Hufspuren: Fliegender Wechsel - Christa Ludwig - E-Book

Hufspuren: Fliegender Wechsel E-Book

Christa Ludwig

4,9

Beschreibung

Aus der Schule kennen sie sich, auf dem Ulmenhof treffen sie sich: Jana, Alberta, Felix, Theres. Möglichst jeden Tag. Als großes Ereignis steht ein Turnier bevor, bei dem das Super-Spitzen-Pferd im Stall, die Trakehnerstute Dolly, in der Vielseitigkeitsprüfung glänzen soll. Und Felix soll sie zusätzlich im Jugendspringen vorstellen. Felix - der Glückliche? Je besser sie abschneiden, desto eher wird Dolly verkauft. Seine Dolly. Aber noch vor dem Turnier hat ein neuer Star seinen Auftritt auf dem Ulmenhof: der Araberhengst El Sham … In fast allen Jugendbüchern von Christa Ludwig kommt mindestens ein Pferd vor. Ein Leben ohne Pferde kann sie sich ebenso wenig vorstellen wie ein Leben ohne Bücher. Jetzt verbindet sie beides in der 6-bändigen Reihe "Hufspuren". Aus all dem Schönen und Erschreckenden, was sie in vielen Jahren Leben mit Pferden erlebt hat, sind diese Geschichten entstanden.

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Christa Ludwig

Fliegender Wechsel

Inhalt

Jana Immerglück

Was für ein Tag

Rundumbeschlag

Wassersprung

Feiertagskrankheit

Beugeprobe

Mister Meister

Satteldruck

Turnierfieber

Fliegender Wechsel

Kidnapper

Freilandhaltung

Doping

Und wie geht’s weiter?

Mini-Lexikon der Pferdefachsprache

Über die Autorin

Jana Immerglück

Der Rote warf den Kopf hoch, floh aber nicht.

Jimmy wusste, dies war seine letzte Chance. Wenn er sich weit nach links lehnte, konnte er mit dem rechten Arm das Lasso noch schwingen und werfen. Aber nur einmal. Nur ein einziges Mal. Wenn das Seil in den Sumpf fiel, war er verloren. Es würde sinken wie er.

Er durfte nicht zögern. Noch drei Minuten, und er wäre mit der Taille im Morast. Dann wäre es vorbei. Aus mit ihm. Ende. Er brauchte den Schwung aus der Taille, um das Lasso bis zum Ufer zu werfen, wo der Rote noch immer stand und zu ihm schaute. Warum floh er nicht?

Seit einem halben Jahr verfolgte Jimmy dieses Pferd und war ihm nie länger als Augenblicke so nah gewesen.

Der Schlamm kroch ihm über den Gürtel in die Jeans: noch zwei Minuten.

Er rollte das Lasso auf und wusste: Er hatte keine Chance.

Wie oft hatte er das Seil nach dem roten Mustang geworfen und der Hengst hatte mit leichter Drehung seines geschmeidigen Halses den Kopf aus der Schlinge gezogen.

Noch eine Minute.

Jimmy warf.

Der Hengst stand. Er beugte den Kopf vor und streckte ihn mitten in den Wurf. Die Schlinge fiel ihm über den Hals. Jimmy hatte keine Zeit, sich zu wundern. Er zog das Seilende unter seinen Armen durch und verknotete es vor der Brust. Das Pferd ging langsam rückwärts. Das Seil spannte, Jimmy spürte den Ruck durch den ganzen Körper, langsam, ganz langsam wurde er aus dem Schlamm gezogen und tief in ihm sagte eine Stimme:

«Scheißdreck!»

Das sagte Jana laut.

Und es war still gewesen in der Klasse, was selten vorkam in der 7c, da sagte Jana in die Stille: «Scheißdreck!»

Und zwar laut.

Kichern. Unterdrücktes Lachen. Herr Taggert stand mit dem Gesicht zur Tafel. Er drehte sich nicht um und er schrieb mit seiner klaren Tafelanschrieb-Lehrerhandschrift:

‹Scheißdreck›

Er schrieb es unter

‹komisch› (Das hatte Thomas gesagt)

und

‹irgendwie altmodisch› (Das hatte Alberta gesagt)

Taggy schrieb ohne zu zögern: Scheißdreck – und die Klasse brüllte vor Lachen.

Jana schob das Buch von Jimmy und dem roten Mustang unter die Bank und beugte sich über das kleine Heftchen mit der Geschichte, die sie gerade im Deutschunterricht lasen. Taggy trat einen Schritt zurück und überschaute noch einmal seinen Tafelanschrieb. Die Klasse sah sogar an seinem Rücken, wie er grinste. Alberta drehte sich zu Jana um und grinste auch. Sie kannte das Buch, das Jana gerade gelesen hatte. Alberta kannte jedes Buch, in dem mindestens einmal das Wort «Pferd» stand.

Endlich wandte Taggy sich wieder der Klasse zu.

«Also«, sagte er, «ich habe gesagt, ich schreibe alles auf, was euch zu der Geschichte einfällt, egal was es ist, ihr müsst es nur begründen können. Fangen wir mal mit der letzten Bemerkung an. Jana!»

«Ich hab ein anderes Buch gelesen. Das wissen Sie doch!»

«Klar, das ist schließlich nicht das erste Mal. Also: Wie heißt es, und warum ist das Scheißdreck?»

Jana legte das Buch auf den Tisch. Sie dachte: Taggy ist geil.

«Also, das Buch heißt Jimmy und der rote Mustang, und der Jimmy, der ist ein Cowboy, der jagt den roten Mustang quer durch die Prärie und kriegt ihn nicht. Und dann fällt er in einen Sumpf, ähh, Jimmy, nicht der Hengst, und da rennt das Pferd auf einmal nicht mehr weg, sondern – also Jimmy wirft das Lasso und – also hört euch das an, da steht: ‹Der Hengst stand. Er beugte den Kopf vor und streckte ihn mitten in den Wurf. Die Schlinge fiel ihm über den Hals.› Das ist doch …»

«Sehr gut», sagte Taggy, «nicht, dass du im Deutschunterricht solche Bücher liest, aber dass du eine Stelle aus dem Buch vorlesen kannst, um deine Meinung zu begründen, das könnt ihr euch merken. Genauso macht man das. Weiter: altmodisch. Alberta hat gesagt, sie findet die Geschichte altmodisch. Ich will wissen, wieso. Alberta!»

Alberta schaute rasch wieder nach vorn, Jana konnte gerade noch das Erschrecken in ihrem Gesicht sehen.

Sie ist ja auch blöd, dachte sie fast ein bisschen wütend. Warum hat sie sich da vorne hingesetzt, warum ist sie nicht neben mir geblieben. Was macht das schon, wenn ich quatsche und störe, ich habe immer Glück. Und jetzt sitzt sie da, und ich kann ihr nicht helfen.

«Da waren so Wörter», sagte Alberta, «so andere.»

Janas Augen suchten hastig in den Seiten der Geschichte. Wo war da etwas altmodisch, irgendein Wort? Wenn es um Worte ging, konnte Alberta nämlich leicht danebenhauen. Sie kam aus Russland, nein, das stimmte nicht ganz. Zwar nannte man ihre Familie ‹Russlanddeutsche› oder auch ‹Aussiedler›, aber sie kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, und zwar aus dem riesigen asiatischen Land Kasachstan. Dort wurde Alberta vor 14 Jahren geboren, und ihre Eltern hatten keine Ahnung gehabt, dass man in Deutschland Mädchen gerade Julia nannte oder Laura oder auch Hanna. Alberta war erst seit einem Jahr in Deutschland. Sie hatte auch in Kasachstan mit ihrer Familie schon deutsch gesprochen, aber das war ein ganz anderes Deutsch.

Jana hatte noch nichts Komisches in der Geschichte gefunden, aber sie meldete sich schon mal heftig.

«Herr Taggert», rief sie, «Herr Taggert!»

«Also, Jana!»

«Ich finde das auch altmodisch, nämlich …»

Sie musste jetzt ganz schnell so ein Wort finden. Alberta hatte furchtbar zu kämpfen, dass sie auf der Schule bleiben durfte …

«Beinkleider!», schrie Jana. «Was um Himmels willen sind Beinkleider? Hosen? Also wenn ich morgens sage: ‹Ich will meine blauen Beinkleider anziehen› statt ‹Hast du meine Jeans gewaschen?›, dann bin ich doch woanders.»

Alberta hatte den Zeitgewinn gut genutzt.

«Und der hier», rief sie, «der hat ein Wams mit roten Knöpfen. Was ist ein Wams?»

«Gut!», sagte Taggy.

Und da schellte es.

Jana und Alberta gingen zum Fahrradkeller, aber nicht sofort zu ihren Rädern, sondern zur Wand mit den Schließfächern für die Motorradfahrer. Die hatten darin ihre Helme, Stiefel, Overalls. Die beiden Mädchen brauchten das Fach für etwas anderes. Jana schloss auf. Da sauste Felix herbei. Er war in der 8. Klasse. Sein Rad hatte er bei seinen Freunden im hinteren Teil des Kellers abgestellt wie alle Jungen, aber gleich nach Schulschluss war er kein normaler Junge mehr. Felix war ein Reiter. Er bremste hart.

«Wir kriegen heut …!», rief er.

Jana streckte ihm abwehrend eine Hand entgegen.

«Wegbleiben!», forderte sie und holte Albertas Sachen aus dem Schrank. Die quetschte sich in die dunkle Ecke zwischen den Schließfächern und der Tür.

«Stellt euch doch nicht so an», sagte Felix. «Wir kriegen…»

«Sie will es nicht!», donnerte Jana, dass es durch den Fahrradkeller hallte. Und zum Glück etwas leiser fuhr sie fort:

«Eine Frau bestimmt selber, wie viel von ihrem Körper sie zeigen will.»

Alberta hatte den Reißverschluss geöffnet und platzte fast aus den Jeans.

«Eigentlich bin ich immer ganz froh, wenn ich wieder raus bin», murmelte sie. «Hast du nicht ein paar weitere Jeans?»

Jana gab ihr einen Rock, weiß mit bunten Blümchen.

«Also gehungert habt ihr in Russland nicht», sagte sie. «Du könntest schon ein paar Pfund weniger haben.»

«Mir gefällt sie so», sagte Felix auf seinem Rad schaukelnd jenseits der Tür.

Jana streckte den Kopf aus der dunklen Ecke.

«Was geht dich das an? Frauen bestimmen selber, wie viel sie wiegen wollen!»

«Eben!», sagte Felix. «Also lass Alberta das selber bestimmen.»

Alberta zog das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte in ihre weiße Rüschenbluse mit dem Spitzenkragen.

«Ich hätte gern ein paar Pfund weniger», sagte sie. «Schon damit mir deine Jeans besser passen.»

Jana hielt das T-Shirt ins Licht.

«Das nehm ich mit zum Waschen», entschied sie. «Das ist jetzt mal fällig. Wie gut, dass du fast nichts dreckig machst. Meine Mutter hat noch nicht gemerkt, dass sie für zwei Mädchen wäscht. So – und nun fehlt uns Theres.»

Die war nämlich krank, und Jana konnte Albertas Zöpfe nicht annähernd so gut flechten wie Theres.

Alberta zog die weißen Kniestrümpfe hoch, hockte sich auf einen Fahrradständer, Jana kämmte ihr die Haare, dichte lange, schwarze Haare, und dann plagte sie sich mit den Zöpfen, immer wieder flutschten ihr Haare weg, und als sie endlich die weißen Schleifen binden konnte, hatte Alberta keineswegs das strenge Zopfgesicht, mit dem sie gewöhnlich nach Hause ging.

«Glaubst du, dass deine Eltern dich so reinlassen?», fragte Jana.

«Bitte, bitte, Jana», sagte Alberta, «denk daran, dass du mir morgen ein neues T-Shirt mitbringst. Ich will nicht mit der Bluse rumrennen den ganzen Morgen.»

«Wenn ich’s vergesse», versprach Jana, «kriegst du meins und ich ziehe deine Bluse an, okay?»

Alberta musste lachen. Jana in der Spitzenbluse! Sie warf Janas Turnschuhe in das Fach und band ihre Schnürschuhe zu. Sie strich sich über die Haare.

«Theres macht das besser. Aber es geht.»

Sie griff nach ihrem Rad und schob es ins Licht. Und da stand sie. Im Licht! Mit den etwas flattrigen Haaren und den schweren Zöpfen auf der weißen Bluse. Auf dem Spitzenkragen. Auf den Rüschen. Und darunter der helle Rock mit den bunten Blümchen.

Felix starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. Andere Schüler blieben stehen, drehten sich um, und Jana dachte: Das sieht ja irre aus, wenn sie die Zöpfe so hat, verrückt. Und diese asiatischen Augen.

Ein deutsches Aussiedlerkind aus Kasachstan? Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, war eine Kasachin gewesen. Auch Jana hatte schwarze Haare und dunkle Augen. Was man hier in Deutschland halt dunkel nennt. Aber Albertas Haare waren tiefer schwarz, und die Augen standen ihr ein klein wenig schräg im Gesicht, und die Wangenknochen waren ein klein wenig höher als bei anderen. Und ein klein wenig dicker war sie auch, gerade richtig für so einen Rock und so eine Bluse.

Alberta merkte nicht, wie sie auf die anderen wirkte. Sie hasste ihre Schulkleidung. Schule, hatte ihr Vater bestimmt, ist gleich: Zöpfe, Rock und Bluse, Kniestrümpfe. Basta! So war es in Kasachstan gewesen, so musste es bleiben. Basta!

Sie sprang auf ihr Rad und sauste hinaus, Rock und Zöpfe flatternd im Rücken. Und Felix jagte sofort hinterher.

Jana zuckte zusammen.

Der haut ab, dachte sie, der haut mit Alberta ab.

Jana war nicht eifersüchtig, eigentlich nie. Das war so, weil sie keinen Grund dazu hatte. Jana Immerglück fiel alles in die Hände, worum Alberta kämpfen musste. Sogar ein Pferd, das sie drei Tage in der Woche reiten durfte, hatte sie, und Alberta durfte gerade mal voltigieren.

Jetzt aber stand Jana da und dachte: Der haut ab. Mit Alberta. Da war sie ganz schnell auf dem Rad und hinterher, und sie schrie:

«Felix! Was wolltest du uns erzählen? Was?»

Und Felix rief:

«Wir kriegen heut ein neues Pferd!»

Zack!

Alberta war auf die Bremse getreten, und Felix, der so dicht hinter ihr war, knallte auf ihr Rad. Aber schon war Jana heran.

«Was für ein Pferd?», keuchte sie.

Felix richtete sich auf und schüttelte sich etwas.

«Was für ein Pferd?», fragte Alberta.

Sie wusste nicht, wie sie ausgesehen hatte da unten im Fahrradkeller so plötzlich im Licht. Sie hatte nicht gemerkt, wie Felix sie angeschaut hatte. Der aber guckte wieder ganz normal und sagte:

«Andreas hat eine neue Freundin, und die glaubt wohl, sie könnte reiten, da hat er ihr ein Pferd gekauft!»

«Also ein Dressurpferd?»

Felix antwortete nicht. Er ließ sie warten.

«Also was?»

«Was Irres», sagte er.

«Was?»

«Sie haben was von Hengst gequatscht. Araberhengst.»

«Ich fahr sofort hin!», rief Jana.

Und weg war sie. Und war wieder da, wo sie hingehörte: vorn – und die anderen folgten ihr – und mussten ganz schön strampeln, denn Jana hatte das beste Rad.

«Er ist noch nicht da», rief Felix.

«Vielleicht ist er doch schon da. Andreas kann schnell fahren.»

Sie hatten in ihrer Reitschule an die vierzig Pferde, aber dabei keinen einzigen Hengst.

Die Straße wurde zu steil. Sie mussten schieben.

«Ich fahr zum Stall», sagte Jana. «Kommt ihr mit?»

Felix schüttelte den Kopf.

«Ich muss heim. Meine Mutter hat Dienst. Ich muss meinen Brüdern das Essen aufwärmen.»

Seine Mutter war Krankenschwester und lebte allein mit den drei Jungen in einem Hochhaus am Bergholz. Felix war der älteste.

«Ich fahr so nicht zum Stall», sagte Alberta. «Wenn mich jemand sieht.»

Jana gab so schnell nicht auf.

«Da ist jetzt niemand.»

«Hermann.»

«Hermann ist jetzt fertig mit Ausmisten und hat gefüttert. Und wenn er nicht fertig ist, dann weil er besoffen ist. Und wenn er besoffen ist, kann er dich ruhig sehen. Das glaubt ihm hinterher niemand, und er wird denken, das war ein Gespenst.»

«Danke!», knurrte Alberta.

Sie trennten sich. Alberta fuhr ins Hinterland, weg vom See. Sie wohnte mit ihrer Familie in einem alten verlassenen Bauernhaus, das man notdürftig für die Aussiedler hergerichtet hatte. Felix fuhr hinunter in die Stadt, und Jana nahm die Abkürzung durch den Wald, hinüber zum Ulmenhof.

Als sie in die alte Ulmenallee einbog, wurde sie langsamer. Sie ließ sich rollen. Hoffentlich war Hermann heute nicht besoffen und hatte die Stallarbeit erledigt. Dann würde sie allein sein. Es kam öfter vor, dass sie auf dem Heimweg über den Ulmenhof fuhr. Sie liebte es, allein in der Mittagsruhe durch die stille Stallgasse zu gehen. Wenn Hermanns Hund nicht da war, musste er auch weg sein. Jana schaute über das Gelände. Keine Spur von Slibovitz, Hermanns großem, zottigem, schwarzem Hund. Nirgendwo aber auch Andreas’ Auto mit dem Pferdehänger. Jana stellte das Rad ab und zog die schwere Tür auf.

Stille im Stall.

Es roch gut. Hermann hatte sorgfältig gemistet und großzügig eingestreut. Dann ein leises Schnauben. Askan! Er hatte gemerkt, dass sie es war. Jana hatte wieder dieses weiche Gefühl im Bauch wie immer, wenn sie merkte, dass Askan sie wirklich gern hatte. Nicht jeder hat ein Pferd, das schnaubt, wenn er kommt, das die Nase aus der Futterkrippe hebt und zur Boxentür tritt.

Jana schob die Tür auf. Askan drückte ihr seine Nüstern ins Gesicht, an seinem Maul hingen Pellets, er roch nach Pferd und Futter. Sie schlang die Arme um seinen goldenen Fuchshals und legte das Gesicht in seine dünne Mähne. Jana atmete Askan ein, ganz tief atmete sie, ein Lungenzug voll Askan.

Der alte Wallach war ein Turnierpferd gewesen und gehörte nicht ihr, sondern Grohne-Wilte, dem Stallbesitzer, aber ihre Eltern zahlten ihr seit einem halben Jahr eine Reitbeteiligung. Drei Tage in der Woche durfte sie Askan reiten, drei Tage ging er noch im Schulbetrieb, und montags hatte er frei.

In der Nachbarbox schnaubte auch jemand. Jana begrüßte Dolly. Dolly war Felix’ Pferd, das heißt sie war natürlich überhaupt nicht sein Pferd. Auch Dolly gehörte Grohne-Wilte. Sie war das Super-Spitzen-Pferd im Stall, begabter wahrscheinlich als Andreas’ Dressurpferde. Bettina, die Reitlehrerin, bildete Dolly aus, Felix aber durfte sie jeden Tag abreiten und nachreiten und manchmal mit Jana und Askan zusammen ins Gelände, denn Dolly und Askan waren beste Freunde.

Jana lauschte. War sie wirklich allein? Ganz allein mit den Pferden? Außer den Mahlgeräuschen der Pferdezähne war nichts zu hören. Und Jana tat, was mit Sicherheit verboten war. Zwar hatte es ihr noch niemand verboten, aber das war, weil sie sich niemals hatte erwischen lassen. Sie kratzte die letzte Handvoll Pellets aus Askans Futterkrippe, schob Stroh beiseite und legte die Pellets auf den Boden. Der große Wallach senkte den Kopf und fraß vom Boden. Er wusste, was kam. Jana stellte sich vor ihn, schlang die Arme um seinen Hals. Askan warf mit einem Ruck den Kopf hoch, und Jana sauste wie auf einer Rutsche den Hals hinunter, über den glatten Rücken und bremste, indem sie den Schweifansatz packte.

«Super, Askan», sagte sie gerade so laut, dass er es hören konnte, denn sein Kopf war von ihrem ein ganzes Stück weg. Sie blieb liegen, streichelte seine Kruppe und räkelte sich wie nach einem langen guten Schlaf. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um, legte sich in die andere Richtung und streichelte seinen Hals. Jetzt konnte sie mit ihm flüstern.

«Das ist unser Geheimnis, Askan», blies sie ihm ins Ohr. «Verrat es nicht den Voltigierkindern, höchstens Alberta.»

Sie sprang ab und ging leise durch die Stallgasse, vorbei an Marens großem Schimmel, dessen Namen niemand aussprechen konnte, vorbei an Andreas’ Dressurpferden, und da, gleich neben der Hallentür, war die leere Box neu hergerichtet, frisch eingestreut. Da würde er einziehen, der Hengst. Jana berührte die Gitterstäbe und hatte das Gefühl, dass sie jetzt schon wie elektrisch waren, ganz aufgeladen, voller Spannung und Aufregung. Sie warteten auf ein Pferd, den Hengst. Oder war es Jana, die zitterte? Hatte sie da schon eine ferne, ganz leise Ahnung, was sie bald schon mit diesem Pferd erleben würde?

Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Jetzt schnell nach Hause, damit sie bald zurück war und seine Ankunft nicht verpasste. Aber auf der Ulmenallee bremste sie scharf. Hatte sie sich eigentlich von Askan verabschiedet? Sie wusste es nicht genau. Konnte es sein, dass sie ihren besten Pferdefreund vergessen hatte, weil sie nur an ein Pferd gedacht hatte, das noch gar nicht da war? Quatsch, natürlich hatte sie sich von Askan verabschiedet. Sie trat kräftig in die Pedale. Auf dem Heimweg konnte sie so richtig durchsausen, denn es ging hinunter zum See.

Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder hatten schon gegessen.

«Ich muss ganz schnell wieder weg!», rief sie.

«Du hast Glück», sagte ihre Mutter, «Christian ist nicht da.»

Christian war zwar der beste aller Väter, aber er hatte einen Tick: Er bestand darauf, dass man jedes bisschen Essen lange kaute, Brot, Gemüse, sogar Nudeln. Jana nutzte seine Abwesenheit, um die Nudeln herunterzuschlingen, sie zog sich rasch um und war schon wieder aus der Haustür.

«Ich schau eben bei Theres vorbei!», rief sie und knallte die Haustür zu.

«Halt! Halt! Jana, warte!», rief ihr die Mutter nach. «Du sollst nicht zu Theres gehen.»

«Warum nicht?»

«Ihre Mutter hat vorhin angerufen. Sie hat Angst, dass du irgendwelche Bazillen oder Bakterien einschleppst, und Theres kriegt die Asiengrippe, dann eine Lungenentzündung und schließlich die galoppierende Schwindsucht.»

«Die galoppierende was?»

Das hörte sich an wie etwas, das man schleunigst anschaffen musste.

«Schwindsucht», sagte ihre Mutter. «Das ist Lungentuberkulose. Und wenn das ganz schlimm ist und einen ganz schnell umbringt, nennt man es galoppierende Schwindsucht.»

«Ah.»

Jana strich dieses galoppierende Etwas wieder von ihrem Wunschzettel.

«Und was für Bazillen soll ich einschleppen?»

«Keine Ahnung. Du kennst doch ihre Mutter.»

Jana sprang auf ihr Rad und fuhr an Theres’ Haus vorbei. Die wohnte nur auf der anderen Straßenseite und doch in einer anderen Welt, denn dort lagen die Häuser mit Seeblick.

Was für ein Tag

Es ging steil bergauf. Ganz schaffte Jana die Steigung nicht. Sie musste schieben. Am Fuß der Bergholzsiedlung konnte sie aufs Rad steigen und dachte wie jedes Mal: Felix hat es gut. Der muss sich nur oben bei den Hochhäusern auf sein Rad setzen und zum Stall rollen lassen. Dass er zurück ganz schon zu strampeln hatte, fiel Jana nicht ein, sie dachte nicht an Rückwege. Nie.

Sie schaute die Straße hinauf, ob Felix vielleicht schon käme, beschloss dann aber, nicht zu warten. Sie fuhr weiter, zu gespannt war sie auf das neue Pferd. Felix würde schon kommen. Er war schon da. Sein Rad stand neben Albertas beim Ulmenhof. Und Andreas’ Pferdehänger war auch schon da. Und leer. So leer wie der Reitplatz, an dem sie vorbeilief, so leer wie die Stallgasse, durch die sie rannte, so leer wie das Treppenhaus zum Reiterstüble, das sie hinaufstürmte, kein Zweifel, das neue Pferd war in der Halle.

Sie trat ins Reiterstüble und sah nur Rücken vor der Fensterwand über der Halle. Hinter ihr knallte die Tür zu. Zwei drehten sich um. Das eine war Alberta. Die sah aus, als erkenne sie die Freundin nicht, guckte wie besoffen oder als wäre ihr ein Strohballen auf den Kopf gefallen. Das andere war Natalie. Und die guckte auch, als wäre ihr ein Strohballen auf den Kopf gefallen, was Jana immerhin für einen Treffer gehalten hätte. Sie konnte Natalie nicht leiden. Felix drehte sich nicht um, hatte aber offenbar bemerkt, wer gekommen war. Er schob Robert und Maren etwas dichter zusammen – was denen nicht unangenehm war, das wussten schließlich alle – und verschaffte ihr einen Platz am Fenster.

Und Jana verstand, warum sich alle für einen Blick in die Halle so zusammendrängten. Was da zwischen seiner fliegenden Mähne und seinem wehenden Schweif den silberweißen Körper katzengeschmeidig durch die Luft schlängelte, hatten sie bislang nur im Fernsehen gesehen.

«Vollblutaraber», flüsterte Felix ihr zu.

Der sprang, drehte sich in der Luft, kam auf die Füße, tauchte den schmalen Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug hoch aus. Dann trabte er sich eine Sandwolke unter die kleinen Hufe, schuf sich eine Wüste und flog wie über seine Heimat, den Schweif so hoch gereckt, dass er wehte wie eine Flagge.

‹Am Pferd kauft man die Beine›, sagt ein altes Sprichwort, aber die Araber züchten Köpfe und schauen, wenn sie Pferde kaufen, nur auf die Köpfe: die kleinen Ohren, die ganz beweglich sein müssen, die großen Augen, schwarz wie Holzkohle und rund geschwungen, Zitronenaugen, die schmale nach unten gebogene Nasenlinie, die feinen Nüstern, die aus einem Glas trinken können.

Robert schnaubte verächtlich aus weniger feinen Nüstern:

«Spielzeugpferd. Kann nichts als schön sein. Fällt bei allen Turnierprüfungen durch.»

«Wie du bei allen Schönheitsprüfungen», zischte Jana.

Dann sahen sie Andreas in der Halle und etwas Buntes. Robert pfiff.

«Wie heißt er?», fragte Jana.

«Das ist Rena», sagte Robert.

«Rena?», fragte Jana. «Ist das ein Name für einen Hengst?»

«Ich mein’ die Frau. Der Gaul heißt Sham. El Sham.»

Und Andreas’ neue Freundin hieß also Rena.

Rena? Ist das ein Name? Das mochte zweifelhaft sein. Kein Zweifel bestand daran, dass Rena bei einem Schönheitswettbewerb so gute Chancen gehabt hätte wie El Sham. Ein bisschen orientalisch wirkte sie auch, zumindest ihre weiten Hosen mit einem rotgoldenen Rankenmuster und das Seidenhemd mit demselben Muster in Grün, nur der Strohhut passte nicht zum Orient, aber er passte zu Rena, das alles saß an ihr, als wäre es für sie und nur für sie geschnitten und gefärbt, und vielleicht war das auch so.

«Modepuppe», zischte Jana. «Zierzicke, und so was kriegt so ein Pferd.»

«Und wahrscheinlich», sagte Alberta, «kann sie nicht viel mehr als voltigieren.»

Alberta konnte nicht viel mehr als voltigieren.

Rena hatte einen dicken Strick in der Hand. Damit trieb sie den Hengst vor sich her, ohne ihn zu berühren. Dann blieb sie stehen und wartete. Sham stand. Er schaute sie an, ging einen Schritt auf sie zu, blieb stehen. Sie drehte sich um und ging langsam fort. Er folgte.

Natalie rückte Alberta auf den Pelz. Immer war sie hinter den Freundinnen her, obwohl keine der drei sie leiden konnte.

«Hast du ein Buch über Araber?», fragte sie Alberta.

«Nein», sagte Alberta.

Das stimmte auch. Sie hatte keine Bücher. Sie wusste nur, wo welche waren. In allen Bibliotheken der Umgebung hatte sie die Regale mit Pferdebüchern abgegrast und kahl gelesen. Aber das musste man natürlich lernen, wie man sich in so einer Bücherei zurechtfindet. Sollte Natalie sich doch Mühe geben.

Unten in der Halle befestigte Rena einen schmalen Lederzügel an Shams rotem Schnurhalfter, griff in die Mähne und sprang auf das ungesattelte Pferd. Mit durchhängendem Zügel lenkte sie ihn auf den Hufschlag, galoppierte ihn an, ließ ihn Schlangenlinien gehen durch die Bahn, und er sprang fliegende Galoppwechsel. Von wegen: nicht viel mehr als voltigieren. Die Zierzicke konnte reiten.

«Spielzeugpferd?», sagte Jana zu Robert. «Mach das mal. Du kriegst mit Dolomit keinen fliegenden Wechsel hin.»

«Der ist western ausgebildet», sagte Robert. «Das sieht man doch. Mit dem kannst du Kälber einfangen, aber keinen versammelten Trab reiten.»

Rena ließ Sham quer durch die Halle galoppieren, und was sie dann machte, sah keiner, nicht einmal, ob sie überhaupt etwas machte, auf keinen Fall zog sie die Zügel an, die hingen durch und dennoch – das Pferd stand aus vollem Galopp, Sand spritzte auf, fast saß der Hengst wie ein Hund.

«Toll!», rief Jana. «Wie hat sie das gemacht?»

«Genickschuss», sagte Robert. «Hast du nicht gesehen? Sie hat ihren Colt gezogen und Genickschuss – da muss er ja stehen – das ist Westernreiten.»

«Du bist neidisch», sagte Jana.

Robert zuckte die Achseln.

«Wenn – dann auf Andreas – ich meine, wegen der Frau.» Maren neben ihm, die eigentlich seine Freundin war, trat ihm auf den Fuß.

Rena sprang ab, löste die Zügel, Sham durfte sich wälzen, bevor sie ihn in den Stall führte.

Und dann standen sie alle vor und um ihn in seiner Box. Rena klopfte ihm den Staub vom Fell und überpuderte die goldenen Ranken in ihrem Hemd mit Hallendreck.

Grohne-Wilte, der Stallbesitzer, sagte zu Andreas:

«Und du steigst jetzt auf Westernreiten um?»

Rena kratzte dem Pferd die Hufe aus. Dabei fiel ihr der Strohhut vom Kopf. Sie hob ihn auf und setzte ihn auf Albertas Kopf. Hatte sie richtig gezielt? Normalerweise passierte so etwas Jana, aber Rena traf einen Kopf daneben, und Alberta glühte unter ihrem Strohhut.

Bettina sagte zu Felix: «Du kannst mir schon mal Dolly satteln und abreiten. Ich geh dann ins Gelände.»

Und als Felix ging, rief sie ihm nach: «Nur leichttraben. Hetz sie nicht.»

Rena nahm ihren Hut und setzte ihn wieder selber auf.

Die zwei Minuten unter Renas Strohhut hatten offenbar Albertas Kopf so verdreht, dass sie gefährliche Fragen stellte.

«Hat er vorher auch schon im Käfig gelebt?»

«Wer? Was?»

«Der Sham.»

«Im Käfig?», fragte Grohne-Wilte.

«Sie meint, in einer Box», erklärte Rena.

«Das ist kein Hamster», sagte Grohne-Wilte. «Der steht in einer Box.»

Rena nickte Alberta zu.

«Wie heißt du?», fragte sie.

Widerwillig nannte Alberta ihren verabscheuten Namen.

«Ahh», sagte Rena, «ungewöhnlich. Ich mag ungewöhnliche Namen. Und ungewöhnliche Gesichter. Wie bist du an die Kirgisenaugen gekommen?»

«Kasachen», erklärte Alberta. «Meine Großmutter war Kasachin. Aber nicht schlecht. Wir haben gar nicht so weit von der kirgisischen Grenze gewohnt.»

«Kirgisenaugen», mischte sich Jana ein, «eh, das klingt gut. Viel besser als Kasachenaugen. Wir nehmen das Wort.»

Und von da an blieben die ‹Kirgisenaugen› an Alberta hängen.

«Ja, Alberta, Sham hat vorher auch schon im Käfig gelebt», beantwortete Rena endlich die Frage. «Leider.» Und zu Grohne-Wilte: «Wer hat mehr Platz? Ein Hamster in seinem Käfig oder ein Pferd in seiner Box?»

«Sie sind Freizeitreiterin?», fragte Grohne-Wilte. «Dann können Sie vielleicht ihre Pferde in Laufställen halten, wo sie sich schlagen und verletzen, und man kann sie nicht einsetzen beim Turnier.»

Rena nickte und schaute wieder Alberta an.

«So einfach ist das nicht», sagte sie. «Pferde in einem Offenstall leben gut, aber ein wenig gefährlich. Und mit einem Hengst geht es schon gar nicht. Leider.»

Jana sah Felix aus der Sattelkammer kommen. Er blieb stehen und machte einen furchtbaren Fehler.

«Betti», fragte er, «soll ich…»

Bettina zuckte zusammen und wurde blass. Andere grinsten und drehten den Kopf weg, damit Bettina sie nicht sah. Nur Felix selber und Jana und Alberta, die immer zu ihm hielten, wurden auch ein bisschen blass. Seit einem halben Jahr durfte man zu Bettina nicht mehr Betti sagen.

«Was?», presste Bettina zwischen den Zähnen hervor.

«O-ob ich das Ma-ma-», stotterte Felix.

Bettina zischte: «Was Mama? Du sollst nicht nach Mama schreien, du sollst dein Pferd satteln.»

«Ob ich das Martingal einschnallen soll?»

«Ich sagte, ich gehe ins Gelände, also Martingal.»

Felix drehte sich um und ging wieder in die Sattelkammer, um das Martingal zu holen. Im Gelände ritt Bettina Dolly immer mit diesem Hilfszügel, damit die Stute den Kopf nicht hochwerfen konnte. Jana trennte sich von dem schönen Araberhengst und ging Felix nach. Schönheit ist schließlich nicht die ganze Welt, sie würde Askan nicht gegen Sham eintauschen, nie, Askan war ein Freund, und Felix war auch ein Freund, sie musste ihm helfen, er durfte jetzt nicht den kleinsten Fehler machen.

«Ich vergess es immer wieder», sagte Felix, «ich kann es mir nicht merken. Wir haben früher immer Betti zu ihr gesagt.»

«Die hat doch was an der Waffel», flüsterte Jana. «Es ist mehr als ein halbes Jahr her. Kann sie nicht endlich damit aufhören?»