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Humanistische Psychotherapie umfasst viele bekannte Ansätze wie Gesprächspsychotherapie bzw. Personzentrierte Psychotherapie, Gestalttherapie, Psychodrama, Transaktionsanalyse, Existenzanalyse/Logotherapie und Körperpsychotherapie. Zu jedem Ansatz gibt es zahlreiche Werke. In diesem Buch wird nun erstmals das historisch gewachsene Wurzelgeflecht aus gemeinsamen Konzepten aufgezeigt, die das ganzheitlich-humanistische Menschenbild fundieren. Mit neueren Erkenntnissen verbunden - u.a. aus der Säuglingsforschung, der Biosemiotik und der Systemtheorie - zeichnet der Autor ein konsistentes Gesamtbild der Humanistischen Psychotherapie. Ergänzt wird dies durch eine kurze Darstellung der einzelnen Ansätze sowie einiger Konsequenzen für die wissenschaftliche Diskussion zu ihrer Evidenz. "Jürgen Kriz legt mit diesem Buch einen überfälligen und wichtigen Beitrag zur Etablierung der Humanistischen Psychotherapie (HPT) als einer der vier Grundorientierungen der Psychotherapie vor." (Peter Schulthess, Psychotherapie-Wissenschaft 13 (1) 2023, S. 97-98)
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Seitenzahl: 341
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Cover
Titelei
Vorwort
Zur Struktur dieses Buches
A Grundlagen
A1 Was ist Humanistische Psychotherapie (HPT)?
A1.1 Phänomenologische Grundhaltung und Menschenbild
A1.2 Die Sicht der HPT auf menschliche Bedürfnisse
A1.3 Das Verständnis von psychischer Beeinträchtigung und des therapeutischen Prozesses in der HPT
A1.4 Die formale Definition der HPT
A2 Zur Geschichte der Humanistischen Psychotherapie (HPT)
A2.1 Die Geschichte der HPT aus US-amerikanischer Sicht
A2.2 Die Geschichte der HPT mit dem Fokus auf den deutschsprachigen Raum
A2.3 Nach dem Psychotherapeutengesetz von 1999
A3 Perspektivenvielfalt und Positionierung der Humanistischen Psychotherapie (HPT)
A3.1 Zur Komplementarität von »Natur« und »Kultur«
A3.2 Klassische konzeptuelle Dichotomien
Materielle Perspektive
Animalische Perspektive
Selbstreflexive (menschliche) Perspektive
Kulturelle Perspektive
Soziale (interpersonelle) Perspektive
A3.3 Resümee: Komplementarität und Komplexität
A4 Die gestaltpsychologische Wurzel der Humanistischen Psychotherapie (HPT)
Vorbemerkung
A4.1 Einführung
A4.2 Ideengeschichtliche Situation bei der Entstehung der Gestaltpsychologie
A4.3 Die kritisch-realistische Sicht – schwierig, aber notwendig
A4.4 Gestaltpsychologie und Systemtheorie
A5 Selbstaktualisierung und Aktualisierungstendenz
A5.1 Grundlegendes Verständnis der Aktualisierung
A5.2 (Selbst-)Aktualisierung und damit verbundene Missverständnisse
A5.3 Bedeutung der Aktualisierung in einigen Ansätzen der HPT
A6 Das humanistische Konzept der Begegnung in Morenos Psychodrama und bei Buber
A6.1 Herkunft und aktuelle Bedeutsamkeit von »Begegnung« in der Psychotherapie
A6.2 Das »soziale Gehirn« als wesentliche Grundlage von Begegnung
A6.3 Morenos »Szene« als umfassender Kontext für Begegnung
A7 Der Mensch als Subjekt in der Welt – Biosemiotik, Symboltheorie und die Bedeutsamkeit der Symbolisierung
A7.1 Einführung
A7.2 Biosemiotik: Die körperliche Seite menschlicher Welterfahrung
Umgebung vs. Umwelt
Übersinnliche Wahrnehmung und Kategorisierung
A7.3 Die Theorie symbolischer Formen (Cassirer)
A7.4 Zur umfassenden Konzeption von Symbolsystemen
A7.5 Zur Relevanz biosemiotischer und symboltheoretischer Aspekte für die HPT
A8 Die therapeutische Beziehung in der Humanistischen Psychotherapie (HPT)
A8.1 Die therapeutische Beziehung in der HPT nach Rogers
A8.2 Die drei Aspekte des therapeutischen Beziehungsangebotes
Bedingungsfreie positive Anerkennung
Kongruenz
Empathie
A8.3 Einige ergänzende Aspekte zur therapeutischen Beziehung in der HPT
B Die Ansätze der Humanistischen Psychotherapie
B1 Einheit und Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze der Humanistischen Psychotherapie
B2 Personzentrierte Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie)
B2.1 Abriss der Grundkonzeption
Selbstbild und Selbststruktur
Inkongruenz – zentral für das Verständnis von »Störungen«
Symbolisieren als Zur-Sprache-Bringen innerer Prozesse
B2.2 Zentrale Beziehungen der Personzentrierten Psychotherapie zur HPT insgesamt
B2.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B3 Focusing und Emotionsfokussierte Therapie (EFT)
B3.1 Abriss der Grundkonzeption des Focusing
B3.2 Abriss der Grundkonzeption der Emotionsfokussierten Psychotherapie (EFT)
Intervention in der EFT
B3.3 Zentrale Beziehungen von Focusing und EFT zur HPT insgesamt
B3.4 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B4 Gestalttherapie
B4.1 Abriss der Grundkonzeption
B4.2 Zentrale Beziehungen der Gestalttherapie zur HPT insgesamt
B4.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B5 Psychodrama
B5.1 Abriss der Grundkonzeption
Essentials der psychodramatischen Arbeit
B5.2 Zentrale Beziehungen des Psychodramas zur HPT insgesamt
B5.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B6 Transaktionsanalyse
B6.1 Abriss der Grundkonzeption
Strukturanalyse
Kommunikationsanalyse
Skriptanalyse
Spielanalyse
B6.2 Zentrale Beziehungen der Transaktionsanalyse zur HPT insgesamt
B6.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B7 Existenzanalyse und Logotherapie
B7.1 Abriss der Grundkonzeption
»Noogene Neurose« als Leiden an der Sinnlosigkeit
Erweiterung durch Längle zur »Personalen Existenzanalyse«
Vorgehensweise
B7.2 Zentrale Beziehungen der Existenzanalyse und Logotherapie zur HPT insgesamt
B7.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B8 Körperpsychotherapie
B8.1 Abriss der Grundkonzeption
Bedeutsamkeit von Atmung und Stimme
B8.2 Zentrale Beziehungen des Körperpsychotherapie zur HPT insgesamt
B8.3 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
B9 Weitere konzeptuelle Ansätze: Gestalttheoretische Psychotherapie, Pesso Boyden System Psychomotor, Integrative Therapie
B9.1 Gestalttheoretische Psychotherapie
B9.2 Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP) und »Feeling-Seen«
Imagination idealer Personen und Szenen wirken als »Antidot« (Gegengift)
»Feeling-Seen«
B9.3 Integrative Therapie (Petzold et al.)
B9.4 Empfehlenswerte, weiterführende Literatur
C Das Ringen um eine angemessene wissenschaftliche Forschung in der Humanistischen Psychotherapie
C1 Zur Unterscheidung zwischen behavioraler und humanistischer Forschungslogik
C1.1 Behaviorale Perspektive – am Beispiel operanter Konditionierung
C1.2 Humanistisch-phänomenologische Perspektive – am Beispiel der Inkongruenz
C1.3 Unterstützung von Essentials der HPT durch die experimentelle Verhaltenstherapie (VT)
C2 Die experimentelle Logik für Psychotherapieforschung auf dem Prüfstand
C2.1 Grundlogik des Experiments
C2.2 Die Fragwürdigkeit der Randomized Controlled Trial (RCT)-Forschung als Repräsentant des experimentellen Ansatzes
C2.3 Die Leit-(d)-Idee der Wirkfaktoren
C2.4 Der Bias des RCT-Ansatzes
C3 Missverständnisse
C3.1 Die missverstandene »Evidenzbasierung«
C3.2 Missbrauch des Labels »Humanistische Psychotherapie«
C3.3 Missverständliche Darstellungen der HPT
C4 Humanistische Psychotherapie und die deutsche Sonderstellung
C5 Die Fakten sind freundlich – zur evidenzbasierten Wirksamkeit der Humanistischen Psychotherapie
Verzeichnisse
Literatur
Stichwortverzeichnis
Der Autor
© Gila Kriz
Prof. Dr. phil. Jürgen Kriz ist emeritierter Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück. Er hatte zuvor (und zwei Jahrzehnte überlappend) Professuren in Statistik, Forschungsmethoden und Wissenschaftstheorie. Mit diesen Schwerpunkten wirkte er zudem als Gastprofessor in Wien, Zürich, Berlin, Riga, Moskau und den USA. Er ist approbierter Psychotherapeut und Ehrenmitglied mehrerer psychotherapeutischer Fachgesellschaften.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-036563-6
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-036564-3epub: ISBN 978-3-17-036565-0
Humanistische Psychotherapie – in diesem Buch mit HPT abgekürzt – ist eine der vier Grundorientierungen in der Psychotherapie. International steht sie gleichberechtigt und gleich anerkannt neben den anderen drei: der Psychodynamischen Therapie, der Verhaltenstherapie und der Systemischen Therapie. Die Entwicklung der professionellen Psychotherapie, besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat in allen Grundorientierungen zur Ausdifferenzierung in jeweils unterschiedliche Ansätze bzw. Methoden geführt. Dies hängt mit den vielfältigen Fragestellungen und Interessenlagen zusammen, die sich in komplexen Gesellschaften im bio-psycho-sozialen Feld des Gesundheitswesens konstellieren.
Entsprechend dieser Vielfalt sind die Lehrbücher und Fachpublikationen innerhalb jeder Grundorientierung vor allem einzelnen Ansätzen gewidmet – meist sogar noch spezifischeren Perspektiven und Fragestellungen innerhalb eines Ansatzes. Auch in der HPT fokussieren sich die vielfältigen Darstellungen weitgehend auf die einzelnen HPT-Ansätze mit ihren spezifischen inhaltlich-konzeptionellen und praktisch-methodischen Ausdifferenzierungen. Es gibt hingegen kaum Werke, welche die Beziehungen zu den gemeinsamen Wurzeln der HPT darlegen (die wenigen sind in ▸ Kap. B1 aufgeführt). Ein solcher Blick auf die Zusammenhänge wird aber zunehmend wichtig, weil mit dem formellen Zusammenschluss der HPT-Verbände zur »Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie« (AGHPT), 2010, die HPT als eine einheitliche Grundorientierung stärker ins Bewusstsein rückt und progressiver auch nach außen vertreten wird. Methodenübergreifende Kongresse der AGHPT sowie die Entwicklung von gemeinsamen Lehr- und Ausbildungscurricula belegen die Relevanz, auch die der gesamten HPT zugrundeliegenden Essentials herauszuarbeiten.
Im vorliegenden Band stehen daher die gemeinsamen Wurzeln der HPT-Ansätze im Zentrum der Betrachtung. Diese gehen viel weiter zurück, als uns die übliche US-amerikanische Narration über die Entstehung der HPT mit der Gründung der Gesellschaft für Humanistische Psychotherapie, 1962, erzählt; denn diese US-Gründungspersönlichkeiten waren selbst stark durch die Konzepte aus Europa – besonders Deutschland – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Indem dieses gemeinsame Wurzelgeflecht der historisch älteren Konzepte mit heutigen Erkenntnissen verbunden wird – u. a. der Bindungs- und Säuglingsforschung, der Biosemiotik und der Systemtheorie –, lässt sich aus Sicht des Autors ein recht konsistentes Gesamtbild der HPT zeichnen, das im umfangreichen Teil A dargelegt ist.
Sehr dankbar bin ich, dass Teil B – in dem die einzelnen Ansätze der HPT sehr kurz und prägnant referiert werden – von vielen kompetenten Menschen, die sich in den unterschiedlichen Ansätzen verorten, gegengelesen und mit wertvollen Kommentaren versehen wurden. Mein Dank gilt Dorothea Bünemann, Hilke Ganzert, Mark Helle, Christoph Hutter, Christoph Kolbe, Alfried Längle, Uschi Oesterle, Roland Raible, Karl-Heinz Schuldt, Christian Stadler, Gerhard Stemberger und Manfred Thielen. Besonderer Dank gilt meiner Frau Gila Kriz und meinem Freund Ralf Lisch, die als Journalistin bzw. als vielfacher Buchautor und Psychotherapie-Laie nicht nur das gesamte Buch sorgfältig durchgesehen, sondern auch mit einer Fülle an Vorschlägen zur besseren Verständlichkeit beigetragen haben.
Osnabrück, im September 2022Jürgen Kriz
Um die Orientierung über die einzelnen Kapitel in diesem Buch zu erleichtern, ist in ▸ Abb. A1 die Humanistische Psychotherapie – und die Gliederung dieses Buches – schematisch als Baum dargestellt.
Wenn man einen Baum betrachtet, springen meist die weitverzweigten Kronen mit ihren Ästen, Blättern, Blüten und/oder Früchten ins Auge. Manche Äste sind weit ausladend und streben scheinbar auseinander. Andere sind so eng verzweigt, dass schwer zu unterscheiden ist, welche Blätter genau zu welchem Ast und Zweig gehören. Doch bei aller Bedeutsamkeit solcher Details: Wesentlich ist, dass die Äste nicht einfach irgendwie zusammen – oder gar: in der Luft – hängen, sondern klar zu einem Baum gehören, der wesentlich auch durch seine Wurzeln bestimmt wird. Diese Wurzeln sind oft unerwartet tiefgründig und nicht immer so offensichtlich zu erkennen, wie die Baumkrone. Aber ohne diese Wurzeln könnten wichtige Nährstoffe aus unterschiedlichen Bereichen des Bodens gar nicht zum Leben und Gedeihen des Baumes mit seinen Zweigen, Früchten und Blüten zur Verfügung stehen. Und nur die stützende Kraft starker Wurzeln ermöglicht es, dass der Baum sich oben in seiner Krone erfolgreich entfalten kann.
Es ist nicht unwichtig, in solche Betrachtungen auch die Frage über die Sicherheit und die weitere Entwicklung eines Baumes einzubeziehen. Dies gilt besonders in einer Zeit und in einer Landschaft, in der Bäumen kaum noch in ihrer Eigenart und Schönheit ein Wert beigemessen wird, sondern ihr Nutzen zunehmend unter Verwertungs- und Effizienzaspekten bewiesen werden muss. Da das »kognitive Klima« von Wertbeurteilungen stets (auch) interessengeleitet ist, gilt es, die dabei aufgestellten Kriterien nach ihrer Angemessenheit zu hinterfragen.
Diese Baum-Metapher passt in wesentlichen Punkten gut zur Humanistischen Psychotherapie (▸ Abb. A1): Vordergründig springen zwar die einzelnen Ansätze der HPT (Äste) mit ihren Vorgehensweisen (Blättern, Blüten und Früchten) ins Auge. Doch hängen auch diese nicht einfach »in der Luft«, sondern sind eben Äste eines Baumes, auch wenn einzelne aus manchen Perspektiven weiter auseinanderliegen, während andere in ihren Verzweigungen so verwoben sind, dass es müßig erscheint, genau zu verfolgen, welchem Ast denn nun genau ein einzelnes Blatt zuzuordnen ist.
Trotz der Wichtigkeit der einzelnen Ansätze der HPT mit ihrer Vielzahl von Vorgehensweisen sind diese, wie bereits im Vorwort betont, in diesem Buch nur extrem kurz in Teil B dargestellt. Neben Platzgründen spricht dafür, dass zu jedem Ansatz der HPT gute Einzelwerke vorliegen. Sofern man vor allem an der Praxis der HPT und den konkreten Vorgehensweisen – möglichst eingebettet in Fallgeschichten – interessiert ist, sollte auf diese Werke zurückgegriffen werden (Hinweise sind bei den einzelnen Ansätzen in B1–B9 angegeben).
Der zentrale Fokus dieses Buches liegt auf den Grundlagen der Humanistischen Psychotherapie. Daher wird mit diesen auch begonnen; im umfangreiche Teil A werden nach den allgemeinen Grundlagen (A1–A3) vor allem die so wichtigen gemeinsamen konzeptionellen Wurzeln der HPT (A4–A8) dargestellt und diskutiert. Fasziniert von der »Blüten- und Blätterpracht« – ggf. gar nur an einzelnen Zweigen – wurden diese so wesentlichen Grundlagen der HPT zwar auch bislang schon implizit genutzt, aber kaum explizit dargestellt. Umso wichtiger erscheint es, diese konzeptionellen Wurzeln etwas genauer darzustellen, auch wenn dies für manchen Praktiker vielleicht etwas mühselig erscheinen mag. Es wäre ein Missverständnis, »Wurzeln« primär unter einer historischen Perspektive zu sehen. Wie bei jedem lebenden Baum sind die Wurzeln nicht nur für einen festen Stand notwendig, sondern sie liefern auch für alle aktuellen Lebensvorgänge die essenziellen Nährstoffe, ohne die die o. a. »Blüten- und Blätterpracht« an den einzelnen Zweigen nicht möglich wäre und der Baum seine Lebenskraft verlieren würde.
Dass letztlich auch den »klimatischen Bedingungen« für den Gedeih der HPT Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, wurde bereits oben anhand der Baum-Metapher erläutert. Konkret bedeutet dies, den aufgestellten Kriterien für die Wertentscheidungen über die HPT, die in Deutschland abweichend von der gesamten restlichen Welt eine überlebensnotwendige Bedeutung erlangt haben, nachzugehen und den Wert der HPT nach internationalen Kriterien hervorzuheben. Dies erfolgt in Teil C. Dabei sind die Kapitel C1–C7 mit ihrem, umfangsbedingt, recht engen Fokus der Evidenzbewertung an den gegenwärtigen Diskursen und ihren Narrativen bezüglich der HPT ausgerichtet.
Die Struktur des Buches folgt entsprechend diesen Argumenten: In ▸ Abb. A1 – quasi von unten nach oben – von den Grundlagen (Teil A) über die Ansätze der HPT (Teil B) bis zur Frage einer angemessenen Evidenzbeurteilung (Teil C).
Abb. A1:Darstellung der Humanistischen Psychotherapie als Baum
Die Humanistische Psychotherapie (HPT) versteht sich als eine der vier psychotherapeutischen Grundorientierungen. Wie auch in den drei anderen – der psychodynamischen, der behavioralen und der systemischen Grundorientierung – haben sich in der HPT in Jahrzehnten professioneller Psychotherapie unterschiedliche Ansätze entwickelt. Ein wesentlicher gemeinsamer Kern ist eine phänomenologische Haltung, verbunden mit einem spezifischen Menschenbild.
Diese Haltung resultiert ideengeschichtlich aus dem philosophischen Ansatz der »Phänomenologie«, die von Edmund Husserl (1859 – 1938) Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Seit Husserls bedeutenden Werken vor hundert Jahren ist die Phänomenologie allerdings heute als Strömung mit einer »Vielzahl von Nebenarmen« zu sehen (Wendt 2021, 306): eine »heteromorphe – d. h. gestaltenreiche – Bewegung« mit »hermeneutischen und existenzphilosophischen Spielarten«. Aus diesem Grunde müssen wir im vorliegenden Band auch nicht die philosophischen Tiefen und Feinheiten der Phänomenologie ausleuchten, sondern können eine moderat-praxisorientierte Erläuterung von Graumann aus seinem Beitrag zur »Phänomenologischen Psychologie« nutzen. Auf die Frage, was wir berücksichtigen müssen, wenn wir Gefühle und Handlungen verstehen bzw. erklären wollen, führt Graumann (1988, S. 539) unter Verweis auf Nuttin (1973) aus:
»Es genügt bei der Analyse von Verhalten nicht (wie es im behavioristischen Forschungsprogramm versucht wurde), es nur so aufzufassen, als stünde es unter der Kontrolle von physischen Stimulusbedingungen. Vielmehr gilt: ,Verhalten ist eine sinnvolle Antwort auf eine Situation, die ihrerseits für das Subjekt Sinn hat. Diese sinnvolle Situation ist eine Konstruktion des Subjekts' (Nuttin 1973, S. 175 f), bzw. soziale Konstruktion von mehreren Subjekten, die – in sozialer Interaktion stehend – ihre jeweilige Situation definieren, ...bzw. aushandeln. Dass etwas für jemanden Sinn hat oder bekommt, wird also weder subjektiv aus der (Psyche der) Person noch objektiv aus der Sache erklärt, sondern aus der ...Person-Umwelt-Interaktion.«
Die phänomenologische Haltung der HPT besagt somit, dass der Mensch in seiner subjektiven Bedeutungsgebung im Zentrum des psychotherapeutischen Verstehens, Erklärens und Handelns, sowie des damit verbundenen Forschens steht. Dabei wird zugleich hervorgehoben, dass diese »subjektive Bedeutungsgebung« weder allein aus »inneren Prozessen« des Menschen noch allein aus äußeren Gegebenheiten und Sozialbeziehungen kommt, sondern stets als interaktives Zusammenwirken beider gesehen werden muss (▸ Kap. A7). Dieses Zusammenwirken von inneren, körperlichen Vorgängen und äußeren Anforderungen und Deutungsmustern lässt für den konkreten Menschen die o. a. »sinnvolle Antwort« auf eine subjektiv sinnvolle Situation entstehen. Aus der Forschung über psychische (oft als Basis auch der physischen) Gesundheit unter dem Begriff Salutogenese (Antonovsky 1997) wissen wir, dass dort, wo eine solche Kohärenz aus sinnvoll empfundenen Situationen typisch ist, Menschen eine große Widerstandkraft gegen schädigende Einflüsse haben. Wo dies aber chronisch nicht gelingt – etwa in Folge von traumatischen Erlebnissen –, ist der Mensch stark verletzlich (vulnerabel).
Mit ihrer phänomenologischen Haltung ist die HPT deutlich von den anderen Grundorientierungen zu unterscheiden. Denn was das Subjekt in einer Situation als sinnvoll ansieht bzw. empfindet, ist nicht (allein) durch äußere Reize und »Faktoren« bestimmt, und auch nicht durch das, was Außenpersonen in Forschungsdesigns herausgefunden und in Form von Manualen als Interventionen vorgeben, wie es für den behavioralen Ansatz typisch ist. Es ist aber auch nicht (allein) durch biologische Triebe und deren psychodynamisches Zusammenspiel erfassbar, wie es im psychodynamischen Ansatz der Fall ist – besonders wenn der Blick auf psychopathologische Erklärungsmuster nicht auch die Ressourcen, salutogenetischen Dynamiken und Selbstregulationspotentiale mitberücksichtigt. Letztlich kann der subjektive Sinn aber auch nicht (allein) durch die Strukturen interpersoneller Dynamiken erklärt und verstanden werden, worauf der systemische Ansatz eher fokussiert. Wobei konzediert werden darf, dass reale Therapien inzwischen ohnedies weit konzeptübergreifender und integrativer verlaufen, als es die Lehrbuchdebatten unter der Fragestellung möglichst sauberer Abgrenzung und der in Deutschland betriebene Konkurrenzkampf zwischen sogenannten »Verfahren« erscheinen lassen.
Die Konsequenz der phänomenologischen Haltung ist, den zu therapierenden Menschen bei seiner Erforschung innerer, körperlicher Prozesse und deren symbolisierender Einordnung in einen Sinnzusammenhang achtsam zu begleiten und für diese Prozesse ggf. Anregungen zu geben. Wobei, nochmals betont sei, dass ein solcher Sinnzusammenhang nicht losgelöst von sozialen und materiellen Anforderungen und Strukturen, von der biografischen Vergangenheit und den Möglichkeiten der Zukunft und vielem Weiteren »in der Welt« gefunden werden kann. All diese Gegebenheiten in der Welt sind mitbestimmend, aber sie determinieren nicht das, was der Mensch als sinnvoll empfindet. Und er ist damit frei, angesichts und trotz aller Umstände bestimmen zu können – und zu müssen –, als wen er sich selbst in dieser Welt sehen will. Letzteres ist die »existenzielle Freiheit«, die vom existenzanalytischen Ansatz in der HPT besonders betont wird (Längle 2021).
Diese kurzen Ausführungen zeigen, dass allein schon aus der phänomenologischen Haltung sehr viel darüber folgt, wie in der HPT die Therapeut:innen ihre Patient:innen1 sehen. Zur Charakteristik des damit verbundenen Menschenbildes werden oft die »Basic Postulates and Orientation of Humanistic Psychology« von James Bugental (1964) zitiert, welcher als erster Präsident der 1962 gegründeten »Association for Humanistic Psychology (AHP)« wirkte (siehe ▸ Kap. A2). Bei den folgenden elf Grundsätzen geht es bei den ersten fünf um das Menschenbild der HPT, die folgenden sechs charakterisieren deren wissenschaftliche und methodische Orientierung. Auch diese letzteren sind bemerkenswert, weil daran deutlich wird, dass die AHP keineswegs wissenschaftsfeindlich war oder die anderen Verfahren ausgrenzen wollte. Vielmehr ging es der AHP um eine Ergänzung der Perspektiven anderer Verfahren und um wesentliche Fragen, welche den Menschen ausmachen.
Da solche Postulate sprachlich und terminologisch gewöhnlich sehr prägnant und gleichzeitig bedeutungsvoll sind, werden sie hier sowohl im Original als auch mit freierer Übersetzung referiert. Bugental selbst – und viele, die sich darauf bezogen haben (z. B. Hutterer 1998) – haben diese Postulate weiter kommentiert. Wenn man so will, stellt dieses Buch (besonders Teil A) eine umfassende Erläuterung (auch) dieser Postulate dar.
Elf Grundsätze der Humanistischen Psychologie(Basic Postulates and Orientation of Humanistic Psychology) nach Bugental (1964)
·Man, as man, supercedes the sum of his parts (der Mensch ist in seinem Wesen mehr, als was die Aufsummierung seiner Teile ergeben würde).
·Man has his being in a human context (der Mensch ist in seiner Existenz nur im Kontext anderer Menschen zu sehen).
·Man is aware (der Mensch lebt (reflexiv) bewusst).
·Man has choice (der Mensch hat Entscheidungsfreiheit).
·Man is intentional (der Mensch lebt sinn- und zielorientiert).
·Humanistic Psychology cares about man (die Humanistische Psychologie kümmert sich um die Belange der Menschen).
·Humanistic Psychology values meaning more than procedure (die Humanistische Psychologie hält Fragen nach der Bedeutung von etwas für wertvoller als Fragen nach einem bestimmten methodischen Vorgehen).
·Humanistic Psychology looks for human rather than nonhuman validations (die Humanistische Psychologie orientiert sich hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Befunde an menschlichen Maßstäben und nicht an formalen Kriterien).
·Humanistic Psychology accepts the relativism of all knowledge (die Humanistische Psychologie erkennt die Relativität allen Wissens an).
·Humanistic Psychology relies heavily upon the phenomenological orientation (die Humanistische Psychologie stützt sich stark auf eine phänomenologische Orientierung).
·Humanistic Psychology does not deny the contributions of other views, but tries to supplement them and give them a setting within a broader conception of the human experience (die Humanistische Psychologie verleugnet nicht die Beiträge anderer Orientierungen, sondern versucht, diese zu ergänzen und in einen breiten Zusammenhang menschlicher Erfahrung zu stellen).
Dennoch erscheinen einige Bemerkungen zu den ersten beiden Postulaten in dieser Einführung angebracht:
Das erste Postulat bezieht sich auf die Befunde und die Position besonders der Gestaltpsychologie (▸ Kap. A2, ▸ Kap. A4, ▸ Kap. A5) und hebt die HPT von einer analytisch zergliedernden Betrachtung, Behandlung und Erforschung des Menschen ab. So kann man Gegenstände und mechanische Apparate zwar zerlegen, analysieren, und dann meist wieder zusammenfügen. Schon bei Organismen funktioniert dies hingegen nicht – eine Maus kann zwar zerlegt werden, aber nach der noch so gekonnten Zusammensetzung ihrer Teile wird ein Wesentliches fehlen: das Leben. Beim Menschen misslingt dieses Prinzip der Synthese aus Einzelkomponenten nicht nur auf organismischer Ebene, sondern auch in seinen essenziellen kognitiven und sozialen Beziehungen: Das Lösen von hundert einfachen Rechenaufgaben lässt sich gut in fünf Abschnitte zu je 20 Aufgaben gliedern. Und nach ¾ der Bearbeitungszeit kann man davon ausgehen, dass rund 75 Aufgaben gelöst wurden. Der Lösungsprozess bei einem komplexen Problem lässt sich aber nicht so aufgliedern. Wenn sich nach einer Zeit der Bearbeitung plötzlich die Lösung mit einem »AHA-Effekt« einstellt, wäre es unsinnig zu sagen, dass nach ¾ dieser Zeit die Lösung zu 75 % vorlag. Wir haben es hier mit nicht-linearen Zusammenhängen zu tun, die für komplexere Denk-, Handlungs- und Entwicklungsvorgänge (zu denen auch die HPT gehört) typisch sind, und für welche die üblichen linearen Analysemodelle der Klinischen Psychologie untauglich sind.
Aus Sicht der HPT ist es daher auch überaus fragwürdig, bei einem Menschen, dessen Leid diagnostisch den Kategorien »Angststörung«, »Depression« und »Belastungsstörung« zugeordnet werden kann, von einer additiv – oder sonst wie vorstellenbaren – Zusammensetzung aus drei Störungen (Angst, Depression, Belastungsstörung) auszugehen. Aus Sicht der HPT würde hier die Bedeutung von Diagnostik und ihrer Kategorien weitgehend missverstanden.
Auch von Teams wissen wir, dass beispielsweise elf hervorragende Fußballstars sich nicht einfach zu einer guten Fußballmannschaft zusammenstellen lassen. Und das, was einen Menschen als liebenswert, sozial, empfindsam, kreativ usw. erscheinen lässt, ist mehr und etwas anderes, als die Summe isoliert antrainierter Verhaltensweisen.
Das zweite Postulat hebt die HPT gegen Perspektiven ab, die z. B. die geistigen Fähigkeiten ausschließlich nach dem Computermodell als kognitive Informationsverarbeitung ohne Körper und ohne soziale Beziehungen modellieren. Die Beschäftigung mit menschlicher Erfahrung kann nicht einfach die soziale Eingebundenheit des Menschen ausblenden und lediglich einzelne Funktionen untersuchen wollen. Das gilt noch stärker für die Psychotherapie als für die Psychologie – und das gilt aus heutiger Sicht nochmals mehr, seitdem wir in den letzten Jahrzehnten die überaus große Bedeutung des evolutionär erworbenen »social brain« (▸ Kap. A5, ▸ Kap. A7) erkannt haben.
Nun ist Humanistische Psychotherapie nicht identisch mit Humanistischer Psychologie – auch wenn beide in den »Basic Postulates« von Bugental übereinstimmen. Unter einer spezifischeren Perspektive von Therapie gerät stärker die Frage in den Blick, was dem Menschen Leid bereitet. Dazu wurde oben schon auf die Befriedigung des Bedürfnisses nach einem irgendwie sinnvollen Leben verwiesen. Chronisch erlebte Sinnlosigkeit – das Gegenteil von Kohärenz im Sinne der Salutogenese (Antonovsky 1997) – ist ein krankmachender Stressfaktor (bzw. setzt die Fähigkeiten, Distress zu bewältigen, herab). Aufgrund der Vielzahl und Differenziertheit menschlicher Lebens- und Entwicklungsgeschichten ist diese Sinnlosigkeit sowohl sehr umfassend zu verstehen als auch mit einem großen Spektrum an unterschiedlichen Detaildynamiken verbunden. Zudem gibt es natürlich auch Beeinträchtigungen auf körperlicher, sozialer oder materieller Ebene, die ggf. gar keinen Raum lassen, sich mit Befindlichkeiten im Sinne der Psychotherapie auseinanderzusetzen (dann ist ggf. auch sozialarbeiterische oder gar schlicht materielle Hilfe zunächst wichtiger).
Zur Groborientierung hat Maslow (1943) eine »Bedürfnispyramide« vorgeschlagen, die sehr häufig zitiert wird (▸ Abb. A1.1).
Abb. A1.1:Bedürfnispyramide von Maslow (1943)
Die Bedürfnisse der unteren Ebene (physiological needs) sind weitgehend körperlicher und kaum psychischer Natur. In westlichen Zivilgesellschaften sind sie weitgehend erfüllt – für einen beträchtlichen Teil der weiteren Menschheit gilt dies aber nicht. Chronische Verweigerung dieser Bedürfnisse führt zusätzlich zu psychischen Schädigungen. Die Bedürfnisse der zweituntersten Ebene (safety needs) sind für viele Menschen vor dem Hintergrund von Kriegen, Flucht, Armut, Wirtschaftskrisen ebenfalls kaum erfüllt. Die Bedürfnisse der mittleren Stufe (love needs) betreffen den Menschen als soziales Wesen; die vierte Stufe (esteem needs) geht darüber hinaus und lässt, nach Maslow, bereits das Machtmotiv sichtbar werden. Die fünfte und oberste Ebene (need for self-actualization) betrifft das Bedürfnis, die eigenen Anlagen und Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen und zu perfektionieren. Hier siedelt Maslow auch spirituelle Interessen an. Die Pyramide wird gewöhnlich als hierarchisch gesehen: Die Befriedigung der Bedürfnisse einer Ebene muss hinreichend sichergestellt sein, bevor man sich der nächsten zuwenden kann. Aber Phänomene wie z. B. Hungerstreiks für Gerechtigkeit zeigen, dass für die Befriedigung auf einer hohen Stufe (etwa Stufe 4) durchaus eine tiefer liegende (Stufe 1) zur Disposition gestellt werden kann.
Die Pyramide von Maslow ist vielfach dahingehend kritisiert worden, dass hier typisches amerikanisches Mittel- und Oberschichtdenken abgebildet wird. Der Mensch als soziales Wesen tritt im positiven Sinne nur auf Stufe 3 in Erscheinung; die »self-actualization« kann man sogar sehr individualistisch bis egoistisch (miss)-deuten, als »Selbstverwirklichung« des Einzelnen auf Kosten anderer (was Maslow nicht meinte). Für dieses Buch ist wichtig, dass Maslows »self-actualization« sich deutlich von dem theoretisch begründeten Konzept der »Selbstaktualisierung« von Kurt Goldstein bzw. von Carl Rogers unterscheidet (▸ Kap. A2, ▸ Kap. A4, ▸ Kap. A5, ▸ Kap. A8). Dieses Konzept der »Selbstaktualisierung« umfasst stets die bio-psycho-soziale Gesamtdynamik des Menschen. Ausgeprägte Egoismen wären somit Defizite in der menschlichen Entwicklung. Für die HPT ist dieses Konzept der »Selbstaktualisierung« deshalb zentral, weil es die wichtigen Prozesse von Selbstregulation und Selbstorganisation in Therapie und Alltag begrifflich fassen und theoretisch erklären kann (▸ Kap. A5).
Wegen der berechtigten Kritik an den Einseitigkeiten von Maslows Bedürfnispyramide macht es Sinn, diese um einige Bedürfnisse zu ergänzen, wie sie aus der psychotherapeutischen Perspektive der Existenzanalyse (Längle 2013, 2021) vorgetragen worden sind (▸ Kap. B7). Die folgenden »Grundmotivationen« (nach Längle) hat Kolbe (2014, 31) im Rahmen der Existenzanalyse so formuliert, dass sie wichtige Aspekte der gesamten HPT betreffen:
Vier Grundmotivationen der menschlichen Existenz(nach Alfried Längle, siehe Kolbe 2014, S. 31)
Die folgenden Bedürfnisse in Form von Motivationen kennzeichnen in unterschiedlicher Ausprägung das Leben des Menschen. In der Existenzanalyse werden sie daher als »Grundmotivationen« bezeichnet:
1.Der Mensch ist darauf ausgerichtet, in der Welt sein und überleben zu können. Hierbei ist er auf Schutz, Raum und Halt angewiesen, sodass sich Können, Vertrauen und Grundvertrauen entwickeln können. So lernt er, das, was ist, annehmen und/oder aushalten zu können.
2.Der Mensch ist auf Verbundenheit ausgerichtet. Hierzu benötigt er Beziehung, Zeit und Nähe, um sich Wertvollem zuwenden zu können und Zugang zum Grundwert des Lebens zu haben. Dies spiegelt sich in dem Gefühl, dass es gut ist, da zu sein.
3.Der Mensch ist auf Entfaltung seines Selbst-Seins ausgerichtet. Beachtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung helfen ihm, sein Ich und seinen Selbstwert auszubilden, sodass es ihm möglich wird, authentisch zu leben, eine Identität zu entwickeln und ein Gespür für das ethisch Richtige zu finden.
4.Der Mensch ist auf einen Kontext ausgerichtet. Als wertvoll empfundene Tätigkeiten, Möglichkeiten und Zusammenhänge lassen ihn erfahren, dass er mit seinem Dasein für etwas gut ist.
Diese Grunddimensionen verorten die Existenzanalyse eindeutig als Ansatz der Humanistischen Psychotherapie.
Mit dem o. a. Menschenbild der HPT und dem Blick auf die Bedürfnisse des Menschen ist in der Therapie die Frage verbunden, was die Menschen dazu bringt, professionelle Hilfe nachzusuchen. Dabei sei zunächst ein Aspekt betont, der allzu leicht in den Psychotherapiediskursen aus dem Auge gerät: Wandlungs-, Veränderungs- und Neuadaptationsprozesse an veränderte Herausforderungen, die uns als Einzelne, Paare, Familien oder Gruppen ein ganzes Leben begleiten, finden insgesamt in unfassbar großem Umfang ständig so statt, dass diese Veränderungen zumindest hinreichend gelingen. Dazu tragen Partner, Freunde, Familienangehörige und viele andere bei, ohne dass eine professionelle Psychotherapie notwendig wird. In der Psychotherapie haben wie es daher mit einer engen Selektion von Menschen zu tun, bei denen in bestimmten Aspekten diese Veränderungen und die Überwindung stark beeinträchtigender Prozesse mit anderen Mittel nicht hinreichend gelingt. Sie verstehen sich dann selbst und ihre erlebten belastenden Vorgänge im »Inneren« und/oder im »Äußeren« nicht (mehr) und können nicht auf die Ressourcen, Kompetenzen und Regulationsmechanismen zurückgreifen, die eine Besserung bewirken könnten. Der Mensch ist dann – z. B. in Folge einer traumatisierenden Entwicklung – von einem Teil seiner Person entfremdet (in der Fachterminologie der HPT wird von »Inkongruenz« zwischen körperlichen Prozessen und deren Repräsentation im Bewusstsein gesprochen, ▸ Kap. A6, ▸ Kap. A7, ▸ Kap. A8, ▸ Kap. C1.2).
Diese Entfremdung von sich selbst (Eberwein 2016) betrifft insbesondere:
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den eigenen Körper und die Körperempfindungen,
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die eigenen Gefühle und Zustände,
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die sozialen Bindungen, Abhängigkeiten und Beziehungen,
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die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen,
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das Selbstbild und die Selbstwahrnehmung sowie
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die Halt und Schutz gebenden Grenzen und psychosozialen Strukturen.
Eberwein (2016) weist auch auf typische schädigende Erfahrungskonstellationen hin – besonders in vulnerablen Lebensphasen wie der der Kindheit –, die eine solche Deprivation verständlich machen, nämlich:
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Deprivation, also das anhaltende Fehlen von etwas, was ein Mensch für ein psychisch gesundes Leben braucht,
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Invasion, das gewaltsame Durchbrechen schützender Identitätsgrenzen,
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Repression, also Unterdrückung oder anhaltende Behinderung vitaler Lebensimpulse,
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Konfusion, massiv verwirrende Kommunikation durch mehrdeutige Botschaften oder unvereinbare Aufforderungen.
Diese können als Folge von zeitlich durchgängigen pathogenen Beziehungskonstellationen, von existenziellen Mangelzuständen (also dem Fehlen an lebensnotwendigen Ressourcen) oder von Traumata (also einmaligen oder aufeinander folgenden, ähnlichen Ereignisse) auftreten.
Aus diesem eher allgemeinen Verständnis heraus wird im therapeutischen Prozess der HPT ein sehr spezifisches, auf den einzelnen Menschen mit seinen Beschwerden, Bedürfnissen und Ressourcen abgestimmtes Vorgehen gemäß den Prinzipien der HPT realisiert. Die Grundlage dafür ist eine spezifische therapeutische Beziehung (▸ Kap. A8), auf deren Basis die Therapeut:innen der HPT entsprechend dem großen Spektrum an Arbeitsweisen in den einzelnen Ansätzen in sehr kleinschrittiger Abstimmung mit den Patient:innen die konkreten Vorgehensweisen entfalten. Wobei nochmals betont werden soll, dass »Entfalten« eine andere Modellvorstellung zugrunde liegt als das Abarbeiten vorher festgelegten Interventionen aus einem Manual. Denn letzteres kann die subjektive Bedeutungsgebung des betreffenden Menschen in der konkreten Situation nicht vorherwissen.
Da der Mensch wesentlich auch als verkörpert angesehen wird, spielt der Körper eine besondere Rolle – auch dann, wenn scheinbar – von außen gesehen – nur miteinander gesprochen wird. »Du sollst merken – wie willst du sonst verstehen« lautet beispielsweise eine zentrale Aussage der Gesprächspsychotherapie (Biermann-Ratjen und Eckert 1982, ▸ Kap. B2). Der zentrale Fokus der HPT liegt ohnedies auf der Verschränkung, sein Fühlen zu erleben und sein Erleben zu fühlen (Kriz 2019a). Dazu können auch die spezifischen körperpsychotherapeutischen Vorgehensweisen (▸ Kap. B8) sowie psychodramatische interpersonelle (real oder imaginiert) Darstellungstechniken (▸ Kap. A6, ▸ Kap. B5, ▸ Kap. B9) eingesetzt werden. Entsprechend der phänomenologischen Haltung steht aber immer das Subjekt mit seinen Sinnbezügen im Zentrum der dialogischen Arbeit. HPT ist das Bemühen, eine existenzielle Begegnung (▸ Kap. A6, ▸ Kap. A8) zwischen Therapeut:innen und Klient:innen für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen.
Abschließend soll hier die formale Definition für die HPT referiert werden, so wie sie 2012 im Antrag der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie (AGHPT) an den »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP)« formuliert wurde (AGHPT 2012). Es ist aber durchaus sinnvoll, diese Definition erst im Anschluss der Lektüre des vollständigen Teils A zu lesen (oder ggf. nach dieser nochmals hierher zurückzukehren), weil erst die ausführliche Darstellung und Diskussion der wesentlichen Konzepte in den nächsten Kapiteln zu einem tieferen Verständnis dieser Definition führen wird.
Definition des heilkundlichen Verfahrens »Humanistische Psychotherapie« (AGHPT 2012)
Humanistische Psychotherapie als heilkundliches Verfahren behandelt krankheitswertige Störungen. Dabei fokussiert sie auf die nur dem Menschen eigene Verschränkung von organismischen und psychosozialen Prozessen mit der besonderen Perspektive einer selbstregulativen, sinn-orientierten, intentional-motivierten, selbst-verantwortlichen, auf Zukunft ausgerichteten Aktualisierung kreativer Potentiale in Adaptation an die Gesamtgegebenheiten.
Mit »Gesamtgegebenheiten« sind dabei keineswegs nur äußere (materielle und soziale) Faktoren, sondern eben auch die bio-psycho-sozialen Strukturen im Laufe der bisherigen Biografie, sowie essenziell auch die nach selbstbestimmter, intentionaler, sinnorientierter Entfaltung drängenden vital-kreativen Kräfte und Potenziale des Menschen gemeint.
Nosologisch gesehen können diese Gesamtgegebenheiten in der Entwicklung des Menschen auf materieller, somatischer, psychischer oder interaktioneller Ebene zur Herausbildung von Mustern in den Lebensprozessen (wozu auch Erleben und Verhalten gehört) geführt haben, die besonders für neue Entwicklungsaufgaben und Bedingungen nicht adaptiv sind. So können beispielsweise organismische Erfahrung und Selbstwahrnehmung beziehungsweise verinnerlichte Werte und Selbstkonzept inkongruent zueinander sein. Die internen Repräsentationen biografischer Gegebenheiten auf körperlicher oder kognitiv-emotionaler Ebene, pathogene Symbolisierungsprozesse, aktuelle Lebensereignisse und äußere Belastungsfaktoren können hier also ungünstig symptomatisch zusammenspielen. Die differenziellen Formen dieser Inkongruenz eignen sich als Diagnostikum unterschiedlicher Krankheitsbilder und entsprechend differenzieller Vorgehensweisen. Zentral für die Humanistische Psychotherapie ist daher die Unterstützung von intensiven selbstexplorativen Erfahrungen körperlicher, emotionaler, kognitiver und interaktiver Prozesse im Rahmen einer spezifischen therapeutischen Beziehung, wie sie von C. Rogers beschrieben worden ist.
HPT wird oft als eine Entwicklung aus der »Humanistischen Psychologie« gesehen, einer Bewegung, die in den 1950er Jahren in den USA begann und dort 1961 in die formelle Gründung einer Gesellschaft(»Association for Humanistic Psychology«, AHP) mündete. Den dort vertretenen Grundansichten lagen Konzepte zugrunde, wie sie lange zuvor besonders in Deutschland und Österreich entwickelt worden waren (s. u.). Jedoch wurde auf die europäischen Vorläufer nicht nur in den USA wenig explizit Bezug genommen, auch die mit gut einem Jahrzehnt verzögert entstehende deutschsprachige »Humanistische Psychotherapie« ignorierte weitgehend diese Wurzeln und verstand sich eher als »Entwicklung aus den USA«.
Es lohnt sich, einige Eckpunkte dieser Entwicklung nachzuzeichnen, weil daran einige Versäumnisse und Missverständnisse bezüglich der HPT deutlich werden.
Richtet man zunächst den Fokus auf die USA (Aanstoos et al. 2000, O'Hara 1991, Moss 2015), so begannen in den 1950er Jahren zunehmend Psycholog:innen ihre Unzufriedenheit mit den beiden vorherrschenden Paradigmen, dem Behaviorismus und der Psychoanalyse, zu artikulieren. Abraham Maslow, der zu dieser Zeit am psychologischen Department der Brandeis University vor allem experimentell arbeitete, begann 1954 über eine wachsende Adressenliste Personen miteinander in Kontakt zu bringen, deren Interesse über die üblichen akademischen Fragestellungen in der Psychologie hinausreichte. Es ging um wissenschaftliche Untersuchungen von Themen wie Kreativität, Gesundheit, Wertorientierungen, Individualität, Wachstum, Selbstaktualisierung, Liebe und Sinnorientierung im menschlichen Leben. Bereits in seiner 1943 publizierten Arbeit »A Theory of Human Motivation«, dann umfassend in seinem Buch »Motivation and Personality« (Maslow 1954/2005), hatte er kritisch angemerkt, dass die Psychologie menschliches Verhalten nicht nur von »Defizit-Bedürfnissen« her erklären solle (Befriedigung von Hunger oder Durst – d. h. die typischen Verstärker in den Tierexperimenten der Behavioristen – oder von Trieben, welche die Psychoanalyse im Fokus hatte). Wichtig sei auch, sich mit dem Bedürfnis zu beschäftigen, sich als Mensch zu verwirklichen, sowie mit Kreativität oder sinnhafter Entfaltung. Diese Sicht, die prägnant in einer sog. »Bedürfnispyramide« veranschaulicht werden kann (▸ Abb. A1.1), ist – trotz der kritischen Bemerkungen in ▸ Kap. A1 – auch heute noch eine wichtige Perspektive in der Humanistischen Psychologie, da sie nicht allein auf die Bekämpfung von Defiziten und Psychopathologien, sondern ebenso auf die Förderung von Ressourcen, Entwicklungspotentialen und salutogenetischer Selbstregulation schaut.
Nach einigen informellen Treffen der Listenmitglieder Ende der 1950er wurde 1961 unter der Schirmherrschaft der Brandeis University die AHP formal gegründet. Als wichtigste Gründungsmitglieder werden u. a. Charlotte Bühler, Abraham Maslow und Carl Rogers, sowie Gordon Allport, James Bugental und Rollo May genannt. Ebenso setzte sich 1961 ein Editorial Board zusammen, um das Journal of Humanistic Psychology, JHP, ins Leben zu rufen, dessen erster Band 1963 erschien. Als erster Präsident der AHP fungierte James Bugental, der 1963 im American Psychologist den Beitrag »Humanistic Psychology: A New Breakthrough« und 1964 »The Third Force in Psychology« im JHP veröffentlichte – zwei Grundsatzartikel auch zur sich formierenden HPT.
1964 fand dann in Old Saybrook (Connecticut) die erste Konferenz der AHP statt. Führende Personen waren neben den oben genannten Gründungsmitgliedern auch Vertreter anderer Disziplinen mit Interesse an Fragen der HPT (u. a. Barzun, Dubos und Matson). Zentrales Diskussionsthema war, laut O'Hara (1991), warum die beiden dominanten Paradigmen der Psychologie sich weder mit dem Menschen als einmaligem Wesen noch mit vielen Problemen des wirklichen Lebens beschäftigten. Sie stimmten darin überein, dass es gut wäre, wenn die Psychologie eine solche akademische Disziplin werden würde, die sowohl die engen, vom behavioralen Bias begrenzten Fragestellungen als auch die von Tiefenpsycholog:innen unterbelichteten menschlichen Eigenschaften wie Wertorientierung und Selbstbewusstsein berücksichtigen sollte. Als »Dritte Kraft« müsse diese Psychologie ein reichhaltigeres Konzept dafür entwickeln und Erfahrung dazu anbieten, was es im Kern heißt, ein Mensch zu sein.
Diese Formulierungen (sinngemäß ins Deutsche übertragen, J.K.) machen deutlich, dass die Gründer nicht gegen die bisherige Wissenschaft waren, sondern eher den Bias der beiden Mainstream-Orientierungen und deren Beschränkungen korrigieren wollten. Dies zeigen auch etliche Titel der Beiträge auf Konferenzen und in der Zeitschrift JHP, die sich mit Fragen von Psychologie und Therapie als Wissenschaft auseinandersetzten. An der »Ersten Kraft«, dem Behaviorismus (damaliger Zeit), wurde kritisiert, dass dieser systematisch subjektive Daten des Bewusstseins und viel Information über die Komplexität menschlicher Persönlichkeit und deren Entwicklung ausschloss; an der »Zweiten Kraft«, der (damaligen) Psychoanalyse, wurde der allzu enge Fokus auf die Dynamik des Unbewussten kritisiert und dass dort vor allem pathologisches, krankhaftes Verhalten betrachtet wurde. Beide, Behaviorismus und Psychoanalyse, würden sich daher zu wenig mit den gesunden und kreativen Aspekten und Fähigkeiten des Menschen auseinandersetzen (vgl. O'Hara 1991).
Aus den von Bugental (1964) formulierten »Basic Postulates and Orientation of Humanistic Psychology« (▸ Kap. A1) wurden die ersten fünf (leicht umformuliert) in jedem Heft der AHP abgedruckt – quasi als die fünf Gebote der Humanistischen Psychologie.
Dass sich die AHP so schnell und erfolgreich etablierte und bereits nach wenigen Jahren über 6.600 Mitglieder hatte, hängt mit mehreren Gründen zusammen. Allein in den 1960er Jahren trugen Rogers mit vier, Maslow und May mit je zwei Büchern zur großen Verbreitung der Ideen und Grundlagen der HPT bei. Dies ging einher mit einer »Human Potential«-Bewegung: An vielen Orten entstanden Zentren, welche die Entfaltung menschlicher Potentiale mit Hilfe von T-Gruppen, Sensitivity Training, Beziehungs-Training, Encountergruppen usw. zum Ziel hatten (z. B. das »Esalen Institute« in Big Sur, Kalifornien, das 1962 entstand und bis heute aktiv ist). Auch an den Hochschulen entstanden Trainings-, M.A.– und sogar PhD-Programme (z. B. 1966 an der Sonoma University, 1969 an der University of West Georgia oder 1962 ein PhD-Programm an der Duquesne University).
Der Erfolg und die große Mitgliederzahl zeigen aber auch, dass die AHP nicht nur auf Professionelle in Psychologie oder gar Psychotherapie beschränkt war (und ist), sondern zunehmend als breite Bewegung zu sehen war. Das wiederum führte dazu, dass sich auch innerhalb der etablierten Psychologischen Gesellschaft, der »American Psychological Association« (APA), zunehmend Offenheit für HPT zeigte, was dadurch gefördert wurde, dass zahlreiche führende Mitglieder der AHP längst auch Mitglieder der APA waren. So war Maslow 1968 Präsident der APA (Rogers war bereits 1947 Präsident der APA gewesen). Es lag somit nahe, innerhalb der APA eine eigene Abteilung (»Division«) für Humanistische Psychologie zu gründen – speziell nur für die Belange von Psycholog:innen. Dies schien auch deshalb angebracht, weil sich durch die Human Potential-Bewegung und beeinflusst von der Hippie-Kultur in der AHP um 1970 auch anti-intellektuelle und anti-wissenschaftliche Unterströmungen zeigten.
1971 wurde der Antrag zur Gründung der »Society for Humanistic Psychology« als »Division 32« in der APA gestellt, dem die anderen Divisions weitgehend zustimmten. Eines der vielen interessanten Gründungsdetails (vgl. Aanstoos et al. 2000) ist, dass Albert Ellis – den viele heute nur als Verhaltenstherapeuten und Begründer der »Rational Emotiven Therapie« (RET) kennen – sich nicht nur sehr für die Gründung der Div. 32 einsetzte, sondern sogar in den ersten Jahren in deren Vorstand als »Council Representative« fungierte.