Die Platte vor seinem Sessel war wieder fest in der rechten Lehne eingerastet. Seine rechte Hand umklammerte die Fernbedienung, über den Bildschirm huschten die Simpsons, ein Fallschirm, ein leeres Fußballfeld und ein explodierendes Haus …

Was war geschehen?

Die Zecke schloss die Tür. Er war allein mit Agota. Auf den lautlosen Schuhen kam sie zu ihm, ging zum Fernseher und schaltete ihn aus. Mit dem Bild verschwanden auch die Stimmen von kreischenden Fans, klagenden Überlebenden, jubelnden Siegern. Die Fernbedienung nahm sie ihm nicht weg, und sie räumte auch den Tisch nicht ab.

«Herr Heyse», sagte sie, «es ist uns leid, allen ist es uns sehr weh und leid, aber Bellcanto kommt heute nicht.»

«Was ist passiert?», fragte er.

«Nichts passiert. Gar nichts passiert. Aber heute Bellcanto musste ein andern Besuch machen.»

Er war zuerst erleichtert, einfach nur erleichtert. Und wieder misstrauisch.

«Einen anderen Besuch? Beim Tierarzt?»

«Nein, nein. Ein Kind, er muss ein Junge besuchen.»

«Aber es geht ihm gut?»

«Der Junge? Wir wissen nicht viel über den Junge. Steffi sagt, sie darf nicht sagen, er ist wie Patient.»

Der Alte fing an zu begreifen.

«Bellcanto ist so ein gute Hund», fuhr Agota fort, «wir wissen doch und es sind nicht viele Hunde wie er und eben weil er ist so ein gute Hund, er ist gebraucht.»

«Ich brauche ihn auch», murmelte der Alte.

«Er kommt!», versicherte Agota. «Am Freitag, er kommt.»

«Und nächste Woche wieder dreimal?»

«Das wir wissen nicht.»

Der Alte ließ die Fernbedienung los. Sie klapperte auf die Platte.

«Der Kaffee ist kalt», sagte er.

«Ich soll wegräumen?»

«Ja», sagte er, «ja, bitte.»

Sie zuckte zusammen und einen Augenblick später er auch. Die Zecke hatte damit gerechnet, dass er Agota die Fernbedienung nachwarf und ihr den Kaffee ins Gesicht goss, und er sagte ‹… bitte›. Das Wort musste sie kennen, wenn sie es auch von ihm noch nie gehört hatte. Aber es ist eines der ersten Wörter, die man in einer fremden Sprache lernt. In allen Lehrbüchern, in allen Sprachen steht es auf der ersten Seite: ‹Guten Tag, ich heiße Anna, wie geht es dir, danke, bitte …›

«Morgen wird das Wetter schön sein», sagte sie, sagte es fehlerfrei und fast ohne Akzent. Vielleicht weil dieser Satz auch auf der ersten Seite aller Lehrbücher stand? Wie ‹danke› und ‹bitte›.

«Kann sein», murmelte der Alte, «aber morgen ist Donnerstag und da kommt er auch nicht.»

Agota griff nach der Kaffeetasse, hob sie aber nur ein wenig, fragte: «Ich soll wegräumen?»

Sie hielt die Tasse drei Zentimeter über der Platte und wartete. Gab sie ihm Zeit, noch einmal zu sagen ‹Ja, bitte›? So wurde es doch in Sprachkursen gemacht, wiederholen, wiederholen, bis man es nicht mehr vergessen konnte ja bitte, ja bitte …

Aber er nickte nur.

«Ich will, dass heute du mir das Abendessen bringst», sagte er. Und etwas leiser:

«Es gibt einen Wurm, einen winzig kleinen Wurm, der unter dem Augenlid des Nilpferdes lebt und sich von dessen Tränen ernährt. In dem Film über Weichtiere kam er nicht vor, aber es gibt ihn. Ob er manchmal unter dem Augenlid hervor- und hinausschaut, weiß ich nicht. Auch nicht, ob er überhaupt sehen kann. Und ob er, wenn das Nilpferd zu viel weint, hinaus- und weggespült wird, weiß ich auch nicht. Aber ich bin sicher, wenn das Nilpferd zu wenig weint, muss er verhungern.»

Agota stand hilflos mit der Tasse in der Hand. Dann ging sie auf lautlosen Schuhen.

Als sie ihm später das Abendessen brachte, sagte sie nichts mehr von Bellcanto und er nicht mehr ‹bitte›.

«Was soll ich damit?», fuhr er sie an.

«Sie haben bestellt das», sagte sie.

Ja, natürlich, er hatte das bestellt. Mortadella und Lyoner – es war ja Mittwoch. Keine Salami, Hunde dürfen keine Salami essen, hatte Steffi gesagt, aber ein paar Scheiben Mortadella durfte er Bellcanto immer geben.

«Soll ich bringen Käse?», fragte Agota.

Er schüttelte den Kopf. Sie ging.

Er nahm die Wurst, legte sie auf den Tellerrand und aß ein paar Bissen Butterbrot, nicht viel.

Wassertropfen wie Feuerfunken

Bellcanto sprang durch den Park. Steffi warf ein Spielzeug für ihn. Es war bunt, flach wie eine Frisbee-Scheibe, aber es hatte rundum drei Griffe und einen davon erwischte Bellcanto immer. Denn er war schneller als die bunte Scheibe. Er sauste über den weiten Rasen, überholte den kreiselnden Teller, der hoch über ihm flog, und dabei bellte er sein fröhliches Jiff, Jiff, Jiff. Dann drehte er sich um und fing das Frisbee aus der Luft. Sofort jagte er zurück, warf das bunte Ding vor Steffis Füße und hüpfte davor hin und her, Jiff, Jiff, Jiff!

Steffi gab die Scheibe Robin und das war Sport und Spaß für ihn, obwohl Sport und Spaß sonst feindlichste Gegensätze waren. Werfen war das einzige Thema im Sportunterricht, bei dem Robin gute Noten bekommen hatte – als er noch regelmäßig zur Schule ging. Und dies hier war die allerbeste Sportdisziplin: Werfen und Laufen, aber das Laufen erledigte Bellcanto, und Robin musste die in Speckrollen verwandelten Chips der letzten Monate nicht über den Rasen quälen. Er konnte weiter werfen als Steffi. Kein Problem für Bellcanto, nur umso größere Freude, und immer mehr Leute blieben stehen und bewunderten sie beide – auch Robin. Es kamen ein paar Hunde und rannten mit, aber Bellcanto war schneller, bis ein graubraun gestromter Blitz erschien und da hatte er keine Chance mehr.

«Das ist seine Freundin Ripple», erklärte Steffi. «Englischer Windhund, Greyhoundhündin, ist in England Rennen gelaufen, hängt einen Porsche ab.»

Aber Ripple brachte die Frisbee-Scheibe nicht zurück. Sie fing sie, lief ein paar Meter und ließ sie fallen. Bellcanto stürzte sich darauf und apportierte sein Spielzeug. Zweimal noch brachte er es zu Steffi, dann hatte er begriffen, wer nun mit ihm spielte und wer viel besser werfen konnte. Wurde er überhaupt nicht müde? Um die Scheibe aufzuheben, hatte Robin inzwischen mehr Kniebeugen gemacht als in den letzten Monaten. Auch Bellcanto hechelte, als sie endlich weitergingen.

Bellcanto war im Park offenbar so bekannt wie eben ein bunter Hund. Kinder, Mütter, Alte blieben stehen, begrüßten ihn und ein wenig auch Steffi, und von allen ließ er sich streicheln.

«Er ist nicht gerade ein Wachhund», sagte Robins Mutter.

«Doch», widersprach Steffi. «Er hört alles, zu Hause schlägt er sofort an, und wenn er meint, dass jemand mich bedroht, wird er ein Tiger.»

Sie näherten sich dem großen Brunnen.

«Du kannst gut werfen», sagte Steffi, «wirklich super.»

Die wollen was von mir, fiel Robin wieder ein. Vorsicht, wenn die so nett tut. Die wollen, dass ich wieder jeden Tag in die Schule gehe. Dass ich abnehme. Sport mache. Jetzt lassen sie mich werfen und nächste Woche bin ich im Ruderclub. Vorsicht! Die sind gefährlich, diese Zicke und ihr Köter.

Er merkte doch, wie Steffi ihn beobachtete, wie sie ihn von der Seite anschielte und gar nicht mehr auf ihren Hund schaute. Er wandte ihr das Gesicht zu, blickte ihr gerade in die Augen und sagte: «Pass auf, dein Köter haut ab.»

«Bellcanto!!!»

Sie flog herum.

«Shit!», rief sie. «Wasser! Wasser und Kinder! Bello! Bellcanto! Hier!»

Doch Bello-Bellcanto konnte auch ohne Frisbee-Scheibe schnell sein. Steffi rannte. Robin wollte einfach stehen bleiben.

Gute Chance, die loszuwerden, beide, dachte er.

Aber seine Mutter lief Steffi nach und sie hatte seine Hand gegriffen. Die Berührung zuckte durch seinen Körper wie eine gebündelte Masse Erinnerungen. Wann hatte seine Mutter ihn das letzte Mal berührt? Natürlich gestern! Als sie den leeren Kühlschrank zuwarf und zum Tisch taumelte, hatte sie ihn angerempelt. Aber die Hand … Unwillkürlich lief er mit, nicht Steffi nach und nicht diesem Hund, er rannte auf etwas zu, das er niemals erreichen würde, weil es schon Jahre vergangen war. Dann stolperte seine Mutter, fiel aber nicht, weil sie mit der anderen Hand nach Robins Arm griff. Und Robin war zwar kleiner, aber gewiss genauso schwer wie sie, er fing sie auf. Er war rot im Gesicht und atmete heftig.

«Was», keuchte er, «was wollen die? Wie soll der Hund das hinkriegen, dass ich wieder in die Schule gehe?»

«Weiß ich auch nicht», sagte sie. «Du hast wieder Chips geklaut. Und du gehst nicht in die Schule. Darum kommt jetzt Steffi mit dem Hund, dreimal in der Woche. Sie haben gute Erfahrungen damit gemacht, keine Ahnung, wie. Aber, Robin, du weißt, ich liebe Hunde.»

«Ich nicht», sagte er.

«Der Hund konnte nichts dazu.»

«Aber er war doof.»

«Robin, du musst wieder in die Schule gehen! Sonst nehmen sie dich mir weg. Sie suchen schon eine Pflegefamilie. Das wollen wir doch nicht, oder?»

Robin starrte sie an.

«Nein», flüsterte er.

Langsam gingen sie auf den Brunnen zu. Seine Mutter hielt immer noch seine Hand. Sie klammerte ihn an sich fest oder sich an ihm. So erreichten sie Steffi.

«Ich hab ihn nicht wirklich im Gehorsam», sagte die. «Er ist grenzenlos gutartig, aber nobody is perfect, wirklich gehorchen tut er nicht. Wasser oder Kinder – und er ist weg. Wasser und Kinder – und er ist sehr schnell weg. Das ist nicht schlimm, er tut ja nichts, aber manchmal erschrecken die Kinder.»

Von den Kindern, die da im Brunnen herumtollten, hatte offenbar keines vor Bellcanto Angst. Sie hüpften und sprangen mit ihm herum, bespritzten sich und ihn mit Wasser und es war ja auch völlig klar: das liebe Hundegesicht war viele tausend Male freundlicher als die Wassermänner, die hexischen Nixen und die fischigen Quellgeister, die aus Mündern, Nasen und Ohren Fontänen in den Brunnen sprühten. Unter der großen Fontäne aber, die aus einem grinsenden Delfin hoch in die Luft schoss, standen zwei Mädchen. Robin erkannte Lara und Laura.

Er erkannte sie wirklich, und schon das war ein Wunder. Vier Jahre war er mit den beiden unzertrennlichen Freundinnen zwar nicht in derselben Klasse, aber in derselben Grundschule gewesen, und in der vierten Klasse hatte er sie immer noch verwechselt. Beide waren sie gleich dunkelhaarig, klein, dünn, klug und langweilig, vielleicht nicht ganz gleich, eine war ein bisschen netter. Sie hatte ihm mal geholfen, als er zu spät kam und verzweifelt vor der Glastür stand und sich nicht traute, sie zu öffnen – das war Laura gewesen. Aber er hatte sie bald wieder mit Lara verwechselt. Letztlich unterschieden sie sich durch nichts als durch ein ‹u›, das die eine in ihrem Namen hatte und die andere nicht. Robin hatte sie fast zwei Jahre nur noch von Weitem gesehen, sie fuhren manchmal mit demselben Bus zum Schulzentrum, aber natürlich gingen die beiden Mädchen da ins Gymnasium. Und dort wurden sie nun mit Sicherheit nicht mehr verwechselt. Das war Robin sofort klar. Auf dem Delfin saß Lara, ja, das musste Lara sein, sie war älter geworden und sonst nichts. Aber Laura – sie stand im Wasserstrahl und die rundum spritzenden Wassertropfen sprühten wie Feuerfunken um ihr Gesicht.

«Holst du ihn mir?», fragte Steffi.

Was sollte er holen? Wen?

Steffi gab ihm die Hundeleine.

«Du musst ihn nur anleinen, dann folgt er dir schon. Wenn es irgend geht, möchte ich nicht in das Wasser. Ich hab noch einen Termin. Du kannst dich doch umziehen.»

Laura fing die herabstürzende Fontäne mit beiden Händen und lenkte einen Wasserstrahl auf Bellcanto. Der bellte sein begeistertes Jiff, Jiff, Jiff, sprang und schnappte nach dem Wasser. Laura ließ die kleine Extra-Fontäne zusammenfallen und damit zog sie Bellcanto zu sich hin.

«Machst du das?», fragte Steffi. «Holst du ihn mir?»

Robin griff gierig nach der Leine und sprang ins Wasser. Er stolperte über seinen rechten Schuh, weil sich der Klettverschluss mal wieder gelöst hatte, aber jetzt hatte er keine Zeit, sich über die alten, billigen Discounter-Treter zu ärgern. Er hielt sich an einer Brunnenrandnixe und ging auf die große Fontäne zu. Eine Traube Kinder wollte sich um Laura und Bellcanto drängen, aber Robin konnte ja rufen: «Weg! Ich muss ihn holen!»

So kniete er im Wasser, zusammen mit Laura, und zwischen ihnen der Hund. Laura schaute ihn verwundert an. Auf ihren nassen Haaren verglühten die Wassertropfen in allen Farben des Regenbogens, dazwischen ihre dunklen Augen mit dem fragenden Blick.

«Robin? Ist das dein Hund?»

Er nickte.

Lügen war sehr viel leichter als klauen, zumindest Chips klauen, aber sagen konnte er jetzt leider nichts, irgendwie hatte er vergessen, wie man das machte mit der Stimme.